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Die Kommode Sie verscheuchte die Gedanken, wischte sich flüch- Als sie daheim ankam, hatte sie

Als sie daheim ankam, hatte sie Seitenstechen. Sie


tig die Tränen ab und versuchte sich auf den Unter- lief durch den Flur auf die große Küche zu. Plötzlich
richt zu konzentrieren. blieb sie wie angewurzelt stehen.
Ruth rannte auf die Schule zu. Ihre Schuhe kla- „Wir schreiben heute ein Übungsdiktat!“ „Mutter!“, schrie sie noch immer außer Atem
ckerten auf den Pflastersteinen. Das gefiel ihr. Sie lief Das konnte Ruth gut! Sie hatte vor dem Diktat „Mutter! Wo ist die kleine Kommode?“ Sie brach in
gerne mit klackernden Schuhen durch die Gegend. auch keine Angst, wie manch einer ihrer Mitschüler. Tränen aus. Ihr wurde gerade alles zu viel. Sie rannte
Dann fühlte sie sich wie eine Erwachsene. Die Leute Einmal hatte sie heimlich ein Diktat der vierten in die Küche. Dort stand ihre Mutter am Herd und
drehten sich dann nach ihr um, weil sie eine Dame bei Klasse mitgeschrieben und abgegeben. Der Lehrer blickte ihr traurig entgegen.
diesem Klackern zu sehen erwarteten. hatte es daheim korrigiert und dann erst am nächsten „Mutter! Wo ist die kleine alte Kommode von
Doch heute war Ruth etwas spät dran. Sie hatte Tag bemerkt, dass die Schülerin noch gar nicht in die Großmutter? Habt ihr sie weggeschmissen? Es war
auf ihre Freundin Judith gewartet. Da diese lange vierte Klasse ging. Da der Text aber fehlerfrei mit ei- doch ein Geschenk von Großmutter! Ach Mutter, wo
nicht kam, lief Ruth alleine los. Sie erreichte den ner tadellosen Schrift geschrieben war, hatte er sie vor ist die Kommode?“, sprudelte es aus Ruth heraus, als
Schulhof und sah gerade noch die letzten Schüler allen Klassenstufen gelobt. sie ihrer Mutter in die Arme fiel. Noch bevor die Mut-
durch die Schultür laufen. Als sie nun nach dem Tintenfass in der Schulmap- ter antworten konnte, redete das Kind weiter:„Ach
Dann schaffe ich es vielleicht doch noch vor dem pe kramte, es schließlich fand und zu dem Federhalter Mutter, heut in der Schule war es so gemein! Der Leh-
Lehrer ins Klassenzimmer zu kommen, dachte sie und auf den Tisch stellen wollte, bemerkte sie, wie ihr rer hat mich in die letzte Reihe gesetzt, nur weil ich
beschleunigte noch einmal. Tischnachbar Hansi ihren Federhalter nahm. Sofort nach ihm in das Schulzimmer kam. Und der Hansi hat
Als sie die Schulzimmertür erreichte, schloss der sprang sie auf. mir meinen Federhalter, weißt du, der grüne von Va-
Lehrer sie gerade hinter sich. „Herr Lehrer! Der Hansi hat meinen Federhalter ter, weggenommen. Und der Lehrer hat mir nicht ge-
Mist, dachte sie, doch nicht geschafft! Ob ich heute genommen und will ihn nicht wieder zurückgeben!“ glaubt, dass es meiner ist! Gell, Mutter, der Vater
dafür länger bleiben muss? „Stimmt gar nicht! Das ist mein Federhalter!“ kann den Federhalter wieder vom Hansi holen!“
Vorsichtig klopfte sie an der Tür und öffnete sie „Aber...“ „Ach Kind, weine doch nicht!“ Ruth konnte sich
dann zaghaft. Sie erschrak etwas, als sie direkt vor „Setzen! Ruth, wenn du deinen Federhalter da- einfach nicht beruhigen.
sich das strenge Gesicht des Lehrers sah. Sie senkte heim vergessen hast, dann solltest du auch so ehrlich „Aber Mutter, wo ist denn jetzt die kleine Kommo-
den Blick und wollte gerade eine Entschuldigung sein und das zugeben. Dann hätte ich dir einen geben de von Großmutter? Weißt du, die uralte dunkelbrau-
stammeln, doch ihr Lehrer ließ sie nicht zu Wort kom- können. Aber so nicht! Erst kommst du zu spät und ne mit den goldenen Griffen. Die hat Großmutter mir
men. dann bist du auch noch unehrlich.“ doch geschenkt, bevor sie gestorben ist! Ach Mutter,
„Aha! Wie ich sehe, kommst du schon wieder zu „Aber...“ ich vermisse Großmutter so sehr! Und die Kommode
spät, Ruth! So kann das nicht weitergehen! Fällt dir „Wenn du keinen Federhalter dabei hast, wirst du war ein Andenken an Großmutter!“
eine plausible Entschuldigung ein?“ das Diktat auch nicht mitschreiben können. Das gibt „Ach Ruth, die Kommode wurde von den Leuten
„Ich...“ dann eine Sechs!“ mitgenommen. Sie war sehr kostbar. Und alles Wert-
„Ach spar dir deine Ausreden! Du setzt dich ab Eine Sechs! Ihre schlechteste Note bisher war eine volle haben diese Leute heute morgen abgeholt.
heute auf die hinterste Bank! Wenn du wieder pünkt- Zwei. Sie konnte es nicht glauben! Schau, das Bild im Wohnzimmer hängt auch nicht
licher erscheinst, überlege ich es mir noch einmal.“ Die Gedanken kreisten ihr wie bei einer Karussell- mehr!“
„Aber ich...“ fahrt durch den Kopf. „Aber Mutter, was haben wir den Leuten denn Bö-
„Setzen! Ein Schüler redet nur, wenn er gefragt Ihr schöner Federhalter! Den hatte sie vom Vater ses getan, dass sie uns die schönen Sachen wegneh-
wird! Verstanden?“ Sie nickte. geschenkt bekommen. Es war ein besonderes Ge- men?“
Mit Tränen in den Augen schlüpfte Ruth zwischen schenk. Wieder kamen ihr die Tränen. Schnell wischte „Ruth, wir haben nichts Böses getan! Das Einzige
den Schulbänken zur letzten Bank. sie sich über die Augen. Es sollte niemand sehen, dass was die Leute stört ist, dass wir Juden sind.“
Sie verstand die Welt nicht mehr. War sie heute sie weinte.
doch erst das dritte Mal zu spät in die Schule gekom- Als die Schulglocke zum Unterrichtsende läutete,
men! Andere kamen ständig später und mussten nicht räumte Ruth ihre Sachen rasch in ihre Schulmappe
auf die letzte Bank. Ihr Lehrer wusste doch ganz ge- und rannte nach draußen.
nau, dass sie nicht so scharf sehen konnte. Deshalb Ihre Schuhe klackerten. Doch das fiel ihr nicht auf.
saß sie ja auch seit der ersten Klasse in der vordersten Sie war traurig. Sie musste unbedingt mit ihrer Mut-
Bankreihe. ter reden!

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