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Die Bewohner aus dem Dachgeschoss

Seit über zwei Monaten lebte Sabrina nun schon mit ihren
Eltern in dem Wohnhaus in der Einhornstraße. Und das war
eigentlich ganz schön, denn ihre neue Wohnung war viel
größer, und außerdem auch viel schöner und netter eingerichtet
als ihre alte. Im Treppenhaus war es immer sauber und frisch
gewischt. Es roch nicht so modrig und unangenehm wie in
dem alten großen Wohnblock, wo sie früher gewohnt hatten.
Und die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände waren auch
nicht mit Filzstiften und Spray beschmiert.
Ja, eigentlich gefiel es Sabrina sehr gut in ihrem neuen Heim,
aber es gab auch so manche Dinge von früher, die sie sehr
vermisste. Und dazu gehörten auch die beschmierten Wände,
auch wenn die Mutter das niemals verstehen konnte.
„So ein Schweinkram!“ hatte sie sich immer aufgeregt, wenn
sie den Flur entlanggegangen oder mit dem Fahrstuhl in das
Erdgeschoss heruntergefahren waren. „Wenn ich irgendwann
einmal die Kinder erwische, die hier alles voll kritzeln, dann
werde ich mal ein ernsthaftes Wörtchen mit ihnen reden.“
„Aber, Mama!“ hatte Sabrina dann immer gesagt. „Wenn diese
Schmierereien nicht wären, dann hätte ich ganz sicher nicht so
schnell das Lesen gelernt.“
Und das stimmte wohl auch. Denn Sabrinas Mutter las ihr fast
jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte vor. Das
war immer sehr spannend. Am liebsten hörte sie Geschichten
von Detektiven oder auch von Seefahrern, die alte Briefe mit
geheimen Zeichen und Schriften entdeckten, die sich dann als
Schatzkarten entpuppten. Oh, was sie dann für spannende
Abenteuer erlebten, wenn sie nach den Schätzen suchten!
Solche Abenteuer hätte Sabrina am liebsten selber erlebt. Und
damals, als sie noch nicht lesen konnte, hatte sie geglaubt, dass
all die Kritzeleien, die an die Wände geschmiert waren,
geheime Botschaften enthielten. Einige von ihnen waren
vielleicht selber Schatzkarten und sie wünschte sich nichts
mehr, als sie endlich entziffern zu können. Sie war ziemlich
fasziniert von den älteren Kindern gewesen, die solche Dinge
schreiben und lesen konnten. Am liebsten wäre sie eine der
Banden beigetreten, die sich in dem Wohnviertel gebildet
haben, aber niemand wollte sie dabei haben.
„Kleine schwache Mädchen können wir nicht gebrauchen!“
hatte einer der größeren Jungen gesagt und ihr verächtlich vor
die Füße gerotzt. Ihre Mutter war auch dagegen, dass sie etwas
mit den Kindern zu tun hatte. Die sind nicht gut erzogen, sagte
sie immer. Die bringen dir nur allerlei schlechte Sachen bei.
Stattdessen hatte sie jeden Tag mit Mira, Vanessa und Carlo
spielen müssen. Die waren in ihrem Alter und ihre Mutter hatte
nichts gegen sie. Diese drei Freunde waren die andere Sache,
die sie an ihrem alten Zuhause so sehr vermisste. Manchmal
waren sie hinunter auf den Hof gegangen. Dort gab es auch
einen Spielplatz, wo sie oftmals im Sandkasten gespielt hatten.
Aber dann waren meist die großen anderen Kinder gekommen
und hatten sie geärgert. Am meisten hatten sie es auf Carlo
abgesehen. Er war ein äußerst klein und dünn, sodass ihn auch
keiner der anderen Jungen mit in ihrer Bande haben wollte.
Deswegen spielt er immer nur mit Mädchen, weshalb man ihn
auslachte und verspottete.
Schließlich waren sie alle zusammen in die Schule gekommen,
und Sabrina war im Lesen bald die Klassenbeste geworden.
Erstens, weil sie versuchte, die Geschichten, die ihr die Mutter
jeden Abend vorlas, bald selbst zu lesen. Zweitens, weil sie
jeden Tag auf dem Nachhauseweg die Schriften an den
Hauswänden entzifferte. Ihre Mutter war dagegen, denn sie
meinte, da stünde nichts, was kleine Kinder lesen sollten.
Sabrina merkte bald selber, dass das mit Schatzkarten und
ähnlich spannenden Geheimnissen nichts zu tun hatte.
Meistens waren es nur Flüche, oder man schrieb gemeine
Sachen über andere Menschen, die im Haus wohnten. Aber
lesen tat sie es trotzdem gern.
Sabrinas Mutter kam eigentlich aus recht gutem Hause und
hatte anständige Manieren beigebracht bekommen. Dass sie
trotzdem in diesen alten gammeligen Plattenbau gezogen war,
lag daran, dass sie sehr früh von zuhause ausgezogen war. Sie
wollte möglichst früh selbstständig werden, aber in ihrer
Ausbildung zur Gärtnerin hatte sie nicht soviel Geld verdient,
um sich eine bessere Wohnung zu leisten.
Einen Vater hatte sie auch. Aber den sah sie nicht so oft, weil
er Busfahrer war und sich auf Fernreisen spezialisiert hatte.
Manchmal war er über zwei Wochen nicht zuhause, weil er mit
Reisegruppen durch ganz Europa fuhr. Aber wenigstens
brachte er Sabrina von jeder Reise wunderbare Bilder und
allerlei andere Geschenke mit. Am liebsten mochte sie kleine
Häuser aus Ton, die es in jedem Land als Andenken zu kaufen
gab. Sie merkte bald, dass die Häuser im Norden ganz anders
aussahen, als beispielsweise die im Süden. Aber trotzdem hatte
sie die vierzehn Häuser, die sie bereits besaß, auf einer
Tischplatte zu einem Dorf zusammengestellt. Ein sehr lustiges
Dorf, in dem Häuser aus ganz Europa vereint standen.
Nun aber hatten ihre Mutter und ihr Vater soviel Geld
zusammengespart, dass sie sich eine bessere Wohnung leisten
konnten. Sie lag in einem weißen Haus, das anstelle von zwölf
nur vier Etagen besaß. Außerdem hatte es ein spitzes und kein
flaches Dach. Wie gesagt, Sabrina gefiel es gut dort. Das
einzige, was sie langweilte, war, dass es im gesamten Haus
keine anderen Kinder gab. Aber wenigstens lebte in der
unteren Etage ein junges Paar, das einen schwarzen Hund
hatte. Die beiden waren sehr nett und verstanden sich auch mit
Sabrinas Eltern gut. Manchmal luden sie die ganze Familie
zum Kaffee ein, und Sabrina durfte die ganze Zeit über mit
dem Hund spielen. Oder sie gingen zusammen in den Wiesen,
die ein paar hundert Meter vom Haus entfernt lagen, spazieren,
und sie durfte für den Hund, der übrigens Mio hieß, den Ball
werfen.
Oftmals aber hatte Sabrina auch Langeweile und dann
wünschte sie sich, dass all die Kinder, mit denen sie früher
gespielt hatte, mit in dieses Haus gezogen wären. Aber außer
ihnen und dem jungen Paar wohnten dort nur noch ein
alleinstehender Mann, der nicht besonders gesprächig war, und
ein altes Rentnerehepaar, das sich oftmals beschwerte, wenn
man im Treppenhaus zuviel Krach machte.
Da gab es aber noch einen weiteren Bewohner - oder waren es
vielleicht sogar mehrere Bewohner? - die Sabrina noch nicht
kennengelernt hatte. Ihre eigene Familie wohnte im vierten
Stock, also ganz oben im Haus. Doch das Treppenhaus endete
dort noch nicht. Es ging noch eine Treppe weiter hinauf, doch
sie war nicht aus Marmor, sondern aus Holz. Die Stufen waren
kleiner, und ziemlich schmal. Als Sabrina das erste Mal
hinaufgeklettert war, hatte sie so gewackelt, dass man Angst
haben musste, sie könne jederzeit zusammenbrechen. Ein
dicker Erwachsener konnte sich hier nicht so einfach
hinaufwagen.
„Also, Sabrina!“ hatte ihr Vater damals gesagt. „Du kannst da
doch nicht einfach so hinaufklettern, vielleicht ist das ja
privat!“
Aber die Vermieterin, die ebenfalls sehr nett war, hatte nur
gelacht.
„Das macht nichts“, hatte sie gesagt. „Da geht es nur zum
Dachgeschoss hinauf. Sie kann sich dort ruhig einmal
umgucken, denn die Tür dort oben ist ja sowieso verschlossen.
Aber sie sollte nicht zu oft dorthin gehen, denn sonst könnten
sich die Leute dort gestört fühlen.“
„Dort oben wohnen Leute?“ hatte Sabrinas Mutter ganz
erstaunt gefragt. „Ich habe gedacht, dass es dort oben nur eine
Dachkammer gäbe.“
„Doch, dort oben wohnen Leute“, hatte die Vermieterin mit
einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. „Sie sind ein bisschen
sonderbar, und sie kommen nur sehr selten hinaus. Aber sie
sind nicht gefährlich und werden sie ganz gewiss nicht
belästigen. Kümmern Sie sich nicht um sie, und sie werden
sich auch nicht um euch kümmern.“
Dass mit diesen Leuten irgendetwas anders war, als bei
normalen Menschen, hatte Sabrina im ersten Augenblick
gemerkt. Alle anderen Wohnungen hatten eine schlichte weiße
Tür als Eingang, doch diese Tür dort oben war aus dunklem,
massiven Holz gebaut. Ihre Oberfläche war außerdem nicht
glatt, sondern kunstvoll verschnitzt. Es war eine Tür, die eher
in ein altes Schloss oder in ein Herrenhaus gepasst hätte, und
sie sah im ersten Augenblick etwas unheimlich aus. Doch
Sabrina merkte bald, dass es nur Blumen und lustige Gesichter
waren, die in ihr eingeschnitzt waren. Keine Totenköpfe,
Skelette, oder andere Dinge, vor denen man sich fürchten
musste. Aber wie klein diese Tür war! Sie selbst hätte ja kaum
dadurch gepasst, ohne den Kopf einzuziehen, und sie war doch
nur ein Kind! War das Seltsame an den Leuten vielleicht, dass
sie Liliputaner waren?
Sabrina hatte nach einem Klingelschild gesucht, auf dem der
Name des Menschen oder der Familie stand, aber sie hatte
weder Klingel noch Schild gefunden. Und selbst wenn sie
geklingelt hätte, hätte möglicherweise keiner geöffnet, denn
die Tür war mit einer dicken Eisenkette verschlossen.
„Warum verschließt man die eigene Tür von außen mit einer
Eisenkette?“ hatte sie die Vermieterin gefragt, nachdem sie
wieder hinuntergeklettert war.
„Die Tür ist mit einer Eisenkette verschlossen?“ hatte die
Mutter etwas entsetzt gefragt.
Sie hatte sich sehr darüber gefreut, endlich in dieses schöne
Haus zu ziehen, aber in diesem Augenblick sah sie so aus, als
bereue sie es fast. Sie hatte die Vermieterin von oben bis unten
gemustert, um zu sehen, ob irgendetwas Seltsames oder
Unheimliches an ihr war. Aber sie sah völlig normal aus und
lächelte sie freundlich an.
„Sie sind ein bisschen schüchtern und fürchten sich vielleicht
sogar ein kleines bisschen vor anderen Menschen. Aber
eigentlich sind sie ganz in Ordnung. Sie wohnen schon seit
Jahren hier. Schon als dieses Haus noch meiner Großmutter
gehört hat, und niemals hat sich jemand über sie beschwert. Sie
bezahlen auch regelmäßig ihre Miete. Es gibt also wirklich
keinen Grund sich Sorgen zu machen.“
Aber ihre Mutter machte sich Sorgen. Als sie am Abend nach
ihrem Einzug am Küchentisch gesessen, und Abendbrot
gegessen hatten, hatte sie den Vater gefragt, was er von der
Sache hielte. Doch der hatte nur gebrummt und gemeint, es
wäre schon alles in Ordnung, wenn die Vermieterin das sagte.
Und er behielt Recht. Ein paar Tage später hatten sie sich in
ihrer Wohnung eingelebt. Die Mutter hatte neue Freunde in der
Nachbarschaft gefunden, die sie manchmal zum Kaffeeklatsch
einlud. Und niemals war in der Wohnung, oder im Haus etwas
Eigenartiges passiert. Auch die Vermieterin entpuppte sich als
eine sympathische und angenehme Frau, mit der man sich gut
unterhalten konnte. Sie war weder eine Hexe, noch schien sie
irgendwelche anderen düsteren Geheimnisse mit sich
herumzutragen. Bald schon hatte die Mutter die Sache mit dem
Dachgeschoss vergessen. Selbst wenn sie von der Arbeit nach
Hause kam, sah sie nur zu, dass sie in die Wohnung ging, und
beachtete die Treppe, die nach oben führte, gar nicht mehr.
Sabrina aber konnte diese seltsame Geschichte nicht so schnell
vergessen. Immer wieder hoffte sie darauf, diese Bewohner
eines Tages kennenzulernen. Sie lauschte, ob sie über der
Decke Schritte und Stimmen hörte. Oder ob jemand draußen
die Holztreppe benutzte. Vor allem, wenn ihre Eltern nicht da
waren, saß sie manchmal stundenlang direkt vor der
Wohnungstür und las ein Buch. Sie wollte so schnell wie
möglich herauslaufen können, wenn sie hörte, dass dort
jemand war. Aber sie hörte ja niemanden. Sie untersuchte die
Treppe manchmal auch nach Fußabdrücken, aber sie fand
niemals welche. Oftmals überlegte sie sich schon, ob sie
einfach mal herauf laufen und an der Tür klopfen sollte. Aber
sie traute sich nicht, denn sie erinnerte sich an die Worte der
Vermieterin, dass sie diese Leute möglichst nicht stören sollte.
Einmal, als ihr Vater am Wochenende zuhause war, fragte sie
den, was er von der Sache hielt. Aber der lachte nur.
„Das ist doch nur irgendein Märchen, dass dir die Frau Hansen
erzählt hat“, sagte er. „Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft,
dass dort oben jemand wohnt.“
„Wieso denn nicht?“ meinte sie trotzig. Ihr Vater wusste ja
nicht, dass er gerade dabei war, einen ihrer größten Träume zu
zerstören.
„Na, das müsste, wenn überhaupt, dann eine Zwergenfamilie
sein“, er lachte noch einmal, „Nein, nein, da hat dir die gute
Frau Hansen irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt und
sonst nichts. Nicht mal deine Mama glaubt mehr daran.
Wahrscheinlich ist es nichts weiter als irgendeine Hauslegende.
Die Großmutter der Frau Hansen soll eine ziemlich seltsame
Dame gewesen sein.“
Doch Sabrina konnte er damit nicht von diesem Gedanken
abbringen. Sie glaubte fest daran, dass dort oben jemand
wohnte und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sie eines
Tages kennenzulernen.
Und eines Nachts ging ihr größter Wunsch schließlich in
Erfüllung. Sie wachte irgendwann, mitten in der stockfinsteren
Nacht, auf, und wusste sofort, dass sie viel zu früh dran war.
Normalerweise weckte ihre Mutter sie nämlich, weil sie einen
so guten Schlaf hatte, dass kein Wecker sie wach bekam. Aber
in dieser Nacht war es anders. Dabei schien es zunächst nichts
weiter als eine stille und rabenschwarze Nacht wie jede andere
zu sein. Doch dann schreckte sie hoch, ohne zu wissen, warum.
Verschlafen knipste Sabrina die Nachttischlampe an und sah
auf die Uhr. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht.
„Puuh“, machte sie und knipste schnell wieder aus.
Sie kuschelte sich wieder in ihr Bett und drehte sich herum.
Auf keinen Fall durfte sie um diese Uhrzeit so wach werden,
dass sie nicht mehr einschlafen konnte. Wie übermüdet würde
sie dann am nächsten Morgen in der Schule sein?
Doch an Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken. Das
merkte sie, als sie eine Minute später Geräusche hörte.
Sie schreckte erneut auf. In ihrer alten Wohnung war es normal
gewesen, dass man nachts Stimmen und Laute aus
Nachbarwohnungen hörte, aber hier hatte sie so etwas noch nie
erlebt. Sie hielt die Luft an und horchte.
Tatsächlich, hoch oben, auf der anderen Seite der Decke schien
sich jemand zu unterhalten. Es war aber nur ein leises Wispern,
sodass man keine einzelnen Worte verstehen konnte. Sabrina
spitzte die Ohren und horchte, ob es nicht vielleicht auch ein
anderes Geräusch aus dem Haus sein konnte. Schließlich aber
war sie sich ganz sicher. Dies war das erste Mal, seitdem sie
eingezogen waren, dass sie etwas von den geheimnisvollen
Bewohnern mitbekam.
Sie war dermaßen aufgeregt, dass sie am liebsten sofort
aufgestanden und in das Schlafzimmer ihrer Eltern gerannt
wäre. Sie konnte sich nicht eine ganze Nacht lang die
Geräusche anhören, ohne jemand anderem davon etwas zu
sagen. Das hielt sie einfach nicht aus!
Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Vater mit einer Reisegruppe in
Griechenland war. Er würde erst in drei Tagen wiederkommen.
Ihrer Mutter durfte sie solche Sachen erst recht nicht erzählen.
Sie würde nur in Panik geraten und glauben, dass es im Haus
spukt. Es war wohl ganz gut, dass sie zwei Zimmer weiter im
Bett lag, tief und fest schlief, und von all dem herzlich wenig
mitbekam.
Zunächst hatte auch Sabrina ein bisschen Angst. Mit einer
Gänsehaut auf dem Rücken kauerte sie sich zusammen,
während sie horchte. Aber bald schon wurde sie mutiger,
sodass sie ein schwaches Licht anknipste, sich auf einen Stuhl
stellte und direkt an der Decke horchte. Die Menschen, die dort
oben waren, unterhielten sich nicht nur, nein, zwischendurch
lachten sie auch mal. Es mussten mehrere verschiedene Leute
sein, denn Sabrina konnte bald mehrere verschiedene
Lacharten heraushören. Da war einer, der lachte so laut auf, als
wenn er einen Schluckauf hatte. Dafür war er danach aber auch
eine ganze Weile still. Während ein anderer leiser, dafür aber
so lange lachte, dass man meinen konnte, er wollte nie wieder
damit aufhören.
Schließlich hörte Sabrina, wie irgendetwas leise über den
Boden schleifte. Es war so, als würde man dort oben Möbel
verrücken. Aber es konnten nur sehr kleine, vielleicht sogar
nur Puppenmöbel, sein. Dann aber bullerte es unter der Decke
so laut, dass sie vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie
fand, dass es sich wie ein Tanz hörte. Aber es musste ein
ziemlich wilder und ausgelassener Tanz sein, bei dem sie
ziemlich heftig auf dem Boden aufstampften.
Sabrina überlegte, ob sie diesen Menschen ein Zeichen geben
sollte. Sie konnte ja einmal kurz gegen die Decke klopfen, oder
vielleicht auch etwas rufen. Wenn sie niemand hörte, brauchte
sie es ja nicht noch einmal zu tun. Dann aber erinnerte sie sich
an die Worte der Vermieterin. Diese Leute dort oben waren
etwas schüchtern und fürchteten sich vor Menschen. Sabrina
war eigentlich ein ziemlich braves Kind und deshalb beschloss
sie, die Bewohner des Dachgeschosses auf keinen Fall zu
erschrecken. Sie stieg wieder hinunter, ging zu Bett, und hörte
von da aus weiter. Es hörte sich ein bisschen so an, als würde
man da oben eine Feier geben. Bald aber wurden die
Geräusche leiser und verstummten schließlich ganz. Sabrinas
Augen fielen zu und am Ende fand sie in dieser Nacht doch
noch ein paar Stunden Schlaf.
Am nächsten Tag war Sabrina kein bisschen müde. Im
Gegenteil, dazu war sie viel zu aufgeregt. In der Schule konnte
sie kaum ruhig auf ihrem Stuhl sitzen, und als sie zuhause
angekommen war und Mittagessen gegessen hatte, musste sie
sofort zu der Vermieterin, und ihr von dem wundersamen
Erlebnis berichten. Die Vermieterin wohnte selber nicht im
Haus. Sie hatte ihr eigenes kleines Haus, das am anderen Ende
der Straße stand.
„Aha, da haben die Schürigs wohl endlich mal etwas von sich
hören lassen“, sagte sie und grinste dabei.
„Die Schürigs?“ fragte Sabrina. „Heißen sie etwa so?“
Die Vermieterin nickte.
„Und warum haben wir bisher noch nie etwas von ihnen
gehört?“ fragte Sabrina weiter. „Warum zum ersten Mal in
dieser Nacht?“
„Das weiß ich auch nicht so genau“, antwortete die
Vermieterin. „Denn ich kenne sie genauso wenig wie du. Du
weißt, dass ich dieses Haus erst seit einem halben Jahr
vermiete. Seitdem meine Großmutter gestorben ist. Und ich
habe diese Familie selber noch nicht einmal gesehen. Ich
kenne nur die Geschichten, die man mir über sie erzählt hat
und dass sie immer pünktlich ihre Miete bezahlen.“
Sie lachte.
„Hm“, meinte Sabrina. „Glaubst du, es wäre gut, wenn ich
vielleicht mal an ihrer Tür klopfe, oder vielleicht auch an der
Decke?“
„Nein, das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, sagte
die Vermieterin. „Damit verängstigst du sie nur. Meine Oma
hat mir gesagt, man kann mit dieser Familie wirklich sehr viel
Spaß und Freude haben, aber man muss auch sehr geduldig mit
ihnen sein. Man muss warten, bis sie von allein kommen und
einen besuchen, denn das tun sie ganz bestimmt, wenn sie
glauben, im Haus wohnt jemand, dem sie vertrauen können.“
In den nächsten Tagen war Sabrina so damit beschäftigt zu
horchen, dass sie alle anderen Dinge fast vergaß. Sie horchte
nicht nur abends, wenn sie im Bett lag, nein, auch tagsüber.
Wenn sie zum Beispiel am Schreibtisch saß und ihre
Hausaufgaben machen sollte, traute sie sich manchmal für fünf
Minuten nicht, den Stift zu bewegen. Immer hatte sie das
Gefühl, von oben etwas gehört zu haben, aber meist war es nur
ihre Mutter, die in der Küche mit dem Geschirr
herumklapperte.
Die Mutter wunderte sich sehr bald über Sabrinas
merkwürdiges Verhalten. Nicht nur, dass sie für ihre
Hausaufgaben immer viel länger brauchte. Nein, sie machte
auch fast nie mehr Musik in ihrem Zimmer an. Beim Essen
sprach sie viel weniger mit ihr und sah dabei auch so aus, als
ob sie mit den Gedanken gar nicht richtig da war. Manchmal
schob sie sich das Essen sogar am Mund eigenen vorbei. Und
wenn sie sie darauf ansprach, reagierte sie so erschrocken, dass
sie die Gabel mit einem lauten Knall auf den Teller
zurückfallen ließ.
„Siehst du Gespenster?“ fragte sie dann. Aber Sabrina druckste
nur herum. Solange die Mutter diese Geräusche nicht selber
hörte, wollte sie ihr nichts davon erzählen.
Und ab und zu hörte sie von oben auch etwas. Aber so laut wie
in dieser einen Nacht wurde es nie wieder. Oftmals waren es
auch keine Stimmen oder die Geräusche von auftretenden
Füßen, sondern nur, dass ein Gegenstand mit einem Knall oder
mit etwas Geschepper zu Boden fiel.
Nach einigen Tagen aber hatte sich Sabrina an die Geräusche
gewöhnt und beachtete sie kaum noch. Nur ab und zu saß sie
da und malte sich aus, was für eine Familie das wohl sein
könnte, die dort oben wohnte. Und dann fand sie es fast noch
schöner, dass sie die Leute eigentlich nicht kannte, weil es so
wunderbar geheimnisvoll war. Sie konnte ihrer Phantasie
freien Lauf lassen und sich allerlei Geschichten über sie
ausdenken. Und wenn sie mal wieder das Gefühl hatte, dort
oben lachte jemand, dann lachte sie einfach mit. Und wenn sie
das Gefühl hatte, dort sang jemand, dann versuchte sie, die
Melodie mitzusummen. Manchmal hörten sie dann auf, oder
gaben verdutzte Geräusche von sich. Dann freute sich Sabrina,
weil sie auf diese Weise mit ihnen geredet hatte.
Über eine Sache aber wunderte sie sich immer wieder.
Nämlich, dass immer noch niemand die Treppe, die nach oben
führte, benutzt hatte. Ihre Mutter schien hingegen von alldem
nichts mitzubekommen. Seltsam. Entweder diese Geräusche
ertönten nur direkt über ihrem Zimmer, oder sie konnten von
Erwachsenen nicht gehört worden.
Eines Tages war Sabrina allein zu Hause, als es plötzlich an
der Tür klingelte. Ihr Vater war gerade in Schottland und ihre
Mutter im Supermarkt, um einzukaufen. Vorsichtig schlich sie
sich zur Wohnungstür hinüber. Zum Glück gab es im Haus eine
Sprechanlage. Wenn dort jemand war, den sie nicht kannte,
brauchte sie ihm nicht zu öffnen. Aber bevor sie es schaffte,
auf den Knopf zu drücken, klopfte jemand vom Flur aus an die
Tür.
Vielleicht sind es die Schürigs, dachte Sabrina, und ihr Herz
wäre ihr beinahe in die Hose gerutscht. Doch nur eine Sekunde
später ertönte die Stimme der Vermieterin.
„Ist jemand zuhause?“
Sabrina beeilte sich, die Tür aufzumachen.
„Ach, da ist ja endlich jemand“, sagte die Vermieterin und
strahlte sie freundlich an. In den Händen hielt sie einen großen
braunen Sack, der oben mit einem Faden zugeschnürt war.
„Ist deine Mutter eigentlich auch da, Sabrina?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ach, das ist schade. Aber du kannst ihr diesen Sack ja ebenso
geben. Richte ihr dazu einen schönen Gruß aus.“
„Was ist denn in dem Sack drin?“ fragte Sabrina neugierig.
„Ja, das frage ich mich selber“, sagte die Vermieterin. „Darf
ich vielleicht einmal kurz reinkommen?“
Sabrina trat zur Seite und sie setzten sich gemeinsam an den
Küchentisch, wo die Vermieterin den Sack in aller Ruhe öffnen
konnte. In seinem Inneren waren hunderte, wenn nicht
tausende von kleinen Körnern. Sabrina nahm ein paar davon in
die Hand und fand, dass sie wie kleine Sterne aussahen.
„Weißt du, was das ist?“ fragte die Vermieterin. „Ich habe so
etwas noch nie gesehen. Sie kommen mir aber ein bisschen vor
wie Samenkörner. Deshalb wollte ich deine Mutter mal fragen,
ob sie etwas damit anfangen kann. Sie arbeitet doch noch in
der Gärtnerei Schmitzke, oder etwa nicht?“
„Doch, doch“, antwortete Sabrina. „Aber wo haben sie diese
Körner denn gefunden?“
„Unten im Keller. Dort liegt noch allerlei altes Zeug, von
meiner Großmutter herum. Ich bin nämlich noch gar nicht dazu
gekommen, dort unten für Ordnung zu sorgen. Aber dieser eine
Sack stand in einem ganz besonderen Fach, dort wo sie die
wichtigsten Dinge ihres Lebens aufbewahrt hatte. Und an
Schnüre war ein Etikett angebracht, wo draufstand: Ganz
besonders wertvoll. Bitte gut aufbewahren. Aber sonst stand
nichts dabei. Keine Erklärung oder dergleichen.“
„Hm“, sagte Sabrina. „Das ist ja seltsam. Aber bis meine
Mutter wiederkommt, könnte es noch ein oder zwei Stunden
dauern. Sie muss nämlich heute ganz besonders viel einkaufen,
weil mein Vater am Wochenende wiederkommt. Er hat
Geburtstag und will eine Feier machen.“
„Na, dann sagt aber rechtzeitig dem Ehepaar Müller Bescheid.
Nicht, dass sie sich wieder wegen zuviel Lärm beschweren.“
Da die Vermieterin nicht soviel Zeit hatte, um so lange zu
warten, verabschiedete sie sich und ging.
Danach saß Sabrina eine ganze Weile da und rätselte, was es
mit diesen merkwürdigen Körnern wohl auf sich haben
können. Sie hatten wirklich eine merkwürdige Form, und sie
fühlten sich auch ein bisschen seltsam an. Sie waren nicht hart,
aber auch nicht so weich, dass man sie zerquetschen konnte.
Ja, eigentlich konnte man sie fast mit einem Gummi
vergleichen. Wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger
zu doll drückte, sprangen sie einem urplötzlich in die Höhe.
Sabrina überlegte schon, ob sie eines von Mamas vielen
Pflanzenbüchern hervorholen und nachgucken sollte, als sie
sich plötzlich zu etwas anderem entschied. Sie hatte doch in
ihrem eigenen Zimmer noch eine große Blumenvase, in die sie
noch nichts gepflanzt hatte. Wieso legte sie nicht einfach ein,
oder vielleicht auch zwei oder drei der Körner hinein, goss sie
ein bisschen und wartete dann ab, was passierte. Wenn die
Pflanze genauso sonderbar war, wie die Körner, dann würde
ihre Mutter aber ziemlich darüber staunen. Es wäre doch ein zu
tolles Ding, dass ihre kleine Tochter eine Blume
hervorzauberte, die sie selbst als Gärtnerin noch nie gesehen
hatte.
Also tat Sabrina das, was sie sich ausgedacht hatte, und
versteckte danach den Sack in ihrem Schrank. Als die Mutter
nach Hause kam, erzählte sie ihr nicht, dass die Vermieterin zu
Besuch gekommen war und ein Geschenk mitgebracht hatte.
Der nächste Tag war ein Freitag und die Mutter weckte sie
etwas später als normal. Sie hatte ein bisschen verschlafen,
weil sie am Abend zuvor noch einen Geburtstagskuchen für
den Papa gebacken hatte. Deswegen merkte Sabrina gar nicht,
dass in dem großen Blumentopf schon ein kleiner Spross
empor gekeimt war. Nach gerade einmal einer Nacht!
Erst als sie aus der Schule zurück war, hatte sie die Zeit dazu,
ihr selbst heran gezüchtetes Gewächs etwas genauer zu
betrachten. Und sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus!
Das Gewächs war in der Zwischenzeit mindestens zwanzig
Meter gewachsen. Es hatte sogar schon Blätter bekommen. Sie
waren zwar noch ein bisschen klein und fipsig, aber wenn es
weiter mit einer solchen Schnelligkeit wuchs, dann würde es
bald ein prächtiges Blätterkleid bekommen. Die Pflanze wuchs
aus der Mitte des Topfes hervor, aber Sabrina sah, dass in vier
Ecken weitere Keime heranwuchsen.
Als ihre Mutter anklopfte, wollte sie ihr voller Stolz ihr
Züchtung zeigen, aber diese hatte keine Zeit dafür. Sie wollte,
dass Sabrina zum Mittag kam und danach in ihrem Zimmer
selbstständig den Teppich saugte. Denn sie hatte an diesem
Wochenende soviel zu tun, dass sie kaum wusste, was sie
zuerst und zuletzt anfangen sollte.
Na, dann hebe ich mir die Überraschung noch ein bisschen
länger auf, dachte Sabrina. Vielleicht bis Morgen, denn morgen
war ja der Geburtstag ihres Vaters.
Sie goss die Pflanze, aber nur ein bisschen. Nicht, dass ein paar
Stunden später ihr Zimmer wie ein einziger Urwald aussah.
Am Abend ging Sabrina viel später ins Bett als sonst. Papa war
nämlich zurückgekommen und erzählte beim Abendbrot von
all seinen Erlebnissen unterwegs. Außerdem war ja Freitag und
sie konnte am nächsten Morgen lange ausschlafen. Vorm Zu-
Bettgehen kontrollierte sie allerdings noch einmal die Pflanze,
und war beinahe schockiert!
Sie war in der Zwischenzeit so gewachsen, dass sie bald den
halben Weg zur Zimmerdecke erreicht hatte. Auch die vier
Keime in den Ecken des Blumentopfes hatten sich verändert.
Im Gegensatz zur Mittelpflanze, die geradeaus wuchs,
wuchsen diese spiralförmig um sie herum. Es sah beinahe wie
eine Art Zopf aus. Trotzdem bildeten sie auch dünne Seitenäste
aus, an denen Blätter keimten. Aber nicht nur Blätter, an den
Enden mancher Zweige hing etwas, was so wie Glocken
aussah. Waren das etwa schon die Ansätze der ersten Blüten?
Sabrina bekam es beinahe ein bisschen mit der Angst zu tun,
als sie das sah. Man stelle sich nur vor, die Pflanze war so
stark, dass ihre Wurzeln den Blumentopf zersprengen konnten.
Vielleicht noch mitten in der Nacht, wenn sie schlief.
Aber sie beruhigte sich schnell wieder und ging zu Bett. Denn
der Abend war lang gewesen, und nun war sie müde.
Schade, dass sie so schnell einschlief! Denn dann hätte sie
sehen können, wie sich die Glocken in der Nacht langsam
öffneten und sich zu sternförmigen Blüten umwandelten. Aber
sie waren nicht nur sternförmig, nein, sie leuchteten auch wie
Sterne. Und zwar nicht nur in gelb, sondern auch in blau, rot
oder grün. Es war ein wirklich wunderbarer Anblick, aber als
Sabrina am nächsten Morgen aufwachte, war von alldem nichts
mehr zu sehen. Das einzige, was sie sah, war, dass die Pflanze
weiter gewachsen war. Die Spiralen, die sich um den
Hauptstängel gebildet hatten, waren mittlerweile so dick und
fest geworden, dass sie wie eine dicke Kordel aussahen. Nur
noch wenige Zentimeter fehlten, und die Pflanze hatte die
Decke erreicht.
Als am Abend Papas Gäste da waren, seine Eltern, seine
beiden Schwestern, von denen eine ein Baby hatte, und ein
paar Arbeitskollegen, durften sie natürlich alle in Sabrinas
Zimmer kommen, um die Wunderpflanze zu bewundern.
Der Mama stockte fast der Atem, als sie das sah.
„So schöne große, weiße Glocken!“ sagte sie und musste sich
am Schreibtisch festhalten, damit sie nicht vor Schreck umfiel.
„So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Und dieser
merkwürdige Stängel… falls man es überhaupt Stängel nennen
darf, dass… dass… ist ja. Was für eine Pflanze ist das, die du
mir da eingepflanzt hast?“
„Tja, da sieht man mal, dass sogar eine erfahrene Gärtnerin
wie du von seiner eigenen Tochter noch was lernen kann!“
sagte der Papa, und kraulte seiner Tochter anerkennend durch
das Haar.
„Und das Beste ist ja, dass sie in gerade einmal zwei Tagen
gewachsen ist!“ rief Sabrina triumphierend.
„Nein!“ sagte die Mutter nur. „Liebes Kind, das kann nicht
sein! Und da weiß ich als erfahrene Gärtnerin ganz sicher mehr
als du. Keine Pflanze dieser Welt kann so schnell wachsen!
Egal wie man sie gießt. Egal, was für einen Dünger sie
bekommt.“
„Aber wenn ich es doch sage!“ maulte Sabrina.
„Eine wirklich nette Tochter hast du“, sagten Papas
Arbeitskollegen. „Und was für eine Phantasie sie hat.“
Wirklich zu glauben wollte ihr an diesem Abend niemand.
Außer Papa vielleicht ein bisschen. Aber es klang doch eher so,
als wollte er nur ein paar dumme Witze machen wollte, um
Mama zu ärgern.
„Wenn dieser Strauch aber die nächsten Tage weiter so wächst,
wie Sabrina gesagt hat, dann sollten wir schnellstens sehen,
dass wir den bei irgendwem im Garten auspflanzen. Denn
ansonsten wächst der uns noch dieses Wochenende durch die
Decke hindurch.“
Sabrina erstarrte, als sie das Wort Decke hörte und musste
sofort an die Gesellschaft dort oben denken, die genauso
seltsam zu sein schien wie diese Pflanze.
„Nein, das werde ich zu verhindern wissen“, sagte die Mutter.
„Spätestens am Montag werde ich dieses Gewächs einmal mit
in die Gärtnerei nehmen und meine Chefin, die Frau Dinkler
fragen. Vielleicht hat die ja eine Ahnung, was das ist.“
„Aber Mama!“ beschwerte sich Sabrina. „Es ist doch mein
Gewächs.“
„Ja, mein Liebes. Aber ich glaube nicht, dass wir diese
Monsterpflanze bei uns in der Wohnung behalten können. Dies
hier ist eine gewöhnliche Stadtwohnung und kein botanischer
Garten.“
Da es Papas Geburtstag war, ging Sabrina auch an diesem
Abend wieder spät ins Bett. Als sie die Pflanze vorm
Zubettgehen noch einmal betrachtete sah sie, dass sie
tatsächlich die Decke erreicht hatte. Eigentlich hätte sie nun
trotzig zur Mutter gehen und es ihr zeigen können. Aber sie
war ein bisschen beleidigt, dass ihr niemand glauben wollte.
Deshalb ging sie, ohne etwas zu sagen, ins Bett.
Sie konnte nur wenige Stunden geschlafen haben, als sie erneut
erwachte. Sie hatte Geräusche gehört, genau wie in der Nacht,
als sie zum ersten Mal von der Familie im Dachgeschoss
gehört hatte. Doch nachdem sie sich den Schlafdreck aus den
Augen gerieben hatte, vergaß sie dies sofort. Denn da hatte sie
nur noch Augen für den leuchtenden Zauberbaum, der dort in
der Ecke in ihrem Zimmer stand.
Kann man sich so etwas vorstellen? Einen Baum, auf dem
lauter bunte Sterne leuchten? Sabrina war so fasziniert davon,
dass ihr nichts daran unheimlich war.
Wenn in ein paar Monaten Weihnachten ist, werde ich die
übrigen Samen für viel Geld verkaufen, dachte sie nur. Denn
wer möchte zu Weihnachten nicht gerne einen Baum haben,
der leuchtet, ohne dass man erst mit viel Mühe und Not eine
Weihnachtskette anbringen muss?
Angst bekam sie erst, als sie wieder die Geräusche hörte. Sie
kamen zwar von oben, aber nicht aus dem Dachgeschoss.
Nein, aus ihrem eigenen Zimmer kamen sie. Es war so, als ob
irgendjemand an der Decke kratzte. Oder vielleicht sogar in sie
hineinbohrte. Dann hörte es sich auch immer wieder so an, als
ob feiner Sand oder Staub zu Boden fiel. Erst als das Kratzen
so laut war, dass man eine Gänsehaut bekam, und eine
Sekunde später ein paar richtige Brocken auf dem Boden
aufbullerten, erwachte Sabrina aus ihrer Starre.
Panisch vor Entsetzen knipste sie das Licht an, und schon hatte
sie den Übeltäter gefunden! Die Pflanze war es, niemand
anders als die Pflanze! Und sie hatte noch nicht einmal den
Anstand, damit aufzuhören, jetzt, wo sie ertappt war. Wie eine
dicke grüne Schraube bohrte sie sich weiter in die Decke
hinein, dass der Staub vom Putz nur so herunterrieselte. Wie
auf einer Baustelle. Zur gleichen Zeit hörten natürlich auch die
Sterne auf zu leuchten und verwandelten sich zu weißen
Glocken zurück. Aber das bemerkte Sabrina kaum. Jetzt
konnte sie nur noch an die Decke starren.
Vielleicht wäre sie ein paar Augenblicke später zu ihren Eltern
gelaufen, hätte sie wach gemacht, und ihnen alles gezeigt.
Doch dann hörte sie neue Geräusche, die sie erstarren ließen,
und diese kamen nun wirklich aus dem Dachgeschoss.
Die Familie, dachte Sabrina beunruhigt. Wir sollen sie nicht
stören, aber sie werden sich sicherlich gestört fühlen, wenn
sich etwas von unten durch die Decke bohrt.
Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob es gut war, diese Pflanze
heimlich zu pflanzen. Sie hätte ja nicht ahnen können, was für
einen Ärger sie ihr machen würde.
Es musste eine ziemlich aufgeregte Unterhaltung sein, die da
oben stattfand, denn die Stimmen gingen immerzu auf und ab.
Schließlich aber wurden sie von einem wirklich lauten Krach
übertönt, und das war, als sich ein richtig großer Stein aus der
Decke löste. Mit einem lauten Bums fiel er zu Boden.
Wie gut, dass unter ihnen der einsame Mann und nicht das
Rentnerehepaar wohnte. Die hätten sich jetzt bestimmt wieder
über den Lärm beschwert.
Sabrina wusste, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, ihren
Eltern Bescheid zu sagen. Aber sie war so gelähmt, dass sie es
nicht mehr wagte, sich vom Fleck zu rühren. Nach dem großen
Brocken fielen noch ein paar kleinere Steinchen herab, aber
das Schlimmste war jetzt überstanden. Dafür waren die
Stimmen von oben noch deutlicher zu hören, denn anscheinend
hatte die Pflanze bereits ein Loch in die obere Wohnung
hindurchgebohrt. Doch den Stimmen nach zu urteilen, schien
deswegen niemand betrübt zu sein. Im Gegenteil, man schien
sich beinahe darüber zu freuen.
Sabrina versuchte genauer zu lauschen, und bald schon glaubte
sie, einzelne Worte herauszuhören. Die dort oben sprachen
Deutsch, soviel war klar.
„du zuerst“, hörte sie eine eher hohe Stimme sagen, während
im Hintergrund ein leiser, aber fröhlicher Gesang erklang.
Bald aber wurde dieser Singsang von einem weit weniger
melodischen Gebrumme übertönt. Und dieses Gebrumme
schien durch das Loch in der Wand zu klettern und immer
weiter in Sabrinas Zimmer hinunterzukommen. Das wurde ja
immer unheimlicher. Konnte diese seltsame Pflanze nun etwa
auch singen?
Aber nein. Es war nicht die Pflanze, die da gesungen hatte, es
war das Männchen, dass sich kurze Zeit später zwischen den
dicken spiralförmigen Stängeln des Gewächses
hindurchquetschte. Es war ein ziemlich seltsames Männchen.
Sabrina hatte schon längst vermutet, dass die Menschen dort
oben im Dachgeschoss kleiner waren als gewöhnliche
Menschen. Aber so klein? Den konnte sie ja locker mit einer
einzigen Hand tragen, und das, obwohl sie noch ein kleines
Mädchen war.
Sabrina betrachtete das Männchen genauer und fand, dass es
ein bisschen altmodische gekleidet war. Hose und Jacke waren
braun und sahen ein bisschen lumpenhaft aus. Auf dem Kopf
trug es einen Hut, der ebenfalls braun war, und unter dem
dunkles, dichtes, lockiges Haar zum Vorschein kam. Das
fremde Wesen war eindeutig ein Mann, und zwar ein richtiger
Mann, kein Junge. Das sah man ihm deutlich an, wenn er auch
ziemlich klein war. Denn er trug auch einen Bart im Gesicht,
der unterm Kinn zwar lang und spitz herunterhing, der aber
nicht besonders dicht war.
„Hallo“, grüßte der kleine Mann und winkte ihr freundlich zu.
Sabrina war zunächst ein bisschen verdutzt, weil er überhaupt
nicht schüchtern zu sein schien. Dann aber freute sie sich wie
eine Schneekönigin. Sie erinnerte sich an die Worte der
Vermieterin. Wenn sie glauben, jemandem vertrauen zu
können, kommen sie ganz von alleine.
„Hallo“, sagte Sabrina leise. „Was bist du denn für einer?“
„Mein Name ist Honzi Hossenheim“, antwortete der Mann.
„Ich bin vor ein paar Tagen dort oben eingezogen.“
„Vor ein paar Tagen erst?“ fragte Sabrina. „Ich dachte, ihr
wohnt schon viel länger dort oben. Die Besitzerin dieses
Hauses hat gesagt, schon seit vielen Jahrzehnten. Schon, als
ihre Großmutter dieses Haus noch vermietet hat.“
„Das stimmt“, antwortete Honzi. „Das Ehepaar Schürig wohnt
bereits seit vielen Jahren da. Aber ich und meine Familie, wir
sind erst vor etwa zwei Wochen dort eingezogen. Hast du nicht
gehört, wie wir damals eine große Feier veranstaltet haben?
Bis in die tiefe Nacht hinein haben wir uns an der Hand
gehalten, einen Kreis gebildet und getanzt wie die Wilden.
Hast du das gar nicht gehört? Es muss doch ziemlich laut
gewesen sein. Denn wir hatten noch Gäste da, die uns beim
Umzug geholfen haben.“
„Doch“, antwortete Sabrina und nickte. „Ich bin mitten in der
Nacht aufgewacht. Und seit diesem Tag habe ich noch öfters
was von euch gehört. Früher habe ich nie etwas gehört, und ich
habe manchmal gar nicht glauben können, dass dort oben
tatsächlich jemand wohnt.“
„Das liegt daran, dass die Schürigs schon sehr alt sind“,
erklärte Honzi. „Sie reden nicht mehr viel und sie kommen fast
nie mehr aus der Schublade, in der sie wohnen heraus.
„Schublade?“ fragte Sabrina ganz überrascht. „Sie wohnen in
einer Schublade?“
„Ja, freilich. Halb aufgezogene Schubladen sind die Orte, wo
wir Dachbodenbewohner am liebsten wohnen. Vor allem die
älteren davon uns. In der Hälfte, die noch im Schrank steckt,
hat man es wunderbar dunkel. Wenn man ein paar kleine
Kissen und dünne Decken dort hinlegt, hat man eine
gemütliche Schlafecke, in der man sogar tagsüber gut schlafen
kann. In der Ecke, die offen ist, kann man sich einen kleinen
Tisch und ein paar Stühle aufstellen. Wenn die Schublade sehr
hoch ist, hat man von dort oben eine wunderbare Aussicht über
den gesamten Dachboden. Von dort aus beobachten die
Schürigs immer meine Kinder beim Spielen. Sie sind so froh,
dass endlich wieder ein bisschen Leben in der Bude ist.“
„Du hast also Kinder?“ fragte Sabrina. Sie war jetzt hellwach
und sie spürte, dass dies eine der aufregendsten und schönsten
Nächte in ihrem Leben werden würden.
„Ja, klar, habe ich Kinder“, antwortete Honzi. „Der älteste
heißt Joppo. Er ist bereits ein großer Junge. Lange wird‘s nicht
mehr dauern und er wird ein kleiner Mann sein. Mein kleinster
Sohn hingegen ist noch ziemlich jung. So jung, dass er nicht
einfach so in den Schränken und Gardinen herumklettern kann
wie die anderen beiden. Er heißt übrigens Fenno. In der Mitte
zwischen beiden aber habe ich ein Mädchen. Ihr Name ist Neli
und sie dürfte in deinem Alter sein.“
„In meinem Alter?“ fragte Sabrina. „Das kann ich mir gar nicht
vorstellen. Sie ist doch mit Sicherheit viel kleiner als ich.“
„Das stimmt allerdings. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass
ihr euch richtig gut verstehen werdet. Sie sehnt sich nach einer
Freundin, weil sie das einzige Mädchen in der Familie ist.
Mein Bruder hat nämlich auch drei Kinder, und das sind alles
Jungs.“
„Ja, aber warum kommt sie dann nicht einfach runter zu mir?“
fragte Sabrina.
„Sie haben noch ein bisschen Angst“, antwortete Honzi.
„Deswegen haben sie mich vorgeschickt, weil ich der
Familienvater bin. Aber wenn ich ihnen ein Zeichen gebe, dass
du harmlos bist, werden sie sogleich die Traumblume
herunterkommen. Nur Fenno wird wohl oben, bei meiner Frau
Malli, bleiben. Wie gesagt, er ist noch nicht so geschickt im
Klettern.“
Sabrina lachte.
„Ich bin ganz bestimmt nicht gefährlich“, sagte sie. „Ihr könnt
ruhig in mein Bett kommen und ich werde nicht fressen. Aber
sie dürfen nicht so laut sein, denn sie dürfen meine Eltern nicht
wecken. Meine Mama ist es nämlich ein bisschen unheimlich,
dass dort oben Leute wohnen, die wir nicht kennen. Sie wäre
bestimmt nicht begeistert, euch hier bei mir zu sehen.“
„Na, dann muss ich Neli wohl sagen, dass sie aufhören zu
singen soll“, sagte Honzi. „Sie sing nämlich so gerne. Hörst du
es?“
Ja, Sabrina hörte es. Sie sang beinahe ein bisschen wie ein
Engel, fand sie. Im nächsten Augenblick aber stieß Honzi
einen Pfiff aus und dann hörte sie, wie sich im Inneren der
Pflanze erneut etwas bewegte. Nun kamen sie also, Honzis
Kinder. Sabrina rieb sich die Hände, weil sie es kaum erwarten
konnte.
Und drei Minuten später saßen sie tatsächlich bei ihr auf der
Bettdecke. Honzi, Joppo und Neli. Joppo hatte ähnliche
Kleider an wie sein Vater. Er hatte aber keinen Hut. Und bei
ihm war auch nur die Hose braun, während die Jacke
dunkelgrün war. Er sah insgesamt auch etwas ordentlicher aus.
Wenn sie ihn genauer ansah, dann fand sie beinahe, dass er
etwas edles an sich hatte. Er hatte helles, glattes Haar und sein
Gesicht hatte sehr kräftige Züge. Trotzdem sah er sie
schüchtern an. Oder sagen wir besser, geheimnisvoll.
Neli hingegen hatte langes, glattes und dunkles Haar. Sie war
in ein wolkenweißes Kleid gehüllt, auf dem winzige silberne
Sterne glänzen. Sie war ein bisschen dick, aber sie hatte ein
sehr freundliches und verträumtes Gesicht.
„So groß bist du!“ staunte sie, als sie Sabrinas dicken Finger
betastete. „Ich bin noch nie einem so großem Menschen so
nahe gewesen.“
Sabrina musste ein bisschen kichern. Sie erinnerte, dass die
Kinder in ihrem alten Wohnblock immer gesagt hatten, sie sei
viel zu klein.
Eine Weile saßen sie alle zusammen auf ihrem Bett und taten
nichts, als sich gegenseitig anzustarren. Die Kinder schienen
nicht so gesprächig zu sein wie der Vater, der wieder zur
Pflanze zurückgekehrt war, um die Gesundheit ihrer Blätter zu
begutachten. Doch das täuschte. Als das Eis zwischen ihnen
erst einmal gebrochen war, schwatzten sie drauflos, was das
Zeug hielt.
Am Anfang redete meist Neli. Sie erzählte Sabrina alles von
dem Leben, dass die Familie auf dem Dachboden führte. Auf
einem Brett in einem Regal hatte sie sich so etwas wie ein
eigenes Zimmer eingerichtet. Eine Pappröhre hatte sie mit
Stoffen ausgelegt, sodass sie eine richtig gemütliche
Kuschelhöhle zum Schlafen hatte. Dann hatte sie noch mit
einem Bindfaden einen Sack an die Decke gebunden, in dem
sie manchmal schaukelte. Besondere Mühe hatte es ihr
gemacht eine große Schale mit lauter kleinen Plastikperlen auf
ihr Regalbrett zu tragen. Joppo und der Vater hatten ihr dabei
geholfen, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Denn sie liebte es,
an manchen Tagen ein Perlenbad zu nehmen und ihren kleinen
Körper in ihnen unterzutauchen. Wenn es ihr abends zu dunkel
war und sie noch etwas machen wollte, brauchte sie nur eine
der beiden Kerzenstummel anzünden, die sie in ihrem Zimmer
hatte. Sabrina überlegte sich, wie eine solche Kerze wohl
aussah, wenn man so klein wie Neli war. Wie eine große
brennende Säule musste sie für sie sein. Wenn Neli in ihrem
Zimmer ungestört sein und nicht beobachtet werden wollte,
brauchte sie bloß den Vorhang zu ziehen, den sie an der
Außenseite des Regals angebracht hatte. Den Stoff dafür hatte
sie in einer Schublade gefunden. Worauf sie aber am
allerstolzesten war, war die Holzrinne, die von dem Boden in
ihre Regaletage hinaufführte. Wenn sie dort hinunterrutschte,
war sie in Windeseile unten und brauchte nicht erst eine
anstrengende Kletterpartie zu machen.
Ihr Bruder Joppo lebte nicht im selben Regal wie sie. Er hatte
sich sein Zimmer auf einer Holzfläche eingerichtet, die direkt
unterm Dach lag. Es war die höchste Wohnfläche, die es auf
dem Dachboden gab. Er mochte es nämlich, weit oben in der
Höhe zu sein, wo ihn niemand störte. Während Neli geredet
hatte, hatte er meist schweigend auf der Bettkante gesessen
und die Beine baumeln lassen. Sabrina dachte zunächst, er
wolle nichts mit ihr zu tun haben, aber dann fing auch er zu
erzählen an.
Oh, was für eine geheimnisvolle Stimme er hatte! Sabrina
konnte sich kaum entscheiden, ob sie eher aus einem Märchen
oder aus einer Schauergeschichte stammen könnte. Zunächst
bekam sie eine Gänsehaut, als sie ihm zuhörte, aber dann war
es einfach nur schön und unheimlich spannend. Neli hatte mit
ihr geredet, wie die Mädchen in ihrer Schulklasse mit ihr
redeten. Sie hatte ihr von ihrem Zimmer erzählt, von der
Familie, von ihren Spielen. Joppo hingegen redete über ganz
andere Dinge. Er liebte es, in der Höhe auf den Stützbalken
spazieren zu gehen. Manchmal blieb er dabei stehen,
beobachtete die Fliegen, und versuchte, ihre Sprache zu lernen.
Jeden Tag kletterte er mindestens einmal zu der kleinen
Dachbodenluke herüber und spähte in die weite Welt hinaus.
Er musste doch schauen, ob die dunklen Ritter auf ihren
fliegenden Pferden angeritten kamen und versuchten, seine
Familie anzugreifen. Er selber wollte, sobald er groß war,
selbst ein großer Ritter werden, aber einer der guten, nicht der
bösen Seite. Er übte dafür jetzt schon mit einem Holzschwert,
dass er sich selbst geschnitzt hatte. Er machte seine Übungen
sogar auf den Querbalken des Daches. Der gesamten Familie
wurde schwindelig dabei, wenn sie ihm dabei zusehen musste.
Aber er sagte, ein guter Ritter darf niemals Angst vor tiefen
Abgründen haben.
Sabrina fragte ihn einmal, ob das, was er erzählte, ernst
gemeint war, oder ob es nur Märchen und Phantasien waren.
Aber darüber schwieg er, wie über viele andere Dinge, die sie
gerne von ihm gewusst hätte.
Je länger ihr die beiden aber erzählten, desto trauriger fand
Sabrina es, dass sie selbst nicht so klein war, und auf dem
Dachboden leben konnte. Sie war schon einmal auf dem
Dachboden ihrer Oma gewesen und sie wusste, wie viele
Verstecke es auf so einem Boden geben konnte. Wie gerne
wäre sie selber all die Schränke und Regale hinaufgeklettert.
Wie gerne hätte sie sich aus alten Gardinen und Stoffen ihre
eigenen Kleider zusammengeflickt. Wie gerne wäre sie selber
einmal auf den Dachbalken entlang balanciert, wenn Joppo bei
ihr war, und aufpasste, dass sie nicht herunterfiel. Wie gerne
wäre sie einmal in eine der Schubladen gekrochen und hätte als
kleiner Zwerg in all dem alten Ramsch herumgewühlt.
Und wie sie so davon schwärmte, stand plötzlich Honzi wieder
auf ihrem Bett. Die ganze Zeit war er umhergegangen, hatte
sich in ihrem Zimmer umgeschaut, und sich nicht in die
Gespräche unter Kindern eingemischt. Was wollte er auf
einmal? Wollte er seine Kinder abholen, damit sie wieder nach
oben zurückkehren konnten.
„Oh, könnt ihr nicht für mich vielleicht einmal die
Dachbodentür aufmachen?“ fragte Sabrina ihn. „Dann kann ich
wenigstens einmal bei euch hereinschauen und ich euch
zugucken. Auch wenn es schade ist, dass ich niemals bei euren
Spielen mitmachen kann.“
Dieser Abend war wirklich das sonderbarste, was Sabrina
jemals erlebt hatte. Doch das, was Honzi ihr dann antwortete,
war fast noch sonderbarer.
„Nein, die Bodentür können wir nicht für dich aufmachen. Es
wäre viel zu kompliziert, die schwere Eisenkette zu entfernen.
Wieso kommst du nicht einfach durch das kleine Loch in der
Decke, wie wir es auch tun?“
Sabrina dachte zunächst, er wolle sie veräppeln, aber er meinte
es tatsächlich ernst. Er bat sie, zu der Pflanze, die er
Traumblume nannte, herüberzugehen, und leicht an ihren
glockenförmigen Blüten zu wackeln. Sabrina tat, was er sagte,
und schon bald kullerte eine kleine Kugel in ihre Hand.
„Was ist das?“ fragte sie. „Ein Samenkorn?“
„Nein, das ist ein Traumplätzchen“, erklärte Honzi. „Wenn du
es vor dem Schlafengehen isst, dann kannst du in deinen
Träumen tatsächlich bei uns sein. Jedoch musst du dafür eine
Puppe haben, die in unserer Größe ist. Wie wäre es zum
Beispiel mit der Prinzessin dort in deinem Regal?“
Sabrina holte die Prinzessin herüber in ihr Bett.
„Und nun?“ fragte sie.
„Du legst die Prinzessin auf deine Bettdecke, isst das Plätzchen
und schläfst ein“, sagte Honzi. „Und sobald du eingeschlafen
bist, wandert deine Seele in die Puppe hinüber. Wenn du mit
deiner Seele in der Prinzessin steckst, wird diese lebendig, und
du kannst mit ihrem Körper hingehen, wo du willst. Dein
echter Körper bleibt aber im Bett zurück. Erst, wenn du zu ihm
zurückkehrst und du dir selbst einen bestimmten Satz in das
Ohr flüsterst, geht deine Seele in deinen echten Körper
zurück.“
„Aber bin ich dann nicht total übermüdet, wenn ich die ganze
Nacht mit euch auf dem Dachboden spiele, anstatt zu
schlafen?“ fragte Sabrina, die von der Geschichte fasziniert
und besorg zugleich war.
„Nein“, sagte Honzi. „Denn dein Menschenkörper schläft ja
weiter. Sobald du aufgewacht bist, wird es dir so vorkommen,
als sei alles nur ein Traum gewesen. Trotzdem wirst du dich an
alles erinnern können. Und wenn du am nächsten Abend
wieder Lust hast, kannst du es ruhig noch einmal probieren.
Wir haben jeden Abend Zeit für dich, denn wir Dachbewohner
sind sowieso eher Nacht- als Tagmenschen.“
„Ganz besonders ich“, schwärmte Joppo. „Das einzige, was
etwas schade ist, ist, dass ich noch nie einem Nachtflügel
begegnet bin. Aber hoffentlich wird es eines Tages noch
passieren.“
„Ein Nachflügel?“ fragte Sabrina. „Was soll denn das sein?“
„Das ist ein Flügel, der dieselbe Farbei wie die Nacht hat,
sodass man ihn nicht sehen kann. Doch du spürst ihn, wenn er
direkt in deine Nähe kommt. Wenn du dann schnell genug bist,
und dich auf ihn draufstellst, kannst du innerhalb kürzester Zeit
zu den unmöglichsten Orten reisen.“
„Zu was für Orten denn?“ fragte Sabrina.
„Zu anderen Kontinenten. Aber auch zu anderen Sternen, wenn
du willst. Oder eben zu all den Orten der Dämmerung, wo die
Tiere und die Wesen der Dämmerung wohnen. Ein normaler
Mensch, und auch wir Dachbewohner können diese Orte aus
eigener Kraft nicht finden. Denn sie sind geheim und die
Wesen der Dämmerung achten darauf, dass niemand sie
entdeckt. Nur ein Flügel der Nacht, der kann einen an alle Orte
bringen, ohne dass man dabei Angst haben muss. Man kann
sich sogar in den Mittelpunkt der Sonne wünschen und er
bildet eine Schutzhülle aus, damit man nicht verbrennt.“
„Oh, ich wünsche, mir würde dieser Flügel der Nacht auch
einmal begegnen“, sagte Sabrina. „Aber am besten nur wenn
du dabei bist, Joppo. Denn mit dir zusammen würde ich
bestimmt niemals Angst haben.“
Sabrina war sich auch sicher, dass ihr ohne Joppo dieser Flügel
ganz sicher nie begegnen würde. Deswegen konnte sie sich gar
nicht genug beeilen, das kleine Plätzchen der Traumblume
herunterzuschlucken. Sie vertrieb die kleinen Menschlein, die
nun allesamt ihre Freunde waren schnell aus dem Zimmer,
denn nun wollte sie nur noch eins: Schnell einschlafen und
ihnen dann hinterdrein folgen.
Niemals zuvor hatte sich Sabrina so seltsam gefühlt, wie in
dem Augenblick, als sie sich selbst beim Schlafen zusah. Sie
war nun klein, nicht einmal so groß wie eine Hand, und das
Zimmer war riesig. Ihr Kleiderschrank sah aus wie ein
Wolkenkratzer, und die Traumblume schien in der
Zwischenzeit noch einmal um das zehnfache gewachsen zu
sein. Er leuchtete wieder so wunderbar in der Nacht, dass sie
sich in ihrem Zimmer gut umsehen konnte. Als sie die
Bettkante heruntersah, kam sie sich vor wie auf einem Drei-
Meter-Turm, nur dass unter ihr kein Wasserbecken war. Aber
Honzi hatte ihr gesagt, dass kleine Leute viel größere Sprünge
machen konnten, und er hatte Recht. Mit einem kleinen Hopser
war sie unten, ohne dass sie dabei ausrutschte oder sich sonst
wie wehtat. Von oben hörte sie bereits, wie Neli ein paar
Lieder für sie sang, und sie beeilte sich, zur Blume zu kommen
und hinaufzuklettern.
Auch das war viel einfacher, als sie es sicher vorher vorgestellt
hatte. Im Innenraum der spiralförmigen Stängel hatten sich
kleine Zweige und starke Blätter ausgebildet, an denen man
heraufklettern konnte, wie in einem Treppenhaus.
„Willkommen bei uns, im Reich der Dachbewohner“, begrüßte
sie eine Frau, sobald sie oben ihren Kopf herausgestreckt hatte.
„Bist du die Malli?“ fragte Sabrina und die Frau nickte.
Sie war ein bisschen dick, und ziemlich kräftig gebaut. Man
sah ihrem Körper und ihrem Gesicht an, dass sie sehr viel
arbeitete. Aber sie sah auch ziemlich gütig aus. Juppo und Neli
konnten froh sein, so eine Mutter zu haben. Und Fenno
natürlich auch. Das war die andere Person, die Sabrina traf, als
sie zum ersten Mal aus dem Loch guckte. Und endlich wusste
sie, zu wem das Lachen gehörte, dass sich wie ein Schluckauf
anhörte. Im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern war er
kein bisschen schüchtern. Er lachte und quasselte immerzu und
wollte auch sogleich mit Sabrina spielen. Aber er war auch
ziemlich tollpatschig und fiel alle paar Sekunden auf die Nase.
Neli fand eine kleine Plastikkugel und sie schlug vor, dass sie
ein Fußballspiel mit Fenno spielen sollten, damit er sich
beruhigte. Juppo aber spielte nicht mit, obwohl er der größte
Junge unter ihnen war. Fußballspielen auf dem Boden, konnte
ihm nicht begeistern. Er hätte es lieber oben auf dem
Dachbalken getan, wo man immer aufpassen musste, dass die
Kugel nicht herunterfiel. Aber das ging nicht, weil Fenno zu
klein war und die Mädchen sich nicht trauten. So kletterte er
auf eine alte Kommode hinauf und schaute ihnen von oben aus
zu.
„Wirklich merkwürdig, was ihr da macht“, sagte er. „Ich habe
noch nie eine Prinzessin Fußball spielen sehen.“
Da erst fiel es Sabrina ein, dass sie ja wie eine Prinzessin
angezogen war. Aber doch nur, weil sie im Zimmer sonst keine
Puppe in Nelis Größe gefunden hatte. Sie aber pfiff darauf,
eine zu sein, und achtete auch nicht darauf, dass sie ihr weißes
Kleid nicht kaputt machte.
„Ich will genauso aussehen, wie ihr“, sagte Sabrina, als Fenno
endlich müde war, und ihn die Mutter mit hinauf in die
Schublade nahm, in der sie wohnten.
„Kein Problem“, meinte Neli und zeigte auf die Kommode, auf
der ihr Bruder noch immer saß. „Siehst du die obere, offene
Schublade? Dort gibt es Nadeln, Garn und Stoffe. Mama hat
dort ein Nähstudio eingerichtet. Sie hat dort auch ein neues,
fertiges Kleid für mich liegen, was ich mir aber noch nicht
abgeholt habe. Das kannst du gerne haben, wenn du willst.“
Also kletterten sie zusammen die Kommode hinauf und
Sabrina war überrascht, wie schnell sie das konnte. Was sie
auch wunderte, war, dass es so hell war. Aber das log wohl an
den Kerzen, die in manchen Ecken des Dachbodens brannten.
Und an den Blumen, die in kleinen Blumentöpfen angepflanzt
waren. Sie leuchteten genauso wie ihre Traumblume, nur
waren ihre Blüten nicht sternförmig und auch nicht so groß.
„Sind das auch Traumblumen?“ fragte Sabrina.
„Nein, Traumblumen nennt man nur die Blumen, die durch die
Decke wachsen, damit Kinder in ihren Träumen zu uns
hinaufklettern können“, erklärte Neli. „Aber mit solchen
Fragen gehst du am besten zu Joppo. Er kennt sich besser mit
den Geheimnissen unserer kleinen Welt aus.“
Als sie aber oben waren, hatte Sabrina keine Zeit dazu. Sie war
zu sehr damit beschäftigt, das dunkelrote Kleid zu bewundern,
das Nelis Mutter genäht hatte. Es passte gut in diese Gegend
hinein, denn es sah geheimnisvoll aus, wie es so im Licht der
Wunderbäume glänzte und schimmerte. Und es war auch nicht
so lumpig, wie die Kleidung von Honzi. Gerne wollte Sabrina
es tragen, während sich Neli das Prinzessinnenkleid borgte.
„So wie ihr ausseht, könntet ihr glatt in einer Modenschau
auftreten“, meinte Joppo und grinste.
„Au ja“, rief Neli vor Begeisterung. „Ich habe gehört, dass es
bei euch großen Menschen so etwas gibt. Ich würde so etwas
gerne mal selber machen.“
Aber Sabrina war dagegen. Sie war hergekommen, um die
Geheimnisse des Dachbodens zu erkunden. Da kann man
Eitelkeiten nicht gut gebrauchen. Sie sah sich auf der
Kommode um, um nach etwas zu suchen, womit man spielen
konnte. Sie entdeckte aber nur ein altes Photo. Ein verstaubtes
Schwarz-Weiß-Photo, das in einem goldenen, verzierten
Bilderrahmen steckt. Es zeigt eine junge Dame in weißem
Kleid und einen jungen Mann in schwarzem Anzug. Es sieht
ganz danach aus, als ob sie ein Brautpaar sind.
„Weißt du, wer diese beiden Leute sind?“ fragt Sabrina Neli.
Aber bevor diese antworten kann, kommt ihr Joppo schon
dazwischen.
„Das sind ein Graf und eine Gräfin, die früher einmal in
diesem Haus gelebt haben.“
„In diesem Haus?“ Sabrina tippte sich mit dem Finger an die
Stirn. Man kann ihr ja eine ganze Menge einreden, aber so
einen Unsinn glaubt sie doch nicht. „Dies hier ist doch ein
ganz normales Wohnhaus. Wahrscheinlich ist es noch nicht
einmal besonders alt. Hier leben doch keine Grafen und
Gräfinnen.“
„Nein, besonders alt ist es wirklich nicht“, antwortete Joppo.
„Besonders alt kann es auch gar nicht sein, denn vor etwas
mehr als einhundert Jahren hat an derselben Stelle noch ein
prächtiges Schloss gestanden. Doch eines Tages hat man es
völlig niedergerissen, nur diese eine Dachbodenkammer ist
geblieben.“
Sabrina wusste nicht recht, ob sie das glauben sollte.
Schließlich hatte sie an diesem Tag schon allerlei verrückte
Dinge gehört und erlebt. Aber es war ja völlig gleich, ob es
wahr war, oder nicht. Joppo konnte gut erzählen und sie wollt
ihm gerne weiter zuhören.
„Wie kann es sein, dass eine einzige Dachbodenkammer
geblieben ist?“ frage sie. „Ohne Haus müsste die doch zu
Boden gekracht sein.“
„Weil sie verzaubert war“, erklärte Joppo. „Die Gräfin und ihr
Mann waren in diese Dachkammer geflohen, weil sie Opfer
einer großen Verschwörung geworden waren. Man glaubte, sie
sei gar nicht die echte Gräfin, sondern eine Schwindlerin. In
Wirklichkeit war es nur ihr böser Onkel, der dieses Gerücht in
die Welt gesetzt hatte. Er war erzürnt darüber, dass sie nach
dem Tod seines Bruders den Thron geerbt hatte und nicht er.
Deswegen tat er alles, um ihr zu schaden. Und er war so
mächtig und listig, dass er es bald geschafft hatte, das gesamte
Volk gegen sie aufzubringen. Welch ein Glück, dass die Gräfin
einmal einer kleinen Elfe das Leben gerettet hat und nun einen
Wunsch bei ihr freihatte. So wünschte sie sich, dass diese
Dachbodenkammer unsichtbar wurde, und niemand sie dort
finden konnte. Ihr Onkel ließ das ganze Schloss nach ihr
absuchen. Er wusste, dass sie noch da war, aber er konnte sie
nirgends finden. Er war so voll Hass gegen sie, dass er am
Ende sogar das eigene Schloss abreißen ließ. Nur diese
Dachbodenkammer nicht, weil niemand sie sah. Und so harrten
die Gräfin und der Graf viele Jahre in dieser Kammer aus, bis
ihr böser Onkel gestorben war. Die Elfe war so großzügig, dass
sie der Gräfin einen zweiten Wunsch gewährte. Und so
wünschte sie sich, dass man um die Dachkammer ein ganz
normales Haus herum baute. Und als dies geschehen war,
lebten sie in dem Haus viele Jahre wie ganz gewöhnliche
Leute. Die große Zeit der Grafen war vorüber, und es hatte ihr
ohnehin mehr Schwierigkeiten als Freude bereitet eine Gräfin
zu sein. Niemand weiß heute mehr, dass hier früher einmal ein
Schloss gestanden hat, nur die Tür zur Dachkammer. Die
starke, hölzerne Tür mit der Eisenkette, sie ist von damals
geblieben.“
Sabrina hatte die ganze Zeit über eher vermutet, dass sich
Joppo die Geschichte nur ausdachte. Aber als er von der
Dachbodentür erzählte, war sie sich nicht mehr sicher. Sie
erinnerte sich daran, dass sie sofort an ein altes Schloss
gedacht hatte, als sie sie zum ersten Mal sah.
Gerne hätte sie ihn auch noch gefragt, ob die Gräfin die
Großmutter ihrer Vermieterin gewesen war. Aber plötzlich
hörte sie, wie Malli nach ihnen rief. Sie stand in einer
geöffneten Schublade in dem kleinen Schrank gegenüber.
„Kommt rüber, meine Kinder! Ich habe für euch ein
Nachtmahl zubereitet, damit ihr nicht verhungert.“
Sabrina hatte noch nie zuvor in der Nacht gegessen. Aber sie
war neugierig darauf, was die Dachbodenbewohner wohl für
Speisen hatten. Deswegen wollte sie schnell herunterklettern.
„Doch nicht klettern!“ sagte Neli da. „Wir nehmen einfach die
Seilbahn.
„Die Seilbahn?“ fragte Sabrina zunächst verdutzt. Doch dann
wusste sie, dass Neli die dünne weiße Schnur meinte, die
zwischen der Kommode und dem Regal aufgespannt war. Sie
war ihr schon die ganze Zeit über aufgefallen, aber sie hatte
nicht gewusst, dass es eine Seilbahn war.
„Die hat Joppo gebaut“, erklärte Neli. „Er ist in solchen
Dingen immer sehr tüchtig.
Also gingen sie herüber zur Kante, wo am Anfang des Seiles
zwei große Schlüsselanhänger hingen. Joppo war als erstes da
und zeigte Sabrina, wie es ging. Er löste den
Schlüsselanhänger aus einer Halterung, umklammerte mit den
Füßen das Plastikteil und schon fuhr er wie ein Sausewind
davon. Es dauerte nicht lange, da war er drüben.
„Kann man die Anhänger auch wieder zurückbewegen?“ fragte
Sabrina. „Es ist nämlich nur noch einer da.“
„Schlecht“, antwortete Neli. „Weil es von drüben aus ja nur
bergauf geht. Sie werden meistens von allein zurückbewegt,
wenn wir schlafen. Joppo behauptet, es seien unsichtbare
Nachtfalter, die das täten.“
Aber die beiden fanden einen Weg, wie sie gemeinsam mit
einem einzigen Schlüsselanhänger fahren konnten. Und
Sabrina war sich sicher, dass es viel mehr Spaß machte, wenn
sie beim Fahren der Freundin ins Gesicht schauen konnte. Da
konnten sie nämlich gemeinsam lachen und sich über die Fahrt
freuen.
Schließlich saß die gesamte Familie in der Schublade, in der
die Schürigs wohnten. Die Schürigs, das waren zwei wirklich
angenehme Leute, die Sabrina schon bald in ihr Herz
geschlossen hatte. Sie sprachen wenig, aber wenn sie sprachen,
dann musste man ihnen ganz aufmerksam zuhören, weil es so
interessant war. Sie erzählten manchmal von unheimlichen
Dingen, wie Joppo, aber meistens erzählten sie von früher, wie
es damals auf den vielen Dachböden gewesen war, in denen sie
gelebt hatten. Einige Geschichten waren sehr traurig. Sie
hatten nämlich auch noch die Zeiten des letzten Krieges erlebt,
und die Oma Schürig, die übrigens von allen auch nur Oma
Schürig genannt wurde, wäre einmal fast verbrannt, als der
Dachstuhl bei einem Angriff ausgebrannt war. Aber auch Opa
Schürig hatte so einiges zu berichten, denn er war in seinem
Leben viel in der Welt herumgekommen. Er vermisste das
Reisen so sehr, und es war so traurig, dass er heute kaum noch
seine Schublade verlassen konnte. Aber zum Glück war jetzt ja
die Familie Hossenheim da, die extra hergezogen war, um den
beiden Alten zu helfen.
„Es ist so schön, dass jetzt wieder ein bisschen Leben bei uns
eingezogen ist“, sagte Oma Schürig und schnurrte zufrieden.
„Und du, Sabrina, kannst so oft zu uns hoch kommen, wie du
möchtest.“
Sie saßen übrigens alle an einem Tisch der eigentlich gar nicht
so groß war, dass sie alle daran gepasst hätten. Aber sie rückten
ein bisschen zusammen, sodass sie es richtig gemütlich hatten.
Auch hatten sie nicht genug Stühle, aber die Kinder konnten
sich auch gut auf die Kante von der Schublade setzen. Als
Essen gab es eine Suppe, die Malli über einer Kerzenflamme
warmgemacht hatte. Sabrina war ein bisschen skeptisch, weil
sie grau und dickflüssig war. Als sie es aber probiert hatte, fand
sie doch, dass es ziemlich gut schmeckte.
„Was ist denn da drin?“ fragte sie.
„Die zerraspelten Flügel einer Stubenfliege und mehrere
Mückenstachel“, antwortete Joppo sogleich.
„Wirklich?“ fragte Sabrina und war ziemlich geschockt.
„Na klar. Und gewürzt wurde die Suppe mit einer Prise
Hausstaub.“
Aber Malli sagte sogleich, dass Joppo nur wieder einen
Quatsch erzählte. Was wirklich in der Suppe war, wollte sie
aber nicht sagen. „Eine gute Hausfrau nimmt verrät ihre
Geheimrezepte höchstens auf dem Totenbett“, sagte sie.
Außerdem war sie der Meinung, dass die Dachbewohner auch
noch so manche Geheimnisse vor den Besuchern aus der
Menschwelt bewahren sollten.
„Was seid ihr eigentlich für welche?“ fragte Sabrina. „Seid ihr
Zwerge, Wichtel oder… oder einfach nur zu klein geratene
Menschen.“
„Wir haben für uns keinen eigenen Namen“, antwortete Honzi
darauf. „Wir nennen uns auch nur Menschen. Oder eben
Dachbewohner, wenn wir uns von euch unterscheiden wollen.
Denn unser Volk liebt es nun einmal in alten Dachböden zu
leben, wo es viele Verstecke gibt und ihr großen Menschen
selten oder gar nicht hinkommt. Es gibt in dieser Stadt noch
Dutzende andere Familien, die wir manchmal besuchen.“
„Aber wie macht ihr denn das?“ fragte Sabrina. „Ich habe noch
nie gehört oder gesehen, wie jemand von euch die Treppe
heruntergegangen ist.“
„Wir gehen ja auch nicht über die Straße wie ihr?“ antwortete
Joppo mit schwärmerischen Augen. „Wir haben einen
Flugdrachen, der uns bei Nacht durch die ganze Stadt fliegen
kann. Muron ist sein Name.“
Sabrina blickte sofort zu Malli und Honzi herüber. Und als sie
sah, das die beiden nickten, wusste sie, dass dies keine
Phantasiegeschichte war, die sich Joppo gerade für sie
ausgedacht hatte.
„Wo ist denn dieser Drachen?“ fragte Sabrina. „Ich möchte ihn
zu gerne einmal sehen.“
„Er ist nicht hier, denn Drachen leben meistens in den
Innenwänden der Schornsteine“, erklärte Joppo. „Außerdem
muss er ja außer uns manchmal noch andere Familien
transportieren. Aber morgen Nacht will er zu uns kommen und
am Bodenfenster anklopfen. Das hat er mir vor ein paar Tagen
selbst versichern.“
„Dann werde ich morgen wiederkommen“, sagte Sabrina
erwartungsfreudig. Sie wollte unbedingt einmal bei Nacht auf
einem fliegenden Drachen über die Stadt reiten.

Am nächsten Morgen aber hatte Sabrina ein ganz anderes


Problem.
„Ach, du lieber Gott!“ rief die Mutter, als sie ins Zimmer kam,
um ihre Tochter zu wecken. Sie hatte aber nur noch Augen für
die Traumblume, die mit ihrer Spitze ein Loch in die Decke
gebohrt hatte. Natürlich wusste sie nicht, dass es eine
Traumblume war, weswegen sie sie sofort aus dem Zimmer
nehmen wollte.
Sabrina hatte an diesem Sonntagmorgen lange geschlafen, und
am liebsten wäre sie noch ein bisschen länger liegengeblieben.
Denn der Traum, den sie gehabt hatte, war so wunderbar
gewesen. Als ob sie ihn in Wirklichkeit erlebt hätte!
Als sie aber sah, was ihre Mutter gerade anstellen wollte, war
sie mit einem Schlag hellwach. Und sofort wusste sie, dass ihr
der Traum ihr nicht nur echt vorgekommen war, nein, sie hatte
ihn in Wirklichkeit erlebt! Wenn die Mutter ihr nun aber die
Traumblume wegnehmen würde, konnte sie nie wieder einen
solchen Traum erleben.
„Lass das sein!“ schrie sie und sprang mit einem Satz aus dem
Bett. „Es ist meine Blume! Ich habe sie selber gepflanzt und
ich möchte, dass sie hier stehen bleibt!“
„Aber das geht doch nicht, das siehst du doch!“ entgegnete die
Mutter. „Sie hat ein Loch in die Decke gebohrt. In ein paar
Tagen bohrt sie sich womöglich durch das Dach hindurch.“
Aber Sabrina wusste, dass dies nicht passieren würde. Seitdem
die Blume das Dach erreicht hatte, war sie kaum einen
Zentimeter mehr gewachsen. Aber die Mutter wollte nicht mit
sich reden lassen.
„Wenn die Vermieterin das sieht“, sagte sie. „Oh, jemine, wie
unangenehm. Am Ende schmeißt sie uns noch aus der
Wohnung!“
„Ich glaube nicht, dass die Vermieterin da so streng ist“,
meinte Sabrina, doch die Mutter wollte darauf nicht hören.
Welch ein Glück, dass genau in diesem Moment das Telefon
klingelte.
„Sabrina, ich muss schnell weg!“ rief die Mutter ganz außer
Atem, als sie zwei Minuten später ganz gehetzt bei ihr
hereinkam. „Einer Arbeitskollegin ist etwas Schlimmes
passiert, ich muss sie dringend im Krankenhaus besuchen.“
Sabrina fand es natürlich sehr schade für die arme Frau. Aber
wenigstens hatte sie jetzt ein bisschen Zeit, in der sie sich
einen Plan überlegen konnte, das mit der Blume zu verhindern.
Hastig kletterte sie auf einen Stuhl, zwängte ihren Zeigefinger
durch das Loch und machte ein Klopfzeichen. Es dauerte nicht
lange, da kniff ihr jemand in den Fingern. Es war Fenno, der
ein bisschen mit ihr spielen wollte. Aber sie hatte für so etwas
keine Zeit.
„Sag schnell deine Eltern oder Joppo Bescheid!“ rief Sabrina
zu ihm herauf. „Meine Mama will mir meine Traumblume
wegnehmen. Dann kann ich heute Abend nicht zu euch
kommen.“
Ein paar Minuten musste Sabrina ungeduldig warten. Dann
kam Honzi an, der es gar nicht gewöhnt war, um diese Zeit
wach zu sein. Aber als er Sabrinas Problem mit anhörte, sah er
sofort ein, dass es dringend war.
„Ich kann deiner Mama doch einen Brief schreiben, dass es
uns nichts ausmacht, wenn die Pflanze in unsere Wohnung
herein wächst.“
„Ich weiß nicht“, meinte Sabrina. „Sie soll doch eigentlich gar
nicht wissen, dass dort oben jemand wohnt. Sie fürchtet sich
doch so sehr vor Gespenstern und kleinen Männchen und so.
Außerdem nützt das auch nichts, weil ja der Vermieterin das
Haus gehört und sie zu entscheiden hat.“
„Dann werde ich der Vermieterin jetzt einen Brief schreiben“,
entschied Honzi. „Ich habe sie noch nie gesehen und noch nie
mit ihr gesprochen. Aber ihre Großmutter hat den Schürigs
einiges über sie erzählt. Wenn sie wirklich so ist, wie die alte
Frau Hansen gesagt hat, dann wird sie deswegen bestimmt
keinen Ärger machen.“
„Hoffentlich“, sagte Sabrina, die vom Stuhl stieg und wartete,
dass das kleine Briefchen zu ihr heruntergeflogen kam. „Ich
werde den Brief gleich zu ihr bringen. Hoffentlich trifft sie sich
danach sofort mit Mama und sagt ihr, dass alles kein Problem
ist.“
Als Sabrina bei der Vermieterin auf dem Sofa saß, während sie
den Brief las, guckte sie ein bisschen ängstlich drein. Ihre
Mutter hatte ihr immer beigebracht, dass man die Leute am
Sonntag nicht einfach so stören durfte. Und dann hatte sie
Angst, dass sie sich wegen dem Loch in der Decke aufregen
würde.
Wie erleichtert war sie, als die Vermieterin zu ihr aufsah und
lachte.
„Das ist aber schön, dass sich die Herrschaften auch mal bei
mir melden“, sagte sie. „Ich bin eigentlich nicht so neugierig
und lasse den Leuten Ruhe. Aber ein bisschen traurig war ich
schon, dass sie mir niemals auch nur einen Brief geschrieben
haben.“
„Du hast also nichts dagegen, dass ein Loch in der Decke ist?“
fragte Sabrina erleichtert.
„Wenn du nichts dagegen hast, und die Familie im Dachboden
auch nicht, dann wüsste ich nicht, wo das Problem ist“, sagte
sie verständnisvoll. „Die Hauptsache ist nur, dass es nicht
größer wird. Wenn ihr wieder auszieht kann man das Loch ja
immer noch schließen.“
Sabrina lächelte.
„Aber du musst zu uns herüberkommen und Mama das auch
sagen“, fügte sie noch hinzu. „Die will meine schöne
Traumblume sonst nämlich aus der Wohnung werfen.“
„Ich werde sowieso kommen“, sagte die Vermieterin. „Denn
ich habe diese wunderbare Blume ja noch gar nicht gesehen.“
„Oh, was sieht die toll aus!“ staunte sie, als sie sie ein paar
Minuten später direkt vor sich sah. „Sie passt aber gut zu
meiner Großmutter, denn sie war eine sehr geheimnisvolle
Frau. Vielleicht sollte deine Mutter eine eigene Gärtnerei
aufmachen und dort mit den übrigen Samenkörnern diese
Pflanzen züchten. Sie wird damit gewiss ein Wahnsinns-
Geschäft machen.“
„Lieber nicht“, sagte Sabrina. Denn wenn die Mutter reich
wurde, dann würde sie sich bestimmt ein eigenes Haus im
Grünen kaufen wollen. Früher hätte Sabrina gern in so einem
großen Haus, das sie für sich allein hatten, wohnen wollen.
Aber seitdem sie die Schürigs und die Hossenheims kannte,
wollte sie nie wieder aus dieser Wohnung weg.
„Dann schenke ich dir die übrigen Samenkörner“, sagte die
Vermieterin. „Vielleicht wirst du später ja selber einmal
Gärtnerin. Wenn du willst, kann ich den Beutel auch weiter für
dich im Keller aufbewahren.“
Sabrina fand es gut, dass die Vermieterin das Geheimnis nicht
groß herumerzählen wollte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob
sie schon einmal eine Frau getroffen hatte, die so nett war wie
sie, aber ihr fiel keine ein.
Am Ende schaffte sie es sogar, ihre Mutter davon zu
überzeugen, dass die Traumblume in Sabrinas Zimmer
stehenbleiben durfte.
„Und wenn sie weiter wächst?“ fragte die Mutter dennoch
skeptisch. „Was ist, wenn plötzlich die Decke einstürzt. Oder
wenn wir in Sabrinas Zimmer plötzlich einen Urwald haben.“
„Sie wächst nicht weiter!“ sagte Sabrina trotzig. „Sie ist seit
heute Morgen noch keinen Zentimeter gewachsen.“
„Na gut, aber so ganz wohl ist mir bei der Sache trotzdem
nicht“, sagte sie, als sie die Vermieterin zur Tür begleitete.
„Aber wenn Sie die Verantwortung dafür übernehmen. Bitte.“
Am Sonntagabend wollte Sabrina sofort nach dem Abendbrot
ins Bett, das war um kurz nach sieben.
„Komisch“, sagte die Mutter. „Sonst gehst du doch nie
freiwillig ins Bett.“
„Ich bin die letzten Tage so lange aufgeblieben, deswegen bin
ich heute müde“, erklärte Sabrina.
Auch der Vater war ein bisschen traurig, denn er hatte sie lange
nicht gesehen und hätte gerne noch mit ihr ein Spiel gespielt.
„Also gut, eine Runde Halma“, gab sie schließlich nach, aber
pünktlich um halb acht lag sie in den Federn.
Der Dachboden war noch viel größer, als Sabrina es am Abend
zuvor erlebt hatte. Da waren sie nämlich nur in der kleinen
Ecke gewesen, in der die Familie lebte. Sie war wahrscheinlich
nur wenige Meter breit und lang, aber natürlich kam sie einem
viel größer vor, wenn man klein war. An zwei Seiten wurde sie
vom Dach begrenzt, an der anderen Seite lag die Mauer mit der
Tür zum Treppenhaus, und an der vierten Seite schließlich war
quer durch den Raum ein großer Vorhang aufgespannt.
„Der hängt da, damit sich im Raum die Wärme besser hält“,
erklärte ihr Neli. „Wir können ja nicht den ganzen großen
Dachboden heizen.“
„Wie heizt ihr eigentlich genau?“ fragte Sabrina.
„Das solltest du besser Joppo fragen, der hat bestimmt gleich
wieder eine Geschichte parat“, sagte sie.
Aber Joppo war nicht da. Er war den ganzen Abend noch nicht
aufgetaucht und so beschlossen Sabrina und Neli, allein etwas
zu unternehmen. Zuerst spielten sie wieder Fußball und eine
Runde Verstecken mit Fenno, damit er sich austoben konnte
und ihnen hinterher nicht mehr auf die Nerven ging.
Dann aber zog es Sabrina wie magisch zu dem Vorhang hin.
„So ein Riesenvorhang!“ staunte sie, als sie direkt vor ihm
stand und in die Höhe schaute. „Es kommt einem ein bisschen
so vor, als ob hier das Ende der Welt liegt. Aber auf der
anderen Seite ist eine andere Welt, die voller Rätsel und
Geheimnisse ist. Vielleicht gibt es dort Monster und
Gespenster. Vielleicht kommt sogar einmal eins zu uns
herübergekrochen und erschreckt uns.“
„Du redest ja fast schon so wie Joppo!“ sagte Neli. „Der liebt
es, dort drüben auf der anderen Seite zu sein. Er erzählt mir
manchmal von seinen Erlebnissen dort drüben. Aber ich gehe
fast nie dorthin. Es ist mir zu unheimlich.“
„Und ich interessiere mich unheimlich dafür, was dort drüben
ist“, sagte Sabrina. Sie nahm sie an der Hand, denn sie merkte,
dass ihre Freundin ein bisschen zitterte.
„Wenn du mitkommst, und mir versprichst, dass du immer bei
mir bleibst, gehe ich vielleicht doch mal“, sagte sie da. „Aber
mit Joppo allein mag ich das nicht. Er nimmt nie Rücksicht auf
mich, klettert überall hoch und verkriecht sich in allen dunklen
Ecken. Wenn ich ihn nicht folge, lässt er mich einfach allein
auf dem Flur stehen. Und dann stehe ich da und zittere und
traue mich kaum, mich zu rühren.“
„Ich werde ganz bestimmt immer bei dir bleiben“, sagte
Sabrina.
„Lasst uns erst einmal am Vorhang hochklettern“, schlug Neli
vor. „Damit ich ein bisschen Mut bekomme.“
Der Stoff des Vorhangs war nicht sonderlich glatt, sondern aus
ziemlich groben Fasern gewoben. Wenn man so klein war wie
sie, fand man überall zwischen den Fäden Halt und bald schon
waren sie über einen halben Meter in die Höhe geklettert.
„Das macht mir Spaß“, jubelte Neli und schaukelte sogar ein
bisschen hin und her. „Wenn im Hintergrund das Licht der
Kerzen scheint und ich genau weiß, dass Mama und Papa mich
sehen können, traue ich mich schon eine ganze Menge Dinge.“
„Und was ist, wenn plötzlich von der anderen Seite ein Vampir
angeflogen kommt und in den Vorhang beißt?“ fragte Sabrina.
„Genau dort, wo du gerade deine Hand hast.“
„Oh, sag so etwas nicht, sonst komme ich ganz bestimmt nicht
mit dir!“ beschwerte sie Neli.
Schließlich aber kam sie doch. Auf der anderen Seite des
Vorhangs war es wirklich dunkel, das musste Sabrina zugeben.
Es gab nämlich keine Kerzen und keine Wunderbäume, die
ihnen Licht spendeten. Nur wenig blasses Mondlicht drang
durch ein Dachfenster, ganz weit hinten rechts, zu ihnen
herein. Neli aber hatte ein brennendes Streichholz in der Hand,
damit sie wenigstens etwas sahen. Sie hatte es zuvor in
flüssiges Kerzenwachs getaucht, damit es länger brannte.
Langsam verstand Sabrina, warum sich Neli so vor dem Raum
fürchtete. Er war nicht nur dunkel, er war auch fünf- oder
sechsmal so groß wie der Raum, in dem sie wohnten. Er ging
ja noch so weit um die Ecke herum, wo bei ihnen schon längst
die Wand mit der Tür zum Treppenhaus gewesen wäre. Sie
bekam eine leichte Gänsehaut, als sie sich überlegte, was in
den vielen Ecken und Winkeln dieses Bodens alles sitzen und
auf sie lauern könnte. Aber dann erinnerte sie sich an die Zeit
zurück, als ihr ihre Mutter noch abends am Bett Geschichten
vorgelesen hatte. Damals hatte sie beschlossen, einmal genauso
viele Abenteuer zu erleben, wie die Menschen in den Büchern.
Da konnte sie jetzt, wo sie endlich die Gelegenheit dazu hatte,
nicht kneifen. Mit mutigem Schritt ging sie voran. Der Raum
war kühl und leer und auf dem Boden war es auch viel
staubiger als dort, wo Malli wenigstens einmal pro Woche den
Boden wischte. An den Rändern zum Dach und in den Ecken
aber, da stand das Gerümpel, dass es die reinste Freude war.
Alte Stofftiere, Kisten, die vielleicht mit Bauklötzen oder
anderem Spielzeug gefüllt waren, alte Lampenschirme,
Teppichrollen, mehrere Stühle, alte Werkzeuge, und vieles,
vieles mehr.
„Das ist doch ungeheuer aufregend, da mal drin herum zu
wühlen“, sagte Sabrina.
„Aber dort ist alles so schmutzig und staubig“, entgegnete
Neli. „Ich habe immer Angst, dass zwischen all dem Staub
dicke Spinnen oder andere ekelige Tiere sitzen könnten.“
Nachdem sie ein kurzes Stück gegangen waren, schaute sich
Sabrina auch nach rechts herum, dorthin, wo der Dachboden
mehrere Meter weit um die Ecke ging.
„Sag bloß nicht, da willst du auch noch hinein“, stöhnte Neli.
„Das geht wirklich zu weit. Wenn uns da etwas geschieht,
hören uns Mama und Papa vielleicht noch nicht einmal, wenn
wir um Hilfe rufen.“
„Aber da steht eine Art Schrank, den ich mir gerne einmal
anschauen möchte“, sagte Sabrina. „Er sieht sehr alt aus, denn
er ist ziemlich kunstvoll verziert.“
„Er ist entsetzlich!“ jammerte Neli. „Joppo hat gesagt, er hat
Türgriffe, die aussehen wie Schlangen. „Und auch
Totenschädel und Werwölfe und andere unheimliche Dinge
sind in ihm eingeritzt. Ich habe so eine Angst, dass dort drin
irgendwelche Wesen der Finsternis sitzen und uns gefangen
nehmen.“
„Das glaub ich nicht“, meinte Sabrina. „Joppo hat selber
gesagt, die Wesen der Finsternis wohnen an Orten, wo nie ein
Mensch hinkommt. Ich würde gerne mal auf diesen Schrank
heraufklettern.“
„Heraufklettern ist ja noch schlimmer“, sagte Neli. „Dort oben
gibt es nämlich lauter Spiegel, die einen von allen Seiten her
anstarren. Joppo hat gesagt, manchmal blitzen auf ihm Lichter
auf, obwohl es im ganzen Raum dunkel ist.“
„Joppo hat gesagt, Joppo hat gesagt…“, stöhnte Sabrina. „Lass
dir von dem doch keine Angst einreden. Lass uns die
Geheimnisse lieber selber erkunden.“
„Und was ist, wenn auf dem Spiegelglas plötzlich ein
gefährlicher Drache erscheint, und uns böse anguckt?“
„Dann lass ihn doch böse gucken. Solange er kein Feuer speit,
ist es halb so schlimm“, sagte Sabrina. Dann nahm sie der
zitternden Neli das Streichholz ab und ging einfach vorneweg.
Das wohl die einzige Möglichkeit, Neli zu etwas zu bewegen.
Wenn sie nicht im Dunklen stehenbleiben wollte, konnte sie
gar nicht anders, als ihr zu folgen. Doch ein bisschen mehr
Vorsicht hätte Sabrina schon gut getan. Es dauerte nicht lange,
da stolperte sie und ließ den brennenden Streichholz fallen,
dass er mehrere Zentimeter über den Boden rutschte. Sofort
fing Neli an gellend zu schreien.
„Eine Falle!“ rief sie. „Du bist in eine Falle getreten. Jetzt
werden die Monster kommen und dich holen!“
„Ach wo“, sagte Sabrina nur, nachdem sie den ersten Schock
überwunden hatte. „Da ist nur eine Bodenplatte etwas locker.“
Sie lief schnell weiter, um das Streichholz wiederzuholen.
Schließlich war der Boden aus Holz uns sie wollte keinen
Hausbrand verursachen.
„Lose Bodenplatten sind etwas ganz Geheimnisvolles“, sagte
sie, drückte Neli wieder das Streichholz in die Hand und
bückte sich. „Ganz oft sind Schatzkarten darunter versteckt.
Das habe ich schon in vielen Geschichten gehört.“
Sie hob das Brett an, so weit sie es mit ihren kleinen Händen
schaffte. Dann steckte sie neugierig den Kopf darunter, aber sie
entdeckte nichts als Schaumstoff.
„Wir müssen das Brett weiter absuchen“, sagte sie, als ihr
Kopf wieder hervorkam. „Vielleicht ist die Schatzkarte ein
Stück weiter versteckt.“
„Und was ist, wenn unter diesem Brett die Unterirdischen
wohnen?“ fragte Neli zitternd.
Aber bevor Sabrina antworten konnte, ertönte plötzlich eine
Stimme von ganz oben, die sich laut und heulend anhörte.
„Huuuuuu-Uhuuuuuu“
Was war das nur? Ein Vogel, vielleicht? Oder am Ende gar ein
Gespenst?
Für einen kurzen Moment hatte Sabrina fast mehr Angst als
Neli. Denn die merkte schon bald, dass es ihr Bruder war. Sie
wusste schließlich, wie gut er seine Stimme verstellen, und war
für Geräusche er damit nachmachen konnte.
„Wenn ihr eine Schatzkarte haben wollt, warum guckt ihr dann
nicht dort hinten in der großen Büchertruhe nach!“ sprach er
und seine Stimme war so laut und dunkel, dass er sich beinahe
wie ein finsterer Burgherr anhörte.
„Joppo, wo bist du?“ fragte Neli.
„Ich balanciere auf den Dachbalken, wie ich es immer tue,
mein Schwesterherz“, war die Antwort.
„Aber doch nicht hier, wo es so dunkel ist!“ entgegnete sie.
„Komm sofort herunter!“
„Wenn dich die Dunkelheit stört, dann zünde ich eben ein
Licht an“, war alles, was der Bruder darauf sagte.
Und tatsächlich! Es zischte kurz und ein paar Sekunden später
brannte ganz oben, fast direkt unter dem Dach, ein Kerzenlicht
auf. Aber dadurch wurde es auf dem Boden fast noch
unheimlicher als zuvor. Das Licht war schwach und fern.
Riesig aber waren die Schatten, die es verursachte. Die
Schatten der Dachbalken, aber auch die Schatten von einem
Spinnennetz, das unter der Decke hing. Und natürlich die
Schatten von all dem vielen anderen Dingen, die in den Ecken
standen oder von oben herunterhingen. Manche davon wirkten
auf den ersten Blick wie furchtbare Ungeheuer.
„Joppo, lass das!“ flehte seine Schwester ihn an. Aber Joppo
legte jetzt erst richtig aus. Neli konnte sich nicht entscheiden,
was schlimmer war. Zu sehen, wie Joppo selber dort oben auf
dem dünnen Balken balancierte, oder seinen Schatten auf dem
Boden zu beobachten. Als er einmal zum Ende des Balkens
spaziert war, ohne dass etwas passiert war, atmete Neli
erleichtert auf. Aber dann ging er plötzlich zurück, und zwar
mit den Händen. Als er in der Mitte des Balkens war, wackelte
er sogar ein bisschen mit den Beinen, um ihnen zuzuwinken.
Aber da konnte Neli nicht mehr hingucken. Sie schloss die
Augen, und selbst dann fürchtete sie sich noch. Sie fürchtete
sich davor, jeden Moment den Knall zu hören, wenn Joppo zu
Boden fiel. Aber ihr Bruder wusste, was er tat. Er fiel nicht und
Sabrina klatschte laut Applaus, als er es endlich geschafft hatte
und zum Abschluss eine Verbeugung machte.
Schließlich kam Joppo doch herunter, aber Neli war es gar
nicht recht, wie er das anstellte. An der Dachwand hatte er in
weiten und unregelmäßigen Abstand Stangen angebracht, die
mehrere Zentimeter hervorragten. Die Abstände zwischen
ihnen waren aber so groß, dass man nicht einfach an ihnen
herunterklettern konnte. Man musste sich fallen lassen, und
dann versuchen, mit den Händen, die nächste Stange zu
ergreifen. Neli hatte immer ein bisschen Angst, er könne eine
Stange verfehlen. Sie war sehr froh, als er endlich unten war.
„Hättest du vielleicht nicht oben das Licht ausmachen sollen?“
fragte ihn Sabrina da.
„Ach, was. Ohne Licht kann man doch gar nichts sehen, wenn
wir in der Büchertruhe sitzen.“
„Ich dachte nur. Nicht dass irgendwann das ganze Dach
anfängt zu brennen.“
„Da brauchst du keine Angst haben“, sagte er nur. „Wir
löschen die Kerzen hier fast nie selber. Mama auch nicht. Es
gibt hier nämlich ein kleines Gespenst, das sie ausmacht, wenn
sie zu weit heruntergebrannt sind oder wir sie nicht mehr
brauchen.“
„Ein Gespenst?“ fragte Sabrina. „Ein richtiges Gespenst?“
Er nickte. „Es ist aber ein gutes Gespenst“, antwortete er.
„Hast du es selber schon einmal gesehen?“ fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Es kommt immer nur, wenn wir
Menschen nicht hingucken“, erklärte er. „Dann pustet es
blitzschnell die Kerze aus und verschwindet schnell wieder
hinter einer Dachritze.“
Sabrina wollte sitzen bleiben und warten, bis das Gespenst
erneut kam. Sie wollte endlich wissen, ob all das wahr war,
was Joppo ständig erzählte. Aber er war dagegen. Wie es sich
für einen großen, starken Bruder gehört, nahm er plötzlich an
jede Hand ein Mädchen und ging mit ihnen davon.
Wenn ihr Bruder dabei war und sich so nett, um sie kümmerte,
hatte auch Neli fast keine Angst mehr. Denn er hatte in seiner
Lederscheide ja sein Schwert dabei, mit dem er sich sicher
jedem gefährlichen Angreifer in den Weg stellen würde. Sie
hielt seine Hand ganz fest, damit er ihnen ja nicht wieder
davonrannte. Bald schon waren sie an der Büchertruhe
angekommen, die ganz am anderen Ende des Bodens lag. Als
sich Sabrina nach rechts umsah, merkte sie plötzlich, dass im
unteren Teil der Wand einige dunkle Löcher waren.
„Was ist das?“ fragte sie. „Gibt es hier auf dem Dachboden
etwa auch Mäuse.“
„Das sind die geheimen Höhlen und Katakomben“, erklärte ihr
Joppo flüsternd. „Die Bewohner, die vor vielen hundert Jahren
diesen Dachboden bevölkert haben, sollen dorthin ihre
Gefangenen verschleppt haben. Man sagt, dass tief in ihnen
drin noch ihre Skelette liegen. Manchmal, an ganz bestimmten
Tagen, sollen sie sogar noch aufstehen, in den Höhlen
herumtanzen und dabei ihre Klagelieder singen. Wollen wir
mal hineingehen und nach ihnen suchen. Wenn sie heute ihren
großen Tag haben, können wir sie ja zum Tanz auffordern. Ich
kann wunderbar tanzen.“
Aber das ging Neli eindeutig zu weit. Es kam Sabrina fast
schon wie ein Wunder vor, als sie nach dieser Geschichte noch
mit ihnen in die Büchertruhe hinaufkletterte. Joppo hatte eine
Art Leiter hinauf gebaut, sodass sie sogar ihr Streichholz
mitnehmen konnten.
„Denn zum Lesen braucht man richtiges Licht“, sagte er. „Wir
müssen nur aufpassen, dass wir nicht aus Versehen eine Seite
anzünden. Also gibt es lieber mir, ich bin stärker.“
Oh, was waren das für viele Bücher! Die Truhe war
mindestens zwei Meter lang, einen Meter hoch und über einen
Meter breit. Aber sie war von unten bis oben gefüllt mit
Büchern, die nicht immer ganz gut geordnet waren, sondern
kreuz und quer lagen, wie Sabrina bald feststellte. Es waren
übrigens ziemlich alte Bücher, nicht solche neuen, wie sie
selbst im Regal stehen hatte, bei denen die Einbände noch
richtig glänzten. Nein, diese Bücher waren alt und vergilbt.
Manche waren schon so kaputt, dass sie gar keine Einbände
mehr hatten. In vielen Seiten waren Löcher, sodass man sich
kaum traute, sie anzufassen. Man musste Angst haben, dass sie
jederzeit zu Staub zerfallen konnten. Es war ohnehin
schwierig, die Seiten der Bücher zu blättern, wenn man so
klein war. Aber mit vereinten Kräften konnten sie das ganz gut
schaffen.
„Das sind Bücher nach meinem Geschmack“, murmelte
Sabrina, als sie die Titel auf den Einbänden las. Es waren viele
Bücher über Piraten und Seeräuber dabei. Und in solchen
Büchern kamen sehr oft auch Schatzsuchen vor. Aber warum
mussten diese Schätze eigentlich immer in der Südsee
versteckt sein?
„Die Südsee ist wirklich ein bisschen zu weit“, meinte auch
Joppo. „Wenn uns heute nicht gerade ein Flügel der Nacht
begegnet, schaffen das heute nicht mehr. Aber vielleicht wäre
dies hier ja das richtige Buch für dich.“
Er führte Sabrina zu einem sehr großen Buch, dessen Titel
„Die Geheimnisse unserer Stadt“ draufstand. Schon die erste
Seite klang sehr vielversprechend. Es war ein kurzes Gedicht,
das so lautete:
Sind diese Geschichten Wahrheit oder nicht?
Kann man sie glauben oder führt man euch hinters Licht?
Das müsst ihr selbst erkunden,
Denn ich selber weiß es nicht

„Oh, wenn sie nur wahr sind, und wir finden es heraus!“ sagte
Sabrina und rieb sich aufgeregt die Hände. Sie konnte es kaum
erwarten sie im schwachen Flackerlicht des Streichholzes zu
lesen.
Die Geschichten waren kurz. Meist nicht länger als zwei oder
drei Seiten. Auch waren sie in altmodischer Schrift
geschrieben. Doch Sabrina hatte diese Schrift früh zu lesen
gelernt, denn sie wusste ja, dass fast alle Schatzkarten und
Geheimnisse der Welt in dieser Schrift aufgeschrieben waren.
Die Geschichten handelten nicht von der Südsee, sondern von
ihrer eigenen Stadt und all den unheimlichen Dingen, die sich
dort in all den Jahrhunderten zugetragen haben sollen. So las
sie von Gespenstern, die aus den Orgelpfeifen der Marktkirche
hervor krochen, wenn man eine bestimmte Melodie auf ihr
spielte. Oder von einem gefährlichen Wehrwolf der ganz in der
Nähe im Wald in einer Höhle hauste. Jahrelang hielt er einen
tiefen Schlaf und niemand wusste, dass er da war. Nur alle
hundert Jahre wachte er auf, zog mit seinem gierigen Maul in
die Stadt und tötete und fraß so viele Jungfrauen, wie er nur zu
fassen bekam. Und schließlich kam auch so etwas wie eine
Schatzgeschichte.
Sie handelte von einem jungen Räuber. Eigentlich war er gar
kein richtiger Räuber, sondern nur ein Junge, der so arm war,
dass er nichts zu essen hatte. Er kam aus einer dummen
Familie, aber er selber war schlauer als viele vermuteten. Und
so schaffte er es tatsächlich, die kostbaren Schätze des Grafen
zu stehlen. Nur leider war in der Nähe des Schlosses ein böser
Zauberer, der es ebenso auf die Schätze des Grafen abgesehen
hatte. Da er aber nicht die Kraft hatte, ihm den Beutel mit den
Reichtümern zu entreißen, musste er es durch einen Zauber
hinbekommen. So verzauberte er den armen Jungen, sodass er
bald nicht mehr Herr über sich selbst war. Mit gleichmäßigen
Schritt und glasigen Augen ging er auf den Waldfriedhof
hinzu, wo er sich sein eigenes Grab schaufelte und sich dort
mitsamt der Schätze hineinlegte. Den Beutel hielt er immer
noch fest mit seinen Händen und soviel der Zauberer auch
daran riss, er konnte ihn nicht bekommen. Also schaufelte er
schnell Erde ins Grab und rieb sich danach gierig die Hände. In
ein paar Stunden wird das Bürschlein tot sein, dachte er. Und
so beschloss er, dass er in der nächsten Nacht wiederkommen
und den Schatz holen wollte. Dann würden die Arme des
Jungen schlaff sein und es würde keine Mühe mehr machen,
ihm den Beutel wegzunehmen. Er hatte gar nicht daran
gedacht, dass die nächste Nacht, die Nacht vor Allerheiligen
war, und auf allen Gräbern rote Lichter leuchteten. Erst als er
bereits über den Friedhof marschierte, merkte er plötzlich, wie
ihn die Geister der Toten bei seiner Schadtat beobachteten. Er
versuchte dagegen anzukämpfen, aber gegen die Seelen der
Toten konnte er selbst mit Zauberei nichts ausrichten. Er spürte
bald, dass sie ihm sogar unter die Kleidung schauen konnte,
und er fühlte sich so unheimlich nackt dabei. In dieser einen
Minuten, in der es geschah, wurde der Zauberer so verrückt,
dass er davonlief und niemals wiederkam. Der Schatz aber, der
ist immer noch auf dem Friedhof vergraben. Viele haben ihn
gesucht, aber niemand hat ihn gefunden. Nur der Wetterhahn
auf der Friedhofskapelle, der all das beobachtet hat, weiß, wo
er ist. Doch bisher ist es niemandem geglückt, ihm sein
Geheimnis zu entlocken.
„Oh, wollen wir nicht zum Friedhof gehen und nach dem
Schatz suchen?“ fragte Sabrina.
„Aber er ist doch zusammen mit dem Jungen begraben“, sagte
Neli. „Stell dir mal vor, wir graben sein Skelett mit aus. Das
wäre doch schrecklich.“
Joppo wollte etwas antworten, aber mit einem Mal ertönte ein
lautes Geklapper durch den Raum. Neli und Sabrina zuckten
zusammen, aber Joppo stellte sich kerzengerade auf und spitzte
die Ohren.
„Muron?“ rief er. „Muron!“
Als es ein zweites Mal klapperte, sauste er blitzschnell über die
Bücher hinweg, kletterte die Leiter hinunter, und rannte über
den Boden. Er lief auf die Wand zu, die direkt unter dem
Dachbodenfenster lag.
Neli und Sabrina beobachteten das Fenster ebenfalls.
„Da ist ein Schatten“, flüsterte Sabrina. „Sind das etwa diese
fliegenden Ritter, die kommen, um euch anzugreifen.“
„Diese fliegenden Ritter hat sich Joppo bestimmt nur
ausgedacht“, meinte Neli. „Nein, das ist Muron. Vor ihm
braucht man sich wirklich nicht zu fürchten. Er ist der beste
Flugdrachen, den es im ganzen Land gibt.“
„Aber können Drachen nicht Feuer speien?“ fragte Sabrina.
„Nicht alle. Nur die Großen, die in fernen Teilen der Welt
leben, wo es keine Menschen gibt. Muron kann wie alle
Stadtdrachen nur Rauchwolken auspusten.“
„Wie kommt das?“ fragte Sabrina.
„Die Eltern erkennen schon sehr früh, wenn ein Drache kein
Feuerspucker wird“, erklärte Neli. „Dann geben sie ihnen
kaum noch zu fressen, sodass sie gar nicht wachsen können.
Die Feuerdrachen sind riesiggroß, viel größer noch als ihr
großen Menschen. Die Stadtdrachen aber sind kaum größer als
ein großer Vogel. Wenigstens aber können sie fliegen. Sie
verdienen sich ihr Futter damit, indem sie uns
Dachbodenbewohner durch die Stadt zu unseren Freunden und
Verwandten tragen.“
Bald klapperte es noch viel entsetzlicher, aber das war, als sich
das Fenster nach Innen hin öffnete.
„Wie hat er das gemacht? Er ist doch gar nicht
hinaufgeklettert“, sagte Sabrina.
„Er hat mit Seilen einen Mechanismus gebaut, sodass es auch
vom Boden aus geht“, antwortete Neli.
Dann aber mochte keiner von ihnen mehr sprechen. Sie
schauten dabei zu, wie der dunkle Schatten des Drachen mit
gespreizten Flügeln durch das Fenster hereinkam, eine kurze
Ehrenrunde durch den Raum machte, und dann auf dem Boden
landete. Sabrina wunderte sich ein bisschen, wie sachte er es
tat, denn im Gegensatz zu einem Vogel sah er ziemlich plump
aus. Noch faszinierender aber fand sie es, dass er aus Maul und
Nase permanent Rauch ausstieß, als wäre er eine
Dampflokomotive.
Als Joppo auf ihn zulief, um schnell auf seine Schultern zu
springen, und ihm den Kopf zu kraulen, merkte Sabrina erst so
richtig, wie groß er eigentlich war. In Wirklichkeit war er
wahrscheinlich kaum größer wie die Stofftiere, die in ihrem
Regal standen. Doch wenn sie selbst klein war, musste er für
sie ungefähr so groß sein, wie sonst ein Elefant. Er konnte
sicherlich drei oder vier kleine Männchen auf seinen Rücken
nehmen, wenn er wollte.
„Los!“ sagte Neli. „Lass uns auch schnell zu ihnen
herunterklettern, sonst fliegt Joppo nämlich ohne uns.“
„Das würde er tun?“ fragte Sabrina beinahe etwas empört.
Neli nickte. „Muron ist sein ein und alles. Ich glaube, wenn er
könnte, würde er am liebsten die ganze Nacht mit ihm durch
die Dämmerung fliegen, und zwar ganz allein. Muron kann
sprechen wie ein Mensch. Aber trotzdem hat er die
Drachensprache gelernt, damit er sich mit ihm unterhalten
kann, und niemand von uns die beiden versteht.“
Also beeilten sie sich, zu ihm zu kommen und löschten dann
das Streichholz aus. Als die beiden Mädchen auf Murons
Rücken kletterten, schien Joppo sie noch nicht einmal zu
hören. Er hatte seinen Kopf dicht an den von Muron gelehnt
und dann gab er so seltsame keuchende, zischende und
grunzende Laute von sich. Der Drache gab ihm darauf eine
Antwort und dabei erzitterte sein Körper so sehr, dass Sabrina
und Neli beinahe heruntergefallen wären.
„Er freut sich“, sagte sie. „Wahrscheinlich hat Joppo ihm
einen Witz erzählt. Wenn er seinen Körper so schüttelt, dann
bedeutet das, dass er lacht.“
„Na, ich hoffe, er lässt diese Scherze bleiben, wenn wir in der
Lüfte sind“, sagte Sabrina. „Ich habe nämlich keine Lust
herunterzufallen.“
„Selbst wenn, dann wäre es nicht so schlimm, weil er dich
garantiert wieder auffangen würde“, meinte Neli.
„Nanu“, sagte Sabrina ganz erstaunt. „Warum bist du plötzlich
so mutig?“
„Weil man bei einem Drachen wie Muron niemals Angst haben
muss“, sagte sie und kniff dem Tier ein bisschen in seine
dunkelgrüne, glänzende, schuppige Haut. Sie selber saß
übrigens ganz hinten, während Sabrina in der Mitte der beiden
Geschwister Platz genommen hatte. Ein paar Sekunden
standen sie noch. Es sah so aus, als müsse der Drache noch
einmal kurz durchschnaufen. Dann aber streckte er seinen
Kopf weit nach vorne. Die Kinder konnten direkt spüren, wie
er unter seiner Haut die Muskeln anspannte, eine Sekunde
später war er in der Luft. Er drehte erst noch eine Ehrenrunde
durch den Dachboden und die einsame Kerze auf dem
Dachbalken sah plötzlich gar nicht mehr so unendlich weit und
entfernt aus. Als Sabrina nach unten schaute und sie sah, wie
tief der Boden entfernt war, wuchs ihre Ehrfurcht vor Joppo
noch mehr. Dass er es sich traute, so hoch oben solche
Experimente zu machen!
Dann aber ging es wieder ein paar Zentimeter bergab und
Muron sauste durch das geöffnete Dachfenster hinaus, hinein
in die frische, kühle Luft der dunklen Nacht.
Ach, was war das für ein Gefühl! Es dauerte keinen
Augenblick und sie waren über das Dach des eigenen Hauses
hinweggeflogen. Zu fliegen war ja ohnehin schon ein
unglaubliches Erlebnis! Aber dann noch auf einem Drachen,
und direkt über den Dächern der Stadt…
Sabrina drehte sich zu Neli um, doch diese hatte die Augen
geschlossen. Dann fing sie an zu singen. Sie sang ja so gern:

Heut bin ich geflogen


Über unsere Stadt
Hab die Freiheit eingesogen
Die man mir genommen hat
Bin geflogen über Dächer
Doch sah nur den Horizont
Sacht und leise wie ein Fächer
Stahl ich langsam mich davon

Eigentlich passte dieses Lied nicht ganz, denn niemand hatte


ihnen die Freiheit genommen und sie stahlen sich auch nicht
davon. Sie lebten gern in dem Haus, das für alle drei erst seit
Kurzem ihre neue Heimat war. Aber Nelis Gesang war so
wunderbar und beruhigend, dass Sabrina dies gar nicht auffiel.
Das Kribbeln im Bauch wurde ein bisschen schwächer, sodass
einem nicht schwindelig davon wurde. Aber es wurde auch
nicht so schwach, dass sie es gar nicht mehr spürte. Denn dann
wäre der Flug ja langweilig geworden. Sie sah nach unten und
erkannte die unscharfen Umrisse ihrer Stadt bei Nacht. Es war
wirklich schon sehr dunkel dort unten. Sie mussten ziemlich
lange in der Büchertruhe gelesen haben, denn die
Straßenlaternen in den schmalen Seitenstraßen waren bereits
abgeschaltet und nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht.
Direkt vor ihnen aber ragten sechs Türme wie spitze Stacheln
in den Himmel hinauf.
„Wollen wir dahin fliegen?“ fragte sie Joppo aufgeregt.
„Wollen wir in die Kirche hinein fliegen, auf der Orgel spielen
und warten, bis die Gespenster oben aus den Pfeifen
herausgeschwebt kommen?“
Aber Joppo hörte nichts. Es kam einem beinahe so vor, als
hätte er aufgehört, er selbst zu sein, und war nun vollkommen
mit Muron vereinigt.
„Aber du kennst doch die Melodie gar nicht, die du dafür
spielen musst“, antwortete Neli stattdessen.
„Aber du vielleicht“, sagte Sabrina. „Du bist doch so
musikalisch. Dir fällt bestimmt sofort eine Melodie ein, mit der
man die Gespenster aus allen Löchern und Ritzen hervorlocken
kann.“
„Selbst wenn, dann würde ich sie nicht spielen“, sagte Neli.
„Ich mag nämlich keine Gespenster.“
Danach schwiegen sie eine Weile, aber schließlich war es
Muron selbst, der seinen Drachenkopf zu ihnen herumdrehte,
und sie ansprach. Es hörte sich lustig an, denn sein
Drachenmaul war eigentlich nicht dafür geformt, um
Menschenlaute nachzumachen. Aber er gab sich wirklich große
Mühe beim Sprechen.
„Wie ich sehe, habe ich einen neuen Fluggast“, sagte er. „Und
dann auch noch so ein hübsches, nettes Mädchen. Wie heißt du
denn, meine Kleine.“
„Sabrina“, antwortete sie.
„Sabrina, und dann auch noch so ein schöner Name. Ist es das
erste Mal, dass du fliegst? Es hört sich nämlich fast so an.“
„Nicht ganz“, war ihre Antwort. „Ich bin schon einmal mit
einem Flugzeug geflogen, aber das war bei Weitem nicht so
schön.“
„Ach, dann bist du in Wirklichkeit wohl ein Menschenkind“,
stellte der Drache fest. „Eines von den großen
Menschenkindern, meine ich.“
„Genau. In Wirklichkeit bin ich auch gar nicht hier. In
Wirklichkeit liege ich in der Einhornstraße Nr. 17, 3. Stock, im
Bett und träume das alles nur.“
„Na, dann ist es für mich eine besonders große Ehre“, sagte
Muron. „Es ist nämlich das erste Mal, dass ich in einem Traum
mitspielen darf. Also will ich dafür sorgen, dass dieser Traum
ein ganz besonderer wird, einer, den du auch in fünfzig Jahren
nicht vergessen wirst. Denn lass dir gesagt sein, liebe Sabrina,
wenn du mit einem Drachen über die Stadt fliegst, kannst du
diese auf eine Art und Weise sehen, wie du sie sonst nie wieder
sehen wirst.“
„Was meinst du damit?“ fragte sie.
„Na, das will ich dir gleich einmal zeigen.“
Der Drache streckte seinen Kopf wieder nach vorn und gab
Gas, wie nie zuvor. Dabei dampfte er so sehr, dass die Kinder
auf dem Rücken bald in einem richtigen Nebel eingehüllt
waren. Aber sie brauchten sich nicht davor zu fürchten, eine
Rauchvergiftung zu bekommen. Denn dieser Rauch, oder
Dampf, oder was auch immer es war, roch sehr angenehm, und
war ganz gewiss nicht schädlich.
„Huch, jetzt können wir aber gar nichts mehr sehen“, sagte
Sabrina.
Und da drehte sich Joppo zum ersten Mal, seit sie auf dem
Drachen saßen, zu ihr herum und sprach mit ihr. Sein Gesicht
und seine Augen wirkten ja sonst schon immer so träumerisch,
aber jetzt sah er fast so aus, als ob er nicht von dieser Welt
wäre.
„Das ist ja gerade das Besondere, wenn man mit einem
Drachen fliegt“, sagte er. „Wenn man so dahin gleitet, ohne zu
wissen wohin, und dann plötzlich an einem Ort ankommt, den
man noch nie zuvor gesehen hat.“
„Dass ist ja fast wie bei so einem Flügel der Nacht“, sagte
Sabrina.
„Ja, ein bisschen kann man das schon vergleichen.“
Der Flug dauerte vielleicht nicht länger als zwei Minuten, aber
wenn man so aufgeregt ist, wie Sabrina, dann können einen
zwei Minuten wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Dann
bremste Muron so ruckartig, dass sie beinahe von seinem
Rücken gepurzelt wäre, hätte sie sich nicht schnell noch an
Joppos Schulter festgehalten.
Und dann hielt er völlig an, an einem Ort, an dem es
stockfinster war. Der Mond und die Sterne über ihren Köpfen
waren verschwunden.
„Wo sind wir hier?“ fragte Sabrina.
„Wenn du an Joppo vorbei und über Murons Kopf
hinwegkletterst, dann kannst du eine Wand aus altem Stein
betasten“, antwortete Neli und lachte. „Ich glaube nämlich fast,
wir sind am Rathaus.“
„Am Rathaus?“ fragte Sabrina. „Ich glaube eher, im Rathaus,
so duster, wie es hier ist.“
„Nein, wir sind am Rathaus“, widersprach Joppo. „Du kennst
doch wohl das Rathaus deiner eigenen Stadt, oder etwa nicht?“
„Doch, schon.“
„Na, dann weißt du vielleicht auch, dass das schräge Dach des
Rathauses, ziemlich weit über die Wand übersteht. Und genau
unter diesen Überstand sind wir geflogen.“
„Ja, aber was wollen wir hier?“ fragte Sabrina beinahe ein
wenig enttäuscht.
„Wart‘s nur ab. Ihr denkt wohl, das Rathaus ist nur für euch
große Menschen da, aber da habt ihr euch geirrt. Hier an dieser
Wand, wo ihr Menschen von unten nicht hingucken können, ist
unser Teil des Rathauses. Hier kommen wir hin, um all die
Dinge zu erfahren, die wir Dachbodenbewohner wissen
müssen.“
Eine Weile warteten sie noch ab. Bis irgendwann links von
ihnen ein Licht erschien. Ein glänzendes, goldenes Licht, das
bald wie eine Schlange über die gesamte Wand wuchs.
„Das… das ist ja eine Schrift!“ staunte Sabrina. „Eine richtige
goldene Schrift.“
Ja, das war es. Und wenn Joppo seinen Kopf ein bisschen
einzog, konnte sie auch lesen, was man ihnen mitteilen wollte:
In der alten Ruine, Wieselstraße 27, Nordstadt, findet heute ein
großes Mitternachtskonzert statt
„Ein Konzert!“ jubelte Neli. „Da müssen wir unbedingt hin!
Ich war schon so lange nicht auf einem Konzert.“
„Aber sind wir für Mitternacht nicht ein bisschen spät dran?“
fragte Sabrina. „Die Straßenlaternen sind doch längst
ausgeschaltet.“
„Keine Sorge“, meinte Joppo nur. „Wenn wir Dachbewohner
einmal richtig am feiern sind, dann halten wir das bis in die
frühen Morgenstunden durch. Wir können uns unterwegs ruhig
noch ein bisschen Zeit lassen.“
Und das taten sie. Muron machte zuvor noch einen kleinen
Abstecher über den Stadtpark. Er flog direkt in das Geäst eines
dichtbewachsen Baums hinein.
„Wenn man klein ist, dann macht es bestimmt noch viel mehr
Spaß, auf einen Baum zu klettern“, meinte Sabrina. „Weil man
dann ja auch auf all die dünnen Zweige drauf kann, die bei uns
Großen sofort abbrechen würden.“
„Darauf kannst du dich verlassen“, antwortete Joppo. „Man
kann sich auch viel besser an der Baumrinde festhalten. Und
was meinst du erst, wie herrlich es ist, ganz hoch oben auf
einem Ast zu sitzen und im Wind hin und her zu schaukeln.
Die Kinder mussten sich ein bisschen ducken, damit sie von
den Ästen und Blättern nicht erschlagen wurde, dann landete
Muron auf einem Ast.
Aber… aber da saß ja schon jemand im Baum! Es war
allerdings kein kleiner Dachbewohner wie Joppo und Neli,
nein, es war ein Riese.
Obwohl. In Wirklichkeit mochte er wohl kaum größer sein als
Sabrina. Aber er hatte eine dunkelgraue Haut, als wäre er aus
Stein gemacht.
Merkwürdig, dachte Sabrina. Irgendwie kommt mir dieses
Gesicht bekannt vor.
Und dann plötzlich wusste sie es. Dieser Junge war eigentlich
eine Statue, die schon seit vielen Jahrzehnten unten im
Stadtpark auf einem Steinsockel stand. Über ihn gab es auch
eine schöne Legende. Angeblich soll er vor vielen Jahren
einmal die Stadt gerettet haben. Natürlich nicht die Statue
selber, sondern der Junge, der damals wirklich gelebt hatte.
Nun aber war er eine Statue und lebendig zugleich, und saß
oben in einem Baum.
„He, Adrian!“ rief Joppo ihm zu. „Gib uns bitte drei Beutel,
gemischte Nachtfrüchte! Und für unseren Muron bitte ein
großes Stückchen Kauholz.“
„Wird gemacht“, sagte der Junge und griff mit seiner Hand in
eine Höhle des dicken, mächtigen Baumstamms.
Ein paar Sekunden später drückte er jedem der Kinder einen
Beutel in die Hand und Muron ein dickes Stück Holz in das
Maul.
„Was schaust du mich denn so an?“ fragte er, als er Sabrinas
erstaunten Blicke bemerkte.
„Ist die Legende wahr?“ fragte sie. „Hast du damals wirklich
die Stadt gerettet? Und wieso stehst du nicht unten im Park,
wie sonst immer?“
„Ja, ich habe die Stadt gerettet“, war Adrians Antwort. „Aber
nicht allein. Was viele heute nicht mehr wissen, ist, dass ich
einen Zwillingsbruder habe. Aber das ist eigentlich nur
praktisch für uns beide. Dann können wir uns nämlich
abwechseln. Einen Tag steht er unten, still und starr, und tut so,
als ob er ein steinernes Denkmal wäre, während ich im Baum
sitze und das Leben genieße und bei Nacht Köstlichkeiten an
vorbei fliegende Kunden verkaufe. Den anderen Tag machen
wir es genau andersherum.“
„Eine geniale Idee“, meinte Sabrina. Sie hätte sich gerne noch
länger mit ihm unterhalten, aber Neli wollte endlich zum
Konzert. Also kostete sie unterwegs von den Früchten und
Nüssen, die Joppo für sie gekauft hatte.
„Die schmecken ja wirklich köstlich!“ schwärmte sie. „Wo
wachsen sie denn?“
„Auf den Bäumen im Stadtpark“, war Nelis Antwort.
„So ein Quatsch!“ lachte Sabrina. „Das sind doch ganz
normale Eichen, Linden, Buchen, und so weiter. Da wachsen
doch solche Früchte nicht.“
„Ich habe dir doch gesagt, mein Kind, fliegst du einmal mit
einem Drachen bei Nacht über die Stadt, dann kannst du Dinge
erleben, die du nie in deinem Leben für möglich gehalten
hättest“, konnte Muron darauf nur antworten.
Weit oben am Nordrand der Stadt gab es ein großes
Industriegebiet. Nachdem sie an den großen Kirchtürmen der
Innenstadt vorbeigeflogen waren, waren es die Schornsteine,
die vor ihnen in den Himmel ragten. Am Tag waren hier viele
Menschen, um zu arbeiten, doch in der Nacht war fast alles
leer uns still. An einem Ende des Industriegebiets gab es auch
ein paar alte Fabriken, die längst stillgelegt waren. Nun
standen sie da und gammelten vor sich hin. Und zwischen all
diesen Fabriken gab es auch ein altes Backsteinhaus, in dem
früher einmal die Fabrikarbeiter gewohnt haben. Und man
konnte schon von Weitem hören, dass genau dort das Konzert
stattfand. Hier lebten ja keine großen Menschen weit und breit,
von denen die Dachbodenbewohner gestört werden konnten.
Das Haus war so kaputt, dass auf dem Dach kaum noch Ziegel
waren. Wenn Muron die Flügel einklappte und sich ein
bisschen schlank machte, war es für ihn kein Problem, sich
einfach durch das Holzgerüst des Dachstuhls zu zwängen.
Aber noch bevor sie drinnen waren, spürte Sabrina, dass da
drinnen die Party schon voll im Gange war. Erstens an den
vielen Lichtern, die ihr entgegenstrahlten und zweitens an dem
Lärm der Instrumente, dem Gesang und dem fröhlichem
Gequatsche der Konzertbesucher.
Als Sabrina dann endlich nach unten auf den Tanzsaal hinab
sah, konnte sie kaum glauben, wie viele Dachbewohner es in
ihrer Stadt gab. Das mussten ja weit über hundert sein, und
viele waren vielleicht gar nicht gekommen, wie Joppos und
Nelis Eltern, zum Beispiel. Seltsam, dass sie zuvor noch nie
etwas von ihnen gehört hatte.
Die Musiker selber saßen übrigens hoch oben auf den
Dachbalken, wo sie auf ihren seltsamen Instrumenten spielten.
Unter der Decke hing eine alte Lampe, die längst nicht mehr
leuchtete Dafür konnte man auf ihrem Lampenschirm und ihrer
Glühbirne gut herumtrommeln. Andere hatten zwischen
verschiedenen Dachbalken Fäden aufgespannt, auf denen sie
Geige oder Gitarren spielen konnten. Wieder andere hatten aus
dem Kabel, das zur Lampe führte, eine Art Flöte gebaut.
Ja, es waren seltsame Instrumente und trotzdem hörte sich die
Musik gut und richtig flott an. Sodass man direkt Lust hatte,
dazu zu tanzen. Und das taten sie dann auch, genau wie die
vielen anderen Leute es auch taten. Die Tänze der
Dachbodenbewohner waren wild und ausgelassen. Sie
stampften hart mit ihren Schuhen auf, machten große
Luftsprünge, als wollten sie den Musikern oben ihre
Instrumente klauen, und drehten sich schnell wie die
Wirbelstürme. Sabrina fand es toll, denn bei solchen Tänzen
konnte man einfach nichts falsch machen. Es machte auch
nichts aus, wenn man einem anderen dabei einmal anrempelte
oder ihm auf die Füße trat. Manchmal kam es vor, dass
wildfremde Leute, die sie nie zuvor gesehen hatte, sie an den
Händen nahmen, eine Weile mit ihr tanzten, und sich dann
plötzlich wieder von ihr lösten. Am Anfang fand sie es ein
bisschen komisch, aber sie gewöhnte sich schnell daran. Denn
auf diese Art und Weise lernte sie schnell alle anderen
Konzertgäste kennen. Sogar Neli, die sonst manchmal ein
bisschen schüchtern war, machte frohen Herzens mit.
Ein paar Leute, die sich nicht viel aus dem Gehopse und
Gespringe machte, gab es aber doch. Joppo zum Beispiel. Er
kletterte lieber an dem Dachgerüst bis oben auf den Dachfirst
hinauf, wo er und ein paar andere ihre eigenen seltsamen
Tänze machten. Also noch über die Musiker hinweg. Auf dem
Boden zu tanzen fand er nämlich langweilig.
In der anderen Hälfte der Dachhalle saßen übrigens Muron und
viele andere Drachen. Sie schienen sich auch nicht viel aus
Musik zu machen, aber sie waren wohl froh, sich einmal
wiederzusehen und unterhielten sich in ihrer seltsamen
Drachensprache. Ein paar von ihnen kreisten auch immer um
das Dach herum, um zu sehen, ob große Menschen oder andere
Gefahren in der Nähe waren.
Von dem Getanze wurden Sabrina und Neli bald hungrig, aber
sie konnten ja immer zwischendurch zu ihren Säcken mit den
Nachtfrüchten gehen, um sich zu stärken. In der einen Ecke
des Dachbodens stand auch eine alte Frau mit einem
dampfenden Kessel. Zum Tanzen war sie bereits zu alt, aber
dafür schenkte sie Tee an alle Gäste aus.
Sabrina wunderte sich darüber, dass die Musiker niemals eine
längere Pause machten. Sie spielten und spielten, als wollten
sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes mehr tun.
Dann aber brachen sie ganz plötzlich ab. Gerade noch hatten
die Menschen so schön getanzt, als sich in das fröhliche Chaos
plötzlich eine wirkliche Unruhe mischte.
„Ein Kind ist verloren!“ hallte es bald durch den gesamten
Raum. „Eine Mutter vermisst ihr Kind!“
Es stellte sich bald heraus, dass ein paar kleinere Kinder den
Tanzsaal verlassen hatten und draußen auf der Regenrinne
balanciert waren. Dabei hatten sie nicht gut aufgepasst und so
war eins bis zur äußersten Ecke des Dachs gelaufen, wo es in
dem Loch verschwunden war, welches nach unten führte.
„Oh, wie schrecklich!“ tönte es bald durch den gesamten Saal.
„Hoffentlich ist die Regenrinne nicht verstopft! Wie sollen wir
den armen Jungen da sonst wieder herausbekommen?“
Ein paar Männer gingen zum Unglücksort, sie riefen laut in
das Loch hinein, aber sie bekamen keine Antwort.
„Er wird wohl unten im Haus sein!“ hörte man sie bald durch
den Tanzsaal rufen. „Einige müssen heruntergehen und ihn
suchen!“
„Unten im Haus?“ fragte Sabrina. „Aber führt die Regenrinne
nicht in eine Regentonne, draußen im Garten?“
„Nein“, erklärte Neli. „Die Menschen, die hier früher gewohnt
haben, haben das Regenwasser vom Dach in eine Regentonne
im Haus geleitet. Damals gab es nämlich noch nicht in allen
Häusern Wasserleitungen.“
Am liebsten hätte jeder im Saal beim Suchen geholfen, doch
viele Menschen wurden zurückgehalten, damit sie unten kein
Chaos veranstalten. Die Kapelle fing wieder an zu spielen,
aber diesmal sangen sie ruhigere Lieder, solche, wie Neli sie
gerne vor sich hin summte.
Neli und Sabrina aber gehörten zu denjenigen, die es
rechtzeitig geschafft hatten, die Treppe herunterzuklettern.
Man sagte ihnen, dass der Junge rote Haare hatte und gelbe
Kleidung anhatte, dann konnte die Suche losgehen.
„Bei gelben Klamotten ist es nicht so schwer“, flüsterte Neli.
„Denn gelb ist eine Farbe, die von uns Dachbewohnern fast
niemand trägt. Rote Haare kommen bei uns hingegen ziemlich
oft vor.“
Unten im dritten Stock führte auch tatsächlich eine Regenrinne
direkt in eine alte Wohnung hinein. Aber der Junge war längst
nicht mehr zu sehen. Also liefen die Menschen kreuz und quer
umher und suchten an den unmöglichsten Ecken. Sie kletterten
nicht nur in den wenigen, völlig verstaubten Möbeln, die es
noch gab, herum, nein, es ging auch in alte Abflussrohre
hinein, man kroch in die Ritzen von Trümmerbergen, riss die
Tapeten herunter, kletterte alle Treppen hinauf, öffnete die
Fenster, um auf Fensterbänken oder im Efeu der Hauswände
zu suchen. Als man in diesem Stockwerk niemanden fand,
gingen einige auch eine Etage tiefer. Neli und Sabrina folgten
ihnen hinterher. Sie hatten sich wieder ein Wachsstreichholz
angezündet, damit sie besser sehen konnten. Doch als sie
gerade in diesem Stockwerk ankamen, hörten sie plötzlich ein
entferntes Piepen, welches von noch weiter unten zu ihnen
hinauf klang. Neli und Sabrina schauten sich einmal kurz an,
dann entschieden sie sich innerhalb von einer Sekunde, dort
unten nachzuschauen.
Das war vielleicht ein bisschen leichtsinnig, zu gehen, ohne
vorher einem Erwachsenen Bescheid zu sagen. Aber da sie das
Gefühl hatten, dringend einem Menschen das Leben retten zu
können, setzte sogar bei Neli die Vernunft ein. Für eine Weile
hörte das Piepen auf, aber nach einigen Sekunden fing es
immer wieder an. Es wurde mit der Weile immer lauter, aber
auch in der nächsten Etage waren sie nicht am Ziel. Und so
führte ihr Weg schließlich bis in den dunklen, feuchten Keller
hinunter, wo ihnen das Piepen ganz nahe war.
„Nomo?“ rief Neli, aber sie bekam keine Antwort. Da fasste
sie Sabrina ganz fest am arm.
„Oh, das ist so dunkel und unheimlich hier“, sagte sie.
„Glaubst du, es war richtig, dass wir ganz allein
hierhergekommen sind? Wollen wir nicht wieder umkehren?“
Aber genau in dem Augenblick hörten sie einen Laut, der ganz
eindeutig menschlich war. Das leise, aber fröhliche Lachen
eines Kindes, um genau zu sein.
„Nomo?“ rief Neli noch einmal, diesmal etwas
hoffnungsvoller.
Und sofort ertönte das Lachen wieder, das bald aber von einem
erneuten Piepen übertönt wurde. Neli und Sabrina irrten im
Raum umher, immer in Richtung der Geräusche. Sie mussten
dabei aufpassen, dass sie nicht auf dem feuchten Boden
ausrutschten oder über den Schutt stolperten, der überall
herumlag. Schließlich aber führte sie der Weg zur Wand. Und
genau an diesem Abschnitt der Wand befand sich ein kleines
Loch.
„Ein Mauseloch“, sagte Sabrina. „Ich glaube, wir haben ein
Mauseloch entdeckt.“
Und tatsächlich, aus diesem Loch kam das Piepen und das
Lachen.
„Nomo?“ riefen sie mit vereinten Kräften noch einmal. Und
diesmal schien er sie gehört zu haben. Es dauerte nicht lange,
da kam eine Maus aus dem Loch hervorgekrabbelt, und
hinterdrein ein Kind, das noch nicht einmal so groß war wie
Fenno. Wie sich bald herausstellte, konnte er noch nicht einmal
richtig sprechen. Mit der Maus aber schien er sich prächtig zu
verstehen. Er streichelte sich an ihrem kleinen Schnäuzchen,
und dann fing sie an zu piepen, dass sich Neli und Sabrina vor
Schreck die Ohren zuhalten mussten. Ihm aber gefiel es und er
lachte. Dann kitzelte die Maus ihm mit ihrem Schwanz durchs
Gesicht und da musste er noch viel mehr lachen.
„Da sitzt der hier und lacht, während sich oben hunderte von
Leuten über ihn Sorgen machen!“ stöhnte Neli. Dann nahm sie
den kleinen Jungen an die Hand und führte davon. Er schien
sehr traurig zu sein, dass er die Maus verlassen musste. Aber
wenigstens wurde er nicht quengelig und kam artig mit ihnen
mit.
Als sie an der Kellertreppe angekommen waren, schrien Neli
und Sabrina um Hilfe. Sie wollten das die Erwachsenen kamen
und ihnen Nomo abnahmen.
„Das wird eine schwere Arbeit werden, ihn bis nach oben zu
schleppen!“ stöhnte Neli. Aber das brauchten sie gar nicht.
Nomo schien kleiner zu sein als Fenno, aber er konnte viel
flinker klettern als er. Es dauerte nicht lange, da waren sie im
Erdgeschoss angekommen.
Trotzdem fiel beiden Mädchen ein Stein vom Herzen, als sie
dort Muron auf sich warten sahen.
„Ach hier seid ihr beiden“, sagte er und guckte sie mit seinen
treuen Augen an. „Joppo und ich haben euch schon überall
gesucht.“
„Warum habt ihr Drachen euch eigentlich nicht bei der Suche
nach Nomo beteiligt?“ fragte Sabrina da.
„Weil es keinen Zweck gehabt hätte. Ein Drache kann einen
Menschen nur mit der Nase erschnuppern, wenn er ihn
wenigstens einmal gerochen hat. Diesen Jungen aber kannte
noch keiner.“
„Aber ist er nicht selber mit einem Drachen hergekommen?“
„Doch, schon. Aber die Mutter ist zusammen mit einem
Nachbarn geflogen. Aber ihr Drache ist nicht hiergeblieben. Er
hat die beiden nur abgesetzt und hat dann mit dem Nachbarn
eine viel längere Reise angetreten.“
Nun aber hatte der kleine Nomo endlich die Möglichkeit, einen
zweiten Drachen kennenzulernen. Am Anfang glotzte er ihn
mit skeptischen Augen an, aber dann schien er ihn genauso
gern zu mögen wie die Maus.
Noch viel mehr mochte ihn aber seine Mutter. Wäre er nicht
ein großer Drache gewesen, dann hätte sie ihn vor Dankbarkeit
sicher tot gedrückt, weil er ihr ihren geliebten Sohn
zurückbrachte. Aber Muron war ein sehr bescheidener Drache
und wies mit seinen Flügeln nur auf Sabrina und Neli.
„Bei den jungen Damen musst du dich bedanken!“ sagte er,
denn die Drachen und Dachbewohner sagen immer Du
zueinander.
Als die anderen Konzertbesucher von Sabrinas und Nelis
Heldentat hörten, wollten sie, dass die Kapelle ihnen zu Ehren
eine Dankeshymne anstimmte. Aber da lehnte Neli dankend
ab.
„Nein, nein, wir sind doch keine Stars oder so etwas. Ich
glaube, es ist jetzt das Beste, wenn wir die arme Mama und
ihren Sohn nach Hause bringen.“
Und so kletterte Neli vorne, Sabrina hinten und die Mutter und
Nomo in die Mitte von Murons Rücken.
„Oha, wir haben ja zu viert kaum noch Platz“, sagte Sabrina.
„Wie sollen wir Joppo denn jetzt auch noch mitbekommen?“
„Ach, Joppo kann ruhig warten, bis wir wieder zurück sind“,
sagte Neli. „Oder er soll mit jemand anders mitfliegen.“
„Aber ich glaube, er mag mit gar keinem anderen Drachen
fliegen als mit Muron“, sagte Sabrina und kicherte ein
bisschen. „Ich glaube, wenn er kein Drachen sondern ein
Mädchen wer, hätte er ihn längst geheiratet.“
„Aber Joppo fliegt mehr mit Muron herum als der Rest der
Familie zusammen“, entgegnete Neli. „Da kann er uns jetzt
auch einmal den Spaß gönnen.
Nomo und seine Mutter wohnten in einem der Fachwerkhäuser
der Innenstadt.
„Die Dachböden in den uralten Häusern sehen bestimmt noch
viel interessanter und spannender aus“, sagte Sabrina.
Aber als sie das Haus sah, auf das sie los flogen, konnte sie nur
noch erschrocken die Hand vor den Mund legen. Denn es war
das Haus ihrer Klassenlehrerin. Und in ihrer Wohnung brannte
noch Licht. So vergaß Sabrina ganz und gar, sich auf dem
Dachboden umzugucken. Sie wollte unbedingt, dass Muron
ganz dicht an ihr Fenster flog, um zu sehen, was sie dort
machte.
Es war das Küchenfenster und sie sah, wie die Lehrerin am
Tisch sah und Aufsätze korrigierte.
„So spät noch“, staunte Sabrina. Doch dann sah sie die
Küchenuhr und sofort fiel ihr auf, dass sie eher „So früh!“
hätte sagen müssen. Es war bereits viertel vor sechs.
„Oh nein!“ sagte sie. „In zwei Stunden fängt die Schule an. Es
ist wohl an der Zeit, dass wir endlich nach Hause kommen!“
Dann aber blieben sie doch noch etwas an Ort und Stelle
stehen, denn Sabrina sah, dass die Lehrerin gerade ihr Heft
genommen hatte und korrigierte. Als sie am Ende eine Zensur
darunter schrieb, hätte sich Sabrina beinahe die Augen
ausgeglotzt, aber sie konnte sie einfach nicht erkennen.

Doch schon drei Stunden später, als sie mit ihren


Klassenkameraden auf der Schulbank saß, bekam sie ja die
Antwort. In der ersten Stunde hatten sie übrigens
Musikunterricht gehabt. Musik wurde nicht von der
Klassenlehrerin unterrichtet, sondern Frau Hitzemann. Das war
immer lustig, weil sie in ihrem Unterricht viel Musik selber
machten. Auch in dieser Stunde hatten sie mit ihren
Glockenspielen, Xylophonen, Blockflöten, Trommeln und
Klangstäben dagestanden und ein Musikstück geprobt, das sie
in der letzten Musikstunde bereits einstudiert hatten. Sabrina
hatte die Klangstäbe bekommen. Eigentlich mochte sie
Klangstäbe nicht, weil es das langweiligste Instrument von
allen war. Aber in dieser Stunde war es anders gewesen, denn
die Kinder mit den Klangstäben waren die einzigen, die auch
zur Musik tanzen konnten. Und wie Sabrina getanzt hat!
Genauso wie in der Nacht zuvor auf dem Konzert der
Dachbodenbewohner. Was hat die ganze Klasse nur über sie
gelacht, auch Frau Hitzemann. Nur Frau Johannis, die im
Klassenzimmer unter ihnen Mathematik unterricht hat, die hat
gar nicht gelacht. Mit wütend rotem Kopf ist sie
hinaufgekommen und hat sich über den Krach beschwert.
Doch Sabrina hat da nur drüber gegrinst, auch als sie gefragt
wurde, ob sie ein Trampeltier sei.
In der nächsten Stunde, als die Klassenlehrerin Frau Ruprecht
mit den Aufsatzheften hereinkam, verging ihr das Lachen aber
schnell. Und sie hatte auch allen Grund dazu. Denn diesmal
hatte sie eine vier bekommen, die erste in ihrem Leben.
„Das war wohl diesmal nichts“, sagte Frau Ruprecht, als sie ihr
das Heft in die Hand drückte. „Was war denn nur los mit dir?“
„Ich schreibe eben nicht gerne einen Aufsatz darüber, wie man
Brötchen backt“, maulte Sabrina. „Können Sie sich das nächste
Mal nicht ein lustiges Thema überlegen? Eins, wo man mehr
Phantasie für braucht?“
„Ich werde es mir überlegen“, sagte die Lehrerin und lächelte
schwach.
Der nächste Aufsatz wurde einen Monat später geschrieben.
Und als Sabrina das Thema las, konnte sie ihr Glück kaum
fassen.
„Als ich einmal träumte!“ hieß es. Und geträumt hatte sie im
letzten Monat ja mehr als genug. Fast jeden Abend vor dem
Zu-Bett-Gehen hatte sie ein Traumblumen-Plätzchen gegessen
und war zu ihren neuen Freunden heraufgeklettert. Fast jede
Nacht hatte sie im Körper einer Puppenprinzessin die
großartigsten Abenteuer erlebt, während ihr eigener Körper im
kuscheligen Bett lag und voller Seeligkeit schlief. Das einzige,
was ihr bei diesem Aufsatz Schwierigkeiten machte, war, zu
entscheiden, welchen Traum sie auswählen sollte.
Erst nach fünf Minuten fasste sie Endlich einen Entschluss, als
die anderen Kinder schon längst mit dem Schreiben
angefangen hatten. Es war der Traum, den sie in der achten
Nacht erlebt hatte. Neli, Joppo und sie waren mit Muron in die
Kirche geflogen. Das große Eichentor war zwar verschlossen
gewesen, aber in einem der Kirchenfenster gab es weit oben
ein Loch, durch das hindurchpassten, ohne sich an einer
Glaskante zu schneiden. Und sie hatten tatsächlich auf der
Orgel gespielt. Neli und Sabrina oben, wo man mit den
Fingern die Tasten drückt, Joppo unten auf den Fußtasten,
während Muron empor geflogen ist, um zu sehen, ob oben ein
Gespenst erschien. Wenn drei Menschlein versuchen
zusammen Orgel zu spielen, obwohl keiner von ihnen etwas
von diesem Instrument versteht, dann kommt da nichts weiter
als ein dröhnender, scheußlicher Lärm bei heraus.
„Wenn der liebe Gott weiß, was wir in seiner Kirche machen“,
rief Neli. „Hoffentlich wird er uns nicht sehr böse sein.“
„Aber genauso muss sich eine richtige Gespenstermusik
anhören!“ erwiderte Sabrina. Umso mehr wunderte sie sich
darüber, dass nicht einmal ein Hauch von Gespenst erschien.
„Pah! Das wird wohl wieder nur irgend so ein schüchternes
Gespenstchen sein, wie das, was bei Joppo immer die Kerzen
ausmacht“, sagte sie irgendwann, als sie keine Lust mehr hatte
und wieder von der Orgel herunterkletterte.
Dafür entdeckten sie aber etwas anderes Aufregendes. Sie
flogen mit Muron ganz dicht unter den vielen Bildern, die auf
der Decke aufgemalt waren, hinweg. Und was entdeckte
Sabrina da? Ganz oben, an einer Stelle, wo ein Mensch
niemals ohne Leiter hinkam, fand Sabrina eine Schrift. Sie war
direkt in das Gesicht einer Person gekritzelt, sodass es keine
Beschriftung des Bildes sein konnte.
„Das gibt es doch nicht“, flüsterte sie leise. Ihre Mutter hatte
ihr gesagt, dass die Kirche ein heiliger Ort sei. Nicht so ein Ort
wie ihr alter Wohnblock, wo die frechen Kinder einfach die
Wände bekritzelten. Aber sie musste zugeben, dass der
Schmierfink eine ziemlich ordentliche Schrift hatte. Lesen
konnte sie es trotzdem nicht, weil es in einer anderen Sprache
war.
„Das sieht aus wie Latein“, stellte Joppo fest. „Ich wollte
schon immer mal gern Latein lernen, aber ich bin noch nicht
dazu gekommen, weil ich lieber die Sprache der Drachen
gelernt habe.“
Sabrina war ein bisschen enttäuscht, doch dann fiel ihr etwas
ein. Und zwar die Legende von Adrian, dem Jungen, der
damals die Stadt gerettet hatte. War er nicht auf eine
Lateinschule gegangen? Und war es nicht auch diese Schule
gewesen, wo er dem Feind die große Falle gestellt hatte?
Sie lasen die Worte immer wieder, und als sie glaubten, sich
alles eingeprägt zu haben, waren sie schnell zu Adrian in den
Stadtpark geflogen, damit er ihnen alles übersetzte. Das
Dumme war nur, dass an diesem Tag nicht er, sondern sein
Zwillingsbruder auf dem Baum saß. Doch der war nicht zur
Latein-, nein er war zu gar keiner Schule gegangen, weil die
Eltern dafür nicht genug Geld gehabt hatten. Und so mussten
sie hinunter zum Denkmal fliegen, wo Adrian starr und steif
dastand. Der stellte sich zunächst taub, aber am Ende bewegte
er sich doch. In der Nacht sieht das ja eh kein Mensch, meinte
er.
Doch da hatte er sich geirrt. Gerade als er sich zu Sabrina
herunterbeugte, um ihr das Geheimnis ins Ohr zu flüstern, kam
ein Besoffener den Weg entlang, der dachte, seinen Augen
nicht mehr trauen zu können. Im Nu fiel er zu Boden und sie
mussten sich wirklich große Mühe machen, um ihn zu
beruhigen, damit er wieder auf die Beine kam. Als das erledigt
war, aber konnte die Schatzsuche endlich beginnen, die erste in
Sabrinas Leben. Ein Traum ging für sie in Erfüllung!
Der Weg führte sie zunächst auf einen alten Platz. Ein Glück
war es nicht der Marktplatz, denn da waren selbst bei Nacht oft
noch Menschen. Nein es war ein anderer, aber dennoch alter
Platz. Hier mussten sie sich stark anstrengen, um den 112.
Pflasterstein von links, bzw. den 39. von oben aus dem Platz zu
reißen. Auf der Rückseite des Steins war eine weitere
Botschaft eingeritzt, glücklicherweise auf Deutsch. Sie zeigte
ihnen den Weg, wie man in ein Labyrinth unter der Stadt kam.
Niemand von ihnen hatte zuvor gewusst, dass es unter der
Stadt ein Labyrinth gab, nicht einmal Joppo. Und auch im
Buch „Die Geheimnisse unserer Stadt“ hatten sie nichts davon
gelesen. Aber es war tatsächlich da, und man konnte den
Eingang nur finden, wenn man auf der Rückwand der alten
Stadtmauer ein Losungswort aufzeichnete. Danach öffnete sich
im Boden sogleich eine Geheimtür und sie konnten
hineinmarschieren. Sicherlich hätten sie sich darin verlaufen,
wäre der Weg auf dem Stein nicht so gut beschrieben worden.
Am Ende des Labyrinths fanden sie aber nicht den Schatz,
nein, es waren nur die Pilze, mit denen sie den Wetterhahn auf
der großen Kirche füttern sollte. Diese Pilze waren das einzige,
was er fraß. Und deshalb waren sie auch das einzige Mittel,
mit dem man ihn für kurze Zeit zum Leben erwecken konnte.
„Kann man den Wetterhahn, auf der Friedhofskapelle auch mit
diesen Pilzen füttern?“ fragte Sabrina, als er genüsslich fraß.
Aber da antwortete er, dass jeder Wetterhahn ein eigenes
Leibgericht habe. Was der Wetterhahn auf der Friedhofskapelle
fräße, wisse er aber nicht. Zehn Minuten später, nachdem er
aufgefressen hatte, stand er wieder da, und kam seiner Pflicht
nach, als wäre er niemals lebendig gewesen. Aber wenigsten
verriet er ihnen vorher noch das Geheimnis, wie man den
goldenen Fisch im Brunnen des alten Burghofs anlocken
konnte. Mit einer seiner eigenen Federn. Denn er und der Fisch
waren in früherer Zeit einmal gut befreundet gewesen. Er
erlaubte es ihnen sogar, ihm eine zu rupfen, wenn sie dem
Fisch schöne Grüße von ihm ausrichteten. Das wollten sie
gerne tun. Die Burg lag auf einem Hügel ganz in der Nähe der
Stadt. Eigentlich war sie in der Nacht für Besucher
geschlossen, aber Muron konnte ja einfach über die Mauern
und Zäune hinweg fliegen. Sabrina staunte nicht schlecht, als
sie sah, dass es in diesem Brunnen tatsächlich einen goldenen
Fisch gab. Und zwar einen richtig goldenen, nicht so einen wie
die gewöhnlichen Goldfische, die in Wirklichkeit rot waren.
Der Brunnen war tief, ziemlich tief. Und es dauerte lange, bis
der Fisch nach unten und wieder hoch geschwommen war.
Aber er brachte ihnen den goldenen Schlüssel mit, den sie dazu
brauchten, um an den Schatz zu gelangen.
Ihr fragt euch jetzt sicher alle, was sie damit öffnen sollten,
eine Tür vielleicht, oder eine Truhe, oder ein Geheimfach.
Aber ihr könnt ruhig mit dem Raten aufhören, da ihr ja doch
nicht darauf kommen würdet. Das Schloss zu diesem Schlüssel
steckte, ob ihr es nun glaubt oder nicht, in einem Baum. In
einem Baum, der in einem Wald nur wenige hundert Meter von
der Burg entfernt stand. Muron war erst viele Minuten damit
beschäftigt, um die Rinde abzuknabbern, damit sie es
überhaupt erst entdeckten. Aber er fraß ja so gerne Holz, dass
es ihm nichts ausmachte.
„Was wird wohl passieren, wenn wir aufschließen?“ fragte
Sabrina vorher, aber nicht einmal Joppo hatte eine Ahnung.
Als sie den Schlüssel herumgedreht hatten, fing die
Baumkrone plötzlich an zu rauschen, als wäre ein Sturm
aufgezogen. Aber es war nicht der Wind, der den Baum
rüttelte. Nein, der Baum schüttelte sich selber. Es war so
ähnlich wie im Märchen von Frau Holle Aschenputtel, der
Baum schüttelte irgend etwas auf sie herab. Schon bald war der
Boden um sie herum mit lauter Körnern bedeckt, die in den
verschiedenste Farben schimmerte. Goldene und Silberne
waren auch dabei. Es war für sie nicht möglich, sie alle auf
einmal aufzusammeln und so mussten sie an diesem Tag noch
mehrere Male mit großen Beuteln hin- und herfliegen.
Ja, diesen Aufsatz schrieb Sabrina, als sie einen Aufsatz über
Träume schreiben sollte. Sie schrieb so tüchtig wie nie zuvor
im Leben und trotzdem blieb ihr kaum die Zeit, um alles bis
zum Ende aufzuschreiben. Eine eins bekam sie drei Tage
später aber trotzdem dafür. Denn die Lehrerin fand, es sei einer
der besten Aufsätze, den sie jemals gelesen hatte. Oh, wenn sie
nur gewusst hätte, dass das alles wirklich passiert war!
Diese Schatzsuche brachte Sabrina Jahre später aber noch viel
mehr Glück ein. Die kleinen Körner entpuppten sich nämlich
ebenfalls als Samenkörner, aber sie traute sich nicht, sie im
eigenen Zimmer anzupflanzen. Ihre Mama hatte ja schon etwas
gegen die Traumblume. Als sie aber erwachsen war, eröffnete
sie ihre eigene Gärtnerei und pflanzte Blumen und Büsche an,
wie sie noch nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Pflanzen, an
denen echte Gold- und Silberperlen heranwuchsen. Pflanzen,
die so stark waren, dass man mit ihnen innerhalb von wenigen
Tagen ganze Häuser abreißen konnte, wenn man sie die
Mauern heraufwuchern ließ. Aber auch Pflanzen, die nichts
anderes taten, als unheimlich leckere Früchte hervorzubringen.
Ja, Sabrina wurde, als sie erwachsen war, zur erfolgreichsten
Gärtnerin der gesamten Welt, und ihre Mutter war sehr stolz
auf sie. Bevor es aber dazu kam, hatte sie zusammen mit den
Hossenheim-Kindern noch hunderte von anderen Abenteuern
erlebt.

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