96 Leo StrauB
haben wir wieder zu fragen: Wie kommt Thomas, der katho-
lische Aristoteliker des XII. Jahrhunderts, dazu, Vertreter des
biblischen Sinngehalts gegen den grofen Juden zu sein?
Vielleicht ergibt'sich uns eine Antwort, wenn wir die Sen-
tenzenbiicher und Summen der christlichen Scholastik auf ihren.
Aufbau hin durchsehen. Wir werden dann namlich finden, dab
zu den grofen Hauptgegenstinden ihres Nachdenkens die
Kirche gehért, mit deren Behandlung z. B. die theologische
Summe des hl, Thomas zum Abschluf kommt. Damit war aber
auch der philosophischen Weltanalyse der fritheren Teile ihre
Ausrichtung auf eine geschichtliche Gegebenheit ge-
wiesen, die in dem reifen System des XIII. Jahrhunderts die
griechische Anerkennung der Naturselbstindigkeit nicht neben
sich duldete. Aber dieser Tatbestand hat seinen eigentlichen
Ursprung nicht’ in der Philosophiegeschichte: Das Christentum
hatte dem abendlndischen Denken das Bewuftsein gegeben,
daf& die Menschen auf der Erde als Glieder der Kirche den Sinn
der geschaffenen. Welt im Hinblick auf die ewige zu vollenden
hatten. Das Hochmittelaltar war dazu gekommen, diese Hal-
tung zum Gegenstand philosophischer Reflexionen zu erheben.
Dabei ist aber den einfachen Frommen wie den scholastischen
Denkern immer bewuft gewesen, dafi ihr Glaube an die Welt-
bedeutung. der. religisen Entscheidung die christliche Weiter-
fihrung dessen war, was als Bundesschluf& zwischen Gott und
Volk Israel* begonnen hatte. Aus diesem Zusammenhang
heraus erhebt Thomas den Einspruch gegen Maimonides, von
dem wir ausgingen.
Eine vermiBte Schrift Farabis.
Von Leo Straus.
In einem Artikel, der im letzten Bande der JQR erschienen
ist, hat I. Efros zu zeigen versucht, da ,,the second of the three
parts of (Palgera’s) Reshit hokmah, entitled mesnn ston wn phn,
is a literal ‘translation of the whole of Alfarabi’s important
* Daher ist nach Tanch. Buber, Bereschit 3 die Welt um Israels willen
geschaffen. — Daf sie um des Menschen willen gescheffen wurde, glauben
auch Saadia und Gabirol. I. H,Eine vermifte Schrift Farébis 97
work known as the »Encyclopedia« or by its Arabic title as
Ths al-Ulam“. (JQR, N. S., Vol. 25, p. 227.) Diese Behaup-
tung bedarf einer erheblichen Einschriinkung, die vorzunehmen
Efros offenbar nur darum unterlassen hat, weil ihm die Editio-
nen: von Ths al-‘ulfim noch nicht zuganglich waren.
Reschith chochmah II zerfallt in 9 Kapitel (genauer ,,Teile”),
ths4 al-‘ul&m in eine Einleitung und-5 Kapitel. Es entspricht
Reschith chochmeh II Kap. 1 Ths al-‘uldm Einleitung
Kep. 3 Kap. 1
Kap. 5 Kep. 2
Kap. 6 Kap. 3
Kop. 7! Kap. 4
Kap. 9 Kap. 5,
Wie diese Liste vermuten laBt und die Priifung der Texte
selbst bestatigt, sind das 2. und das 4. Kapitel von R. Ch. II
nicht Farabis Encyclopadie entlehnt, Dasselbe gilt von nicht
unerheblichen Teilen aller tibrigen Kapitel. Nicht der Encyclo-
piadie Farabis entlehnt sind:
im 1, Kapitel: der 5, und 6, ,,Nutzen“ des Buches (ed, David, 21, 2—19);
im 3, Kepitel: die Erklrung-von pw ore: und pay (24, 8-27, 20);
Falgéra selbst sagt mit Bezug auf diesen Binschub: (24, 18—19) -xawqx1
(REO A nMso m1 PRo ax TT
im 5, Kapitel: der letzte Teil (39, 25—41, 10). Falqéra selbst sagt mit
Bezug auf diesen Einschub: “4 snoqwn tam -(41, 8)
im 6, Kapitel: die Erklérung von Analysis und Synthesis (43, 14—28);
im 7. Kapitel: der letzte Teil (61, 2453, 9). Falgéra selbst sagt mit
Bezug auf diesen Binschub: or>1a mmpib'an nypa ars x> orpwn tbe
63,89) .omst now wan rw SUN meson Tepe
im 8. Kapitel: der letzte Teil (54, 19-55, 30). Der Binschub beginnt
mit den Worten: 43) pans 1 pone wm
im 9. Kapitel: der letzte Teil des Abschnittes tber die politische
Wissenschaft (58, 19-59, 5).
Die nicht der Encyclopiidie Farébis entnommenen Teile der
Kapitel 7, 8 und 9 sind eine (mehr oder weniger wartliche)
Ubersetzung der entsprechenden Abschnitte in Ibn Sinas Ency-
clopiidie (Iqsim al-‘ulfim). Ich weise die Stellen aus Ibn Sinas
Schrift nach Alpagus’ lateinischer Ubersetzung (in: Avicennae
Compendium de anima etc., ab Andrea Alpago . .. ex arabico
in latinum versa, Venetiis 1546) nach:
R. Ch. I, Kap. 7 G1, 2453, 9) — Avicenna, ed. Alpagus, fol. 141—142;
Kap. 8 (54, 19-55, 30) — fol, 143-144;
Kap. 9 (68, 19-59, 5) — fol. 140 bt).
Monatsschrift, 80, Jabrgang
i98 Leo Straus
Um die Quelle des nicht Farabis Encyclopédie entnomme~
nen Teils des 3. Kapitels zu ermitteln, muS man beriicksichtigen,
da& dieser Abschnitt (24, 8—27, 20) denselben Gegenstand be-
handelt wie der gréfere Teil des 13. Kapitels von Maimunis
Milloth hahiggajon, wo gelegentlich ein Satz aus Farabi zitiert
wird. — Der letzte Abschnitt des 5, Kapitels (39, 25—41, 10) ist
Farabis Schrift iiber die Tendenzen von Platon und Aristoteles
entlehnt (s. u. Anm. *°*).
Der wichtigste Zusatz Falgeras ist das 4, Kapitel, das von
der Genesis der Wissenschaften handelt. Es liBt sich gegen-
wartig noch nicht beweisen, daf dieses Kapitel eine mehr oder
minder wértliche Ubersetzung eines Abschnittes aus einer
Schrift Farabis ist. Aber es ist unzweifelhaft, daB die daselbst
entwickelten Gedanken auf Farabi zuriickgehen. Man ver-
gleiche z. B. den Schlu& des Kapitels (30, 28 ff.) mit dem Schlu6-
teil von Ihsa al-‘uléim (bzw. mit Reschith chochmah 59) oder die
unmittelbar vorangehende Stelle (30, 25—28)'* mit Farabis k.
tahsil al-sa‘ada, pp. 39—42 (bzw. mit Reschith chochmah 70,
17—19). An Farébi erinnert auch und vor allem die in diesem
Kapitel passim vorkommende, auf die politische Funktion der
Wissenschaft hinweisende Rede davon, daB die Wissenschaften
in der Nation, bezw. in den Nationen entstehen. Dieselbe
Riicksicht rechtfertigt auch die (vorlaufig ebenfalls hypothe-
tische) Zuweisung des 2. Kapitels, das von der Genesis der
Sprache in den’ Nationen handelt, an Farabi.
Falgeras Buch ist ein entschieden jiidisches Buch, wahrend
die Vorlage nicht im selben Grad ein islamisches Buch ist. So
* Zur letztgénannten Stelle vgl StrauB, Philosophie und Gesetz, Berlin
1935, 111.
48 Diese Stellé ist ubrigens der beste Schliissel zum Verstiindnis von
Meimunis Prophetologie, Falgera sagt daselbst, die Gesetzgebungskunst sei
die Kunst, die spekulativen Begriffe, deren Verstiindnis der Menge schver-
fallt, vermége der Einbildungskraft bildlich darzustellen, und das Ver-
mégen, diejenigen politischen Handlungen hervorzurufen, welche. zur Er-
reichung der Gliickseligkeit dienlich sind, und die amphibolische Rede von
denjenigen spekulativen und praktischen Dingen, die der Menge nur auf
amphibolische Weise zugiinglich sind. Darin liegt u. a: die (von Maimuni
wie von den Falasifa behauptete) Angewiesenheit der Propheten :auf die
Vollkommenheit der Einbildungskraft ist nur von der politischen, gesetz~
geberischen Funktion der Prophetie aus zu verstehen,Eine vermi6te Schrift Farabis 99
entsprechen den Bibelzitaten in R. Ch. Il (54, 4—5 und 54,
15—17) bei Farabi keine Zitate aus dem Qur’én oder anderen
islamischen Quellen. Dieselbe Differenz zeigt sich vielleicht am
deutlichsten darin, daB Falgera zu den von Farabi aufgezahlten
nNutzen“ einer Encyclopédie der Wissenschaften die zwei fol-
genden ,,Nutzen“ hinzufiigt, indem er ausdriicklich bemerkt,
daB diese beiden von gréferer Wichtigkeit seien als die vor-
hergehenden (sc. Farabf entlehnten) ,,Nutzen‘: 1. eine hebri-
ische Encyclopédie der Wissenschaften ist notwendig, damit
der durch die Galuth verschuldete Verlust der ,,Weisheit unserer
Weisen” wiedergutgemacht werden kann?; 2. ,,aus diesem Buche
wird klar werden, ob wir von unserer Thorah aus dazu berech-
tigt sind, diese (sc. alsbald zu besprechenden) Wissenschaften
zu lernen, oder nicht, oder.ob sie irgend einer Sache wider-
sprechen, die in unserer Thorah erwahnt wird? ... Dies war
die erste Absicht bei der Komposition dieses Buches . . .“ (21,
2—19). Das Falgera bestimmende Interesse, die Ubereinstim-
mung zwischen den Lehren der Philosophie und den Lehren des
Gesetzes zu erweisen, ist in keiner Weise charakteristisch fiir Fa-
rabi, wie insbesondere dessen Encyclopiidie der Wissenschaften
zeigt: nach Farabi sind die Religionswissenschaften (figh und
kalam) nicht mehr als Zweige der politischen Wissenschaft. In
diesem Zusammenhang sei vermerkt, da& Farabis Ausfiihrungen
tiber den Kalam von Falgera’ erheblich verkiirzt werden (vgl.
59—60).
So interessant sie in mancher Hinsicht ist — die Tatsache,
daB im zweiten Teil von Reschith chochmah der gréBte Teil
von Farabis Encyclopédie, sowie erhebliche Teile von [bn Sinas
- Encyclopiidie erhalten sind, ist von. keiner besonderen Wichtig-
keit; denn die Originale: sind’ ediert, und auSerdem sind sie in
lateinischen Ubersetzungen zuginglich, die ‘brauchberer, weil
vollstiindiger, als Falgeras hebréische Ubersetzung sind‘. Anders
~~? Vgi. hierzu Maimuni, Moreh nebuchim I 71 in prine.
° Zu dieser Anordnung der Fragen: a, gesetzliche Zulissigkeit des
Philosophierens, b, Widerspruch oder Ubereinstimmung zwischen Philo~
sophie und Gesetz, vgl. mein Referat tiber Ibn Ruschds Fast al-magal in
Philosophie und Gesetz™, p. 71.
* Ths& al-‘uldm ist ediért worden von O, Amin, Kairo 1350, und von
A. G. Palencia, Madrid 1932 (vgl. P. Kraus’ Rezension dieser Ausgabe in:
m100 Leo Straus
verhilt.es sich hinsichtlich des dritten Teils von Reschith
chochmah; denn dieser Teil, der:die. Ubersetzung. von Farabis
Buch iiber die Tendenzen von Platon und Aristoteles enthalt,
mu8 das Original ersetzen, dessen grdfter Teil wenigstens vor-
laufig als verloren zu gelten hat. Da8 der 2. und 3. Teil von
Reschith chochmah Il dem erwahnten Werke Faraébis ent-
nommen seien, hat bereits Steinschneider vermutet®. Nunmehr,
nachdem Farabis k. tahsil al-sa‘ada durch die Edition Haidera-
bad 1345 zuginglich gemacht worden ist, lat sich beweisen,
daB der gesemte dritte Teil von Reschith chochmah eine (wenn
auch erheblich verkiirzte) Ubersetzung von Farabis Buch iiber
die Tendenzen des Platon und des Aristoteles ist.
Der erste Teil von ’R. Ch. Ill ist-eine (unyollstindige) Uber-
setzung von Farabis k. tahsil al-sa’ada. Zum Beweis zitiere ich
zuerst die Anfange, und gebe ich dann ein Verzeichnis der
einander entsprechenden Stellen’ der beiden Schriften.
Farabi: ,Buch von der Verwirklichung der Glickseligkeit, Die
menschlichen Dinge, die sich bei den Nationen und den Bewohnern der
Stédte verwirklichen miissen, damit sich mittels dersélben bei ihnen die
irdische Gliickseligkeit ii anfanglichen Leben und die héchste Gliickselig~
Keit in fenem Leben verwirkliche, (zerfallen in) vier Gattungen: die speku~
lativen Tugenden, die kogitativen Tugenden, die morelischen Tugenden und
die praktischen Kiinste, “Die spekulativen Tugenden sind jene Wissen-
schaften, deren letzte Absicht lediglich dies ist, da die seienden Dinge
und das, was sie umfassen, 2u Verstandenem (vont)... . werden."
Falgera; ,
goer retor nen 9D Tonk tnmbynA dwAD! pea ama ess pe pons
mr oonban orev. onboamin msiin wats) nyeikS BTS Aw OME NET EST
nyaben om ono mss ernst eens mana nndanm mers rns pbwr
arrwpen mSkboM flies ona] EMwoN nyabwm [aysen=n nvsbym) oven,
Eyaron BAD Ne ONS AMAA MEN Ww MBA Bn pee nrabem
snaba nmr 5p piooine
Islam XXII 82-85), Die lateinische Ubersetzung von Gerard von Cremona
ist in der ed. Palencia abgedruckt. — Iqsfim alulfm ist ediert worden in
der Sammlung Tis’ rasf’ il, Stambul 1298. Die lateinische’ Ubersetzung von
Alpogus findet sich in Alpagus' oben zitierter Sammlung.
* Alfarabi, St. Pétersbourg- 1869, 176—178,Eine vermifte Schrift Farabis 101
Falgera Farabi Falgera Farabi
62, 24 (Zusatz Falgeras) 67, 1°68, 26 26, 16—29, 15
62, 4-5 2, 6-7 68, 27—32 31, 3-10
62, 5—9 (Zusatz Palqeras) 69, 1-12 31, 17—32, 17
62, 9—28 2, 7-3, 19 69, 13-15 (Zusatz Falqeras)
62, 28—29° 4,2 69, 16—26 36, 12—37, 5
62, 31-63, 10, 4,.16—5, 10 69, 26—27 37, 16
63, 10—14 » (Zusatz Falgeras) 69, 27—28 38, 5—6
63, i5—31 5, 11-6, 19 69, 28—70, 8 38, 9—39, 8
63, 32—64, 1 ‘8, 10—13 70, 8—10 (Zusatz Falgeras)
64, 1—12 10, 7—11, 3 70, 10—14 30, 8—12
64, 12—20 11, 6—18 70, 14-23 42, 5—16
64, 20-65, 23. 12, 14-14, 19 70, 23—29 42, 19—43, 8
65, 23-66, 8 15, 3-16, 5 70, 29—71, 10 44, 13-45, 11
66, 8—9 16, 15 71, U—13 (Zusatz Falgeras)
66, 10—30 20, 8~22, 8 71, 14—72, 4 45, 12—47, 5
Das Tahsil schlieBt mit den Worten’
»Die Philosophie, deren Beschreibung dies (sc. das soeben Aus-
gefiihrte) ist, ist von den Griechen als von Platon und Aristoteles starmmend
zu uns gelangt, Keiner von diesen beiden hat uns'die Philosophie gegeben,
ohne uns. zugleich die Wege zu ihr zu geben, und den Weg zu ihrer
Wiederbelebung, falls sie getribt oder yernichtet worden ist. Wir gehen
in der Folge daran, die Philosophie des Platon und die Rengstufen seiner
Philosophie darzustellen: Wir beginnen mit dem ersten Teil der Philosophie
des Platon ‘und lassen darauf' die Stufen seiner Philosophie, eine nach der
anderen, -folgen, bis wir sie simtlich erschépft haben werden, Ebenso
gehen wir mit der Philosophie vor, die uns Aristoteles gegeben hat: und
zwar beginnen wir, seine Philosophie .von ihrem ersten Teile an darzu~
stellen, Hieraus. wird deutlich werden, daS die Tendenz, die sie beide mit
dem, was sie gegeben haben, verfolgten, eine und dieselbe ist, und daf sie
beide ‘eine und dieselbe Philosophie zu geben sich bemiiht haben.”
Das Tahsil ist also die Einleiting zu einem Werke, das der
Darstellung der Philosophie Platons und Aristoteles’ gewidmet
_ war, Dasselbe gilt. vom 1. Teil von R. Ch. Ill: der 2. Teil von
R. Ch. Il behandelt die Philosophie des Platon, der 3. Teil die
Philosophie des Aristoteles. Schon aus dem Schlufi des Tahsil,
* Palgere rechtfertigt die Auslassung mit den Worten: *ienpbna snr 533)
an (62, (29-30).
7 Falgere rechtfertigt die Auslassung mit den Worten:, nvabea wnat 1301
poy por omen (66, 3187, 1)
8 Vel. den Schluf von R. Ch. II i: pobaxa apna span imakn my mprorsom
so mane [ies memPy] ova AMP mov wero yma ra on $3) Svbowor
sbboa ospy rma nt b> won ptyey was oro Netd ome102 Leo Straus
vor allem aber aus dem Bericht Ibn al-Qiftis (ed. Lippert, p.
278) itber Farabis Buch ,,Uber die Tendenzen (der Philosophie)
des Platon und des Aristoteles” diirfte sogar hervorgehen, dab
dieses Buch, ebenso wie R. Ch, Ill, formlich in drei Teile ge-
gliedert war: in eine Einleitung, in der ,die Geheimnisse und
die Friichte der Wissenschaften“ untersucht wurden ‘und _,,der
stufenweise Aufstieg von Wissenschaft zu Wissenschaft er-
Ortert wurde; ,d arauf beginnt er (Farabi) mit der Philosophie
des Platon, indem er die Tendenz, die er (Platon) mit ihr ver-
folgt, und seine (Platons) Schriften itber sie mitteilt; darauf
laBt er dem die Philosophie des Aristoteles folgen.“ Dieser
Beschreibung entspricht R. Ch. II vollstandig. Arm Schluf der
Edition des Tahsil ist noch-die Uberschrift des folgenden Teiles
angegeben; sie lautet: ,Die Philosophie des Platon, ihre Teile
und die Rangstufen ihrer Teile vom ersten bis zum letzten“.
Die Uberschrift des 2. Teiles. von, R. Ch. II: +101 pebex mercies
mre tm wine mpi ist offensichtlich die Ubersetzung hiervon.
Was insbesondere Farabis Darstellung der Philosophie des
Aristoteles in dem genannten Werke angeht, so war sie, dem
Bericht Ibn al-Qiftis zufolge, folgendermaSen aufgebaut: Farabi
wschickt ihr (der Philosophie des -Aristoteles) eine bedeutsame
Einleitung voraus, in der er seinen’ (Aristoteles’) stufenweisen
Aufstieg zu seiner Philosophie kundtut; darauf beginnt er, seine
(Aristoteles’) Tendenzen hinsichtlich seiner logischen und phy-
sischen Schriften zu beschreiben, ein Buch nach dem anderen,
bis da& seine Rede hieriiber, in der vorfindlichen Handschrift,
zu dem Anfang der Theologie (Metaphysik) und dem auf der
Physik beruhenden Beweis fiir sie‘ (sc. fiir die Notwendigkeit der
Metaphysik) gelangt’. Genau ebenso list der 3. Teil von R. Ch.
Il aufgebaut: auf cine Einleitung, die den Weg des Aristoteles
zu seiner Philosophie schildert-(78, 6—80, 9) folgt die Darstel-
lung der Logik (80, 10—81, 13) und der Physik (81, 14—91, 1)
und schlieBlich der Beweis fir die .Notwendigkeit der Meta-
physik, der auf der Physik beruht, und der Anfang der Meta-
physik (91, 1:bis Ende): die Metaphysik selbst’ fehlt auch in
R. Ch. Ill. Dieses Fehlen ist itbrigens nicht, wie’ Ibn al-Qifti zu
* Der Herausgeber bemerkt im Anschluf hieran; ,,Das ist alles, was
wir von diesem Buche vorgefunden haben.”Eine vermifte Schrift Farabis 103
meinen scheint, auf eine Korruption der Handschriften zuritck~
zufithren, sondern es entspricht dem Plan Farabis: wahrend er
seine Darstellung der Philosophie Platons mit den Worten
charakterisiert: , Wir beginnen mit dem ersten Teil der Philo-
sophie des Platon und lassen darauf die Stufen seiner
Philosophie, eine nach der anderen, folgen, bis wir sie
sdmtlich erschdpft haben werden“, sagt er hinsichtlich seiner
Darstellung der Philosophie des Aristoteles nur: ,, Wir beginnen,
seine Philosophie von ihrem ersten Teile an darzustellen.* Eine
vollstindige Darstellung der Philosophie des Aristoteles war
also von Fardbi gar nicht beabsichtigt"®. Und daher ist der
3. Teil von R. Ch. Ill eine (im grofen und ganzen) vollstandige
Ubersetzung des dritten Teils von Farabis Buch iiber die
Tendenzen des Platon und des Aristoteles. Fiir diesen SchlubB
spricht selbst die einzige Abweichung Falqeras von dem durch
Ibn al-Qifti bezeugten Aufbau des Farabischen Werkes: Falgera
zahlt nicht die einzelnen logischen Schriften des Aristoteles auf.
Aber daf sie in seiner Vorlage aufgezahlt waren, daf also diese
Vorlage vollstandig den Angaben Ibn al-Qiftis tiber Farabis in
Rede stehendes Buch entspricht, wird durch die Tatsache be-
wiesen, daB Falgera seiner Gewohnheit getreu die Weglassung
dieser Aufzahlung ausdriicklich rechtfertigt: sen poms sais)
MMypS ADD ANE WOT (sc, TBAT nesNs) MS aN’ nnaeN oMeDA
(80, 11-12).
In Ibn Ruschds grofem Metaphysik-Kommentar wird eine
Schrift Farabis ,,Die zwei Philosophien” zitiert, die mit der von
Falqera iibersetzten Schrift identisch ist. Die von Ibn Ruschd
4 Vgl. auch das thnliche Abbrechen der Darstellung nach dem Hin-
weis von der Physik auf die Metaphysik in Tahsil 12—14, — Es sei wenig-
stens beiliufig darauf hingewiesen, dafi u. 0. der Schluf der Aristoteles-
Darstellung in R, Ch, II 3 und der entsprachende Abschnitt im Tehsil (bzw.
in R. Ch. DI 1, S. 6{—68) zum Teil wortlich thereinstimmen
10 D. h. in R. Ch, 39, 25—41, 10, Felgera hat also den betr. Abschnitt
des Buches tiber die Tendenzen von Pleton und Aristoteles in seine Bear-
beitung von Farabis Encyclopidie aufgenommen, DaS R. Ch. 39, 25—H1, 10
dem Buch iiber die Tendenzen entlehnt ist, zeigt sich auch darin, daB dieser
Passus in demselben narrativen Stil abgefalt ist, der das Buch iber die
Tendenzen charakterisiert: beachte das hier wie dort immer wiederkehrende
py se mm (bzw. apn 0. 8)104 Leo Strauf:
aus dieser Schrift zitierte Auferung Farabis laSt sich in R. Ch. Ill
nachweisen.
Ibn Rusch + Una autem istarum opinionum est, quod agens creat
formam, et ponit eam in materia ..... Quidam dicunt quod illud agens
invenitur duobus modis, aut abstractum a materia, aut non, Ilud autem,
quod est non abstractum apud ¢0s, est sicut ignis, qui facit ignem, et homo
generat hominem, Abstractum vero est illud, quod generat ‘animalia et
plantas, quée fiunt non a simili, Et haec est sententia Themistii, et forte
Alpharabii, secundum quod apperet ex suis verbis in duebus philosophiis:
quamvis dubitet in ponendo hoc agens in animalibus generatis a patre.et
matre*4."
Falgera:
sD wp) pAb poor oy>) we) Be we ENT SKM eewE I. ke
wee me Ge.) mems>pas po yet Soe poe om med on One x1 TT
Pes ond ONT Og OK OPSXMT OB) Mowe Kwa osm onnsbps3
mevim bbs sat Sy meen qn v2 aypnb ame sn abst ams pnd pax ys be
ams pps pnw sp pnd qaxys bm... . pre noisy awn soya ake md
ax Sines bow ie EMpmen maw BF ek een news pnw we bs 37 be pan
(90, 22-31) .eaann myn ani eypnen eum sgn inv Sen Sewn a
Durch diese Ubereinstimmung diirfte vollends bewiesen
sein, daB R. Ch. Ill eine Ubersetzung von Farabis Schrift iiber
die Tendenzen von Platon und von Aristoteles ist.
Diese Schrift lé&t sich also, wenn man: sich’ erst eines
Kanons fiir die Benutzung der nur in Falgeras Ubersetzung er-
haltenen Teile derselben versichert hat, einigermafen rekon-
struieren’?," Diesen Kanon kann man durch die Beobachtung
von Falgeras Tendenz und Technik in seiner Bearbeitung von
k, tahsil al-sa‘€da und von ths al-‘ulGm gewinnen. Falgera
itbersetzt im allgemeinen sehr wértlich. Allerdings laSt er oft
erhebliche Partien des Originals aus; bisweilen, indem er die
Abweichung vor Original zu erkennen gibt. Die Zusitze sind
im allgemeinen leicht als solche zu erkennen, ohne daf die Ver-
gleichung mit dem Original notwendig (oder auch nur méglich)
ware'*, Vor allem, wenn man die Tatsache beriicksichtigt, daB
* ad Metaph. XII (comm. 18, fol. 143, col. 2, 1. 27-39). — Die Stelle
ist Ubrigens auch von Wichtigkeit fir die Abgrenzung der Lehre Faribis
gegen die Ibn Sinas.
* Dafi R. Ch. Ii 1 fiir die Herstellung des Textes des Tahsil von
Nutzen sein dirfte, sei beildufig bemerkt.
#72, 225: may weeny; 75, 22—26: aavsd nen; 77, 3—11: mb awn wi
vinene, Das letzte Beispiel ist von besonderer Bedeutung, weil durch dieseEine vermifite Schrift Parabis 105
die meisten Zusiitze Falqeras der ihn charakteristisch von Farabt
unterscheidenden Tendenz entstammen, die Ubereinstimmung
der Lehren der Philosophie mit denen des Gesetzes zu
erweisen. Diese Tendenz ist oben an Beispiclen aus seiner
Bearbeitung’ von Ihsé al-‘ulim aufgewiesen worden. Sie
zeigt sich auch in’ seiner Bearbeitung des Tahsil, Dem
widerspricht nur scheinbar die Tatsache, da sich im Tabsil
(43, 317) eine Erklarung von ,lmam' findet, die Falqera
unitbersetzt gelassen’ hat; denn mit diebdr Erklaritig verfolgt
Farabi di¢,,dutchaus: nicht ; glaubige/, ‘sondern * philesophische
Absicht, von den islamischen Gegebenheiten zur Platonischen
Lehre vom. Philosophen-Kénig weiter- und fortzufithren: ,,Die
Bedeutung von Philosoph und Erster Fithrer und Kénig und
Gesetzgeber und Imam ist eine und dieselbe.”
., Da also Farabis Buch itber die Tendenzen des Platon und
des Aristoteles zu rekonstruieren ist, und da seine Encyclopadie
let, Wissenschaften, sein ,,Musterstaat” und sein Buch von den
politischen Leitungen ediert sind, so sind seine zentralen Schrif-
ten erhalten und zugiinglich. Die Interpretation seiner Lehre
ist also méglich. Da& sie aber notwendig ist, dafiir ist ein zu-
langlicher Beweis die AuBerung Maimunis iiber den ,zwei-
ten Lehrer“. Maimuni schreibt an den Ubersetzer seines Moreh
nebuchim: ,,Beschéftige dich mit keinen anderen logischen
Bitchern als mit denen, die der Weise Abt Nasr al-Farabi ver-
faBt hat. Denn alles, was er. verfaBt hat, itberhaupt, und im
besonderen sein Buch ,Die Prinzipien der Dinge’!® — alles ist
teines Mehl.” Und er fiigt alsbald hinzu, daS die Biicher Ibn
Sinas, bei allen ihren Vorziigen, nicht mit denen Farabis zu ver-
gleichen seien. Es wird Zeit, daB aus dieser mafgeblichen Er-
-klarung: itber die wahrhaften GrdBenverhiltnisse die Folgerun-
gen fiir das Verstiindnis der islamischen und jiidischen Philo-
Bemerkung Palgeras sichergestellt wird, da das vorangehende Referat iiber
Platons Politeia seiner Vorlage entstammt.
* Vgl. insbesondere die Zusitze 69, 13-15 und 71, 11—13.
* Der authentische Titel dieses Buches ist: Die politischen Leitungen”.
Es besteht aus zwei Teilen, deren erster die Hierarchie des Kosmos, deren
2weiter die Hierarchie der Stadt behandelt, In derselben Weise aufgebaut
ist das Buch vor Mustersteat, das in den Handschriften des British Museum
und der Bodleion Library schlechthin als ,,politisches Buch” bezeichnet wird.106 Felix Lazarus
Sophie des Mittelalters gezogen werden: Am Anfang dieser
Epoche der Philosophie-Geschichte steht nicht irgend ein ,,Vor-
léufer“, sondern der itberragende Geist, der den Grund fiir die
spitere Entwicklung gelegt und deren Grenzen abgesteckt hat,
indem. er die Wiederbelebung der Platonisch-Aristotelischen
Philosophie als der Philosophie schlechthin’ sich zur Aulgabe
machte.
Judenbefehlshaber, Obervorginger
und Landrabbiner in. Miinsterland.
Nach meist unbenutzten Quellen von Felix Lazarus.
Die Zeit nach dem 30jahrigen Kriege ist tberall in Deutsch-
land eine Zeit des Wiederaufbaus, in der die einzelnen Terri-
torien infolge der inneren Auflésung des Reiches sich selbst zu
helfen suchen. Das gilt auch fiir das Miinsterland?, Nach
einer kurzen Frithsiedelungsperiode im. 14. Jhdt2 finden wir
im Bistum Miinster erst wieder um 1520 Juden®. Schon Bischof
Ferdinand .von Baiern (1612—1651) hatte die Absicht, fir die
J. seines Lindchens eine feste Organisation zu schaffen. Dieser
Plan kam indes erst unter seinem Nachfolger Christof Bemhard
(1651—1683) zustande...Der von Ferdinand 1627 nach Waren-
dorf vergleitete Jude Nini (abgekiirzt’ aus Antoninus) Levit,
* Literatur. Bahlmann: Z. Gesch. d. J. im Miinsterlande, in; Ztsehr. f.
Kulturgesch., ed. Steinhausen I, 1895, Rixen: Gesch. u. Organisation d. J.
im chem. Stift M., M. 1906, MGW 1906, 891, Huyskens: Z. Gesch. d. J. in
M. in: Ztschr. f.-vaterl, Gesch. usw., Bd. 64, erste Abt:, M. 1906, S. 260f.,
Mitt. d. Ges. Archiv d. deutschen J, IV 59.
? Die béiden Siedlungen in M. u. Coesfeld wurden um 1380 vernichtet.
Vel. MGWS a. 0.0:
* 1522 erscheint d. J. Moses-in Borken, 1550 Simon in Beckum, 1554
Simon und Joist in Diilmen. 1560 sind es 9 Familien. M. selbst bleibt juden-
frei, 1540 ist der Arzt Benedikt, 1559 der Wundarzt Jakob aus Corbach, 1601
der Arzt Hertz in M. Ferner werden die Arzte Michael 1562 in Bocholt,
1619 Moyses in Diilmen, ein ungen. Arzt 1574 in Ahlen genannt. Val.
Minster Geh. St. Arch.'M. L.A: 39, Nr. 1, Hofkammer XXII 27, St. Arch.
Coesfeld, Beitr. fd. Gesch. Niedersachsens, 47. Heft, S. 60.
+ Mit Nini zugleich wird Levi, sein Vater, vergleitet, wohl identisch
mit dem 1631 aus Warendorf auf der Leipziger Messe ersch. Levin Israel
(Freudenthal 213). 1684 ist Nini noch in Warendorf (vgl. Warendorfer Bl.
usw, 1914, Nr. 1).