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Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren
Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war
eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel
größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet
als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch
gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in
dem alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten.
Und die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch
nicht mit Filzstiften und Spray beschmiert.
Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim,
aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr
vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände,
auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte.
„So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn
sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das
Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann
einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann
werde ich mal ein ernsthaftes Wörtchen mit ihnen reden.“
„Aber, Mama!“ hatte Sabrina dann immer gesagt. „Wenn diese
Schmierereien nicht wären, dann hätte ich ganz sicher nicht so
schnell das Lesen gelernt.“
Und das stimmte wohl auch. Denn Sabrinas Mutter las ihr fast
jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte vor. Das
war immer sehr spannend. Am liebsten hörte sie Geschichten
von Detektiven oder auch von Seefahrern, die alte Briefe mit
geheimen Zeichen und Schriften entdeckten, die sich dann als
Schatzkarten entpuppten. Oh, was sie dann für spannende
Abenteuer erlebten, wenn sie nach den Schätzen suchten!
Solche Abenteuer hätte Sabrina am liebsten selber erlebt. Und
damals, als sie noch nicht lesen konnte, hatte sie geglaubt, dass
all die Kritzeleien, die an die Wände geschmiert waren,
geheime Botschaften enthielten. Einige von ihnen waren
vielleicht selber Schatzkarten und sie wünschte sich nichts
mehr, als sie endlich entziffern zu können. Sie war ziemlich
fasziniert von den älteren Kindern gewesen, die solche Dinge
schreiben und lesen konnten. Am liebsten wäre sie eine der
Banden beigetreten, die sich in dem Wohnviertel gebildet
haben, aber niemand wollte sie dabei haben.
„Kleine schwache Mädchen können wir nicht gebrauchen!“
hatte einer der größeren Jungen gesagt und ihr verächtlich vor
die Füße gerotzt. Ihre Mutter war auch dagegen, dass sie etwas
mit den Kindern zu tun hatte. Die sind nicht gut erzogen, sagte
sie immer. Die bringen dir nur allerlei schlechte Sachen bei.
Stattdessen hatte sie jeden Tag mit Mira, Vanessa und Carlo
spielen müssen. Die waren in ihrem Alter und ihre Mutter hatte
nichts gegen sie. Diese drei Freunde waren die andere Sache,
die sie an ihrem alten Zuhause so sehr vermisste. Manchmal
waren sie hinunter auf den Hof gegangen. Dort gab es auch
einen Spielplatz, wo sie oftmals im Sandkasten gespielt hatten.
Aber dann waren meist die großen anderen Kinder gekommen
und hatten sie geärgert. Am meisten hatten sie es auf Carlo
abgesehen. Er war ein äußerst klein und dünn, sodass ihn auch
keiner der anderen Jungen mit in ihrer Bande haben wollte.
Deswegen spielt er immer nur mit Mädchen, weshalb man ihn
auslachte und verspottete.
Schließlich waren sie alle zusammen in die Schule gekommen,
und Sabrina war im Lesen bald die Klassenbeste geworden.
Erstens, weil sie versuchte, die Geschichten, die ihr die Mutter
jeden Abend vorlas, bald selbst zu lesen. Zweitens, weil sie
jeden Tag auf dem Nachhauseweg die Schriften an den
Hauswänden entzifferte. Ihre Mutter war dagegen, denn sie
meinte, da stünde nichts, was kleine Kinder lesen sollten.
Sabrina merkte bald selber, dass das mit Schatzkarten und
ähnlich spannenden Geheimnissen nichts zu tun hatte.
Meistens waren es nur Flüche, oder man schrieb gemeine
Sachen über andere Menschen, die im Haus wohnten. Aber
lesen tat sie es trotzdem gern.
Sabrinas Mutter kam eigentlich aus recht gutem Hause und
hatte anständige Manieren beigebracht bekommen. Dass sie
trotzdem in diesen alten gammeligen Plattenbau gezogen war,
lag daran, dass sie sehr früh von zuhause ausgezogen war. Sie
wollte möglichst früh selbstständig werden, aber in ihrer
Ausbildung zur Gärtnerin hatte sie nicht soviel Geld verdient,
um sich eine bessere Wohnung zu leisten.
Einen Vater hatte sie auch. Aber den sah sie nicht so oft, weil
er Busfahrer war und sich auf Fernreisen spezialisiert hatte.
Manchmal war er über zwei Wochen nicht zuhause, weil er mit
Reisegruppen durch ganz Europa fuhr. Aber wenigstens
brachte er Sabrina von jeder Reise wunderbare Bilder und
allerlei andere Geschenke mit. Am liebsten mochte sie kleine
Häuser aus Ton, die es in jedem Land als Andenken zu kaufen
gab. Sie merkte bald, dass die Häuser im Norden ganz anders
aussahen, als beispielsweise die im Süden. Aber trotzdem hatte
sie die vierzehn Häuser, die sie bereits besaß, auf einer
Tischplatte zu einem Dorf zusammengestellt. Ein sehr lustiges
Dorf, in dem Häuser aus ganz Europa vereint standen.
Nun aber hatten ihre Mutter und ihr Vater soviel Geld
zusammengespart, dass sie sich eine bessere Wohnung leisten
konnten. Sie lag in einem weißen Haus, das anstelle von zwölf
nur vier Etagen besaß. Außerdem hatte es ein spitzes und kein
flaches Dach. Wie gesagt, Sabrina gefiel es gut dort. Das
einzige, was sie langweilte, war, dass es im gesamten Haus
keine anderen Kinder gab. Aber wenigstens lebte in der
unteren Etage ein junges Paar, das einen schwarzen Hund
hatte. Die beiden waren sehr nett und verstanden sich auch mit
Sabrinas Eltern gut. Manchmal luden sie die ganze Familie
zum Kaffee ein, und Sabrina durfte die ganze Zeit über mit
dem Hund spielen. Oder sie gingen zusammen in den Wiesen,
die ein paar hundert Meter vom Haus entfernt lagen, spazieren,
und sie durfte für den Hund, der übrigens Mio hieß, den Ball
werfen.
Oftmals aber hatte Sabrina auch Langeweile und dann
wünschte sie sich, dass all die Kinder, mit denen sie früher
gespielt hatte, mit in dieses Haus gezogen wären. Aber außer
ihnen und dem jungen Paar wohnten dort nur noch ein
alleinstehender Mann, der nicht besonders gesprächig war, und
ein altes Rentnerehepaar, das sich oftmals beschwerte, wenn
man im Treppenhaus zuviel Krach machte.
Da gab es aber noch einen weiteren Bewohner - oder waren es
vielleicht sogar mehrere Bewohner? - die Sabrina noch nicht
kennengelernt hatte. Ihre eigene Familie wohnte im vierten
Stock, also ganz oben im Haus. Doch das Treppenhaus endete
dort noch nicht. Es ging noch eine Treppe weiter hinauf, doch
sie war nicht aus Marmor, sondern aus Holz. Die Stufen waren
kleiner, und ziemlich schmal. Als Sabrina das erste Mal
hinaufgeklettert war, hatte sie so gewackelt, dass man Angst
haben musste, sie könne jederzeit zusammenbrechen. Ein
dicker Erwachsener konnte sich hier nicht so einfach
hinaufwagen.
„Also, Sabrina!“ hatte ihr Vater damals gesagt. „Du kannst da
doch nicht einfach so hinaufklettern, vielleicht ist das ja
privat!“
Aber die Vermieterin, die ebenfalls sehr nett war, hatte nur
gelacht.
„Das macht nichts“, hatte sie gesagt. „Da geht es nur zum
Dachgeschoss hinauf. Sie kann sich dort ruhig einmal
umgucken, denn die Tür dort oben ist ja sowieso verschlossen.
Aber sie sollte nicht zu oft dorthin gehen, denn sonst könnten
sich die Leute dort gestört fühlen.“
„Dort oben wohnen Leute?“ hatte Sabrinas Mutter ganz
erstaunt gefragt. „Ich habe gedacht, dass es dort oben nur eine
Dachkammer gäbe.“
„Doch, dort oben wohnen Leute“, hatte die Vermieterin mit
einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. „Sie sind ein bisschen
sonderbar, und sie kommen nur sehr selten hinaus. Aber sie
sind nicht gefährlich und werden sie ganz gewiss nicht
belästigen. Kümmern Sie sich nicht um sie, und sie werden
sich auch nicht um euch kümmern.“
Dass mit diesen Leuten irgendetwas anders war, als bei
normalen Menschen, hatte Sabrina im ersten Augenblick
gemerkt. Alle anderen Wohnungen hatten eine schlichte weiße
Tür als Eingang, doch diese Tür dort oben war aus dunklem,
massiven Holz gebaut. Ihre Oberfläche war außerdem nicht
glatt, sondern kunstvoll verschnitzt. Es war eine Tür, die eher
in ein altes Schloss oder in ein Herrenhaus gepasst hätte, und
sie sah im ersten Augenblick etwas unheimlich aus. Doch
Sabrina merkte bald, dass es nur Blumen und lustige Gesichter
waren, die in ihr eingeschnitzt waren. Keine Totenköpfe,
Skelette, oder andere Dinge, vor denen man sich fürchten
musste. Aber wie klein diese Tür war! Sie selbst hätte ja kaum
dadurch gepasst, ohne den Kopf einzuziehen, und sie war doch
nur ein Kind! War das Seltsame an den Leuten vielleicht, dass
sie Liliputaner waren?
Sabrina hatte nach einem Klingelschild gesucht, auf dem der
Name des Menschen oder der Familie stand, aber sie hatte
weder Klingel noch Schild gefunden. Und selbst wenn sie
geklingelt hätte, hätte möglicherweise keiner geöffnet, denn
die Tür war mit einer dicken Eisenkette verschlossen.
„Warum verschließt man die eigene Tür von außen mit einer
Eisenkette?“ hatte sie die Vermieterin gefragt, nachdem sie
wieder hinuntergeklettert war.
„Die Tür ist mit einer Eisenkette verschlossen?“ hatte die
Mutter etwas entsetzt gefragt.
Sie hatte sich sehr darüber gefreut, endlich in dieses schöne
Haus zu ziehen, aber in diesem Augenblick sah sie so aus, als
bereue sie es fast. Sie hatte die Vermieterin von oben bis unten
gemustert, um zu sehen, ob irgendetwas Seltsames oder
Unheimliches an ihr war. Aber sie sah völlig normal aus und
lächelte sie freundlich an.
„Sie sind ein bisschen schüchtern und fürchten sich vielleicht
sogar ein kleines bisschen vor anderen Menschen. Aber
eigentlich sind sie ganz in Ordnung. Sie wohnen schon seit
Jahren hier. Schon als dieses Haus noch meiner Großmutter
gehört hat, und niemals hat sich jemand über sie beschwert. Sie
bezahlen auch regelmäßig ihre Miete. Es gibt also wirklich
keinen Grund sich Sorgen zu machen.“
Aber ihre Mutter machte sich Sorgen. Als sie am Abend nach
ihrem Einzug am Küchentisch gesessen, und Abendbrot
gegessen hatten, hatte sie den Vater gefragt, was er von der
Sache hielte. Doch der hatte nur gebrummt und gemeint, es
wäre schon alles in Ordnung, wenn die Vermieterin das sagte.
Und er behielt Recht. Ein paar Tage später hatten sie sich in
ihrer Wohnung eingelebt. Die Mutter hatte neue Freunde in der
Nachbarschaft gefunden, die sie manchmal zum Kaffeeklatsch
einlud. Und niemals war in der Wohnung, oder im Haus etwas
Eigenartiges passiert. Auch die Vermieterin entpuppte sich als
eine sympathische und angenehme Frau, mit der man sich gut
unterhalten konnte. Sie war weder eine Hexe, noch schien sie
irgendwelche anderen düsteren Geheimnisse mit sich
herumzutragen. Bald schon hatte die Mutter die Sache mit dem
Dachgeschoss vergessen. Selbst wenn sie von der Arbeit nach
Hause kam, sah sie nur zu, dass sie in die Wohnung ging, und
beachtete die Treppe, die nach oben führte, gar nicht mehr.
Sabrina aber konnte diese seltsame Geschichte nicht so schnell
vergessen. Immer wieder hoffte sie darauf, diese Bewohner
eines Tages kennenzulernen. Sie lauschte, ob sie über der
Decke Schritte und Stimmen hörte. Oder ob jemand draußen
die Holztreppe benutzte. Vor allem, wenn ihre Eltern nicht da
waren, saß sie manchmal stundenlang direkt vor der
Wohnungstür und las ein Buch. Sie wollte so schnell wie
möglich herauslaufen können, wenn sie hörte, dass dort
jemand war. Aber sie hörte ja niemanden. Sie untersuchte die
Treppe manchmal auch nach Fußabdrücken, aber sie fand
niemals welche. Oftmals überlegte sie sich schon, ob sie
einfach mal herauf laufen und an der Tür klopfen sollte. Aber
sie traute sich nicht, denn sie erinnerte sich an die Worte der
Vermieterin, dass sie diese Leute möglichst nicht stören sollte.
Einmal, als ihr Vater am Wochenende zuhause war, fragte sie
den, was er von der Sache hielt. Aber der lachte nur.
„Das ist doch nur irgendein Märchen, dass dir die Frau Hansen
erzählt hat“, sagte er. „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft,
dass dort oben jemand wohnt.“
„Wieso denn nicht?“ meinte sie trotzig. Ihr Vater wusste ja
nicht, dass er gerade dabei war, einen ihrer größten Träume zu
zerstören.
„Na, das müsste, wenn überhaupt, dann eine Zwergenfamilie
sein“, er lachte noch einmal, „Nein, nein, da hat dir die gute
Frau Hansen irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt und
sonst nichts. Nicht mal deine Mama glaubt mehr daran.
Wahrscheinlich ist es nichts weiter als irgendeine Hauslegende.
Die Großmutter der Frau Hansen soll eine ziemlich seltsame
Dame gewesen sein.“
Doch Sabrina konnte er damit nicht von diesem Gedanken
abbringen. Sie glaubte fest daran, dass dort oben jemand
wohnte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sie eines
Tages kennenzulernen.
Und eines Nachts ging ihr größter Wunsch schließlich in
Erfüllung. Sie wachte irgendwann, mitten in der stockfinsteren
Nacht, auf, und wusste sofort, dass sie viel zu früh dran war.
Normalerweise weckte ihre Mutter sie nämlich, weil sie einen
so guten Schlaf hatte, dass kein Wecker sie wach bekam. Aber
in dieser Nacht war es anders. Dabei schien es zunächst nichts
weiter als eine stille und rabenschwarze Nacht wie jede andere
zu sein. Doch dann schreckte sie hoch, ohne zu wissen, warum.
Verschlafen knipste Sabrina die Nachttischlampe an und sah
auf die Uhr. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht.
„Puuh“, machte sie und knipste schnell wieder aus.
Sie kuschelte sich wieder in ihr Bett und drehte sich herum.
Auf keinen Fall durfte sie um diese Uhrzeit so wach werden,
dass sie nicht mehr einschlafen konnte. Wie übermüdet würde
sie dann am nächsten Morgen in der Schule sein?
Doch an Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken. Das
merkte sie, als sie eine Minute später Geräusche hörte.
Sie schreckte erneut auf. In ihrer alten Wohnung war es normal
gewesen, dass man nachts Stimmen und Laute aus
Nachbarwohnungen hörte, aber hier hatte sie so etwas noch nie
erlebt. Sie hielt die Luft an und horchte.
Tatsächlich, hoch oben, auf der anderen Seite der Decke schien
sich jemand zu unterhalten. Es war aber nur ein leises Wispern,
sodass man keine einzelnen Worte verstehen konnte. Sabrina
spitzte die Ohren und horchte, ob es nicht vielleicht auch ein
anderes Geräusch aus dem Haus sein konnte. Schließlich aber
war sie sich ganz sicher. Dies war das erste Mal, seitdem sie
eingezogen waren, dass sie etwas von den geheimnisvollen
Bewohnern mitbekam.
Sie war dermaßen aufgeregt, dass sie am liebsten sofort
aufgestanden und in das Schlafzimmer ihrer Eltern gerannt
wäre. Sie konnte sich nicht eine ganze Nacht lang die
Geräusche anhören, ohne jemand anderem davon etwas zu
sagen. Das hielt sie einfach nicht aus!
Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Vater mit einer Reisegruppe in
Griechenland war. Er würde erst in drei Tagen wiederkommen.
Ihrer Mutter durfte sie solche Sachen erst recht nicht erzählen.
Sie würde nur in Panik geraten und glauben, dass es im Haus
spukt. Es war wohl ganz gut, dass sie zwei Zimmer weiter im
Bett lag, tief und fest schlief, und von all dem herzlich wenig
mitbekam.
Zunächst hatte auch Sabrina ein bisschen Angst. Mit einer
Gänsehaut auf dem Rücken kauerte sie sich zusammen,
während sie horchte. Aber bald schon wurde sie mutiger,
sodass sie ein schwaches Licht anknipste, sich auf einen Stuhl
stellte und direkt an der Decke horchte. Die Menschen, die dort
oben waren, unterhielten sich nicht nur, nein, zwischendurch
lachten sie auch mal. Es mussten mehrere verschiedene Leute
sein, denn Sabrina konnte bald mehrere verschiedene
Lacharten heraushören. Da war einer, der lachte so laut auf, als
wenn er einen Schluckauf hatte. Dafür war er danach aber auch
eine ganze Weile still. Während ein anderer leiser, dafür aber
so lange lachte, dass man meinen konnte, er wollte nie wieder
damit aufhören.
Schließlich hörte Sabrina, wie irgendetwas leise über den
Boden schleifte. Es war so, als würde man dort oben Möbel
verrücken. Aber es konnten nur sehr kleine, vielleicht sogar
nur Puppenmöbel, sein. Dann aber bullerte es unter der Decke
so laut, dass sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie
fand, dass es sich wie ein Tanz hörte. Aber es musste ein
ziemlich wilder und ausgelassener Tanz sein, bei dem sie
ziemlich heftig auf dem Boden aufstampften.
Sabrina überlegte, ob sie diesen Menschen ein Zeichen geben
sollte. Sie konnte ja einmal kurz gegen die Decke klopfen, oder
vielleicht auch etwas rufen. Wenn sie niemand hörte, brauchte
sie es ja nicht noch einmal zu tun. Dann aber erinnerte sie sich
an die Worte der Vermieterin. Diese Leute dort oben waren
etwas schüchtern und fürchteten sich vor Menschen. Sabrina
war eigentlich ein ziemlich braves Kind und deshalb beschloss
sie, die Bewohner des Dachgeschosses auf keinen Fall zu
erschrecken. Sie stieg wieder hinunter, ging zu Bett, und hörte
von da aus weiter. Es hörte sich ein bisschen so an, als würde
man da oben eine Feier geben. Bald aber wurden die
Geräusche leiser und verstummten schließlich ganz. Sabrinas
Augen fielen zu und am Ende fand sie in dieser Nacht doch
noch ein paar Stunden Schlaf.
Am nächsten Tag war Sabrina kein bisschen müde. Im
Gegenteil, dazu war sie viel zu aufgeregt. In der Schule konnte
sie kaum ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, und als sie zuhause
angekommen war und Mittagessen gegessen hatte, musste sie
sofort zu der Vermieterin, und ihr von dem wundersamen
Erlebnis berichten. Die Vermieterin wohnte selber nicht im
Haus. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus, das am anderen Ende
der Straße stand.
„Aha, da haben die Schürigs wohl endlich mal etwas von sich
hören lassen“, sagte sie und grinste dabei.
„Die Schürigs?“ fragte Sabrina. „Heißen sie etwa so?“
Die Vermieterin nickte.
„Und warum haben wir bisher noch nie etwas von ihnen
gehört?“ fragte Sabrina weiter. „Warum zum ersten Mal in
dieser Nacht?“
„Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete die
Vermieterin. „Denn ich kenne sie genauso wenig wie du. Du
weißt, dass ich dieses Haus erst seit einem halben Jahr
vermiete. Seitdem meine Großmutter gestorben ist. Und ich
habe diese Familie selber noch nicht einmal gesehen. Ich
kenne nur die Geschichten, die man mir über sie erzählt hat
und dass sie immer pünktlich ihre Miete bezahlen.“
Sie lachte.
„Hm“, meinte Sabrina. „Glaubst du, es wäre gut, wenn ich
vielleicht mal an ihrer Tür klopfe, oder vielleicht auch an der
Decke?“
„Nein, das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, sagte
die Vermieterin. „Damit verängstigst du sie nur. Meine Oma
hat mir gesagt, man kann mit dieser Familie wirklich sehr viel
Spaß und Freude haben, aber man muss auch sehr geduldig mit
ihnen sein. Man muss warten, bis sie von allein kommen und
einen besuchen, denn das tun sie ganz bestimmt, wenn sie
glauben, im Haus wohnt jemand, dem sie vertrauen können.“
In den nächsten Tagen war Sabrina so damit beschäftigt zu
horchen, dass sie alle anderen Dinge fast vergaß. Sie horchte
nicht nur abends, wenn sie im Bett lag, nein, auch tagsüber.
Wenn sie zum Beispiel am Schreibtisch saß und ihre
Hausaufgaben machen sollte, traute sie sich manchmal für fünf
Minuten nicht, den Stift zu bewegen. Immer hatte sie das
Gefühl, von oben etwas gehört zu haben, aber meist war es nur
ihre Mutter, die in der Küche mit dem Geschirr
herumklapperte.
Die Mutter wunderte sich sehr bald über Sabrinas
merkwürdiges Verhalten. Nicht nur, dass sie für ihre
Hausaufgaben immer viel länger brauchte. Nein, sie machte
auch fast nie mehr Musik in ihrem Zimmer an. Beim Essen
sprach sie viel weniger mit ihr und sah dabei auch so aus, als
ob sie mit den Gedanken gar nicht richtig da war. Manchmal
schob sie sich das Essen sogar am Mund eigenen vorbei. Und
wenn sie sie darauf ansprach, reagierte sie so erschrocken, dass
sie die Gabel mit einem lauten Knall auf den Teller
zurückfallen ließ.
„Siehst du Gespenster?“ fragte sie dann. Aber Sabrina druckste
nur herum. Solange die Mutter diese Geräusche nicht selber
hörte, wollte sie ihr nichts davon erzählen.
Und ab und zu hörte sie von oben auch etwas. Aber so laut wie
in dieser einen Nacht wurde es nie wieder. Oftmals waren es
auch keine Stimmen oder die Geräusche von auftretenden
Füßen, sondern nur, dass ein Gegenstand mit einem Knall oder
mit etwas Geschepper zu Boden fiel.
Nach einigen Tagen aber hatte sich Sabrina an die Geräusche
gewöhnt und beachtete sie kaum noch. Nur ab und zu saß sie
da und malte sich aus, was für eine Familie das wohl sein
könnte, die dort oben wohnte. Und dann fand sie es fast noch
schöner, dass sie die Leute eigentlich nicht kannte, weil es so
wunderbar geheimnisvoll war. Sie konnte ihrer Phantasie
freien Lauf lassen und sich allerlei Geschichten über sie
ausdenken. Und wenn sie mal wieder das Gefühl hatte, dort
oben lachte jemand, dann lachte sie einfach mit. Und wenn sie
das Gefühl hatte, dort sang jemand, dann versuchte sie, die
Melodie mitzusummen. Manchmal hörten sie dann auf, oder
gaben verdutzte Geräusche von sich. Dann freute sich Sabrina,
weil sie auf diese Weise mit ihnen geredet hatte.
Über eine Sache aber wunderte sie sich immer wieder.
Nämlich, dass immer noch niemand die Treppe, die nach oben
führte, benutzt hatte. Ihre Mutter schien hingegen von alldem
nichts mitzubekommen. Seltsam. Entweder diese Geräusche
ertönten nur direkt über ihrem Zimmer, oder sie konnten von
Erwachsenen nicht gehört worden.
Eines Tages war Sabrina allein zu Hause, als es plötzlich an
der Tür klingelte. Ihr Vater war gerade in Schottland und ihre
Mutter im Supermarkt, um einzukaufen. Vorsichtig schlich sie
sich zur Wohnungstür hinüber. Zum Glück gab es im Haus eine
Sprechanlage. Wenn dort jemand war, den sie nicht kannte,
brauchte sie ihm nicht zu öffnen. Aber bevor sie es schaffte,
auf den Knopf zu drücken, klopfte jemand vom Flur aus an die
Tür.
Vielleicht sind es die Schürigs, dachte Sabrina, und ihr Herz
wäre ihr beinahe in die Hose gerutscht. Doch nur eine Sekunde
später ertönte die Stimme der Vermieterin.
„Ist jemand zuhause?“
Sabrina beeilte sich, die Tür aufzumachen.
„Ach, da ist ja endlich jemand“, sagte die Vermieterin und
strahlte sie freundlich an. In den Händen hielt sie einen großen
braunen Sack, der oben mit einem Faden zugeschnürt war.
„Ist deine Mutter eigentlich auch da, Sabrina?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ach, das ist schade. Aber du kannst ihr diesen Sack ja ebenso
geben. Richte ihr dazu einen schönen Gruß aus.“
„Was ist denn in dem Sack drin?“ fragte Sabrina neugierig.
„Ja, das frage ich mich selber“, sagte die Vermieterin. „Darf
ich vielleicht einmal kurz reinkommen?“
Sabrina trat zur Seite und sie setzten sich gemeinsam an den
Küchentisch, wo die Vermieterin den Sack in aller Ruhe öffnen
konnte. In seinem Inneren waren hunderte, wenn nicht
tausende von kleinen Körnern. Sabrina nahm ein paar davon in
die Hand und fand, dass sie wie kleine Sterne aussahen.
„Weißt du, was das ist?“ fragte die Vermieterin. „Ich habe so
etwas noch nie gesehen. Sie kommen mir aber ein bisschen vor
wie Samenkörner. Deshalb wollte ich deine Mutter mal fragen,
ob sie etwas damit anfangen kann. Sie arbeitet doch noch in
der Gärtnerei Schmitzke, oder etwa nicht?“
„Doch, doch“, antwortete Sabrina. „Aber wo haben sie diese
Körner denn gefunden?“
„Unten im Keller. Dort liegt noch allerlei altes Zeug, von
meiner Großmutter herum. Ich bin nämlich noch gar nicht dazu
gekommen, dort unten für Ordnung zu sorgen. Aber dieser eine
Sack stand in einem ganz besonderen Fach, dort wo sie die
wichtigsten Dinge ihres Lebens aufbewahrt hatte. Und an
Schnüre war ein Etikett angebracht, wo draufstand: Ganz
besonders wertvoll. Bitte gut aufbewahren. Aber sonst stand
nichts dabei. Keine Erklärung oder dergleichen.“
„Hm“, sagte Sabrina. „Das ist ja seltsam. Aber bis meine
Mutter wiederkommt, könnte es noch ein oder zwei Stunden
dauern. Sie muss nämlich heute ganz besonders viel einkaufen,
weil mein Vater am Wochenende wiederkommt. Er hat
Geburtstag und will eine Feier machen.“
„Na, dann sagt aber rechtzeitig dem Ehepaar Müller Bescheid.
Nicht, dass sie sich wieder wegen zuviel Lärm beschweren.“
Da die Vermieterin nicht soviel Zeit hatte, um so lange zu
warten, verabschiedete sie sich und ging.
Danach saß Sabrina eine ganze Weile da und rätselte, was es
mit diesen merkwürdigen Körnern wohl auf sich haben
können. Sie hatten wirklich eine merkwürdige Form, und sie
fühlten sich auch ein bisschen seltsam an. Sie waren nicht hart,
aber auch nicht so weich, dass man sie zerquetschen konnte.
Ja, eigentlich konnte man sie fast mit einem Gummi
vergleichen. Wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger
zu doll drückte, sprangen sie einem urplötzlich in die Höhe.
Sabrina überlegte schon, ob sie eines von Mamas vielen
Pflanzenbüchern hervorholen und nachgucken sollte, als sie
sich plötzlich zu etwas anderem entschied. Sie hatte doch in
ihrem eigenen Zimmer noch eine große Blumenvase, in die sie
noch nichts gepflanzt hatte. Wieso legte sie nicht einfach ein,
oder vielleicht auch zwei oder drei der Körner hinein, goss sie
ein bisschen und wartete dann ab, was passierte. Wenn die
Pflanze genauso sonderbar war, wie die Körner, dann würde
ihre Mutter aber ziemlich darüber staunen. Es wäre doch ein zu
tolles Ding, dass ihre kleine Tochter eine Blume
hervorzauberte, die sie selbst als Gärtnerin noch nie gesehen
hatte.
Also tat Sabrina das, was sie sich ausgedacht hatte, und
versteckte danach den Sack in ihrem Schrank. Als die Mutter
nach Hause kam, erzählte sie ihr nicht, dass die Vermieterin zu
Besuch gekommen war und ein Geschenk mitgebracht hatte.
Der nächste Tag war ein Freitag und die Mutter weckte sie
etwas später als normal. Sie hatte ein bisschen verschlafen,
weil sie am Abend zuvor noch einen Geburtstagskuchen für
den Papa gebacken hatte. Deswegen merkte Sabrina gar nicht,
dass in dem großen Blumentopf schon ein kleiner Spross
empor gekeimt war. Nach gerade einmal einer Nacht!
Erst als sie aus der Schule zurück war, hatte sie die Zeit dazu,
ihr selbst heran gezüchtetes Gewächs etwas genauer zu
betrachten. Und sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus!
Das Gewächs war in der Zwischenzeit mindestens zwanzig
Meter gewachsen. Es hatte sogar schon Blätter bekommen. Sie
waren zwar noch ein bisschen klein und fipsig, aber wenn es
weiter mit einer solchen Schnelligkeit wuchs, dann würde es
bald ein prächtiges Blätterkleid bekommen. Die Pflanze wuchs
aus der Mitte des Topfes hervor, aber Sabrina sah, dass in vier
Ecken weitere Keime heranwuchsen.
Als ihre Mutter anklopfte, wollte sie ihr voller Stolz ihr
Züchtung zeigen, aber diese hatte keine Zeit dafür. Sie wollte,
dass Sabrina zum Mittag kam und danach in ihrem Zimmer
selbstständig den Teppich saugte. Denn sie hatte an diesem
Wochenende soviel zu tun, dass sie kaum wusste, was sie
zuerst und zuletzt anfangen sollte.
Na, dann hebe ich mir die Überraschung noch ein bisschen
länger auf, dachte Sabrina. Vielleicht bis Morgen, denn morgen
war ja der Geburtstag ihres Vaters.
Sie goss die Pflanze, aber nur ein bisschen. Nicht, dass ein paar
Stunden später ihr Zimmer wie ein einziger Urwald aussah.
Am Abend ging Sabrina viel später ins Bett als sonst. Papa war
nämlich zurückgekommen und erzählte beim Abendbrot von
all seinen Erlebnissen unterwegs. Außerdem war ja Freitag und
sie konnte am nächsten Morgen lange ausschlafen. Vorm Zu-
Bettgehen kontrollierte sie allerdings noch einmal die Pflanze,
und war beinahe schockiert!
Sie war in der Zwischenzeit so gewachsen, dass sie bald den
halben Weg zur Zimmerdecke erreicht hatte. Auch die vier
Keime in den Ecken des Blumentopfes hatten sich verändert.
Im Gegensatz zur Mittelpflanze, die geradeaus wuchs,
wuchsen diese spiralförmig um sie herum. Es sah beinahe wie
eine Art Zopf aus. Trotzdem bildeten sie auch dünne Seitenäste
aus, an denen Blätter keimten. Aber nicht nur Blätter, an den
Enden mancher Zweige hing etwas, was so wie Glocken
aussah. Waren das etwa schon die Ansätze der ersten Blüten?
Sabrina bekam es beinahe ein bisschen mit der Angst zu tun,
als sie das sah. Man stelle sich nur vor, die Pflanze war so
stark, dass ihre Wurzeln den Blumentopf zersprengen konnten.
Vielleicht noch mitten in der Nacht, wenn sie schlief.
Aber sie beruhigte sich schnell wieder und ging zu Bett. Denn
der Abend war lang gewesen, und nun war sie müde.
Schade, dass sie so schnell einschlief! Denn dann hätte sie
sehen können, wie sich die Glocken in der Nacht langsam
öffneten und sich zu sternförmigen Blüten umwandelten. Aber
sie waren nicht nur sternförmig, nein, sie leuchteten auch wie
Sterne. Und zwar nicht nur in gelb, sondern auch in blau, rot
oder grün. Es war ein wirklich wunderbarer Anblick, aber als
Sabrina am nächsten Morgen aufwachte, war von alldem nichts
mehr zu sehen. Das einzige, was sie sah, war, dass die Pflanze
weiter gewachsen war. Die Spiralen, die sich um den
Hauptstängel gebildet hatten, waren mittlerweile so dick und
fest geworden, dass sie wie eine dicke Kordel aussahen. Nur
noch wenige Zentimeter fehlten, und die Pflanze hatte die
Decke erreicht.
Als am Abend Papas Gäste da waren, seine Eltern, seine
beiden Schwestern, von denen eine ein Baby hatte, und ein
paar Arbeitskollegen, durften sie natürlich alle in Sabrinas
Zimmer kommen, um die Wunderpflanze zu bewundern.
Der Mama stockte fast der Atem, als sie das sah.
„So schöne große, weiße Glocken!“ sagte sie und musste sich
am Schreibtisch festhalten, damit sie nicht vor Schreck umfiel.
„So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Und dieser
merkwürdige Stängel… falls man es überhaupt Stängel nennen
darf, dass… dass… ist ja. Was für eine Pflanze ist das, die du
mir da eingepflanzt hast?“
„Tja, da sieht man mal, dass sogar eine erfahrene Gärtnerin
wie du von seiner eigenen Tochter noch was lernen kann!“
sagte der Papa, und kraulte seiner Tochter anerkennend durch
das Haar.
„Und das Beste ist ja, dass sie in gerade einmal zwei Tagen
gewachsen ist!“ rief Sabrina triumphierend.
„Nein!“ sagte die Mutter nur. „Liebes Kind, das kann nicht
sein! Und da weiß ich als erfahrene Gärtnerin ganz sicher mehr
als du. Keine Pflanze dieser Welt kann so schnell wachsen!
Egal wie man sie gießt. Egal, was für einen Dünger sie
bekommt.“
„Aber wenn ich es doch sage!“ maulte Sabrina.
„Eine wirklich nette Tochter hast du“, sagten Papas
Arbeitskollegen. „Und was für eine Phantasie sie hat.“
Wirklich zu glauben wollte ihr an diesem Abend niemand.
Außer Papa vielleicht ein bisschen. Aber es klang doch eher so,
als wollte er nur ein paar dumme Witze machen wollte, um
Mama zu ärgern.
„Wenn dieser Strauch aber die nächsten Tage weiter so wächst,
wie Sabrina gesagt hat, dann sollten wir schnellstens sehen,
dass wir den bei irgendwem im Garten auspflanzen. Denn
ansonsten wächst der uns noch dieses Wochenende durch die
Decke hindurch.“
Sabrina erstarrte, als sie das Wort Decke hörte und musste
sofort an die Gesellschaft dort oben denken, die genauso
seltsam zu sein schien wie diese Pflanze.
„Nein, das werde ich zu verhindern wissen“, sagte die Mutter.
„Spätestens am Montag werde ich dieses Gewächs einmal mit
in die Gärtnerei nehmen und meine Chefin, die Frau Dinkler
fragen. Vielleicht hat die ja eine Ahnung, was das ist.“
„Aber Mama!“ beschwerte sich Sabrina. „Es ist doch mein
Gewächs.“
„Ja, mein Liebes. Aber ich glaube nicht, dass wir diese
Monsterpflanze bei uns in der Wohnung behalten können. Dies
hier ist eine gewöhnliche Stadtwohnung und kein botanischer
Garten.“
Da es Papas Geburtstag war, ging Sabrina auch an diesem
Abend wieder spät ins Bett. Als sie die Pflanze vorm
Zubettgehen noch einmal betrachtete sah sie, dass sie
tatsächlich die Decke erreicht hatte. Eigentlich hätte sie nun
trotzig zur Mutter gehen und es ihr zeigen können. Aber sie
war ein bisschen beleidigt, dass ihr niemand glauben wollte.
Deshalb ging sie, ohne etwas zu sagen, ins Bett.
Sie konnte nur wenige Stunden geschlafen haben, als sie erneut
erwachte. Sie hatte Geräusche gehört, genau wie in der Nacht,
als sie zum ersten Mal von der Familie im Dachgeschoss
gehört hatte. Doch nachdem sie sich den Schlafdreck aus den
Augen gerieben hatte, vergaß sie dies sofort. Denn da hatte sie
nur noch Augen für den leuchtenden Zauberbaum, der dort in
der Ecke in ihrem Zimmer stand.
Kann man sich so etwas vorstellen? Einen Baum, auf dem
lauter bunte Sterne leuchten? Sabrina war so fasziniert davon,
dass ihr nichts daran unheimlich war.
Wenn in ein paar Monaten Weihnachten ist, werde ich die
übrigen Samen für viel Geld verkaufen, dachte sie nur. Denn
wer möchte zu Weihnachten nicht gerne einen Baum haben,
der leuchtet, ohne dass man erst mit viel Mühe und Not eine
Weihnachtskette anbringen muss?
Angst bekam sie erst, als sie wieder die Geräusche hörte. Sie
kamen zwar von oben, aber nicht aus dem Dachgeschoss.
Nein, aus ihrem eigenen Zimmer kamen sie. Es war so, als ob
irgendjemand an der Decke kratzte. Oder vielleicht sogar in sie
hineinbohrte. Dann hörte es sich auch immer wieder so an, als
ob feiner Sand oder Staub zu Boden fiel. Erst als das Kratzen
so laut war, dass man eine Gänsehaut bekam, und eine
Sekunde später ein paar richtige Brocken auf dem Boden
aufbullerten, erwachte Sabrina aus ihrer Starre.
Panisch vor Entsetzen knipste sie das Licht an, und schon hatte
sie den Übeltäter gefunden! Die Pflanze war es, niemand
anders als die Pflanze! Und sie hatte noch nicht einmal den
Anstand, damit aufzuhören, jetzt, wo sie ertappt war. Wie eine
dicke grüne Schraube bohrte sie sich weiter in die Decke
hinein, dass der Staub vom Putz nur so herunterrieselte. Wie
auf einer Baustelle. Zur gleichen Zeit hörten natürlich auch die
Sterne auf zu leuchten und verwandelten sich zu weißen
Glocken zurück. Aber das bemerkte Sabrina kaum. Jetzt
konnte sie nur noch an die Decke starren.
Vielleicht wäre sie ein paar Augenblicke später zu ihren Eltern
gelaufen, hätte sie wach gemacht, und ihnen alles gezeigt.
Doch dann hörte sie neue Geräusche, die sie erstarren ließen,
und diese kamen nun wirklich aus dem Dachgeschoss.
Die Familie, dachte Sabrina beunruhigt. Wir sollen sie nicht
stören, aber sie werden sich sicherlich gestört fühlen, wenn
sich etwas von unten durch die Decke bohrt.
Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob es gut war, diese Pflanze
heimlich zu pflanzen. Sie hätte ja nicht ahnen können, was für
einen Ärger sie ihr machen würde.
Es musste eine ziemlich aufgeregte Unterhaltung sein, die da
oben stattfand, denn die Stimmen gingen immerzu auf und ab.
Schließlich aber wurden sie von einem wirklich lauten Krach
übertönt, und das war, als sich ein richtig großer Stein aus der
Decke löste. Mit einem lauten Bums fiel er zu Boden.
Wie gut, dass unter ihnen der einsame Mann und nicht das
Rentnerehepaar wohnte. Die hätten sich jetzt bestimmt wieder
über den Lärm beschwert.
Sabrina wusste, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, ihren
Eltern Bescheid zu sagen. Aber sie war so gelähmt, dass sie es
nicht mehr wagte, sich vom Fleck zu rühren. Nach dem großen
Brocken fielen noch ein paar kleinere Steinchen herab, aber
das Schlimmste war jetzt überstanden. Dafür waren die
Stimmen von oben noch deutlicher zu hören, denn anscheinend
hatte die Pflanze bereits ein Loch in die obere Wohnung
hindurchgebohrt. Doch den Stimmen nach zu urteilen, schien
deswegen niemand betrübt zu sein. Im Gegenteil, man schien
sich beinahe darüber zu freuen.
Sabrina versuchte genauer zu lauschen, und bald schon glaubte
sie, einzelne Worte herauszuhören. Die dort oben sprachen
Deutsch, soviel war klar.
„du zuerst“, hörte sie eine eher hohe Stimme sagen, während
im Hintergrund ein leiser, aber fröhlicher Gesang erklang.
Bald aber wurde dieser Singsang von einem weit weniger
melodischen Gebrumme übertönt. Und dieses Gebrumme
schien durch das Loch in der Wand zu klettern und immer
weiter in Sabrinas Zimmer hinunterzukommen. Das wurde ja
immer unheimlicher. Konnte diese seltsame Pflanze nun etwa
auch singen?
Aber nein. Es war nicht die Pflanze, die da gesungen hatte, es
war das Männchen, dass sich kurze Zeit später zwischen den
dicken spiralförmigen Stängeln des Gewächses
hindurchquetschte. Es war ein ziemlich seltsames Männchen.
Sabrina hatte schon längst vermutet, dass die Menschen dort
oben im Dachgeschoss kleiner waren als gewöhnliche
Menschen. Aber so klein? Den konnte sie ja locker mit einer
einzigen Hand tragen, und das, obwohl sie noch ein kleines
Mädchen war.
Sabrina betrachtete das Männchen genauer und fand, dass es
ein bisschen altmodische gekleidet war. Hose und Jacke waren
braun und sahen ein bisschen lumpenhaft aus. Auf dem Kopf
trug es einen Hut, der ebenfalls braun war, und unter dem
dunkles, dichtes, lockiges Haar zum Vorschein kam. Das
fremde Wesen war eindeutig ein Mann, und zwar ein richtiger
Mann, kein Junge. Das sah man ihm deutlich an, wenn er auch
ziemlich klein war. Denn er trug auch einen Bart im Gesicht,
der unterm Kinn zwar lang und spitz herunterhing, der aber
nicht besonders dicht war.
„Hallo“, grüßte der kleine Mann und winkte ihr freundlich zu.
Sabrina war zunächst ein bisschen verdutzt, weil er überhaupt
nicht schüchtern zu sein schien. Dann aber freute sie sich wie
eine Schneekönigin. Sie erinnerte sich an die Worte der
Vermieterin. Wenn sie glauben, jemandem vertrauen zu
können, kommen sie ganz von alleine.
„Hallo“, sagte Sabrina leise. „Was bist du denn für einer?“
„Mein Name ist Honzi Hossenheim“, antwortete der Mann.
„Ich bin vor ein paar Tagen dort oben eingezogen.“
„Vor ein paar Tagen erst?“ fragte Sabrina. „Ich dachte, ihr
wohnt schon viel länger dort oben. Die Besitzerin dieses
Hauses hat gesagt, schon seit vielen Jahrzehnten. Schon, als
ihre Großmutter dieses Haus noch vermietet hat.“
„Das stimmt“, antwortete Honzi. „Das Ehepaar Schürig wohnt
bereits seit vielen Jahren da. Aber ich und meine Familie, wir
sind erst vor etwa zwei Wochen dort eingezogen. Hast du nicht
gehört, wie wir damals eine große Feier veranstaltet haben?
Bis in die tiefe Nacht hinein haben wir uns an der Hand
gehalten, einen Kreis gebildet und getanzt wie die Wilden.
Hast du das gar nicht gehört? Es muss doch ziemlich laut
gewesen sein. Denn wir hatten noch Gäste da, die uns beim
Umzug geholfen haben.“
„Doch“, antwortete Sabrina und nickte. „Ich bin mitten in der
Nacht aufgewacht. Und seit diesem Tag habe ich noch öfters
was von euch gehört. Früher habe ich nie etwas gehört, und ich
habe manchmal gar nicht glauben können, dass dort oben
tatsächlich jemand wohnt.“
„Das liegt daran, dass die Schürigs schon sehr alt sind“,
erklärte Honzi. „Sie reden nicht mehr viel und sie kommen fast
nie mehr aus der Schublade, in der sie wohnen heraus.
„Schublade?“ fragte Sabrina ganz überrascht. „Sie wohnen in
einer Schublade?“
„Ja, freilich. Halb aufgezogene Schubladen sind die Orte, wo
wir Dachbodenbewohner am liebsten wohnen. Vor allem die
älteren davon uns. In der Hälfte, die noch im Schrank steckt,
hat man es wunderbar dunkel. Wenn man ein paar kleine
Kissen und dünne Decken dort hinlegt, hat man eine
gemütliche Schlafecke, in der man sogar tagsüber gut schlafen
kann. In der Ecke, die offen ist, kann man sich einen kleinen
Tisch und ein paar Stühle aufstellen. Wenn die Schublade sehr
hoch ist, hat man von dort oben eine wunderbare Aussicht über
den gesamten Dachboden. Von dort aus beobachten die
Schürigs immer meine Kinder beim Spielen. Sie sind so froh,
dass endlich wieder ein bisschen Leben in der Bude ist.“
„Du hast also Kinder?“ fragte Sabrina. Sie war jetzt hellwach
und sie spürte, dass dies eine der aufregendsten und schönsten
Nächte in ihrem Leben werden würden.
„Ja, klar, habe ich Kinder“, antwortete Honzi. „Der älteste
heißt Joppo. Er ist bereits ein großer Junge. Lange wird‘s nicht
mehr dauern und er wird ein kleiner Mann sein. Mein kleinster
Sohn hingegen ist noch ziemlich jung. So jung, dass er nicht
einfach so in den Schränken und Gardinen herumklettern kann
wie die anderen beiden. Er heißt übrigens Fenno. In der Mitte
zwischen beiden aber habe ich ein Mädchen. Ihr Name ist Neli
und sie dürfte in deinem Alter sein.“
„In meinem Alter?“ fragte Sabrina. „Das kann ich mir gar nicht
vorstellen. Sie ist doch mit Sicherheit viel kleiner als ich.“
„Das stimmt allerdings. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass
ihr euch richtig gut verstehen werdet. Sie sehnt sich nach einer
Freundin, weil sie das einzige Mädchen in der Familie ist.
Mein Bruder hat nämlich auch drei Kinder, und das sind alles
Jungs.“
„Ja, aber warum kommt sie dann nicht einfach runter zu mir?“
fragte Sabrina.
„Sie haben noch ein bisschen Angst“, antwortete Honzi.
„Deswegen haben sie mich vorgeschickt, weil ich der
Familienvater bin. Aber wenn ich ihnen ein Zeichen gebe, dass
du harmlos bist, werden sie sogleich die Traumblume
herunterkommen. Nur Fenno wird wohl oben, bei meiner Frau
Malli, bleiben. Wie gesagt, er ist noch nicht so geschickt im
Klettern.“
Sabrina lachte.
„Ich bin ganz bestimmt nicht gefährlich“, sagte sie. „Ihr könnt
ruhig in mein Bett kommen und ich werde nicht fressen. Aber
sie dürfen nicht so laut sein, denn sie dürfen meine Eltern nicht
wecken. Meine Mama ist es nämlich ein bisschen unheimlich,
dass dort oben Leute wohnen, die wir nicht kennen. Sie wäre
bestimmt nicht begeistert, euch hier bei mir zu sehen.“
„Na, dann muss ich Neli wohl sagen, dass sie aufhören zu
singen soll“, sagte Honzi. „Sie sing nämlich so gerne. Hörst du
es?“
Ja, Sabrina hörte es. Sie sang beinahe ein bisschen wie ein
Engel, fand sie. Im nächsten Augenblick aber stieß Honzi
einen Pfiff aus und dann hörte sie, wie sich im Inneren der
Pflanze erneut etwas bewegte. Nun kamen sie also, Honzis
Kinder. Sabrina rieb sich die Hände, weil sie es kaum erwarten
konnte.
Und drei Minuten später saßen sie tatsächlich bei ihr auf der
Bettdecke. Honzi, Joppo und Neli. Joppo hatte ähnliche
Kleider an wie sein Vater. Er hatte aber keinen Hut. Und bei
ihm war auch nur die Hose braun, während die Jacke
dunkelgrün war. Er sah insgesamt auch etwas ordentlicher aus.
Wenn sie ihn genauer ansah, dann fand sie beinahe, dass er
etwas edles an sich hatte. Er hatte helles, glattes Haar und sein
Gesicht hatte sehr kräftige Züge. Trotzdem sah er sie
schüchtern an. Oder sagen wir besser, geheimnisvoll.
Neli hingegen hatte langes, glattes und dunkles Haar. Sie war
in ein wolkenweißes Kleid gehüllt, auf dem winzige silberne
Sterne glänzen. Sie war ein bisschen dick, aber sie hatte ein
sehr freundliches und verträumtes Gesicht.
„So groß bist du!“ staunte sie, als sie Sabrinas dicken Finger
betastete. „Ich bin noch nie einem so großem Menschen so
nahe gewesen.“
Sabrina musste ein bisschen kichern. Sie erinnerte, dass die
Kinder in ihrem alten Wohnblock immer gesagt hatten, sie sei
viel zu klein.
Eine Weile saßen sie alle zusammen auf ihrem Bett und taten
nichts, als sich gegenseitig anzustarren. Die Kinder schienen
nicht so gesprächig zu sein wie der Vater, der wieder zur
Pflanze zurückgekehrt war, um die Gesundheit ihrer Blätter zu
begutachten. Doch das täuschte. Als das Eis zwischen ihnen
erst einmal gebrochen war, schwatzten sie drauflos, was das
Zeug hielt.
Am Anfang redete meist Neli. Sie erzählte Sabrina alles von
dem Leben, dass die Familie auf dem Dachboden führte. Auf
einem Brett in einem Regal hatte sie sich so etwas wie ein
eigenes Zimmer eingerichtet. Eine Pappröhre hatte sie mit
Stoffen ausgelegt, sodass sie eine richtig gemütliche
Kuschelhöhle zum Schlafen hatte. Dann hatte sie noch mit
einem Bindfaden einen Sack an die Decke gebunden, in dem
sie manchmal schaukelte. Besondere Mühe hatte es ihr
gemacht eine große Schale mit lauter kleinen Plastikperlen auf
ihr Regalbrett zu tragen. Joppo und der Vater hatten ihr dabei
geholfen, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Denn sie liebte es,
an manchen Tagen ein Perlenbad zu nehmen und ihren kleinen
Körper in ihnen unterzutauchen. Wenn es ihr abends zu dunkel
war und sie noch etwas machen wollte, brauchte sie nur eine
der beiden Kerzenstummel anzünden, die sie in ihrem Zimmer
hatte. Sabrina überlegte sich, wie eine solche Kerze wohl
aussah, wenn man so klein wie Neli war. Wie eine große
brennende Säule musste sie für sie sein. Wenn Neli in ihrem
Zimmer ungestört sein und nicht beobachtet werden wollte,
brauchte sie bloß den Vorhang zu ziehen, den sie an der
Außenseite des Regals angebracht hatte. Den Stoff dafür hatte
sie in einer Schublade gefunden. Worauf sie aber am
allerstolzesten war, war die Holzrinne, die von dem Boden in
ihre Regaletage hinaufführte. Wenn sie dort hinunterrutschte,
war sie in Windeseile unten und brauchte nicht erst eine
anstrengende Kletterpartie zu machen.
Ihr Bruder Joppo lebte nicht im selben Regal wie sie. Er hatte
sich sein Zimmer auf einer Holzfläche eingerichtet, die direkt
unterm Dach lag. Es war die höchste Wohnfläche, die es auf
dem Dachboden gab. Er mochte es nämlich, weit oben in der
Höhe zu sein, wo ihn niemand störte. Während Neli geredet
hatte, hatte er meist schweigend auf der Bettkante gesessen
und die Beine baumeln lassen. Sabrina dachte zunächst, er
wolle nichts mit ihr zu tun haben, aber dann fing auch er zu
erzählen an.
Oh, was für eine geheimnisvolle Stimme er hatte! Sabrina
konnte sich kaum entscheiden, ob sie eher aus einem Märchen
oder aus einer Schauergeschichte stammen könnte. Zunächst
bekam sie eine Gänsehaut, als sie ihm zuhörte, aber dann war
es einfach nur schön und unheimlich spannend. Neli hatte mit
ihr geredet, wie die Mädchen in ihrer Schulklasse mit ihr
redeten. Sie hatte ihr von ihrem Zimmer erzählt, von der
Familie, von ihren Spielen. Joppo hingegen redete über ganz
andere Dinge. Er liebte es, in der Höhe auf den Stützbalken
spazieren zu gehen. Manchmal blieb er dabei stehen,
beobachtete die Fliegen, und versuchte, ihre Sprache zu lernen.
Jeden Tag kletterte er mindestens einmal zu der kleinen
Dachbodenluke herüber und spähte in die weite Welt hinaus.
Er musste doch schauen, ob die dunklen Ritter auf ihren
fliegenden Pferden angeritten kamen und versuchten, seine
Familie anzugreifen. Er selber wollte, sobald er groß war,
selbst ein großer Ritter werden, aber einer der guten, nicht der
bösen Seite. Er übte dafür jetzt schon mit einem Holzschwert,
dass er sich selbst geschnitzt hatte. Er machte seine Übungen
sogar auf den Querbalken des Daches. Der gesamten Familie
wurde schwindelig dabei, wenn sie ihm dabei zusehen musste.
Aber er sagte, ein guter Ritter darf niemals Angst vor tiefen
Abgründen haben.
Sabrina fragte ihn einmal, ob das, was er erzählte, ernst
gemeint war, oder ob es nur Märchen und Phantasien waren.
Aber darüber schwieg er, wie über viele andere Dinge, die sie
gerne von ihm gewusst hätte.
Je länger ihr die beiden aber erzählten, desto trauriger fand
Sabrina es, dass sie selbst nicht so klein war, und auf dem
Dachboden leben konnte. Sie war schon einmal auf dem
Dachboden ihrer Oma gewesen und sie wusste, wie viele
Verstecke es auf so einem Boden geben konnte. Wie gerne
wäre sie selber all die Schränke und Regale hinaufgeklettert.
Wie gerne hätte sie sich aus alten Gardinen und Stoffen ihre
eigenen Kleider zusammengeflickt. Wie gerne wäre sie selber
einmal auf den Dachbalken entlang balanciert, wenn Joppo bei
ihr war, und aufpasste, dass sie nicht herunterfiel. Wie gerne
wäre sie einmal in eine der Schubladen gekrochen und hätte als
kleiner Zwerg in all dem alten Ramsch herumgewühlt.
Und wie sie so davon schwärmte, stand plötzlich Honzi wieder
auf ihrem Bett. Die ganze Zeit war er umhergegangen, hatte
sich in ihrem Zimmer umgeschaut, und sich nicht in die
Gespräche unter Kindern eingemischt. Was wollte er auf
einmal? Wollte er seine Kinder abholen, damit sie wieder nach
oben zurückkehren konnten.
„Oh, könnt ihr nicht für mich vielleicht einmal die
Dachbodentür aufmachen?“ fragte Sabrina ihn. „Dann kann ich
wenigstens einmal bei euch hereinschauen und ich euch
zugucken. Auch wenn es schade ist, dass ich niemals bei euren
Spielen mitmachen kann.“
Dieser Abend war wirklich das sonderbarste, was Sabrina
jemals erlebt hatte. Doch das, was Honzi ihr dann antwortete,
war fast noch sonderbarer.
„Nein, die Bodentür können wir nicht für dich aufmachen. Es
wäre viel zu kompliziert, die schwere Eisenkette zu entfernen.
Wieso kommst du nicht einfach durch das kleine Loch in der
Decke, wie wir es auch tun?“
Sabrina dachte zunächst, er wolle sie veräppeln, aber er meinte
es tatsächlich ernst. Er bat sie, zu der Pflanze, die er
Traumblume nannte, herüberzugehen, und leicht an ihren
glockenförmigen Blüten zu wackeln. Sabrina tat, was er sagte,
und schon bald kullerte eine kleine Kugel in ihre Hand.
„Was ist das?“ fragte sie. „Ein Samenkorn?“
„Nein, das ist ein Traumplätzchen“, erklärte Honzi. „Wenn du
es vor dem Schlafengehen isst, dann kannst du in deinen
Träumen tatsächlich bei uns sein. Jedoch musst du dafür eine
Puppe haben, die in unserer Größe ist. Wie wäre es zum
Beispiel mit der Prinzessin dort in deinem Regal?“
Sabrina holte die Prinzessin herüber in ihr Bett.
„Und nun?“ fragte sie.
„Du legst die Prinzessin auf deine Bettdecke, isst das Plätzchen
und schläfst ein“, sagte Honzi. „Und sobald du eingeschlafen
bist, wandert deine Seele in die Puppe hinüber. Wenn du mit
deiner Seele in der Prinzessin steckst, wird diese lebendig, und
du kannst mit ihrem Körper hingehen, wo du willst. Dein
echter Körper bleibt aber im Bett zurück. Erst, wenn du zu ihm
zurückkehrst und du dir selbst einen bestimmten Satz in das
Ohr flüsterst, geht deine Seele in deinen echten Körper
zurück.“
„Aber bin ich dann nicht total übermüdet, wenn ich die ganze
Nacht mit euch auf dem Dachboden spiele, anstatt zu
schlafen?“ fragte Sabrina, die von der Geschichte fasziniert
und besorg zugleich war.
„Nein“, sagte Honzi. „Denn dein Menschenkörper schläft ja
weiter. Sobald du aufgewacht bist, wird es dir so vorkommen,
als sei alles nur ein Traum gewesen. Trotzdem wirst du dich an
alles erinnern können. Und wenn du am nächsten Abend
wieder Lust hast, kannst du es ruhig noch einmal probieren.
Wir haben jeden Abend Zeit für dich, denn wir Dachbewohner
sind sowieso eher Nacht- als Tagmenschen.“
„Ganz besonders ich“, schwärmte Joppo. „Das einzige, was
etwas schade ist, ist, dass ich noch nie einem Nachtflügel
begegnet bin. Aber hoffentlich wird es eines Tages noch
passieren.“
„Ein Nachflügel?“ fragte Sabrina. „Was soll denn das sein?“
„Das ist ein Flügel, der dieselbe Farbei wie die Nacht hat,
sodass man ihn nicht sehen kann. Doch du spürst ihn, wenn er
direkt in deine Nähe kommt. Wenn du dann schnell genug bist,
und dich auf ihn draufstellst, kannst du innerhalb kürzester Zeit
zu den unmöglichsten Orten reisen.“
„Zu was für Orten denn?“ fragte Sabrina.
„Zu anderen Kontinenten. Aber auch zu anderen Sternen, wenn
du willst. Oder eben zu all den Orten der Dämmerung, wo die
Tiere und die Wesen der Dämmerung wohnen. Ein normaler
Mensch, und auch wir Dachbewohner können diese Orte aus
eigener Kraft nicht finden. Denn sie sind geheim und die
Wesen der Dämmerung achten darauf, dass niemand sie
entdeckt. Nur ein Flügel der Nacht, der kann einen an alle Orte
bringen, ohne dass man dabei Angst haben muss. Man kann
sich sogar in den Mittelpunkt der Sonne wünschen und er
bildet eine Schutzhülle aus, damit man nicht verbrennt.“
„Oh, ich wünsche, mir würde dieser Flügel der Nacht auch
einmal begegnen“, sagte Sabrina. „Aber am besten nur wenn
du dabei bist, Joppo. Denn mit dir zusammen würde ich
bestimmt niemals Angst haben.“
Sabrina war sich auch sicher, dass ihr ohne Joppo dieser Flügel
ganz sicher nie begegnen würde. Deswegen konnte sie sich gar
nicht genug beeilen, das kleine Plätzchen der Traumblume
herunterzuschlucken. Sie vertrieb die kleinen Menschlein, die
nun allesamt ihre Freunde waren schnell aus dem Zimmer,
denn nun wollte sie nur noch eins: Schnell einschlafen und
ihnen dann hinterdrein folgen.
Niemals zuvor hatte sich Sabrina so seltsam gefühlt, wie in
dem Augenblick, als sie sich selbst beim Schlafen zusah. Sie
war nun klein, nicht einmal so groß wie eine Hand, und das
Zimmer war riesig. Ihr Kleiderschrank sah aus wie ein
Wolkenkratzer, und die Traumblume schien in der
Zwischenzeit noch einmal um das zehnfache gewachsen zu
sein. Er leuchtete wieder so wunderbar in der Nacht, dass sie
sich in ihrem Zimmer gut umsehen konnte. Als sie die
Bettkante heruntersah, kam sie sich vor wie auf einem Drei-
Meter-Turm, nur dass unter ihr kein Wasserbecken war. Aber
Honzi hatte ihr gesagt, dass kleine Leute viel größere Sprünge
machen konnten, und er hatte Recht. Mit einem kleinen Hopser
war sie unten, ohne dass sie dabei ausrutschte oder sich sonst
wie wehtat. Von oben hörte sie bereits, wie Neli ein paar
Lieder für sie sang, und sie beeilte sich, zur Blume zu kommen
und hinaufzuklettern.
Auch das war viel einfacher, als sie es sicher vorher vorgestellt
hatte. Im Innenraum der spiralförmigen Stängel hatten sich
kleine Zweige und starke Blätter ausgebildet, an denen man
heraufklettern konnte, wie in einem Treppenhaus.
„Willkommen bei uns, im Reich der Dachbewohner“, begrüßte
sie eine Frau, sobald sie oben ihren Kopf herausgestreckt hatte.
„Bist du die Malli?“ fragte Sabrina und die Frau nickte.
Sie war ein bisschen dick, und ziemlich kräftig gebaut. Man
sah ihrem Körper und ihrem Gesicht an, dass sie sehr viel
arbeitete. Aber sie sah auch ziemlich gütig aus. Juppo und Neli
konnten froh sein, so eine Mutter zu haben. Und Fenno
natürlich auch. Das war die andere Person, die Sabrina traf, als
sie zum ersten Mal aus dem Loch guckte. Und endlich wusste
sie, zu wem das Lachen gehörte, dass sich wie ein Schluckauf
anhörte. Im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern war er
kein bisschen schüchtern. Er lachte und quasselte immerzu und
wollte auch sogleich mit Sabrina spielen. Aber er war auch
ziemlich tollpatschig und fiel alle paar Sekunden auf die Nase.
Neli fand eine kleine Plastikkugel und sie schlug vor, dass sie
ein Fußballspiel mit Fenno spielen sollten, damit er sich
beruhigte. Juppo aber spielte nicht mit, obwohl er der größte
Junge unter ihnen war. Fußballspielen auf dem Boden, konnte
ihm nicht begeistern. Er hätte es lieber oben auf dem
Dachbalken getan, wo man immer aufpassen musste, dass die
Kugel nicht herunterfiel. Aber das ging nicht, weil Fenno zu
klein war und die Mädchen sich nicht trauten. So kletterte er
auf eine alte Kommode hinauf und schaute ihnen von oben aus
zu.
„Wirklich merkwürdig, was ihr da macht“, sagte er. „Ich habe
noch nie eine Prinzessin Fußball spielen sehen.“
Da erst fiel es Sabrina ein, dass sie ja wie eine Prinzessin
angezogen war. Aber doch nur, weil sie im Zimmer sonst keine
Puppe in Nelis Größe gefunden hatte. Sie aber pfiff darauf,
eine zu sein, und achtete auch nicht darauf, dass sie ihr weißes
Kleid nicht kaputt machte.
„Ich will genauso aussehen, wie ihr“, sagte Sabrina, als Fenno
endlich müde war, und ihn die Mutter mit hinauf in die
Schublade nahm, in der sie wohnten.
„Kein Problem“, meinte Neli und zeigte auf die Kommode, auf
der ihr Bruder noch immer saß. „Siehst du die obere, offene
Schublade? Dort gibt es Nadeln, Garn und Stoffe. Mama hat
dort ein Nähstudio eingerichtet. Sie hat dort auch ein neues,
fertiges Kleid für mich liegen, was ich mir aber noch nicht
abgeholt habe. Das kannst du gerne haben, wenn du willst.“
Also kletterten sie zusammen die Kommode hinauf und
Sabrina war überrascht, wie schnell sie das konnte. Was sie
auch wunderte, war, dass es so hell war. Aber das log wohl an
den Kerzen, die in manchen Ecken des Dachbodens brannten.
Und an den Blumen, die in kleinen Blumentöpfen angepflanzt
waren. Sie leuchteten genauso wie ihre Traumblume, nur
waren ihre Blüten nicht sternförmig und auch nicht so groß.
„Sind das auch Traumblumen?“ fragte Sabrina.
„Nein, Traumblumen nennt man nur die Blumen, die durch die
Decke wachsen, damit Kinder in ihren Träumen zu uns
hinaufklettern können“, erklärte Neli. „Aber mit solchen
Fragen gehst du am besten zu Joppo. Er kennt sich besser mit
den Geheimnissen unserer kleinen Welt aus.“
Als sie aber oben waren, hatte Sabrina keine Zeit dazu. Sie war
zu sehr damit beschäftigt, das dunkelrote Kleid zu bewundern,
das Nelis Mutter genäht hatte. Es passte gut in diese Gegend
hinein, denn es sah geheimnisvoll aus, wie es so im Licht der
Wunderbäume glänzte und schimmerte. Und es war auch nicht
so lumpig, wie die Kleidung von Honzi. Gerne wollte Sabrina
es tragen, während sich Neli das Prinzessinnenkleid borgte.
„So wie ihr ausseht, könntet ihr glatt in einer Modenschau
auftreten“, meinte Joppo und grinste.
„Au ja“, rief Neli vor Begeisterung. „Ich habe gehört, dass es
bei euch großen Menschen so etwas gibt. Ich würde so etwas
gerne mal selber machen.“
Aber Sabrina war dagegen. Sie war hergekommen, um die
Geheimnisse des Dachbodens zu erkunden. Da kann man
Eitelkeiten nicht gut gebrauchen. Sie sah sich auf der
Kommode um, um nach etwas zu suchen, womit man spielen
konnte. Sie entdeckte aber nur ein altes Photo. Ein verstaubtes
Schwarz-Weiß-Photo, das in einem goldenen, verzierten
Bilderrahmen steckt. Es zeigt eine junge Dame in weißem
Kleid und einen jungen Mann in schwarzem Anzug. Es sieht
ganz danach aus, als ob sie ein Brautpaar sind.
„Weißt du, wer diese beiden Leute sind?“ fragt Sabrina Neli.
Aber bevor diese antworten kann, kommt ihr Joppo schon
dazwischen.
„Das sind ein Graf und eine Gräfin, die früher einmal in
diesem Haus gelebt haben.“
„In diesem Haus?“ Sabrina tippte sich mit dem Finger an die
Stirn. Man kann ihr ja eine ganze Menge einreden, aber so
einen Unsinn glaubt sie doch nicht. „Dies hier ist doch ein
ganz normales Wohnhaus. Wahrscheinlich ist es noch nicht
einmal besonders alt. Hier leben doch keine Grafen und
Gräfinnen.“
„Nein, besonders alt ist es wirklich nicht“, antwortete Joppo.
„Besonders alt kann es auch gar nicht sein, denn vor etwas
mehr als einhundert Jahren hat an derselben Stelle noch ein
prächtiges Schloss gestanden. Doch eines Tages hat man es
völlig niedergerissen, nur diese eine Dachbodenkammer ist
geblieben.“
Sabrina wusste nicht recht, ob sie das glauben sollte.
Schließlich hatte sie an diesem Tag schon allerlei verrückte
Dinge gehört und erlebt. Aber es war ja völlig gleich, ob es
wahr war, oder nicht. Joppo konnte gut erzählen und sie wollt
ihm gerne weiter zuhören.
„Wie kann es sein, dass eine einzige Dachbodenkammer
geblieben ist?“ frage sie. „Ohne Haus müsste die doch zu
Boden gekracht sein.“
„Weil sie verzaubert war“, erklärte Joppo. „Die Gräfin und ihr
Mann waren in diese Dachkammer geflohen, weil sie Opfer
einer großen Verschwörung geworden waren. Man glaubte, sie
sei gar nicht die echte Gräfin, sondern eine Schwindlerin. In
Wirklichkeit war es nur ihr böser Onkel, der dieses Gerücht in
die Welt gesetzt hatte. Er war erzürnt darüber, dass sie nach
dem Tod seines Bruders den Thron geerbt hatte und nicht er.
Deswegen tat er alles, um ihr zu schaden. Und er war so
mächtig und listig, dass er es bald geschafft hatte, das gesamte
Volk gegen sie aufzubringen. Welch ein Glück, dass die Gräfin
einmal einer kleinen Elfe das Leben gerettet hat und nun einen
Wunsch bei ihr freihatte. So wünschte sie sich, dass diese
Dachbodenkammer unsichtbar wurde, und niemand sie dort
finden konnte. Ihr Onkel ließ das ganze Schloss nach ihr
absuchen. Er wusste, dass sie noch da war, aber er konnte sie
nirgends finden. Er war so voll Hass gegen sie, dass er am
Ende sogar das eigene Schloss abreißen ließ. Nur diese
Dachbodenkammer nicht, weil niemand sie sah. Und so harrten
die Gräfin und der Graf viele Jahre in dieser Kammer aus, bis
ihr böser Onkel gestorben war. Die Elfe war so großzügig, dass
sie der Gräfin einen zweiten Wunsch gewährte. Und so
wünschte sie sich, dass man um die Dachkammer ein ganz
normales Haus herum baute. Und als dies geschehen war,
lebten sie in dem Haus viele Jahre wie ganz gewöhnliche
Leute. Die große Zeit der Grafen war vorüber, und es hatte ihr
ohnehin mehr Schwierigkeiten als Freude bereitet eine Gräfin
zu sein. Niemand weiß heute mehr, dass hier früher einmal ein
Schloss gestanden hat, nur die Tür zur Dachkammer. Die
starke, hölzerne Tür mit der Eisenkette, sie ist von damals
geblieben.“
Sabrina hatte die ganze Zeit über eher vermutet, dass sich
Joppo die Geschichte nur ausdachte. Aber als er von der
Dachbodentür erzählte, war sie sich nicht mehr sicher. Sie
erinnerte sich daran, dass sie sofort an ein altes Schloss
gedacht hatte, als sie sie zum ersten Mal sah.
Gerne hätte sie ihn auch noch gefragt, ob die Gräfin die
Großmutter ihrer Vermieterin gewesen war. Aber plötzlich
hörte sie, wie Malli nach ihnen rief. Sie stand in einer
geöffneten Schublade in dem kleinen Schrank gegenüber.
„Kommt rüber, meine Kinder! Ich habe für euch ein
Nachtmahl zubereitet, damit ihr nicht verhungert.“
Sabrina hatte noch nie zuvor in der Nacht gegessen. Aber sie
war neugierig darauf, was die Dachbodenbewohner wohl für
Speisen hatten. Deswegen wollte sie schnell herunterklettern.
„Doch nicht klettern!“ sagte Neli da. „Wir nehmen einfach die
Seilbahn.
„Die Seilbahn?“ fragte Sabrina zunächst verdutzt. Doch dann
wusste sie, dass Neli die dünne weiße Schnur meinte, die
zwischen der Kommode und dem Regal aufgespannt war. Sie
war ihr schon die ganze Zeit über aufgefallen, aber sie hatte
nicht gewusst, dass es eine Seilbahn war.
„Die hat Joppo gebaut“, erklärte Neli. „Er ist in solchen
Dingen immer sehr tüchtig.
Also gingen sie herüber zur Kante, wo am Anfang des Seiles
zwei große Schlüsselanhänger hingen. Joppo war als erstes da
und zeigte Sabrina, wie es ging. Er löste den
Schlüsselanhänger aus einer Halterung, umklammerte mit den
Füßen das Plastikteil und schon fuhr er wie ein Sausewind
davon. Es dauerte nicht lange, da war er drüben.
„Kann man die Anhänger auch wieder zurückbewegen?“ fragte
Sabrina. „Es ist nämlich nur noch einer da.“
„Schlecht“, antwortete Neli. „Weil es von drüben aus ja nur
bergauf geht. Sie werden meistens von allein zurückbewegt,
wenn wir schlafen. Joppo behauptet, es seien unsichtbare
Nachtfalter, die das täten.“
Aber die beiden fanden einen Weg, wie sie gemeinsam mit
einem einzigen Schlüsselanhänger fahren konnten. Und
Sabrina war sich sicher, dass es viel mehr Spaß machte, wenn
sie beim Fahren der Freundin ins Gesicht schauen konnte. Da
konnten sie nämlich gemeinsam lachen und sich über die Fahrt
freuen.
Schließlich saß die gesamte Familie in der Schublade, in der
die Schürigs wohnten. Die Schürigs, das waren zwei wirklich
angenehme Leute, die Sabrina schon bald in ihr Herz
geschlossen hatte. Sie sprachen wenig, aber wenn sie sprachen,
dann musste man ihnen ganz aufmerksam zuhören, weil es so
interessant war. Sie erzählten manchmal von unheimlichen
Dingen, wie Joppo, aber meistens erzählten sie von früher, wie
es damals auf den vielen Dachböden gewesen war, in denen sie
gelebt hatten. Einige Geschichten waren sehr traurig. Sie
hatten nämlich auch noch die Zeiten des letzten Krieges erlebt,
und die Oma Schürig, die übrigens von allen auch nur Oma
Schürig genannt wurde, wäre einmal fast verbrannt, als der
Dachstuhl bei einem Angriff ausgebrannt war. Aber auch Opa
Schürig hatte so einiges zu berichten, denn er war in seinem
Leben viel in der Welt herumgekommen. Er vermisste das
Reisen so sehr, und es war so traurig, dass er heute kaum noch
seine Schublade verlassen konnte. Aber zum Glück war jetzt ja
die Familie Hossenheim da, die extra hergezogen war, um den
beiden Alten zu helfen.
„Es ist so schön, dass jetzt wieder ein bisschen Leben bei uns
eingezogen ist“, sagte Oma Schürig und schnurrte zufrieden.
„Und du, Sabrina, kannst so oft zu uns hoch kommen, wie du
möchtest.“
Sie saßen übrigens alle an einem Tisch der eigentlich gar nicht
so groß war, dass sie alle daran gepasst hätten. Aber sie rückten
ein bisschen zusammen, sodass sie es richtig gemütlich hatten.
Auch hatten sie nicht genug Stühle, aber die Kinder konnten
sich auch gut auf die Kante von der Schublade setzen. Als
Essen gab es eine Suppe, die Malli über einer Kerzenflamme
warmgemacht hatte. Sabrina war ein bisschen skeptisch, weil
sie grau und dickflüssig war. Als sie es aber probiert hatte, fand
sie doch, dass es ziemlich gut schmeckte.
„Was ist denn da drin?“ fragte sie.
„Die zerraspelten Flügel einer Stubenfliege und mehrere
Mückenstachel“, antwortete Joppo sogleich.
„Wirklich?“ fragte Sabrina und war ziemlich geschockt.
„Na klar. Und gewürzt wurde die Suppe mit einer Prise
Hausstaub.“
Aber Malli sagte sogleich, dass Joppo nur wieder einen
Quatsch erzählte. Was wirklich in der Suppe war, wollte sie
aber nicht sagen. „Eine gute Hausfrau nimmt verrät ihre
Geheimrezepte höchstens auf dem Totenbett“, sagte sie.
Außerdem war sie der Meinung, dass die Dachbewohner auch
noch so manche Geheimnisse vor den Besuchern aus der
Menschwelt bewahren sollten.
„Was seid ihr eigentlich für welche?“ fragte Sabrina. „Seid ihr
Zwerge, Wichtel oder… oder einfach nur zu klein geratene
Menschen.“
„Wir haben für uns keinen eigenen Namen“, antwortete Honzi
darauf. „Wir nennen uns auch nur Menschen. Oder eben
Dachbewohner, wenn wir uns von euch unterscheiden wollen.
Denn unser Volk liebt es nun einmal in alten Dachböden zu
leben, wo es viele Verstecke gibt und ihr großen Menschen
selten oder gar nicht hinkommt. Es gibt in dieser Stadt noch
Dutzende andere Familien, die wir manchmal besuchen.“
„Aber wie macht ihr denn das?“ fragte Sabrina. „Ich habe noch
nie gehört oder gesehen, wie jemand von euch die Treppe
heruntergegangen ist.“
„Wir gehen ja auch nicht über die Straße wie ihr?“ antwortete
Joppo mit schwärmerischen Augen. „Wir haben einen
Flugdrachen, der uns bei Nacht durch die ganze Stadt fliegen
kann. Muron ist sein Name.“
Sabrina blickte sofort zu Malli und Honzi herüber. Und als sie
sah, das die beiden nickten, wusste sie, dass dies keine
Phantasiegeschichte war, die sich Joppo gerade für sie
ausgedacht hatte.
„Wo ist denn dieser Drachen?“ fragte Sabrina. „Ich möchte ihn
zu gerne einmal sehen.“
„Er ist nicht hier, denn Drachen leben meistens in den
Innenwänden der Schornsteine“, erklärte Joppo. „Außerdem
muss er ja außer uns manchmal noch andere Familien
transportieren. Aber morgen Nacht will er zu uns kommen und
am Bodenfenster anklopfen. Das hat er mir vor ein paar Tagen
selbst versichern.“
„Dann werde ich morgen wiederkommen“, sagte Sabrina
erwartungsfreudig. Sie wollte unbedingt einmal bei Nacht auf
einem fliegenden Drachen über die Stadt reiten.
„Oh, wenn sie nur wahr sind, und wir finden es heraus!“ sagte
Sabrina und rieb sich aufgeregt die Hände. Sie konnte es kaum
erwarten sie im schwachen Flackerlicht des Streichholzes zu
lesen.
Die Geschichten waren kurz. Meist nicht länger als zwei oder
drei Seiten. Auch waren sie in altmodischer Schrift
geschrieben. Doch Sabrina hatte diese Schrift früh zu lesen
gelernt, denn sie wusste ja, dass fast alle Schatzkarten und
Geheimnisse der Welt in dieser Schrift aufgeschrieben waren.
Die Geschichten handelten nicht von der Südsee, sondern von
ihrer eigenen Stadt und all den unheimlichen Dingen, die sich
dort in all den Jahrhunderten zugetragen haben sollen. So las
sie von Gespenstern, die aus den Orgelpfeifen der Marktkirche
hervor krochen, wenn man eine bestimmte Melodie auf ihr
spielte. Oder von einem gefährlichen Wehrwolf der ganz in der
Nähe im Wald in einer Höhle hauste. Jahrelang hielt er einen
tiefen Schlaf und niemand wusste, dass er da war. Nur alle
hundert Jahre wachte er auf, zog mit seinem gierigen Maul in
die Stadt und tötete und fraß so viele Jungfrauen, wie er nur zu
fassen bekam. Und schließlich kam auch so etwas wie eine
Schatzgeschichte.
Sie handelte von einem jungen Räuber. Eigentlich war er gar
kein richtiger Räuber, sondern nur ein Junge, der so arm war,
dass er nichts zu essen hatte. Er kam aus einer dummen
Familie, aber er selber war schlauer als viele vermuteten. Und
so schaffte er es tatsächlich, die kostbaren Schätze des Grafen
zu stehlen. Nur leider war in der Nähe des Schlosses ein böser
Zauberer, der es ebenso auf die Schätze des Grafen abgesehen
hatte. Da er aber nicht die Kraft hatte, ihm den Beutel mit den
Reichtümern zu entreißen, musste er es durch einen Zauber
hinbekommen. So verzauberte er den armen Jungen, sodass er
bald nicht mehr Herr über sich selbst war. Mit gleichmäßigen
Schritt und glasigen Augen ging er auf den Waldfriedhof
hinzu, wo er sich sein eigenes Grab schaufelte und sich dort
mitsamt der Schätze hineinlegte. Den Beutel hielt er immer
noch fest mit seinen Händen und soviel der Zauberer auch
daran riss, er konnte ihn nicht bekommen. Also schaufelte er
schnell Erde ins Grab und rieb sich danach gierig die Hände. In
ein paar Stunden wird das Bürschlein tot sein, dachte er. Und
so beschloss er, dass er in der nächsten Nacht wiederkommen
und den Schatz holen wollte. Dann würden die Arme des
Jungen schlaff sein und es würde keine Mühe mehr machen,
ihm den Beutel wegzunehmen. Er hatte gar nicht daran
gedacht, dass die nächste Nacht, die Nacht vor Allerheiligen
war, und auf allen Gräbern rote Lichter leuchteten. Erst als er
bereits über den Friedhof marschierte, merkte er plötzlich, wie
ihn die Geister der Toten bei seiner Schadtat beobachteten. Er
versuchte dagegen anzukämpfen, aber gegen die Seelen der
Toten konnte er selbst mit Zauberei nichts ausrichten. Er spürte
bald, dass sie ihm sogar unter die Kleidung schauen konnte,
und er fühlte sich so unheimlich nackt dabei. In dieser einen
Minuten, in der es geschah, wurde der Zauberer so verrückt,
dass er davonlief und niemals wiederkam. Der Schatz aber, der
ist immer noch auf dem Friedhof vergraben. Viele haben ihn
gesucht, aber niemand hat ihn gefunden. Nur der Wetterhahn
auf der Friedhofskapelle, der all das beobachtet hat, weiß, wo
er ist. Doch bisher ist es niemandem geglückt, ihm sein
Geheimnis zu entlocken.
„Oh, wollen wir nicht zum Friedhof gehen und nach dem
Schatz suchen?“ fragte Sabrina.
„Aber er ist doch zusammen mit dem Jungen begraben“, sagte
Neli. „Stell dir mal vor, wir graben sein Skelett mit aus. Das
wäre doch schrecklich.“
Joppo wollte etwas antworten, aber mit einem Mal ertönte ein
lautes Geklapper durch den Raum. Neli und Sabrina zuckten
zusammen, aber Joppo stellte sich kerzengerade auf und spitzte
die Ohren.
„Muron?“ rief er. „Muron!“
Als es ein zweites Mal klapperte, sauste er blitzschnell über die
Bücher hinweg, kletterte die Leiter hinunter, und rannte über
den Boden. Er lief auf die Wand zu, die direkt unter dem
Dachbodenfenster lag.
Neli und Sabrina beobachteten das Fenster ebenfalls.
„Da ist ein Schatten“, flüsterte Sabrina. „Sind das etwa diese
fliegenden Ritter, die kommen, um euch anzugreifen.“
„Diese fliegenden Ritter hat sich Joppo bestimmt nur
ausgedacht“, meinte Neli. „Nein, das ist Muron. Vor ihm
braucht man sich wirklich nicht zu fürchten. Er ist der beste
Flugdrachen, den es im ganzen Land gibt.“
„Aber können Drachen nicht Feuer speien?“ fragte Sabrina.
„Nicht alle. Nur die Großen, die in fernen Teilen der Welt
leben, wo es keine Menschen gibt. Muron kann wie alle
Stadtdrachen nur Rauchwolken auspusten.“
„Wie kommt das?“ fragte Sabrina.
„Die Eltern erkennen schon sehr früh, wenn ein Drache kein
Feuerspucker wird“, erklärte Neli. „Dann geben sie ihnen
kaum noch zu fressen, sodass sie gar nicht wachsen können.
Die Feuerdrachen sind riesiggroß, viel größer noch als ihr
großen Menschen. Die Stadtdrachen aber sind kaum größer als
ein großer Vogel. Wenigstens aber können sie fliegen. Sie
verdienen sich ihr Futter damit, indem sie uns
Dachbodenbewohner durch die Stadt zu unseren Freunden und
Verwandten tragen.“
Bald klapperte es noch viel entsetzlicher, aber das war, als sich
das Fenster nach Innen hin öffnete.
„Wie hat er das gemacht? Er ist doch gar nicht
hinaufgeklettert“, sagte Sabrina.
„Er hat mit Seilen einen Mechanismus gebaut, sodass es auch
vom Boden aus geht“, antwortete Neli.
Dann aber mochte keiner von ihnen mehr sprechen. Sie
schauten dabei zu, wie der dunkle Schatten des Drachen mit
gespreizten Flügeln durch das Fenster hereinkam, eine kurze
Ehrenrunde durch den Raum machte, und dann auf dem Boden
landete. Sabrina wunderte sich ein bisschen, wie sachte er es
tat, denn im Gegensatz zu einem Vogel sah er ziemlich plump
aus. Noch faszinierender aber fand sie es, dass er aus Maul und
Nase permanent Rauch ausstieß, als wäre er eine
Dampflokomotive.
Als Joppo auf ihn zulief, um schnell auf seine Schultern zu
springen, und ihm den Kopf zu kraulen, merkte Sabrina erst so
richtig, wie groß er eigentlich war. In Wirklichkeit war er
wahrscheinlich kaum größer wie die Stofftiere, die in ihrem
Regal standen. Doch wenn sie selbst klein war, musste er für
sie ungefähr so groß sein, wie sonst ein Elefant. Er konnte
sicherlich drei oder vier kleine Männchen auf seinen Rücken
nehmen, wenn er wollte.
„Los!“ sagte Neli. „Lass uns auch schnell zu ihnen
herunterklettern, sonst fliegt Joppo nämlich ohne uns.“
„Das würde er tun?“ fragte Sabrina beinahe etwas empört.
Neli nickte. „Muron ist sein ein und alles. Ich glaube, wenn er
könnte, würde er am liebsten die ganze Nacht mit ihm durch
die Dämmerung fliegen, und zwar ganz allein. Muron kann
sprechen wie ein Mensch. Aber trotzdem hat er die
Drachensprache gelernt, damit er sich mit ihm unterhalten
kann, und niemand von uns die beiden versteht.“
Also beeilten sie sich, zu ihm zu kommen und löschten dann
das Streichholz aus. Als die beiden Mädchen auf Murons
Rücken kletterten, schien Joppo sie noch nicht einmal zu
hören. Er hatte seinen Kopf dicht an den von Muron gelehnt
und dann gab er so seltsame keuchende, zischende und
grunzende Laute von sich. Der Drache gab ihm darauf eine
Antwort und dabei erzitterte sein Körper so sehr, dass Sabrina
und Neli beinahe heruntergefallen wären.
„Er freut sich“, sagte sie. „Wahrscheinlich hat Joppo ihm
einen Witz erzählt. Wenn er seinen Körper so schüttelt, dann
bedeutet das, dass er lacht.“
„Na, ich hoffe, er lässt diese Scherze bleiben, wenn wir in der
Lüfte sind“, sagte Sabrina. „Ich habe nämlich keine Lust
herunterzufallen.“
„Selbst wenn, dann wäre es nicht so schlimm, weil er dich
garantiert wieder auffangen würde“, meinte Neli.
„Nanu“, sagte Sabrina ganz erstaunt. „Warum bist du plötzlich
so mutig?“
„Weil man bei einem Drachen wie Muron niemals Angst haben
muss“, sagte sie und kniff dem Tier ein bisschen in seine
dunkelgrüne, glänzende, schuppige Haut. Sie selber saß
übrigens ganz hinten, während Sabrina in der Mitte der beiden
Geschwister Platz genommen hatte. Ein paar Sekunden
standen sie noch. Es sah so aus, als müsse der Drache noch
einmal kurz durchschnaufen. Dann aber streckte er seinen
Kopf weit nach vorne. Die Kinder konnten direkt spüren, wie
er unter seiner Haut die Muskeln anspannte, eine Sekunde
später war er in der Luft. Er drehte erst noch eine Ehrenrunde
durch den Dachboden und die einsame Kerze auf dem
Dachbalken sah plötzlich gar nicht mehr so unendlich weit und
entfernt aus. Als Sabrina nach unten schaute und sie sah, wie
tief der Boden entfernt war, wuchs ihre Ehrfurcht vor Joppo
noch mehr. Dass er es sich traute, so hoch oben solche
Experimente zu machen!
Dann aber ging es wieder ein paar Zentimeter bergab und
Muron sauste durch das geöffnete Dachfenster hinaus, hinein
in die frische, kühle Luft der dunklen Nacht.
Ach, was war das für ein Gefühl! Es dauerte keinen
Augenblick und sie waren über das Dach des eigenen Hauses
hinweggeflogen. Zu fliegen war ja ohnehin schon ein
unglaubliches Erlebnis! Aber dann noch auf einem Drachen,
und direkt über den Dächern der Stadt…
Sabrina drehte sich zu Neli um, doch diese hatte die Augen
geschlossen. Dann fing sie an zu singen. Sie sang ja so gern: