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Markus Wolf

Spionagechef im
geheimen Krieg

Erinnerungen

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Jahrzehntelang nannte man ihn den »Mann ohne Gesicht«. Jetzt erzählt
Markus Wolf, der legendäre Leiter der DDR-Auslandsaufklärung, erstmals
seine persönliche Geschichte und die seines Dienstes: ein Buch, das zu den
Klassikern der Spionageliteratur zählt.
ISBN 3-471-79158-2
Original: The Man Without a Face
1997 by List Verlag GmbH, München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!


Spionagechef im ge heimen Krieg ist eine erweiterte und
bearbeitete Fassung der englischsprachigen Originalausgabe.

Für Andrea
Inhalt

Einleitung ............................................................................. 4
Prolog................................................................................... 7
1 Vom Neckar an die Moskwa ........................................... 25
2 Der Einstieg..................................................................... 45
3 Learning by doing ........................................................... 64
4 Schicksalsjahr 1956 ......................................................... 99
5 Die Betonlösung............................................................ 123
6 Spionage aus Liebe........................................................ 144
7 Der deutschdeutsche Dschungel.................................... 156
8 Herbert Wehner............................................................. 190
9 Der heiße Sommer von 1968......................................... 215
10 Wandel durch Annäherung.......................................... 229
11 Des Kanzlers Schatten................................................. 258
12 Das Gift des Verrats .................................................... 290
13 Ein neues 1914? .......................................................... 316
14 Aktive Massnahmen.................................................... 341
15 Die Entdeckung der dritten Welt................................. 356
16. Der ferne Kontinent.................................................... 382
17 Der Ausstieg................................................................ 418
18. Der menschliche Faktor ............................................. 451
19 Glanz und Elend der Spionage .................................... 469
Epilog............................................................................... 480
Danksagung...................................................................... 486
Transkription der Tagebucheintragungen ........................ 487
Glossar.............................................................................. 493
Einleitung

Dieses Buch ist ein Wagnis. Als erfolgreicher


Geheimdienstchef zur Symbolfigur abgestempelt, muß ich mit
hohen Erwartungen der Leser rechnen.
Die einen werden eine Enzyklopädie dieses Zweitältesten
Gewerbes erwarten, die anderen etwas in der Art eines James-
Bond-Films oder Spionagethrillers. Nur haben die Helden
solcher Filme und Bücher mit den realen Akteuren der
Nachrichtendienste nicht mehr Ähnlichkeit als die Märchentiere
Walt Disneys mit der Tierwelt der Wälder, Steppen und
Savannen. Die Nerven des Chefs eines Dienstes werden in der
Wirklichkeit wesentlich mehr strapaziert als die der Filmhelden,
und von ihm angeregte Aktionen laufen im Idealfall lautlos und
weitgehend unbemerkt ab.
Für welchen Leser wähle ich aus der Fülle der Erinnerungen
und Gedanken, aus der Vielfalt des für mich alltäglich
Gewesenen das Erzählenswerte? Manches, was vor Jahren die
größte Aufregung verursachte, erscheint nach der Prüfung durch
die Zeit fast banal. Umgekehrt erhalten Informationen und
Vorgänge, die zum Alltagsgeschäft gehörten, und mit ihnen die
Menschen, die viel aufs Spiel setzten, oft erst im Rückblick ihre
wahre Bedeutung.
Die Personen der Begebenheiten meines Buches leben zum
großen Teil noch. Ihnen galt und gilt mein besonderes Interesse.
Nicht das sich täglich auf dem Schreibtisch häufende Papier,
sondern die Begegnung mit für ihre gefährliche Tätigkeit ganz
unterschiedlich motivierten Menschen, das Kennenlernen so
verschiedener Charaktere machte für mich den Reiz der Arbeit
aus. Die moralische Verantwortung gegenüber diesen Menschen
besteht fort. Vielen drohen noch Verfahren, viele sind in ihrer
bürgerlichen Existenz gefährdet. Andere haben sich nach dem
Verbüßen ihrer Haftstrafe ein neues Leben aufgebaut. Dies habe

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ich beim Erzählen zu berücksichtigen. Deshalb muß ich meine
Leser um Verständnis bitten, wenn ich viele Namen nicht nenne,
in manchen Belangen Zurückhaltung übe und einiges noch ganz
mit Schweigen übergehe. Begriffe, die manchem Leser wie
Fachchinesisch vorkommen mögen, sind im Anhang in einem
Glossar erläutert.
Die Erfolge des von mir geleiteten Dienstes markierten
Höhepunkte des kalten Krieges. Diese Zeit prägte schroffe und
unversöhnliche Feindbilder auf beiden Seiten. Wir sahen in
unserem Widersacher den »imperialistischen Aggressor« und
verkörperten selbst für viele Menschen der anderen Seite das
»Reich des Bösen«. Über Jahrzehnte hinweg verfestigte
Klischees wirken nach, auch heute noch. Gleichzeitig rücken die
Jahre des erbitterten kalten Krieges im Bewußtsein vieler allzu
schnell in die Vergangenheit. Die Geschichte dieser von mir
erlebten Zeit so zu erzählen, daß sie auch jenseits des
verschwundenen Eisernen Vorhangs verstanden wird, ist nicht
leicht.
Und zuletzt: Nach der kläglichen Auflösung eines Staates
über Erfolge eines Nachrichtendienstes zu schreiben, der nicht
mehr existiert, mag anmaßend erscheinen. Doch gerade im
Zusammenbruch des gesamten Systems, in das mein Land
eingebunden war, liegt für mich die Herausforderung. Was sind
die Ursachen, wann und wo lassen sie sich festmachen?
Etwa ein Jahrzehnt vor der Wende des Herbstes 1989 erfaßten
mich Beunruhigung und der Drang, über Symptome und
Ursachen der immer sichtbarer werdenden Krankheit des
Systems nachzudenken, das wir für den Sozialismus hielten. Ich
begann zu schreiben – damals noch im Glauben an eine
mögliche Heilung. Deshalb beantragte ich 1983 meine
Pensionierung, und seitdem lebt dieses Buch in mir.
Ich habe die Tatsachen ungeschminkt zu erzählen versucht.
Leser, Kritiker und Historiker mögen sie prüfen, sie bestätigen
oder bestreiten. Im vereinigten Deutschland wurde und wird
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versucht, mit Hilfe der Justiz und auf anderen Wegen bei der
Aufarbeitung der Geschichte Rechnungen zu begleichen, damit
am Ende nur eine Sicht übrig bleibt. Ich meine aber, daß nach
dem erklärten Ende des kalten Krieges Inventur auf beiden
Seiten der ehemaligen Fronten zu machen ist und daß eine
Geschichtsschreibung, die diesen Namen verdient, nicht nur von
den Gewinnern verfaßt werden darf.
Geschichte ist nur aus der erlebten Geschichte zu verstehen.
Zu solchem Verstehen einer Zeit voller Widersprüche möchte
ich durch mein subjektives Zeugnis beitragen.

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Prolog

Der Tag war gekommen, an den keiner meiner Angehörigen


und Freunde hatte glauben wollen. Bekannte und Unbekannte,
alte Freunde in Moskau und neue Freunde in Wien, französische
und schwedische Schriftsteller, der Rabbiner aus Jerusalem und
ein ehemaliger Leiter des Mossad aus Tel Aviv, Senatoren und
Juristen aus den USA, keiner war auf einen Prozeß gegen mich
gefaßt – keiner außer mir.
In Begleitung meiner Frau und meiner beiden Verteidiger
ging ich auf das wenige hundert Meter vom Rhein entfernte
Gebäude des Oberlandesgerichts in Düsseldorf zu, an dessen
Turm als Wappentier des Deutschen Reiches ein Adler seine
Schwingen ausbreitet. Im Blitzlichtgewitter tauchte für einen
Augenblick das Gesicht jenes Fotografen auf, der in gewisser
Weise zum Chronisten der Turbulenzen meiner
vorangegangenen Jahre geworden war. Noch zu DDR-Zeiten
hatte er mich in der Bildunterschrift einer Aufnahme als
»Hoffnungsträger« bezeichnet. Schon anders sah es bei seinem
Foto von den großen Protestdemonstrationen am 4. November
1989 auf dem Berliner Alexanderplatz aus; da war ich plötzlich
der »Stasi-General«. Wie sah man mich wohl jetzt?
Der Raum, in dem die Verhandlung stattfinden sollte, war
derselbe Saal A 01, in dem derselbe Strafsenat gegen Christel
und Günter Guillaume verhandelt hatte – Guillaume, dessen
Plazierung an der Seite Willy Brandts noch heute viele für einen
meiner größten Erfolge halten, obwohl das nicht zutrifft. Für den
spektakulären Prozeß gegen den Spion am Busen des Kanzlers
war der Saal damals eigens abhörsicher im Keller eingerichtet
worden. Die Wahl dieses Schauplatzes für den Prozeß gegen
mich war gewiß kein Zufall.
Während der folgenden sieben langen Monate, in denen ich
das irreale Geschehen dieses Prozesses vor meinen Augen wie

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ein Schauspiel vorbeiziehen ließ, tauchten in meiner Erinnerung
so manche Bilder aus den vergangenen Jahren auf, die mir
oftmals nicht weniger unwirklich erschienen als die Vorstellung
in Saal A 01.
Als sich die beiden deutschen Staaten nach vier Jahrzehnten
der Trennung und der Feindseligkeit auf die Vereinigung
vorbereiteten, fand ich mich unversehens in der Rolle einer
Geisel des historischen Geschehens wieder.
Mein Land und die Welt des Sozialismus brachen vor meinen
Augen zusammen. Dieses Land hatte sich vierzig Jahre lang als
Deutsche Demokratische Republik bezeichnet und auch so
verstanden, und doch war es während dieser gesamten Zeit in
einer Art Zwangsehe an die wirtschaftlich mächtige
Bundesrepublik gefesselt gewesen.
Meine Situation war nicht gerade beneidenswert. Alle
Hoffnung auf eine reformierte DDR mußte ich ein für allemal
fahrenlassen. Mein Ruf als Hoffnungsträger, als Anhänger
Gorbatschows, war keinen Pfifferling mehr wert. Um der
zunehmenden Hysterie zu entfliehen und an einem Buch über
die Ereignisse von 1989 zu arbeiten, hatte ich schon im Frühjahr
1990 in Moskau, der Stadt meiner Kindheit und Jugend, Rat und
Ruhe gesucht.
In Moskau, wo me ine Familie einst Zuflucht vor den
Verfolgungen des Dritten Reichs gefunden hatte, war stets ein
Teil meines Herzens geblieben. Die Datscha meiner
Halbschwester Lena, vor allem aber ihre schöne Wohnung in
dem berühmten »grauen Haus am Ufer«, in dem viele der von
uns verehrten und oftmals unter Stalin verfolgten Größen der
30er Jahre gewohnt hatten, riefen mir die widersprüchliche und
turbulente Zeit meiner Jugend machtvoll ins Gedächtis zurück.
Der Blick über die zugefrorene Moskwa auf den Kreml erzeugte
ein Gefühl von Geborgenheit, die kalte Winterluft regte das
Denken an.

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Natürlich wollte ich in Moskau auch herausfinden, ob meine
Mitarbeiter aus der Auslandsaufklärung, die ehemaligen
Kundschafter im Westen und – nicht zuletzt – ich selbst mit
Unterstützung und Hilfe der ehemaligen Kollegen vom KGB
und des Kreml rechnen konnten oder nicht. In Berlin hatten mir
immer wieder Mitarbeiter aller Bereiche des entsprechenden
Ministeriums mündlich und brieflich ihr Schicksal geschildert.
Die von Tag zu Tag neuen Ent hüllungen über die
Machenschaften der Staatssicherheit schürten den Haß der
Bevölkerung auf alle ehemaligen Staatsbeamten zwangsläufig,
ganz egal, welche Funktion die Betreffenden innegehabt hatten,
und meine früheren Mitarbeiter mußten allmählich um das bloße
Überleben bangen.
Nach meiner Ankunft empfing mich Leonid W. Schebarschin,
der nach meinem Abschied Leiter der Auslandsaufklärung im
KGB geworden war, überaus herzlich in einem Gästehaus nahe
dem eindrucksvollen neuen Dienstgebäude der Ersten
Hauptverwaltung – dem Zentrum des sowjetischen
Nachrichtendienstes – in der Nähe der Ringautobahn bei
Jasenowo im Südwesten Moskaus. Im Verlauf unseres
mehrstündigen Gesprächs, das an einer reichgedeckten Tafel
beendet wurde, konnte ich ihm nicht viel Neues mitteilen. Er
war durch die Berliner Vertretung des KGB gut informiert.
Seine Freundlichkeit konnte mich nicht darüber
hinwegtäuschen, daß für meine Belange, für die Straffreiheit der
hauptamtlichen Mitarbeiter im Osten und der geheimen im
Westen des wiedervereinigten Landes nur auf Ebene des
Präsidenten etwas zu erreichen war. Mehr versprach ich mir von
meinem direkten Kontakt zum Kreml über Valentin Falin, den
profunden Kenner deutschsowjetischer Beziehungen, nachdem
dieser zum engsten außenpolitischen Berater Gorbatschows
aufgerückt war. Seit Anfang der 80er Jahre hatte ich vor ihm
kein Hehl über meine Sorgen angesichts der Entwicklung in der
DDR gemacht, und Falin hatte sich immer als aufmerksamer

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und wacher Gesprächspartner gezeigt.
Nicht zum erstenmal in meinem Leben sah ich mich in einer
Lage, in der ich von Mütterchen Rußland Hilfe erwartete auch
wenn ich allen Gerüchten zum Trotz seit meinem Ausscheiden
aus dem Dienst im Jahr 1986 weder mit Moskau noch mit der
Berliner KGB-Vertretung engeren Kontakt unterhalten hatte.
Bei den Wahlen im März 1990 gab ich meine Stimme in der
Moskauer DDR-Botschaft ab. Allen Voraussagen entgegen löste
nicht der bislang unbekannte Sozialdemokrat Ibrahim Böhme,
sondern der ebenso neu aufgestiegene CDU-Politiker Lothar de
Maiziere Hans Modrow als Ministerpräsidenten ab. Erich
Mielke, mein langjähriger Vorgesetzter, war in Haft, und der
Druck auf meine ehemaligen Mitarbeiter nahm täglich zu;
dennoch beschloß ich, nach Berlin zurückzukehren.
Noch gab es den Schimmer einer Hoffnung auf Vernunft vor
allem in der Haltung unseres Hauptverbündeten. Nicht einmal in
meinen schwärzesten Ahnungen hätte ich mir träumen lassen,
was sich nach der Unterzeichnung des Zweiplusvier-Vertrages
zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus ergeben sollte.
Trotz meiner wachsenden Zweifel an Gorbatschows politischen
Fähigkeiten wollte ich es noch lange nach Bekanntwerden der
Beschlüsse von Arys im Juli 1990, die das Territorium der DDR
bedingungslos in die Nato eingliederten, nicht für möglich
halten, daß der Erste Mann der Sowjetunion deren engste
Freunde und Verbündete sang- und klanglos ihrem Schicksal
überlassen könnte – zur nicht weniger großen Überraschung
seines neuen Freundes Helmut Kohl und dessen Umgebung. Im
Sommer 1990 war noch nicht absehbar, welche Konsequenzen
daraus erwachsen würden. Doch danach konnten wir mit keiner
Gnade der Gewinner mehr rechnen, sondern höchstens mit ihrer
politischen Vernunft.
Mit dem Ausverkauf der DDR begann das Bieten für die
Mitarbeiter meines Dienstes – auch für mich, genauer gesagt:
für die von mir möglicherweise zu erlangenden Geheimnisse.
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Dafür wurde ein hoher Preis geboten, der Preis der Freiheit.
Das erste Angebot war eine Überraschung. Ich wußte zwar,
daß meine ehemaligen Gegner aus den westdeutschen Diensten
sich intensiv und recht ungeniert um ehemalige Mitarbeiter
meines Apparates bemühten. Meinem Schwiegersohn, der
erfolgreich in das Bundesamt für Verfassungsschutz
eingedrungen war, hatte man Straffreiheit und eine halbe
Million DM Belohnung angeboten, sofern er seine Quellen
verraten wollte. Er hatte abgelehnt und es vorgezogen, sich einer
Lebens- und Sinnkrise zu stellen, die ihn bis an den Rand seiner
Kräfte führte.
Damals, Anfang Mai 1990, rief mich Peter-Michael Diestel,
der Innenminister der Regierung de Maiziere, an und fragte, ob
ich zu einem Gespräch mit ihm bereit sei. Wir verabredeten
einen Besuch im Gästehaus des Innenministeriums in Zeuthen,
dem südöstlichen Vorort Berlins. Es bestand kein Zweifel, daß
dieses Gespräch mit Wissen des Bundesinnenministers
Wolfgang Schäuble zustande kam. Meine Nachfolger im Dienst,
Werner Großmann und Bernd Fischer, hatten mich darüber
informiert, daß Schäubles Emissär, ein Herr Werthebach, bereits
als Statthalter neben Diestel residierte.
Diestel begegnete mir ohne Arroganz und ohne das Gehabe,
das Gewinner der politischen Wende nur zu gern zeigten.
Freundlich schuf er eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts
und Vertrauens. Keine Anspielung auf meine mißliche Lage; er
wollte mit mir lediglich beraten, wie die Situation am besten
entspannt und geklärt werden könne.
Mein Gesprächspartner erläuterte, daß Schäubles Leute mit
meinen Nachfolgern nicht so recht vorankämen. Wollten wir
eine realistische Aussicht auf Straffreiheit, müßten zumindest
ein Dutzend unserer wichtigsten westdeutschen Quellen
preisgegeben werden. Bonn stehe unter Druck, und Schäuble
werde ungeduldig. Früher oder später würden seine Leute
ohnedies zum Ziel gelangen. Warum also nicht rechtzeitig die
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Trümpfe nutzen?
Auf meine zweifelnden Bemerkungen sagte Diestel
überraschend: »Herr Wolf, steigen Sie einfach in meinen
Wagen. Gerhard Boeden ist gerade in West-Berlin. Zehn bis
zwölf Namen und ein paar Angaben zu den die Sicherheit der
Bundesrepublik betreffenden Aktionen Ihres Dienstes, und Sie
brauchen sich wegen einer etwaigen Strafverfolgung keine
Gedanken mehr zu machen.« Boeden, der damalige Präsident
des Bundesamtes für Verfassungsschutz, habe freies Geleit
zugesagt, wir würden ungehindert zurückkommen.
Die wiederholten öffentlichen Angriffe aus Boedens Mund
noch im Ohr, hielt ich die mehr als eindeutige Offerte für allzu
abenteuerlich, als daß ich sie hätte glauben können, obwohl sie
zu einem Zeitpunkt erfolgte, da ich zu jedem Gespräch bereit
war, das mir die geringste Chance bot, etwas für meine Leute zu
tun; aber in die Höhle des Löwen wollte ich mich ohne Not
nicht begeben… und deshalb wechselte ich das Thema und bot
Diestel an, ihn in den Themen Schwerkriminalität und
Terrorismusbekämpfung zu beraten.
»Herr Wolf«, sagte er, des Tauziehens ebenfalls überdrüssig,
»Sie wissen so gut wie ich, daß wir alle der
Kriegsgefangenschaft entgegensehen. Die einzige Möglichkeit,
die uns noch verbleibt, ist die, daß wir über unsere Unterkunft
und die Verpflegungssätze mitbestimmen.«
Sicher hatte er recht. Der Unterschied zwischen uns war nur,
daß ihm möglicherweise eine Karriere im wiedervereinigten
Deutschland bevorstand, mir hingegen eine lange Zeit hinter
Gefängnismauern. Selbstverständlich wollte ich die Freiheit,
aber ich war mir auch meiner moralischen Verpflichtung
bewußt, niemanden, der von meinem Dienst für die
nachrichtendienstliche Tätigkeit gewonnen und motiviert
worden war, zu verraten.
Zu guter Letzt vereinbarten wir, daß ich mit meinen

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Nachfolgern Großmann und Fischer Kontakt aufnehmen wollte,
um die festgefahrenen Gespräche mit Herrn Werthebach vom
toten Punkt wegzubringen. Man gab mir noch zu bedenken, daß
es bereits andere Anbieter gebe und daß die Uhr nicht
stehenbleibe.
Unterdessen ergab sich ein mehr als überraschendes Angebot
aus einer Richtung, auf die ich von allein nie und nimmer
verfallen wäre. Ende Mai 1990 standen eines Tages zwei
amerikanische Gentlemen am Gartentor meines Sommerhauses
in Prenden. Mit entwaffnender Offenheit gaben sie sich als
Vertreter der CIA zu erkennen. Einen Blumenstrauß und eine
Schachtel Pralinen für meine Frau in der Hand, baten sie höflich
um Einlaß.
Der Ältere, untadelig gekleidet, stellte sich als Mr. Hathaway
und persönlicher Beauftragter William Websters, des damaligen
Direktors der CIA, vor. Er sprach formvollendet gutes Deutsch.
»Ein typischer Bürokrat«, flüsterte mir meine Frau Andrea zu,
als wir in der Küche nach einer Vase für die Blumen und nach
einem Aschenbecher für mich suchten. Hathaway erwies sich als
fanatischer Nichtraucher, der nichts unversucht ließ, mich vom
Anzünden einer Zigarette abzuhalten. Auf meine scherzhafte
Frage, ob die CIA eine Antiraucherkampagne gestartet habe,
reagierte er mit einem verhaltenen Lächeln.
Sein jüngerer Begleiter wirkte auf andere Weise steif. Er
sagte, er heiße Charles und sei Leiter der Berliner Dépendance
der CIA; dabei wirkte er alles in allem eher wie ein Leibwächter
– er war wortkarg und schien sich nicht sonderlich für das
Gespräch zu interessieren; Andrea fühlte sich an marines
erinnert, die sie in Filmen gesehen hatte.
Meine Besucher erklärten, sie hätten jeglichen telefonischen
Kontakt und somit jede Ankündigung ihres Kommens bewußt
vermieden, um nicht vom KGB oder von ostdeutschen Diensten
abgehört zu werden. Es gefiel mir, daß sie auf den Gedanken

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verfallen waren, mich im Wald aufzusuchen, fernab neugieriger
Blicke. Was für ein seltsames Gefühl, vier Jahre nach meinem
Abschied aus dem Geheimdienst leitenden Vertretern der
mächtigsten Geheimdienstbehörde der westlichen Welt in den
eigenen vier Wänden gegenüberzusitze n!
Was sie von mir wollten, war nicht schwer zu erraten.
Hathaway flocht in den umständlichen Smalltalk so manches
Kompliment über meine ehrenhafte Haltung und mein Ansehen
als anerkannter Chef eines erfolgreichen Dienstes ein und hielt
auch mit seinem Mitgefühl angesichts der großen
Wahrscheinlichkeit, daß mir nach der Wiedervereinigung die
Verhaftung drohte, nicht hinterm Berg. Unüberhörbar ließ er
durchblicken, daß er eine Menge über mich wußte und im
Gespräch nun überprüfte. Um eine Atmosphäre der Offenheit zu
schaffen, sprach er scheinbar freimütig über sich selbst und
seine Laufbahn.
»Sie sind ein Mann von hoher Arbeitsmoral und Intelligenz«,
sagte er. Erst kommt das Zuckerbrot, dachte ich; wo bleibt die
Peitsche? Eine Tasse Kaffee nach der anderen wurde getrunken,
und zum Mißfallen der Gäste steckte ich mir eine Zigarette nach
der anderen an. Dann verlor ich die Geduld. »Gentlemen, sicher
sind Sie nicht nur gekommen, um mir Komplimente zu machen.
Vermutlich erwarten Sie sich etwas von mir.«
Beide lachten, froh, von dem Drumherumreden befreit zu
sein. Hathaway senkte die Stimme. »Wir wissen, daß Sie
überzeugter Kommunist sind. Wenn Sie jedoch bereit wären,
uns zu beraten oder uns zu helfen, dann könnten Sie das mit mir
unter vier Augen regeln. Niemand würde davon erfahren. Sie
wissen, daß wir solche Dinge arrangieren können.«
Das war es, signalisierte mein Gehirn. Der Emissär unseres
Hauptgegners im kalten Krieg bot mir Zuflucht vor der Rache
seines deutschen Nato-Verbündeten an.
»Kalifornien«, fuhr er in seinem fast akzentfreien Deutsch

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fort, »ist sehr schön. Das ganze Jahr über herrliches Wetter.«
»Sibirien ist auch nicht übel«, scherzte ich. Das Unwirkliche
der Situation mit all seiner peinlichen Nähe zum plattesten
Spionageromanklischee wurde mir bewußt. Wir lachten, was
mir etwas Zeit zum Nachdenken verschaffte. »Wissen Sie«,
sagte ich, »wie soll ich mir ein Leben in den USA vorstellen?
Ich kenne das Land ja gar nicht.«
Hathaway erwähnte ein Haus und finanzielle Unterstützung in
jeder denkbaren Form. Im Namen Websters sei er zu
verbindlichen Zusagen befugt. Ich reagierte nicht. Allerdings
wußte ich, daß dem für die USA zuständigen Abteilungsleiter
meines Dienstes, Oberst Jürgen Rogalla, eine Million Dollar für
sein Wissen angeboten worden war. Höflich setzten wir unser
Gespräch über den Kollaps des Kommunismus und das hohe
Ansehen meines Dienstes fort. Auf meine Frage nach der
Gegenleistung, die man von mir erwartete, sagte Hathaway:
»Natürlich müßten Sie etwas für uns tun.«
Um das Gespräch keine sinnlose Richtung nehmen zu lassen,
erklärte ich, daß von mir keine Preisgabe der Namen
irgendwelcher Agenten zu erwarten sei. »Es würde sich für Sie
aber lohnen«, sagte Hathaway.
Diese Mischung aus Schmeichelei und Arroganz bewirkte
eine von den Gesprächspartnern unerwartete Reaktion.
»Meine Herren«, erwiderte ich, »in diesem Metier habe ich
eine gewisse Erfahrung. Ich weiß, was Sie bezwecken. Sie
erwarten eine Menge von Ihrem Gegenüber, doch damit kann
ich nicht dienen. In solchen Fällen ist Geduld das beste. Man
kann über vieles reden, ohne gleich einen unterschriebenen
Vertrag in der Tasche zu haben.«
Das war noch die höflichste Form, meine nicht sehr
freundlichen Gedanken loszuwerden. Natürlich hätte ich
Hathaway auch eine deutlichere Abfuhr erteilen können.
Offenbar glaubte er, es mit einem grünen Jungen zu tun zu

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haben, »Sie müssen uns helfen«, wiederholte er stur.
»So etwas könnten Sie verlangen, wenn ich den ersten Schritt
getan hätte«, sagte ich geduldig, obwohl ich innerlich kochte.
»Dann könnten Sie mich in der Tat fragen, was ich einzubringen
gedächte. So verhält es sich aber nicht. Sie sind auf mich
zugetreten, nicht umgekehrt.«
»Gewiß, gewiß«, lenkte Hathaway ein. »Selbstverständlich
bin ich nach Berlin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.«
»Es gibt für mich eine Grenze«, fuhr ich fort, »und zwar da,
wo es um den Verrat an Menschen geht, die mit mir gearbeitet
haben. Namen meiner Agenten sind tabu. Wenn Sie das
Gespräch mit mir fortsetzen wollen, dann laden Sie mich doch
in die USA ein. Dort können wir unser Gespräch vertiefen.
Bevor ich irgendeine Entscheidung treffe, muß ich das Land, in
dem ich Ihrem Vorschlag nach meine Zelte aufschlagen soll,
doch wenigstens kennenlernen.«
»Hier steht es um Ihre Sicherheit aber gar nicht gut«, warf
Hathaway ein, als hätte ich nicht selbst gewußt, was mir drohte.
»Vergessen Sie nicht, es gibt auch noch Rußland«, erwiderte
ich.
»Gehen Sie nicht nach Moskau«, sagte Hathaway, jetzt an
Andrea gewandt. »Das Leben ist dort sehr hart. Denken Sie an
Ihre Familie. Kommen Sie in ein Land, wo Sie Ihr Leben
genießen können, wo Sie ungestört arbeiten und schreiben
können. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es diese
Bedingungen im Augenblick für Sie nur in Amerika.«
Zweifellos war die Vorstellung, meinen Ruhestand im
sonnigen Kalifornien zu verbringen, verlockender als der
Gedanke an eine deutsche Gefängniszelle. Diese Freiheit aber
als »Gast« der CIA erlangen? Natürlich würde man mir
Daumenschrauben anlegen. Den Weg in die USA wollte ich mir
gern offenhalten, doch nicht um den Preis, mein Gesicht zu
verlieren.

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Also beharrte ich auf dem Vorschlag, daß man mich offiziell
einlud und eine Rundreise organisierte. Das aber gefiel meinen
Besuchern überhaupt nicht. Von Quoten war die Rede, welche
die Möglichkeiten der CIA beschränkten, und von der
erforderlichen Rücksichtnahme auf bundesdeutsche
Empfindlichkeiten. Auch meine Idee, einen Verlag oder eine
Filmgesellschaft als Gastgeber für mich vorzuschieben –
schließlich war ich als Autor kein Unbekannter -, fand keinen
Anklang. Im stillen mußte ich denken, daß so etwas im
umgekehrten Fall für meinen Dienst kein Problem gewesen
wäre.
Eine ziemlich lange Pause trat ein. Hathaway schüttelte den
Kopf. Hartnäckig wiederholte er, ich könne zu einer
Abmachung mit der CIA gelangen, ohne jemanden verraten zu
müssen. Längst hatte ich begriffen, daß er und sein Dienst nicht
etwa an meinem für die Bundesrepublik relevanten Wissen
interessiert waren, sondern an etwas, was mit meinen
Beziehungen zum KGB, dem sowjetischen Nachrichtendienst,
zu tun hatte. Um sicherzugehen, fragte ich: »Welche Branche
Ihres Dienstes Sie vertreten, weiß ich nicht, sondern vermute es
nur. Sie wollen etwas ganz Bestimmtes von mir wissen, habe ich
recht?«
»Herr Wolf«, sagte Hathaway leise und bedächtig, »wir sind
hier, weil wir annehmen, daß Sie uns in einer bestimmten Sache
helfen können. Wir suchen einen Maulwurf in unserem Dienst.
Er hat großen Schaden angerichtet. Seit 1985 sind schlimme
Dinge passiert, nicht nur in Bonn, auch anderswo. Wir haben
zwischen dreißig und fünfunddreißig Mitarbeiter verloren,
darunter etliche in den Apparaten selbst.«
Er war über die Strukturen des sowjetischen Apparats,
speziell der Äußeren Abwehr, so gut informiert, daß ich in ihm
einen hochrangigen Mann der amerikanischen Spionageabwehr
vermutete. Vorsichtig sprach er bekannte sowjetische Verräter
wie Penkowskij, Gordjewskij und Popow an. Er schätzte meinen

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russischen Kollegen, General Kirejew, den Leiter der Äußeren
Abwehr, mit dem ich so manche gemeinsame Operation gegen
die CIA geplant hatte; von einigen dieser Unternehmungen
schien Hathaway zu wissen; dann versuchte er das Gespräch auf
Felix Bloch zu lenken, den US-Diplomaten, den die CIA mit
Argwohn betrachtete. Da man in der CIA-Zentrale in Langley
wahrscheinlich jedes Indiz meiner Zusammenarbeit mit dem
KGB akribisch registriert hatte, wiegte man sich dort wohl in
der Hoffnung, bei mir am ehesten auf nähere Informationen über
den vermuteten Maulwurf zu stoßen.
Derartige Informationen sind jedoch das bestgehütete
Geheimnis eines jeden Dienstes. Niemals würde man die
Identität einer Spitzenquelle preisgeben, auch keinem noch so
eng verbündeten anderen Dienst. Das Äußerste wäre eine
Andeutung, daß es in einem bestimmten Bereich eine »gute
Verbindung« gibt.
Hathaways Hartnäckigkeit war der beste Beweis, daß die CIA
sich ernste Sorgen machte. Es muß ihn einiges an Überwindung
gekostet haben, mir diesen Einblick zu gewähren. Nachdem das
Gespräch sich noch eine Weile ergebnislos im Kreis gedreht
hatte, schlug Hathaway vor, am nächsten Tag noch einmal zu
kommen.
Es wiederholte sich fast genau dieselbe Prozedur. Nun trat
auch »Charles« in Aktion; beide versuchten, Andrea das Leben
in den USA schmackhaft zu machen. »Charles« warf noch einen
Haken aus, indem er »für den Notfall« eine gebührenfreie
Nummer in Langley hinterließ.
Von mir hatten sie keinerlei Zusage erhalten. Sie gingen auf
Warteposition in der Gewißheit, daß meine Lage sich nur
verschlechtern konnte. Und dem war auch so.
Seit Juli meldeten die Medien in freudiger Erwartung, daß um
Mitternacht zum 3. Oktober Beamte an meiner Wohnungstür
klingeln würden, um den vom Generalbundesanwalt erwirkten

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Haftbefehl zu vollstrecken. Ein mir bekannter Reporter der
Bildzeitung erschien zum Kaffee und machte mir mit
entwaffnender Miene das Angebot, neben einem guten Honorar
die Kosten für den Unterhalt meiner Familie während der Dauer
meiner Haft zu übernehmen, sofern ich mich bereit erklären
sollte, mit ihm und einem Fotografen nach West-Berlin zu
fahren, um mich dort freiwillig zu stellen – exklusiv für sein
Blatt natürlich.
Mittlerweile war auch der Draht zur westdeutschen Seite über
Herrn Diestel abgebrochen. Und dann meldeten die Herren aus
Amerika noch einmal ihren Besuch an. Abermals in meinem
Sommerhaus wiederholte Mr. Hathaway unter diskretem
Hinweis auf meine »schwierige Situation« sein Angebot. Eine
offizielle Einladung komme nach wie vor nicht in Frage, das
Asyl in den USA stehe mir jedoch offen, sofern ich bereit sei,
mich an der »Maulwurfsjagd« zu beteiligen. Nun wurde auch
»Charles« etwas munterer. Wollten wir in die USA, sollte
Andrea von West-Berlin aus die Nummer 011-212-227-964
anrufen, sich als »Gertrude« melden und »Gustav« verlangen.
Meine Ausschleusung wäre kein Problem.
So dramatisch diese Vorschläge klangen, hatte das Ganze
dennoch etwas Belustigendes: Die Vorstellung, vom selben
Flughafen Tempelhof, auf dem ich bei meiner Rückkehr aus
Moskau 1945 nach dem Sieg über Hitler gelandet war, nach
Amerika zu starten, war nicht ohne einen gewissen Reiz.
Wir entschieden uns für einen anderen Weg. Obwohl Mr.
Hathaway am 26. September nochmals eigens nach Berlin
eingeflogen kam und eine kurze Besprechung in meiner Berliner
Wohnung stattfand, bei der »Charles« einen in fehlerhaftem
Deutsch verfaßten Merkzettel mit Hinweisen zur Verbindung im
»Notfall« überreichte, blieb auch dieses Gespräch ohne
Ergebnis, Wir hatten die Koffer zum Verlassen Berlins in andere
Richtung bereits gepackt. Doch das behielten wir für uns.
Hathaway hatte von mir kein Ja und kein Nein gehört.

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Erst später erfuhr ich, welcher Maulwurf der CIA derartige
Kopfschmerzen bereitet hatte. Es war Aldrich Ames, der
vermutlich folgenschwerste Verräter in der Geschichte dieses
Dienstes. Ames gab der sowjetischen Gegenspionage tiefe
Einblicke und verriet die Namen zahlreicher amerikanischer
Agenten, so daß das Spionagenetz der CIA in der Sowjetunion
weitgehend zerstört werden konnte. Er diente der Gegenseite
neun Jahre lang, bis in die Zeit der Präsidentschaft Boris Jelzins
hinein. In seinem Prozeß wurde er beschuldigt, dafür 2,7
Millionen Dollar erhalten zu haben, was ihn wohl zum
bestbezahlten Agenten der Welt machen dürfte. Mein Besucher,
Gardner A. Hathaway, war nicht nur Sonderbeauftragter des
Direktors William Webster, sondern der ehemalige Leiter der
Spionageabwehr der CIA.

Zettel des CIA-Mannes »Charles«

Als Hathaway etwas über ein Jahr in dieser Stellung gewesen


war, hatten sich die Anzeichen für das Vorhandensein eines
Verräters in hoher Position zu mehren begonnen. Hathaway
gehörte zu den wenigen, die um die großen Verluste seines
Dienstes in der Sowjetunion wußten – Todesurteile und
langjährige Haftstrafen – und die das Ausmaß begriffen, in dem
der Unbekannte die US-Spionage ausblutete.

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Mir gegenüber verhielt sich Hathaway als erfahrener
Nachrichten- und Abwehrmann mit Respekt. Obwohl er seiner
Pensionierung entgegensah, konnte er nicht einfach einen
Schlußstrich unter seinen Beruf ziehen und sich den Freuden des
Ruhestands mit seiner Familie widmen: Er war gefangen von
dem tödlichen Puzzle, dem er seine letzten Jahre im Dienst
gewidmet ha tte – der Suche nach dem großen Verräter.
Es kann ihm nicht leichtgefallen sein, den ehemaligen Gegner
um Hilfe zu bitten. Seine eigene Diensteinheit – selbst innerhalb
der CIA getarnt – verfügte über hervorragende Kräfte, darunter
eine Frau für Abwehranalyse und einen Beamten, der den Weg
eines dreißig Jahre lang unentdeckten chinesischen Maulwurfs
verfolgt hatte. Hathaways Sachkenntnis stand außer Frage.
Administrativ hätte auch ich wahrscheinlich nicht anders
gehandelt. Daß ihm im Fall Ames der Erfolg versagt blieb, lag
wohl daran, daß er zu wenig kreativ veranlagt war. Mein
Eindruck, es mit einem Bürokraten zu tun zu haben, wurde mir
später von einigen seiner Kollegen, mit denen ich in nähere
Beziehung kam, bestätigt.
Wie konnte es der CIA passieren, so lange Zeit einen
Doppelagenten unentdeckt in den eigenen Reihen wirken zu
lassen? Mit einem Urteil bin ich vorsichtig. Dazu habe ich selbst
zuviel erlebt. Eine mögliche Erklärung ist sicher das nur zu
verbreitete Wunschdenken, demzufolge »nicht sein kann, was
nicht sein darf«, was in diesem Fall fatale Folgen hatte.
Man könnte jetzt meinen, ich sei ernsthaft an Verhandlungen
mit der CIA interessiert gewesen. Aber ich hatte kein Verlangen,
Deutschland zu verlassen. Dies schrieb ich noch im September
an den Bundespräsidenten von Weizsäcker, an Willy Brandt und
an Außenminister Genscher. Dennoch spielte ich eine Zeitlang
mit dem abenteuerlichen Gedanken, Hathaways Angebot zu
nutzen und die erste Zeit nach der Wiedervereinigung in den
USA zu überbrücken. Gefühle von Haß und Rache würden in
Deutschland erst einmal die Oberhand gewinnen, dessen war ich

-21-
mir gewiß. Die russische Option war kein wirklicher Ausweg;
ein Verschwinden nach Moskau würde meine
Zukunftsaussichten in Deutschland nicht gerade verbessern,
sondern im Gegenteil nur Wasser auf die Mühlen meiner
Widersacher sein.
Wäre also die CIA auf meinen Vorschlag eingegangen, mich
ohne Vorleistung in die USA aufzunehmen, wie hätte ich mich
dann wohl entschieden? Vermutlich wäre ich gereist. Doch dazu
sollte es nicht kommen.
Es gab noch eine weitere Option, von der weder Amerikaner
noch Russen, noch Deutsche etwas wußten. Und sie kam aus
Israel. Das ist möglicherweise etwas ungewöhnlich für den Chef
eines Nachrichtendienstes im Warschauer Vertrag, aber ich habe
jüdische Vorfahren. Mein Vater Friedrich Wolf war Jude. Nach
der Logik des kalten Krieges hätte man mich vielleicht für einen
Gegner des Staates Israel halten können, doch das war ich nie.
Trotz aller Bindungen zur Befreiungsbewegung der
Palästinenser habe ich das Schicksal der Juden und das des
Staates Israel stets mit Interesse verfolgt, und meine jüdische
Herkunft habe ich nie verleugnet.
Zu einem näheren Kontakt kam es erst spät. Bei den großen
Protestdemonstrationen auf dem Alexanderplatz im November
1989 lernte ich Irene Runge kennen, Hochschullehrerin und
Journalistin und Mitbegründerin des Jüdischen Kulturvereins. In
den 80er Jahren hatte sich die Politik der DDR-Führung
gegenüber Israel und den jüdischen Gemeinden gelockert. Ich
vereinbarte mit Irene Runge ein Interview für die Jerusalem
Post und einen Besuch im Kulturverein.
Im Sommer 1990 rief Irene Runge mich an und sagte, Rabbi
Zwi Weinman aus Jerusalem, ein wichtiger Mann in der
orthodoxen Hierarchie Israels, wolle mich kennenlernen. Da es
bereits Freitag nachmittag war und der Rabbi am Sonntag
abreisen mußte, erlaubte die Sabbatruhe uns nur ein kurzes
Telefonat. Wenige Wochen später kam er abermals nach Berlin,
-22-
und diesmal besuchte er mich in meiner Wohnung. Sein Bart,
der schwarze Hut mit breiter Krempe und seine Kleidung wiesen
ihn als orthodoxen Juden aus, ebenso sein Verhalten beim Essen
und Trinken. Doch im übrigen war der Rabbi, ein Mann von
etwa Mitte Fünfzig, unkompliziert und kontaktfreudig. Die
dunklen Augen blickten warmherzig und aufmerksam.
Ausführlich erkundigte er sich nach meiner Lage, nach den
rechtlichen Aspekten einer möglichen Verfolgung und nach der
Perspektive vor allem meiner Familie. Die jüdische Herkunft
interessierte ihn. Von meiner früheren Tätigkeit war nicht die
Rede, sehr wohl aber von meinem Interesse an Israel und einem
eventuellen Besuch des Landes. Kurze Zeit darauf erhielt ich
eine Einladung der Jerusalemer Zeitung Jedioth Ahranoth.
Weinman erzählte mir, er habe als Offizier in der Armee
gedient. Wir telefonierten regelmäßig, und ich malte mir bereits
die verblüfften Gesichter in Bonn, Karlsruhe und Moskau bei
der Nachricht meines Eintreffens in Israel aus. Der dortige
Dienst hätte mich aller Wahrscheinlichkeit nach über meine
Beziehungen zu den Palästinensern ausfragen wollen, doch
darüber wollte ich mir erst nach dem Betreten des Gelobten
Landes den Kopf zerbrechen. Ein Aufenthalt in Israel hätte mir
eine ganz neue Ausweichmöglichkeit geboten; weshalb also
dem geschenkten Gaul zu weit ins Maul schauen?
Zwei Wochen vor der Wiedervereinigung erreichte mich ein
Anruf Weinmans, der meine Träume abrupt beendete. Seine
Stimme klang deprimiert und enttäuscht. In Israel, erfuhr ich, sei
wegen eines in den USA erschienenen Buchs über den Mossad
und seine Methoden der Teufel los. »Sie sind im Augenblick
einfach nicht willkommen, das muß ich zu meinem größten
Bedauern sagen. Der Zeitpunkt ist leider denkbar ungünstig.«
Mir war sofort klar, daß zwischen Jerusalem und Bonn oder
Pullach die Drähte heißgelaufen waren und daß die sorgsam
gepflegten Beziehungen nicht um meinetwillen gefährdet
werden sollten. So war auch diese einladende Tür zugeschlagen.

-23-
Die Redakteurin der Zeitung, die sich so unermüdlich nach
meinem Kommen erkundigt hatte, war plötzlich nicht mehr zu
erreichen. Auf ihrem Anrufbeantworter hinterließ ich die
Nachricht, man möge Visa und Tickets für meine Frau und mich
zu einem späteren Zeitpunkt in Wien hinterlegen – was nie
geschah, wie ich bei späteren Nachfragen feststellen konnte.
Inzwischen war meine Lage ausgesprochen ungemütlich. Die
deutschen Behörden rieben sich bereits die Hände in der
Erwartung, mich hinter Gitter zu bringen; die Amerikaner
wollten mich zum Überläufer abstempeln, in Israel war ich
unerwünscht, und nach Moskau wollte ich nicht, solange es
irgendeinen anderen Weg gab. Wohin sollte ich fliehen, und
welchen Preis würde es mich kosten? Keine der Optionen war
verlockend, und die Zeit wurde immer knapper.

-24-
1 Vom Neckar an die Moskwa

Meine Eltern wurden beide nicht weit vom Rhein geboren die
Mutter in Remscheid, der Vater in Neuwied, und das Todesjahr
Wilhelms I. ist das Geburtsjahr meines Vaters Friedrich Wolf.
Seine Eltern hätten gern gesehen, daß er Rabbiner geworden
wäre, doch er setzte seinen eigenen Willen durch und studierte
in Heidelberg Medizin. Im Widerspruch zum frommen
Elternhaus, aber auch zum deutschnationalen Hurrapatriotismus
der Jahrhundertwende entwickelte er in jenen Jahren eine
pazifistische, utopisch getönte Weltanschauung, die verriet, daß
er sich nicht nur mit Plato und Kant, sondern auch mit den
Gedanken Tolstois, Nietzsches und Kropotkins beschäftigte.
Das Grauen des Ersten Weltkriegs erlebte mein Vater als
Bataillonsarzt an verschiedenen Fronten; dies und seine
Enttäuschung über das Scheitern der Novemberrevolution von
1918 ließ ihn zum überzeugten Marxisten werden. Uns Kindern
erklärte er später, seine Großmutter mit ihrem ausgeprägten Sinn
für Gerechtigkeit habe den Grundstein zu seiner politischen
Entwicklung gelegt. Er erinnerte sich gut daran, wie mitreißend
sie ihm von dem Urgroßvater aus Münster erzählt hatte, der
während der Revolution von 1848 die Sturmglocken geläutet
haben soll, als der spätere Kaiser in die Menge schießen ließ.
Und als Wilhelm II. den Fürsten zu Wied besuchte, um das
Heldendenkmal für seinen Großvater feierlich einzuweihen,
sagte die Großmutter kopfschüttelnd zu meinem damals
fünfjährigen Vater: »Fritzsche, das ist kein Heldenkaiser, das ist
der Kartätschenprinz.«
Else Wolf, meine Mutter, lernte er während seiner Tätigkeit
als Stadtarzt in Remscheid kennen, und trotz ihrer Sanftmut war
meine Mutter eigensinnig genug, ihre Verwandten vor den Kopf
zu stoßen, indem sie einen Juden heiratete.
Wenn ich heute an meine Eltern zurückdenke, dann ist der

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Vater als Vorbild durch sein Handeln und seine Bücher zwar
immer gegenwärtig, doch scheint mir der stille Einfluß der
Mutter auf uns Kinder fast größer gewesen zu sein als der seine.
Toleranz war neben Ausgeglichenheit und Gelassenheit
vielleicht die Eigenschaft, die sie am stärksten charakterisierte.
Unser bewegtes Schicksal sollte ihr mehr als ausreichend
Gelegenheit bieten, ihre unerschütterliche Zivilcourage unter
Beweis zu stellen, während ihre Toleranz durch die Liebschaften
unseres Vaters immer wieder bis zum äußersten strapaziert
wurde. Daß trotz solcher Belastungen die Ehe meiner Eltern bis
zum Tod des Vaters 1953 standhielt, ist kein geringer Beweis
der Liebe beider, aber auch der Geduld und liebevollen
Nachsicht meiner Mutter.
Als ältester Sohn kam ich 1923 in der württembergischen
Kleinstadt Hechingen zur Welt. Es war die Zeit der totalen
Geldentwertung, der galoppierenden Inflation, und meine Eltern
mußten froh sein, wenn die bäuerlichen Patienten das
Arzthonorar in Form von Eiern und Butter entrichteten statt in
wertlosem Papiergeld.
Die Erinnerung an meine frühe Kindheit, an die Landschaft
der Schwäbischen Alb und später an Stuttgart ist bunt und klar
zugleich. Mein Vater war ein überzeugter Verfechter
vegetarischer Ernährung und körperlicher Ertüchtigung,
Freikörperkultur selbstverständlich eingeschlossen. Nicht weit
von Hechingen lebte sein Onkel Dr. Moritz Meyer, in der
Familie das»Öhmchen« genannt, Landgerichtsrat im Ruhestand
und mit allen Honoratioren Hechingens bis aufs Messer
verfeindet; er galt als Sonderling und genoß den Ruf eines
Wunderdoktors. Er war Vegetarier und lebte eigenbrötlerisch
mit seinen Ziegen im Wald. Vermutlich hat sein Vorbild meinen
Vater veranlaßt, sich von der Schulmedizin abzuwenden und
sich mit Naturheilkunde und Homöopathie zu beschäftigen,
denn diesem Onkel widmete mein Vater sein Buch Die Natur
als Arzt und Helfer.

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Else und Friedrich Wolf nut Konrad (links) und Markus
(rechts) 1926

Dieses Buch, eine Gesundheitsfibel für die ganze Familie, war


von Anfang an ein großer Erfolg, und sogar noch während des
Dritten Reichs wurde es in Deutschland fleißig weiterverkauft –
nur Tantiemen gab es keine mehr. Zu Anfang jedoch erlaubten
uns die neuen Einnahmen, nach Stuttgart umzuziehen, in eine
richtige Großstadt, wo wir ein modernes Haus bewohnten, in
dem mein Vater seine Arztpraxis betrieb.
Erschöpfung war ein Wort, das mein Vater nicht kannte:
Neben seiner ärztlichen Tätigkeit verfaßte er Theaterstücke, die
ihn in ganz Deutschland bekannt machten, und ließ keine
Gelegenheit ungenutzt, Vorträge zu sozialen, medizinischen und
politischen Fragen zu halten. Sogar mit dem Gefängnis machte
er kurzfristig Bekanntschaft, als er für sein Stück Zyankali, in
dem er das Abtreibungsverbot anprangerte, verurteilt wurde.

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1926 in Stuttgart
Als ich in die Schule kam, traten meine Eltern in die
Kommunistische Partei ein, und so wurde ich junger Pionier,
genau wie später mein jüngerer Bruder Konrad. Stolz trugen wir
unsere roten Halstücher und lauschten gebannt dem, was unsere
Eltern erzählten, als sie von ihrer ersten Reise in die
Sowjetunion zurückkamen, die uns wie ein zauberisches
Märchenreich erschien. Wenn wir für streikende Metallarbeiter
sammelten oder Flugblätter im Wahlkampf verteilten, kamen
wir uns schon fast wie richtige politische Kämpfer und sehr
erwachsen vor. Nur in der Ernährung konnten wir die
Begeisterung unserer Eltern gar nicht teilen: Neidisch sahen wir
die Wurstbrote unserer Mitschüler, und mein Bruder nahm sich
vor, einen ganzen Ochsen aufzuessen, sobald er erst groß war.
An die Machtergreifung der Nazis erinnere ich mich genau.
Damals erfuhr ich zum erstenmal, daß wir Juden waren und von
den neuen Machthabern nicht nur aus politischen Gründen

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verfolgt wurden. Nach dem Reichstagsbrand mußte mein Vater
im Februar 1933 ins Ausland fliehen, und es dauerte nicht lange,
bis Kriminalbeamte in Begleitung uniformierter SA-Leute vor
unserer Tür standen, um Haussuchungen durchzuführen. Mir
drohte man, ich käme auf den Heuberg, falls ich nicht verriet,
wo Vater sich aufhielt. Der Heuberg war das erste
Konzentrationslager in Württemberg. Um diese Zeit, kurz bevor
die Mutter mit uns Kindern dem Vater ins Ausland folgte,
besuchten wir noch einmal das »Ohmchen« in seiner
Einsiedelei; es war Passahzeit, und deshalb konnte er uns nur
trockene Matzen anbieten, die uns das Gesicht verziehen ließen,
aber für die karge Kost entschädigte der Großonkel mit seinen
farbigen Erzählungen.
Befreundete Kommunisten schmuggelten unsere Mutter und
uns über die Schweizer Grenze, und von dort ging es nach
Frankreich. Da wir als »unerwünschte Ausländer« keine
Aufenthaltsgenehmigung erhalten konnten, mußten wir uns
verstecken; Freunde brachten uns auf der kleinen Ile de Bréhat
vor der bretonischen Küste unter; dort verlebten mein Bruder
und ich einen herrlichen Sommer voller Knabenabenteuer,
während mein Vater sein Drama Professor Mamlock schrieb,
das erste literarische Zeugnis der Judenverfolgung in
Deutschland. Vor der deutschen Uraufführung in Zürich wurde
das Stück bereits am jüdischen Theater in Warschau gespielt;
überall auf der Welt stand es auf dem Spielplan.
Das machte den Namen Friedrich Wolf im Land der Nazis
nicht beliebter, und die Quittung ließ nicht lange auf sich
warten: 1934 wurde unser Vermögen eingezogen, der Name
meines Vaters kam auf die Liste »schädlichen und
unerwünschten Schrifttums«, und in der Folgezeit wurde der
ganzen Familie die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt; 1937
erschienen die Namen seiner Frau und seiner Söhne sogar neben
dem seinen auf einer Fahndungsliste. Verfolgt wie
Schwerverbrecher jetzt konnten mein Bruder und ich uns

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wahrhaftig erwachsen fühlen!
Wären wir damals nicht rechtzeitig geflohen, hätten wir
möglicherweise das Schicksal unseres »Öhmchens« und anderer
jüdischer Verwandter geteilt, die die Verfolgung nicht
überlebten. Während des Krieges erfuhren wir von deutschen
Kriegsgefangenen, welches Ende Dr. Moritz Meyer gefunden
hatte: in das Konzentrationslager Mauthausen verschleppt und
dort mit fast achtzig Jahren elend umgekommen. Als ich 1993
meine Geburtsstadt besuchte, erzählte mir ein Arzt, der sich mit
der Erforschung der Lokalgeschichte beschäftigte, daß alle
Juden der Stadt im Haus eines begüterten Leidensgefährten
zusammengetrieben und von dort in das Rigaer Ghetto
transportiert worden waren. Wie der Oheim von Riga nach
Mauthausen gelangte, das werden wir nie erfahren…
Dieses Schicksal blieb uns erspart, denn wir fanden in der
Sowjetunion Asyl. Als die Mutter im April 1934 mit uns
Kindern in Moskau eintraf, hatte Vater mit Hilfe des
Dramatikers Wsewolod Wischnewskij eine kleine
Zweizimmerwohnung in einer Gasse nahe dem Arbat, also
mitten im Zentrum, gefunden und eingerichtet. Eine
Zweizimmerwohnung bedeutete für damalige Moskauer
Verhältnisse beinahe unvorstellbaren Luxus.
Es war nicht leicht, sich an die fremden Sitten und
Lebensbedingungen zu gewöhnen, und der rüde Umgangston
der Kinder auf dem Hof machte uns anfangs zu schaffen. Schon
unser Erscheinen in kurzen Hosen bewirkte, daß sie uns johlend
hinterherriefen: »Nemez, perez, kolbassa, kislaja kapusta!« –
»Deutscher, Pfeffer, Wurst und Sauerkraut«, was gewiß nicht als
Kompliment gemeint war. Doch Kinder überwinden rasch
anfängliche Barrieren; es gelang uns, der Mutter lange Hosen
abzubetteln, und schon bald fühlten wir uns nicht mehr als
Fremde, sondern auf Gedeih und Verderb der Hofbande
zugehörig, mit der wir die Dächer erkundeten und die Gassen
unsicher machten.

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Die neue Umgebung bot Staunenswertes in Hülle und Fülle;
war Stuttgart uns nach Hechingen als brausende Großstadt
erschienen, was sollten wir dann erst von einer echten
Metropole halten? Gleichzeitig war Moskau noch immer ein
»großes Dorf« mit einer bäuerlich geprägten Bevölkerung, wo
man die Schalen seiner Sonnenblumenkerne auf den Boden
spuckte und Pferdekarren durch die Straßen ratterten. Wir
besuchten die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule, später
die russische Fridtjof-Nansen-Schule, beide nicht weit vom
Arbat gelegen, und freundeten uns an den Schulen mit anderen
Emigrantenkindern an. Eine Freundschaft aus dieser Zeit, die in
unserem Leben eine unauslöschliche Rolle spielen sollte, war
die zu George und Victor Fischer, den Söhnen des
amerikanischen Journalisten Louis Fischer, und zu Lothar
Wloch, dem Sohn des deutschen Kommunisten Wilhelm Wloch,
der als Opfer der stalinistischen Säuberungen ermordet wurde.
Aus dieser Zeit stammen unsere Spitzname n Kolja und Mischa.
Wir waren nicht nur auf dem Papier russische Staatsbürger
geworden, wir nahmen unmerklich Eigenschaften russischer
Menschen an und wurden zu richtigen »Kindern des Arbat«.
Im Kaleidoskop der Erinnerung vermengen sich Licht und
Schatten, und beides gab es am Arbat und in seiner Umgebung.
Die historische »Steinstadt« mit dem Kreml als Mittelpunkt
wuchs in vielgeschossigen Neubauten nach außen, Autos
vermehrten sich sprunghaft auf den Straßen, Pferdefuhrwerke
verschwanden von einem Tag auf den anderen, und die Metro
wurde prunkvoll ausgebaut. Das änderte nichts an der
katastrophalen Wohnungsnot und den vorsintflutlichen
hygienischen Verhältnissen, doch die Ernährungslage der
Bevölkerung verbesserte sich zusehends, und jeder war davon
überzeugt, daß das riesige Land im Begriff stand,
Rückständigkeit und Finsternis hinter sich zu lassen und mit
einem Schritt in ein neues Zeitalter einzutreten. Zur gleichen
Zeit fanden die Schauprozesse statt, in denen Männer, die bis

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vor kurzem noch als Helden der Revolution gefeiert worden
waren, erfundener Verbrechen beschuldigt und zum Tode
verurteilt wurden. Wir Heranwachsende spürten, daß diese
Geschehnisse unsere Eltern mit Sorge erfüllten; die bange Frage,
wer das nächste Opfer sein würde, wurde nicht laut gestellt.
Trotz allem machten wir uns keine Gedanken über das Warum
des Terrors; erst viel später wagten wir es, das Undenkbare zu
denken und uns einzugestehen, daß Stalin selbst die
Verantwortung für diese Morde trug. Immer häufiger schloß
sich das Netz des NKWD, der Geheimpolizei, um
Emigrantenfreunde und bekannte, und viele unserer Lehrer
verschwanden während der »Säuberungen «.

Tambourchor der Karl-Liebknecht-Schule in Moskau 1935


(Autor: 2. von links, 2. Reihe)
Heute weiß ich, daß unser Vater damals um sein eigenes
Leben fürchten mußte. Im Unterschied zu uns und unserer
Mutter war er nicht eingebürgert worden und besaß keine
sowjetischen Papiere, sondern nur einen deutschen Paß. Und im

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Unterschied zu uns Kindern, die wir begeistert nachplapperten,
was wir bei den jungen Pionieren lernten, machte er sich ernste
Gedanken über das Janusgesicht der Sowjetführung gegenüber
jenen, die aus Überzeugung oder als Verfolgte in die UdSSR
gekommen waren. Als 1936 der Spanische Bürgerkrieg
ausbrach, beantragte er sofort die Ausreisegenehmigung, um als
Arzt in den Internationalen Brigaden zu dienen. Wir Kinder
waren stolz auf unseren Vater, der den Kampf gegen Hitlers
Verbündete in Spanien aufnehmen wollte; die Freiwilligen der
Internationalen Brigaden, die aus allen Ländern der Welt den
spanischen Republikanern zu Hilfe eilten, wurden von uns als
Helden bewundert. Sehr viel später erst erfuhren wir, daß unser
Vater einer engen Freundin der Familie seine hartnäckigen
Versuche, die Ausreise genehmigt zu bekommen, mit den
bitteren Worten erklärt hatte: »Ich warte nicht, bis man mich
verhaftet.«
Nach mehr als einem Jahr zermürbenden Wartens erhielt er
die Genehmigung zur Ausreise. Doch nach Spanien gelangte er
nicht, weil inzwischen die französische Grenze geschlossen war;
zusammen mit anderen Internationalisten wurde er im
September 1939 bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Lager
Le Vernet in Südfrankreich interniert. Nun drohte ihm mit
seinem deutschen Paß die Auslieferung an die Nazis. Wir
bangten um sein Leben; jedes Lebenszeichen, das uns erreichte,
ließ uns neue Hoffnung schöpfen, während unsere Mutter die
sowjetischen Behörden belagerte, um einen sowjetischen Paß
für ihren Mann zu erkämpfen. Als deutsche Emigranten in der
Sowjetunion waren wir nach dem Nichtangriffspakt zwischen
Hitler und Stalin in einer wenig beneidenswerten Lage:
geduldet, aber nicht sonderlich erwünscht. Mit Geschick und
Zähigkeit erlangte unsere Mutter im August 1940 schließlich
das begehrte Dokument, und im März 1941, drei Monate bevor
Hitler die Sowjetunion überfiel, konnten wir den Vater auf dem
Kiewer Bahnhof zum erstenmal seit drei Jahren wieder in die

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Arme schließen.

Friedrich Wolf mit Konrad (links), Lena und Markus 1937


Bei der Rückkehr meines Vaters studierte ich bereits im
zweiten Semester an der Moskauer Hochschule für
Flugzeugbau. Wie mein Bruder Koni sprach ich den ganzen Tag
Russisch und nur abends zu Hause Deutsch. Ich träumte von
einer Zukunft als Flugzeugkonstrukteur in der Sowjetunion.
Aber unser aller Leben änderte sich dramatisch, als am 22. Juni
1941 Hitlers Truppen in die Sowjetunion einmarschierten. Im
Herbst standen sie vor Moskau; meine Hochschule wurde in das
sechstausend Kilometer entfernte Alma Ata, die Hauptstadt
Kasachstans, verlegt, und wie viele Mitglieder des
Schriftstellerverbandes wurde mein Vater mit seiner ganzen
Familie evakuiert. Die dreiwöchige Bahnfahrt war ein
Alptraum: Beinahe stündlich wurde unser Zug auf Nebengleisen
abgestellt, um die Züge durchzulassen, die an die Front im
Westen fuhren. Mein Vater kümmerte sich um die Dichterin
Anna Achmatowa, die sich entkräftet und krank im Zug befand.

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Ich durfte ihr die Essensration von 400 g Schwarzbrot und etwas
lauwarmes Wasser bringen.
Alma Ata zeigte sich uns vor der Kulisse des an die Alpen
erinnernden Ala-Tau-Gebirges in seiner ganzen Pracht. Im
Frühjahr blühten unter dem Himmel, der in einem unvorstellbar
intensiven Blau strahlte, Mandel- und Apfelbäume, soweit der
Blick reichte.
An manchen Tagen versank alles wieder unter einer
glitzernden Schneedecke. Die Rekordzahl von jährlichen
Sonnentagen machte Alma Ata außerdem zum geradezu idealen
Evakuierungsort für die aus Moskau und Leningrad
ausgelagerten Filmstudios, in denen wir uns als Statisten ein
Zubrot zu den kargen Lebensmittelrationen verdienten. Meine
Fallschirmspringererfahrung verhalf mir zu kleinen Auftritten
als Stuntman mit besonders hohem Salär. Abends las uns Sergej
Eisenstein, der berühmte Regisseur, im privaten Kreis aus
seinem Drehbuch zu Iwan der Schreckliche vor.
Die Stadt barst vor Mensche n: Flüchtlinge aus dem Westen
des Landes drängten sich neben polnischen Offizieren, die aus
sibirischen Gefangenenlagern kamen und von der polnischen
Exilregierung in London angeheuert wurden, und neben
halbverhungerten Leningradern, Soldaten und Verwundeten der
Roten Armee, die auf einem improvisierten Weg über das Eis
des Ladoga-Sees aus ihrer eingekesselten Stadt geflohen waren.
Viele von ihnen starben kurz nach ihrer Ankunft an den
Folgen der Entbehrungen, unzählige waren schon unterwegs
gestorben.
Viele meiner Kommilitonen waren inzwischen an der Front;
auch meinem Bruder war es gelungen, in die Rote Armee
einzutreten, obwohl nur wenige Deutsche zum Militärdienst
herangezogen wurden. Zu den wenigen übriggebliebenen jungen
Männern unter lauter Studentinnen zu zählen, kam mir immer
mehr wie das reine Spießrutenlaufen vor, obwohl ich weiterhin

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an einer militärischen Ausbildung teilnahm, bei der mir die
zweifelhafte Ehre zufiel, als Größter der Gruppe das schwere
Dreibeinstativ unseres Maxim- Maschinengewehrs auf dem
Buckel mitzuschleppen.
Im Sommer 1942 erhielt ich ein rätselhaftes Telegramm,
unterzeichnet mit dem Kürzel EKKI Wilkow, anders
ausgedrückt: Exekutivkomitee der Kommunistischen
Internationale, Wilkow, anders gesagt: ein Telegramm von der
Komintern, unterzeichnet vom Leiter der Abteilung Personal
und Kader. Darin forderte man mich auf, mich vom Studium
befreien zu lassen notfalls mit Hilfe des Zentralkomitees der
Kommunistischen Partei Kasachstans – und Ufa aufzusuchen,
die Hauptstadt Baschkiriens. Nach Ufa waren zu Beginn der
Belagerung Moskaus sowohl die Komintern als auch die
Exilführung der Kommunistischen Partei Deutschlands
evakuiert worden.
In Ufa spielte sich alles sehr konspirativ ab. Noch am Tag
meiner Ankunft wurde ich weitergeschickt, diesmal per Schiff,
zum stromabwärts gelegenen Dorf Kuschnarenkowo, wo sich
die Schule der Komintern befand, die ich besuchen sollte. Ich
begriff, daß ich von der Partei dazu ausersehen war, dort
ausgebildet zu werden, um später nach Deutschland
eingeschleust zu werden und dort im Untergrund die NS-
Diktatur zu bekämpfen.
An der Schule ging es noch konspirativer zu als in Ufa: Jeder
von uns bekam einen Decknamen zugeteilt; wir wurden streng
ermahnt, uns nur mit Decknamen anzusprechen, obwohl viele
von uns sich aus Moskau kannten. Ich hieß »Kurt Förster« und
fand das Ganze sehr aufregend.
Um uns auf unsere künftigen illegalen Einsätze vorzubereiten,
brachte man uns den Umgang mit Handfeuerwaffen, mit
Sprengstoff und Handgranaten bei und schulte uns in
»konspirativer Technik«, damit wir möglichst lange unentdeckt
hinter den feindlichen Linien unserer subversiven Tätigkeit
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nachgehen konnten.
Trotz der strengen Disziplin freundeten wir Schüler uns in den
kärglich bemessenen freien Stunden miteinander an; so lernte
ich nicht nur Amaya, die hübsche Tochter der legendären
Dolores Ibârruri, und die Söhne Titos und Togliattis kennen,
sondern verliebte mich auch in Emmi Stenzer, die Tochter des
Reichstagsabgeordneten Franz Stenzer, der 1933 in Dachau
ermordet worden war. Alle fieberten wir der Chance entgegen,
es endlich den Altersgenossen gleichzutun, die an der Front
dienten, und unter Einsatz unseres Lebens den Faschismus zu
bekämpfen und niederzuringen. Wir träumten von einer
künftigen gerechten Gesellschaft, in der jedermann aus eigener
Überzeugung Sozialist war, nicht aus Opportunismus oder gar
unter Zwang.
Der an dieser Schule von uns gelebte Internationalismus hat
mein Denken auf vielfache Weise geprägt. Deshalb konnte ich
in späteren Jahren nationalistische Ausprägungen in
sozialistischen Ländern nie begreifen – standen sie doch in
krassem Widerspruch zu allem, was an der Komintern-Schule
von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus gelehrt
worden war. Oftmals saßen wir Schüler noch spät am Abend
todmüde über unseren Büchern, voller Enthusiasmus und
Idealismus. Viele meiner Mitschüler waren wie ich durch
Elternhaus und Schule zu überzeugten Kommunisten geworden.
Gewiß waren bei uns Schriften tabu, die als trotzkistisch oder
antisowjetisch verketzert wurden, aber dennoch waren wir keine
eifernden Dogmatiker, sondern wißbegierige und offene junge
Leute, die über Gott und die Welt diskutierten.
Aus unseren Zukunftsträumen wurden wir abrupt geweckt.
Am 16. Mai 1943 teilte man uns mit, daß die Komintern und
ihre Schule aufgelöst würden, weil die Unterschiede »zwischen
den Ländern im Joch der Nazityrannei und den
freiheitsliebenden Völkern« unüberbrückbar geworden seien.
Der wahre Grund sah so aus, daß Stalin sich dem Druck seiner

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westlichen Alliierten, denen die Komintern ein Dorn im Auge
war, hatte beugen müssen. Man erklärte uns, daß wir nicht mehr
mit dem Fallschirm in Deutschland abgesetzt, sondern nur in
Reichweite der Sowjetarmee und der Partisanen operieren
würden. Jahre später erfuhr ich, daß Absolventen früherer
Lehrgänge unserer Schule bei ihrer Ankunft in Deutschland von
der Gestapo abgefangen und hingerichtet worden waren, weil
die Abwehr ihre Funkcodes geknackt hatte; ihr Schicksal bewog
die Exilführung der KPD, keine weiteren jungen Leute auf diese
Weise dem sicheren Tod auszuliefern, und das hat den meisten
von uns zweifellos das Leben gerettet. Meine Schulfreunde
Josef Gierner und Rudolf Gyptner jedoch waren bei einem
Einsatz in Polen umgekommen.
Zusammen mit einigen meiner Mitschüler wurde ich von der
Parteiführung nach Moskau beordert; wir waren der kleine Kreis
derer, die nach dem Krieg in Deutschland eingesetzt werden
sollten. Da mein Vater ein bekannter Schriftsteller war, machte
man mich zum Sprecher und Kommentator beim Deutschen
Volkssender, dem Sender der KPD. Bisher hatte ich meine
Aufsätze immer auf russisch geschrieben; jetzt hieß es erst
einmal lernen, meine Kommentare in deutscher Sprache
abzufassen. Inzwischen war ich KPD-Mitglied und nahm an den
Sitzungen teil, die im berühmten Emigrantenhotel Lux
stattfanden, im Zimmer Wilhelm Piecks, der später der erste
Staatspräsident der DDR wurde. Bei diesen Treffen lernte ich
auch Walter Ulbricht, Anton Ackermann und andere kennen, die
in wenigen Jahren das politische Gesicht dieses Staates prägen
sollten.
Im Herbst 1944, wenige Monate vor Kriegsende, heirateten
Emmi Stenzer und ich, doch sie konnte nicht in Moskau bleiben,
sondern wurde zur Lautsprecherpropaganda an die Front
beordert. Unter deutschem Beschuß wurde sie verwundet und
kam nach einem Lazarettaufenthalt schließlich nach Moskau
zurück. Am 9. Mai 1945 war es dann soweit: Mit meinen Eltern

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stand ich inmitten jubelnder Moskauer auf der Steinbrücke nahe
dem Kreml. Wildfremde Menschen umarmten und küßten sich
gerührt. In meine Erinnerung unauslöschlich eingebrannt sind
sowohl die Lichter der bunten Raketen als auch die Tränen in
den Augen der Männer und Frauen, Tränen der Freude und
Tränen der Trauer. Fast jede Familie hatte einen oder mehr Tote
zu beklagen.
Mein Bruder Koni stand als neunzehnjähriger Leutnant mit
der Sowjetarmee vor Berlin. Nicht ohne Wehmut ordnete ich
meine Siebensachen und begann, Abschied von der Sowjetunion
zu nehmen, Abschied auch von Kindheit und Jugend. Ein neuer
Lebensabschnitt erwartete mich.
Als Elfjähriger war ich in Moskau angekommen. Mit
zweiundzwanzig Jahren kehrte ich nach Deutschland zurück.
Beim Betreten deutschen Bodens nach so langer Zeit kam ich
mir wie ein Fremder vor. Ich brauchte einige Tage, um mich
daran zu gewöhnen, daß die Menschen auf der Straße Deutsch
sprachen; es fiel mir schwer, mir vorzustellen, daß ich mit
Menschen leben würde, von denen so mancher Hitler und
Goebbels zugejubelt und unermeßliches Leid und Elend
mitverschuldet oder geduldet hatte. Viele schienen noch immer
nicht begriffen zu haben oder nicht begreifen zu wollen, was die
Nazis angerichtet hatten. Schuld oder Mitverantwortung auf sich
zu nehmen, waren die wenigsten bereit. Meine Freunde in
Moskau und die Rotarmisten, denen ich in Deutschland
begegnete, standen mir seelisch näher als diese Deutschen.
Gelegentlich hat man im Scherz, manchmal auch mit
abfälligem Unterton, zu mir gesagt, ich sei ein »halber Russe«
geworden; das konnte ich nie als kränkend empfinden.
Sowjetischer Alltag und russische Mentalität haben nun einmal
meine Kindheit und Jugend geprägt; die russische Küche ist mir
die liebste, ausgenommen die Buchweizengrütze, die ich als
Jugendlicher zu oft essen mußte, und ich darf in aller
Bescheidenheit gestehen, daß ich einer der besten Pelmeni-

-39-
Köche diesseits des Ural bin. In Moskau fühlte ich mich noch
auf Jahre zu Hause, seine Menschen waren mir vertrauter als die
Berlins. Mein erster Weg führte mich stets zu unserem einstigen
Wohnhaus in der Nishni-Kislowski-Gasse, an dem sich seit
1988 eine Gedenktafel für meinen Vater und meinen Bruder
befindet, und an den Arbat, wo ich Freunde besuchte. Mit Alik,
der im Krieg ein Bein verloren hatte und später
Germanistikprofessor wurde, zog ich dann durch unser
ehemaliges »Revier« bis zur Gorki-Straße, die heute wieder
Twerskaja heißt. Hier hatten wir als Schüler stundenlang
geduldig vor dem Künstlertheater, dem MCHAT, Schlange
gestanden, um Karten für Anna Karenina mit der berühmten
Tarassowa in der Hauptrolle zu ergattern. Auch Michoels und
Suskin vom jüdischen Theater, das sich nur wenige Minuten von
unserer Schule entfernt befand, bewunderten wir. Was waren
das für Schauspieler! Wir liebten die russischen Klassiker,
Heine, Balzac, Galsworthy und Roger Martin du Gard;
Hemingways knappe, kräftige Erzählweise zog uns besonders
an. Bei einem le tzten Treffen im Sommer 1941 ruderten wir in
eine kleine, abgelegene Bucht der Moskwa und rezitierten
Gedichte von Alexander Blok und Sergej Jessenin.
Lange Jahre hindurch war jeder Abschied von Moskau für
mich nur ein Abschied auf Zeit, und dennoch hatte ich, anders
als einige meiner Freunde, nie den Wunsch, für immer nach
Moskau zurückzukehren. Deutschland war trotz allem meine
wahre Heimat geblieben, das Land, in dem meine künftigen
Aufgaben lagen, für die ich mich an der Komintern-Schule und
am Volkssender in Moskau vorbereitet hatte.
Nicht vorbereitet war ich auf die Realität und das Alltagsleben
in einem Land, dessen Bewohner sich als Opfer bemitleideten,
weil sie den Krieg verloren hatten und in zerbombten Städten
hausten, die ihre ganze Energie aufs Hamstern verwendeten und
für die Überlebenden der Konzentrationslager weder Interesse
noch Mitgefühl erübrigen konnten. Ich war naiv genug gewesen

-40-
zu hoffen, daß die Mehrheit der Deutschen froh wäre, von der
NS-Herrschaft befreit zu sein, und die Sowjetarmee als Befreier
begrüßen würde. Statt dessen mußte ich immer wieder erleben,
daß Ressentiment und Duckmäusertum den Umgang der Leute
miteinander bestimmten.
Am 27. Mai 1945 flog meine Gruppe, zu der auch meine Frau
gehörte, in einer kleinen Militärmaschine von Moskau nach
Berlin. Ulbricht war schon im April mit einem Vorkommando
aufgebrochen. Aus der Luft ließ sich das ganze Ausmaß der
Kriegszerstörungen ermessen – die verwüstete Landschaft, die
Ruinenfelder der Städte und Dörfer. Besonders erschütternd war
der Anblick der Steinwüste mitten im zerbombten Warschau, die
das jüdische Ghetto gewesen war, das die Nazis nach dem
Aufstand dem Erdboden gleichgemacht hatten. Als wir zur
Landung auf dem Flughafen Tempelhof ansetzten, machte
Berlin aus der Vogelperspektive einen so trostlosen Eindruck,
daß ein Wiederaufbau uns völlig unmöglich erschien.
Wenige Tage nach unserer Ankunft wurden wir einer nach
dem anderen zu Ulbricht bestellt. Kurz und bündig sagte er
jedem, was er zu tun habe. Mich beorderte er zum Berliner
Rundfunk – vermutlich wegen meiner Tätigkeit beim Deutschen
Volkssender in Moskau. Ich versuchte mich zu wehren, denn ich
hatte nicht die geringste Neigung zu dieser Art von
Schreibtischarbeit, bis Ulbricht mir mit der Bemerkung das
Wort abschnitt, jeder habe sich dorthin zu verfügen, wo er am
dringendsten gebraucht werde.
In dem riesigen Gebäudekomplex des Charlottenburger
Funkhauses erwarteten uns an die siebenhundert Mitarbeiter, die
vom Reichsrundfunk des Dr. Goebbels übriggeblieben waren;
wir, die wir einen antifaschistischen Sender einrichten wollten,
waren ganze sieben Mann. Dieses Funkhaus war eine Welt für
sich. Im britischen Sektor gelegen, stellte es gewissermaßen
einen Vorposten im beginnenden kalten Krieg dar. Da es für
unsere Parteizentrale in Ost-Berlin schwer zu erreichen war,

-41-
hatten wir eine Handlungsfreiheit, von der spätere DDR-
Rundfunkleute nur träumen konnten. Meine ursprünglichen
Befürchtungen verflogen bald, die Arbeit war interessant.
Außenpolitische Kommentare verfaßte ich unter dem
Pseudonym Michael Storm, gelegentlich war ich als Reporter
tätig, und ich leitete verschiedene politische Redaktionen.

Autor (2. von rechts) als Gastgeber der Sendereihe Treffpunkt


Berlin 1947
Hin und wieder begegnete ich Ulbricht. In meiner Sendereihe
»Tribüne der Demokratie«, in der alle Parteien zu Wort kamen,
vertrat er den Standpunkt der SED, der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands, die 1946 aus der Vereinigung der
kommunistischen und der sozialdemokratischen Parteien in der
von den Sowjets verwalteten Zone hervorgegangen war.
Ulbrichts Fistelstimme und sächsische Aussprache wirkten auf
die Zuhörer alles andere als angenehm. Ich war so taktlos, ihm
in bester Absicht vorzuschlagen, Sprechunterricht zu nehmen
und seine Texte einstweilen von einem geübten Sprecher
vorlesen zu lassen. Seine Reaktion ließ keinen Zweifel zu, daß
ich mir diesen Vorschlag besser verkniffen hätte. Ein andermal
fragte ich ihn, wann ich mein Studium in Moskau beenden
könne, worauf er völlig entgeistert erwiderte: »Mach mal deine
-42-
Arbeit. Wir haben andere Sorgen, als Flugzeuge zu bauen.«
Wir bemühten uns, lebendige und hörernahe Sendungen zu
machen, und scheuten auch vor brenzligen Themen nicht
zurück: sei es die umstrittene Oder-Neiße-Grenze, das Schicksal
deutscher Kriegsgefangener im Osten oder der Umgang mit den
»kleinen Nazis«, den Funktionären und Mitläufern. Trotz aller
Wachsamkeit der sowjetischen Kontrolloffiziere war unser
Handlungsspielraum erstaunlich groß. Nur gegen die
stundenlangen Pflichtübertragungen der Reden des sowjetischen
Außenministers Wyschinskij vor der Uno wehrten wir uns
vergeblich; wir mußten sie senden, und die Hörer schalteten
prompt in Scharen zum neugegründeten Rundfunk im
amerikanischen Sektor (RIAS) um.
Über das Verhältnis der Bevölkerung zur sowjetischen
Besatzungsmacht, über Plünderungen und Vergewaltigungen
während des Einmarschs der Roten Armee und über
Vergeltungsakte an deutschen Zivilisten konnten wir nicht
wirklich offen reden. Zum einen hatten unsere Kontrolloffiziere
ihre entspreche nden Weisungen, zum anderen war die SED in
diesem Punkt überaus empfindlich, und obendrein wollten wir
keine Ressentiments der Deutschen gegen die Russen schüren.
Die Folge war, daß vieles beschönigt wurde – keineswegs
immer wider besseres Wissen. Ich erinnere mich, daß ich
Berichte der West-Berliner Zeitung Telegraf über Verhöre und
Folterungen in Ost-Berlin durch eine Geheimpolizeiabteilung
namens K 5 damals empört als Lügenpropaganda anprangerte
und viele Jahre später zu meiner nicht geringen Bestürzung
erfuhr, daß diese K 5 nicht erfunden war. Oft genug konnte ich
das Vorgehen der Besatzer oder unserer Partei gegen
vermeintliche Abweichler keineswegs gutheißen, aber diese
Übergriffe verblaßten schnell zur Bedeutungslosigkeit, wenn ich
an das verbrecherische NS-Regime zurückdachte, wie ich es in
seinen scheußlichsten Facetten bei den Nürnberger Prozessen
kennengelernt hatte.

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Presseausweis beim Nürnberger Prozeß 1945
Im September 1945 war ich als Berichterstatter unseres
Senders nach Nürnberg geschickt worden. Bis dahin hatte ich
mir den ganzen Umfang der Monstrosität der Naziherrschaft nur
schwer vorstellen können. Es war gespenstisch, durch das völlig
zerstörte Nürnberg – einst Deutschlands Schatzkästlein genannt
– zu gehen und daran zu denken, daß die Männer, die jetzt auf
der Anklagebank saßen, hier auf dem Höhepunkt ihrer Macht
gefeiert worden waren, daß sie hier die Nürnberger
Rassengesetze beschlossen hatten. Nicht weniger gespenstisch
waren die Filmvorführungen im Gericht, die NS-
Wochenschauen mit ihrem hysterischen Jubel und die
Dokumente über die Massenexekutionen. Am schlimmsten
waren die Amateurstreifen, die mit der gleichen Kaltblütigkeit
und Teilnahmslosigkeit aufgenommen worden waren, mit der
vor der Kamera gefoltert und gemordet wurde. Wie auf dem
Seziertisch wurde in diesem Gerichtssaal die Anatomie des
Nationalsozialismus enthüllt. Damals glaubte ich wie viele
andere, diese Lehre könne nie vergessen werden.

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2 Der Einstieg

Nach der Währungsreform von 1948 in den drei westlich


besetzten Zonen schlössen diese sich im Frühjahr 1949 zur
Bundesrepublik zusammen, und im Oktober des gleichen Jahres
erklärte die vierte Zone sich zur Deutschen Demokratischen
Republik. Wenig später wurde ich in das Zentralkomitee der
SED bestellt. Als Reaktion auf die Anerkennung unseres neuen
Staates durch die UdSSR wollte man sofort eine Diplomatische
Mission in Moskau einrichten. Mir hatte man die Rolle
zugedacht, dem Botschafter als Erster Rat zur Seite zu stehen.
Meine sowjetische Staatsbürgerschaft mußte ich aufgeben,
wollte ich in den diplomatischen Dienst eintreten.
Am 3. November traf ich mit Botschafter Rudolf Appelt und
Josef Schütz, dem Ersten Sekretär der Mission in Moskau ein.
Was für ein Unterschied zur tristen Trümmerlandschaft Berlins!
Am 7. Oktober, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, stand ich
auf der Tribüne neben dem Lenin-Mausoleum, meinen roten
Diplomatenpaß und meinen Antrag auf Entlassung aus der
sowjetischen Staatsbürgerschaft in der Tasche. Daß meine
diplomatische Karriere nur eineinhalb Jahre währen sollte, ahnte
ich nicht.
Das eindrucksvollste Erlebnis in meiner kurzen
diplomatischen Laufbahn war ein Empfang im Februar 1950 für
Mao Zedong im Festsaal des Hotels Metropol. Ich stand mit
dem Rücken zur Tür, als das Stimmengewirr im Saal auf einen
Schlag erstarb. Man konnte die sprichwörtliche Stecknadel
fallen hören. Ich drehte mich um und sah Stalin wenige Meter
entfernt stehen. Er trug seine bekannte Litewka, weder
Rangabzeichen noch Orden. Ich war überrascht, wie klein er
war, und auch auf seine Glatze, die einer Tonsur ähnelte, war
ich nicht gefaßt gewesen. Beides stand in eklatantem
Widerspruch zum Bild des »Woschd«, des Führers, wie Filme

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und Gemälde es verbreiteten. Der Grund seines unerwarteten
Kommens war wohl, daß er damit vor dem Gast die
Unhöflichkeit ausbügeln wollte, daß er sich beim Empfang im
Kreml nicht hatte blicken lassen.

Diplomatische Mission der DDR 1949 in Moskau (Autor: 3.


von rechts)
Da unser Botschafter abwesend war, vertrat ich ihn und saß in
unmittelbarer Nähe der Tafel, an der die Spitzen beider
Delegationen ihre Trinksprüche wechselten. Während Tschu
Enlai und Wyschinskij sprachen, zündete Stalin sich eine
Zigarette seiner Lieblingspapyrossi der Marke Herzegowina
Flor nach der anderen an. Später brachte er selbst mehrere
Trinksprüche aus. Er pries die Bescheidenheit und
Volksverbundenheit der chinesischen Führer; dann hob er sein
Glas auf die Völker Jugoslawiens und zeigte sich zuversichtlich,
daß sie ihren Platz in der sozialistischen Völkerfamilie wieder
finden würden. Auf Jugoslawien lastete der Bannfluch des
Komintern-Beschlusses von 1948, mit dem Tito abgestraft
worden war, weil er sich Moskau widersetzt hatte, statt
sklavisch zu gehorchen.
Vielleicht ist es heute schwer zu verstehen, daß wir damals
-46-
jedes Wort andächtig aufnahmen. Mao und Stalin wirkten auf
uns andere Anwesende wie historische Denkmäler, wie ein
Stück erlebte Geschichte, nicht wie lebende Zeitgenossen.
Niemand von uns ahnte den bevorstehenden Bruch zwischen
China und der Sowjetunion voraus, doch ich erinnere mich, wie
rätselhaft es mir vorkam, daß Mao den ganzen Abend kein
einziges Wort sprach.
Im August 1951 rief mich Staatssekretär Anton Ackermann in
dringenden Angelegenheiten nach Berlin zurück. Ackermann,
mit richtigem Namen Eugen Hanisch, war eine r der führenden
Köpfe des Politbüros der SED. Er hatte die typische Biographie
eines kommunistischen Parteifunktionärs, der durch die Schule
der Komintern in Moskau und durch die harte Praxis einer Partei
»neuen Typus«, also Stalinscher Prägung, gegangen war. Nach
der Machtergreifung Hitlers war er zunächst im
antifaschistischen Widerstand in Berlin aktiv gewesen, später in
Moskau, in Paris und in Madrid und zuletzt wieder in Moskau.
Als Verantwortlicher der KPD für Agitation und Propaganda
saß er neben Pieck, Ulbricht und Florin in den wöchentlichen
Redaktionssitzungen unseres deutschen Volkssenders. Als
Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) war
er für den gleichnamigen Sender verantwortlich, an dem auch
mein Komintern-Mitschüler Wolfgang Leonhard tätig war.
Ich fand mich im Außenministerium ein, wo mir Ackermann,
ohne sich mit Erklärungen aufzuhalten, mitteilte, ich solle mich
nachmittags im Zimmer Nummer soundsoviel im Sitz des
Zentralkomitees einfinden. Ich staunte nicht schlecht, als in
besagtem Raum niemand anders auf mich wartete als – Anton
Ackermann! Diesmal in seiner Eigenschaft als Mitglied des
Politbüros. Solche Inszenierungen liebte er.
Nun eröffnete Ackermann mir in seinem unnachahmlich
geheimnisvollfeierlichen Ton, daß die Parteiführung ihn mit
dem Aufbau eines politischen Aufklärungsdienstes beauftragt
habe und daß ich für eine Funktion in diesem Apparat

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vorgesehen sei. Es war kein Vorschlag, sondern ein Parteibefehl.
Ich war stolz, daß man mir so viel Vertrauen entgegenbrachte,
ein solches Angebot zu machen.
Am 16. August 1951 wurde das Institut für
wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IPW) aus der Taufe
gehoben; so lautete die Tarnbezeichnung unseres
frischgegründeten Außenpolitischen Nachrichtendienstes (APN)
– ein wenig kompliziert, aber sehr konspirativ. Meine erste
Amtshandlung in der neuen Tätigkeit bestand darin, daß ich in
die achtzylindrige Tatra-Limousine Richard Stahlmanns stieg,
die uns nach Bohnsdorf, einem Vorort Berlins, brachte.
Unterwegs schloß sich uns ein luxuriöser offener Horch an, in
dem die künftigen sowjetischen Partner fuhren – ein imposanter
Anblick, aber wohl kaum das, was Ackermann sich unter
Geheimhaltung vorstellte.
Richard Stahlmann, der für den Aufbau des
operativtechnischen Dienstes zuständig sein würde, war eine
imponierende Erscheinung, ein Mann, dessen ganzes Leben im
Zeichen der Konspiration gestanden hatte, seit er 1923 in den
Militärischen Rat der KPD berufen worden war. Eigentlich hieß
er Artur Illner, aber sein Deckname war ihm zur zweiten Natur
geworden, und selbst seine Ehefrau Erna nannte ihn Richard.
Obwohl er nie eine höhere Position in der KP innegehabt hatte,
stand er mit der gesamten Parteiführung auf vertrautem Fuß.
Wie alle aus der »alten Garde« sprach er selten über die
bewegten Ereignisse der Vergangenheit, und es dauerte geraume
Zeit, bis ich herausfand, daß Stahlmann der berühmte
Partisanen-Richard war, der im Spanischen Bürgerkrieg
gekämpft hatte, der Georgi Dimitroffs enger Vertrauter gewesen
war und der im Krieg in Schweden Herbert Wehner geholfen
hatte, die illegale Arbeit der KPD in Deutschland zu
unterstützen. Überlebende des Spanischen Bürgerkriegs
sprachen voller Hochachtung von seinen Führungsqualitäten
und von der Umsicht, mit der er gefährliche Einsätze vorbereitet

-48-
hatte. Danach hatte Dimitroff ihn mit wichtigen Aufgaben
betraut. Vielleicht kann nur ein Mensch aus meiner Generation
ermessen, was der Name Dimitroff uns damals bedeutete. Als er
nach dem Reichstagsbrand und nach seinem Freispruch nach
Moskau gekommen war, hatten wir ihn als Helden gefeiert, der
den Nazis die Stirn geboten hatte.

Charlotte Bischoff gratuliert Richard Stahlmann zum 80.


Geburtstag 1971
Neben diesen Helden hatte Stahlmann gestanden, als die
Nazis kamen, um ihn zu verhaften; dieser Held hatte
unbedingtes Vertrauen zu Stahlmann gehabt und ihn »das beste
Pferd im Stall« genannt. In Menschen wie Richard Stahlmann
fand ich meine eigenen Ideale verkörpert und vorgelebt sie
waren Berufsrevolutionäre, die mir zu Vorbildern wurden.
In Bohnsdorf gründeten wir, acht Deutsche und vier
sowjetische »Berater«, den Außenpolitischen Nachrichtendienst
der DDR, von dem die meisten anwesenden Deutschen eine
alles andere als klare Vorstellung hatten. Ich war wieder einmal
der Jüngste. Ackermann sorgte – wie nicht anders zu erwarten

-49-
dafür, daß das Treffen den gebührend feierlichen Anstrich
erhielt. Da keiner von uns sich später an das Datum erinnern
konnte und es kein Protokoll gab, erklärten wir im nachhinein
den 1. September 1951 zum Gründungstag unseres
Nachrichtendienstes.

Andrej Grauer 1951


Den Chef der sowjetischen Gruppe stellte Ackermann als
Genossen Grauer vor, von Stalin persönlich beauftragt, uns
unter die Arme zu greifen. Grauer hatte in der sowjetischen
Botschaft in Stockholm für den Nachrichtendienst gearbeitet. Er
war erfahren, und wir hingen an seinen Lippen, wenn er uns
vom abenteuerlichen Alltag im Geheimdienst erzählte. Er
brachte uns bei, wie man einen Dienst aufbaut, wie man ihn in
Einzelabteilungen aufteilt und wie man den Gegner an seinen
empfindlichen Stellen trifft. Leider nahm er ein tragisches Ende.

-50-
Er wurde krankhaft mißtrauisch – möglicherweise war die
Ursache eine Mischung aus déformation professionelle und der
unsicheren Atmosphäre in der UdSSR der Stalinzeit. Sein
Verfolgungswahn wurde immer ausgeprägter; obendrein wurde
durch seine Zwangsvorstellungen das Verhältnis zu Anton
Ackermann, dem unser Dienst unterstand, unerträglich gespannt.
Zuletzt rief der KGB Grauer nach Moskau zurück, wo man
inzwischen wohl gemerkt hatte, daß er die Trennlinie zur
Paranoia überschritten hatte. Daß Ackermann bereits ein Jahr
nach der Gründung des Dienstes um Ablösung ersuchte, führe
ich auf diese Begebenheit zurück.
Kurze Zeit nach Gründung des Dienstes flog ich nach
Moskau, um mich offiziell aus dem diplomatischen Dienst zu
verabschieden. Ich kam gerade rechtzeitig zu dem Empfang, den
unser Botschafter zum zweiten Jahrestag der DDR im Hotel
Metropol gab, in eben jenem Festsaal, in dem ich 1950 Mao und
Stalin mit eigenen Augen erblickt hatte. Wir Jüngeren konnten
uns mit dem Chef unserer Mission nicht über die
Kleiderordnung einigen: Der Botschafter wollte, daß wir im
Frack erschienen, wir plädierten für den dunklen Anzug. Der
Kompromiß, den wir schlössen, hieß Smoking. Beim Empfang
selbst stellten wir verdutzt fest, daß fast alle Gäste in Uniform
oder im dunklen Anzug kamen; die einzigen Anwesenden mit
Smoking und Fliege waren wir und die Kellner. Als Nikolaj
Krutizkij, der Metropolit von ganz Rußland, sich nach dem
offiziellen Teil verabschiedete, begleitete ich ihn zur Garderobe,
wo er umständlich in seiner Soutane kramte, bis er drei Rubel
zum Vorschein brachte, die er mir als Trinkgeld in die Hand
drückte.
Mir blieb kaum Zeit, von meinen Freunden und von der Stadt,
die mir so ans Herz gewachsen war, endgültig Abschied zu
nehmen. Was hatten wir alles in den Jahren erlebt, seit wir 1934
auf dem Bjelorussischen Bahnhof angekommen waren… Und
nun weilte ich plötzlich als Ausländer in Moskau! Aber für

-51-
wehmütige Erinnerungen war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
Am Anfang unseres Außenpolitischen Nachrichtendienstes
spielten die sowjetischen Berater eine starke, um nicht zu sagen
dominierende Rolle, was sich in dem Maße änderte, in dem
unser Dienst den Kinderschuhen entwuchs.
Zuerst schrieben unsere Abteilungsleiter unter den Augen der
Berater fleißig Arbeitspläne. Die Bürokratie, die wir befolgen
mußten, wurde so weit getrieben, daß wir neben allem anderen
Papierkram Stunden damit zubringen mußten, Dokumente in
Aktenordner einzunähen – ein Verfahren, das wahrscheinlich
noch aus den Zeiten der zaristischen Geheimpolizei stammte
und dessen Sinn uns von den Beratern niemals offenbart wurde.
Die Struktur unseres Apparats entsprach fast spiegelbildlich
der des sowjetischen Dienstes; da dieser von Berijas
Geheimpolizei abgekoppelt und dem Außenminister Molotow
unterstellt worden war, hatte man bei uns in Anlehnung daran
Ackermann vom Außenministerium zum Leiter ernannt. Die
Formulierung der Schwerpunkte unserer künftigen Arbeit ließ
unschwer erraten, daß unsere Richtlinien fein säuberlich aus
dem Russischen übersetzt waren. Unsere Aufgaben umfaßten
politische Aufklärung in Westdeutschland und West-Berlin,
wirtschaftliche und wissenschaftlichtechnische Aufklärung auf
den Gebieten der Kern- und Trägerwaffen, der Kernenergie,
Chemie, Elektronik und Elektrotechnik, des Flugzeug- und
Maschinenbaus und der konventionellen Waffen sowie
Aufklärung der westlichen Alliierten.
Eine kleine, selbständige Abteilung Abwehr war dafür
zuständig, die westlichen Geheimdienste zu beobachten und zu
infiltrieren. Sie geriet sofort mit dem seit Februar 1950
bestehenden Ministerium für Staatssicherheit in Konfrontation,
das mit einem weitaus personalreicheren Apparat auch auf
diesem Gebiet tätig war.
Man hat mich immer wieder gefragt, warum Moskau sich mit

-52-
unserem Dienst eine deutsche Konkurrenz schuf, die schnell
selbstbewußt wurde und der sowjetischen Aufklärung in
Deutschland bald in vielem überlegen war. Ich glaube, daß die
Sowjets zu Recht annahmen, daß ein deutscher Dienst sich im
Nachkriegsdeutschland leichter tun würde als sie selbst, an
bestimmte Informationen heranzukommen, und sie an seinem
Wissen würde teilhaben lassen. Und so war es auch, wenigstens
anfangs, als unser Dienst vollständig unter sowjetischer
Kontrolle stand: Unseren Beratern gaben wir brav sämtliche
Informationen, sogar die Decknamen unserer Quellen. Daß wir
nach und nach dazu übergingen, auch ihnen gegenüber die
Regeln der Konspiration einzuhalten und sorgfältig
auszuwählen, was sie erfahren sollten, war nicht unbedingt im
Sinne der Gründungsväter.
Mein erster direkter Vorgesetzter war Robert Korb, den ich
beim Deutschen Volkssender in Moskau kennengelernt hatte. Er
leitete die Hauptabteilung Information, die aus einer Sekretärin,
ihm und mir bestand. Wir saßen in einer ehemaligen Schule im
Stadtteil Pankow, nicht weit vom Sperrgebiet, in dem Partei-
und Staatsführung wohnten. Korb verfügte über profunde
politische Kenntnisse und ein enormes Faktenwissen. Von ihm
habe ich viel gelernt, auch über Themen, die unsere Arbeit nicht
berührten, etwa den Islam, die lange Vorgeschichte Israels oder
die Ursachen religiöser Konflikte auf dem indischen
Subkontinent. Er war ein brillanter Analytiker, der mich lehrte,
die Berichte der operativen Abteilungen mit Skepsis zu prüfen.
Wir kamen beide schnell zu der Einsicht, daß eine
kontinuierliche, gründliche Auswertung der Presse so manche
»geheime« Information überflüssig macht. Von dieser
Erkenntnis ist es nicht weit zu der, daß man als Analytiker stets
gezwungen ist, sich durch Verwendung unterschiedlichster
Quellen eine eigene Meinung zu bilden, wenn man
nachrichtendienstliches Material kritisch beurteilen will.
Korb war in mancher Hinsicht, was man ein Original nennt.

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Seine Sarkasmen und Pointen saßen immer. Ehrfurcht vor
Würdenträgern kannte er nicht, und wir fanden schnell eine
gemeinsame Sprache. Wir dienten unserem Staat loyal, aber wir
waren keine Eiferer; die missionarische Verbissenheit mancher
unserer politischen Führer betrachteten wir mit ironischer
Distanz.
Richard Stahlmann stand durch seine Vergangenheit mit der
gesamten Führungsriege unseres jungen Staates auf vertrautem
Fuß. Wenn sich unerwartete Schwierigkeiten für unseren
frischgekürten Dienst einstellten, suchte Stahlmann den
Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zu Hause auf, und die
Schwierigkeiten waren gelöst. Benötigten wir dringend Devisen,
die wir auf dem vorgeschriebenen Weg frühestens nach
Monaten bekommen hätten, besuchte er den Finanzminister und
brachte das Geld in der Aktentasche von dort mit. Es gelang ihm
sogar, von vierundzwanzig Tatra-Limousinen, die die
Tschechoslowakei für unsere Regierung lieferte, nicht weniger
als die Hälfte für unseren winzigen Dienst abzuzweigen.
Auch innerhalb des Dienstes war Stahlmanns Vergangenheit
ein Plus. Wie jeder Nachrichtendienst benötigten wir gut
gefälschte Ausweispapiere des betreffenden Landes. Nichts
leichter für Stahlmann, als ein ganzes Sortiment verschiedener
Papiersorten aufzutun oder Fachleute ausfindig zu machen, die
die fast ausgestorbene Kunst des Handschöpfens beherrschten
und obendrein die Sicherheitserfordernisse erfüllten. Im
Handumdrehen hatte er eine komplette Papierfabrik en
miniature eingerichtet. Auch den Fachmann für täuschend echt
wirkende Stempel und Unterschriften brachte er zu uns: Richard
Großkopf hatte vor und während des Krieges Hunderte von
Illegalen mit falschen Papieren ausgestattet.
So begann meine Laufbahn im Nachrichtendienst, die
fünfunddreißig Jahre dauern sollte.
Allmählich platzte unser Domizil in Pankow aus allen Nähten,
und wir mußten umziehen. In unserem neuen Dienstgebäude am
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Rolandsufer im Zentrum Berlins wurde ich stellvertretender
Leiter der Abteilung Abwehr, die die Anfeindungen durch das
Ministerium für Staatssicherheit bisher überlebt hatte. Ihr Leiter
war Gustav Szinda, ein Mann mit langjähriger Erfahrung in der
illegalen Arbeit.
Unsere Aufgabe war es, die bundesdeutschen Geheimdienste
zu infiltrieren. Das war leichter gesagt als getan. Da saßen wir
zu viert und hatten nicht die leiseste Vorstellung, wie wir es mit
Nachrichtend iensten aufnehmen sollten, die den
Zusammenbruch des Dritten Reichs fast unbeschadet überlebt
hatten und in der Bundesrepublik wie der Phönix aus der Asche
auferstanden waren. Als wir mit unserer winzigen Abteilung
Abwehr zum Jahreswechsel 1951/52 den Kamp f gegen die
bereits voll agierenden westdeutschen Apparate aufnahmen,
sagte uns der Name Pullach, der gelegentlich
geheimnisumwittert in der Presse auftauchte, nicht viel. Er stand
für eine unbekannte und, wie es uns schien, unerreichbare Welt.
Der Tag, an dem wir uns in diesem oberbayerischen Ort sogar
sehr gut auskannten, lag noch in weiter Ferne.
Auf den Namen des Mannes, der in Pullach leitete, was sich
damals Organisation Gehlen nannte, stieß ich erstmals in einem
Artikel des Londoner Daily Express mit der Schlagzeile: »Ex-
Hitler-General spioniert jetzt für Dollars.« Der Autor Sefton
Delmer unterhielt gute Beziehungen zum britischen
Geheimdienst und hatte im Krieg für den britischen
Soldatensender Calais gearbeitet, was seine Glaubwürdigkeit
erhärtete.
Kurz vor seinem Ende hatte Adolf Hitler General Reinhard
Gehlen, den Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, durch
Oberstleutnant Gerhard Wessel ersetzt. Als der Krieg zu Ende
war, wechselte Gehlen die Seite, aber nicht den Gegner.
Beschützt, gefördert und finanziert von der Regierung der
Vereinigten Staaten gründete er die nach ihm benannte
Organisation Gehlen, die als Eigenkapital ihre intimen

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Kenntnisse über die fremden Heere im Osten einbrachte. Sie
wurde ein Sammelbecken »alter Kameraden« aus Hitlers Zeiten.
Das hinderte Konrad Adenauer, den ersten Kanzler der
Bundesrepublik Deutschland, nicht, sich des alten, erneuerten
Geheimdienstes zu bedienen und ihn nach wenigen Jahren als
Bundesnachrichtendienst in eigener Regie zu übernehmen.
Gehlen genoß damals nicht nur im Bonner Kanzleramt
Vertrauen, sondern auch in arabischen Staaten, weil er
ehemalige Nazioffiziere als Ausbilder in den Nahen Osten
entsandte, darunter so manchen Experten in der
Judenverfolgung. Gehlen blieb Präsident des BND bis zum
Frühjahr 1968. Sein Nachfolger wurde – wie 1945 – General a.
D. Gerhard Wessel.
Delmers Artikel enthüllte, wie viele Offiziere aus Gehlens
militärischem Dienst und wie viele ehemalige SS- und SD-Leute
in Pullach untergeschlüpft waren. Er schlug wie eine Bombe ein.
Gleichzeitig wurden Gerüchte laut, daß der amerikanische
General George S. Patton, der als Rechtsaußen berüchtigt war,
nicht nur die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern aus
Deutschland laut kritisiert, sondern auch hochrangigen NS-
Offizieren zur Flucht in die USA verholfen haben sollte. All das
war alarmierend und mußte von uns zwangsläufig als
Bedrohung interpretiert werden.
Jetzt ging es nicht mehr nur um die Verwirklichung der Ziele,
die wir uns bei Kriegsende gesetzt hatten. Eine neue
Konfrontation war vorgezeichnet, der mühsam errungene
Frieden zeigte erste Sprünge. Europa war gespalten, und die
Trennlinie verlief mitten durch Deutschland.
Adenauer setzte eindeutig auf die amerikanische Politik der
Stärke und auf die von John Foster Dulles formulierte Strategie
des roll back gegenüber dem Kommunismus. Dulles' Bruder
Allen war damals Chef der CIA, der Central Intelligence
Agency der USA. Bei Kriegsende war die Macht der
Sowjetunion weit nach Westen vorgedrungen; das wollten die

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Vereinigten Staaten nun so schnell wie möglich und unter
Einsatz aller nur erdenklichen Mittel rückgängig machen.
Gehlen begriff schnell die Chance, nicht nur seinen
Geheimdienst am Leben zu erhalten, sondern Einfluß auf die
Politik der Bundesrepublik zu gewinnen. Obendrein paßte er
mitsamt seinen Verbindungen dem Kreuzzugsdenken der Brüder
Dulles bestens ins Konzept.
Leute wie Gehlen und sein Stab waren keine Ausnahme. In
Bundeswehr und Staatsapparat besetzten einstige NS-
Funktionäre so manche Spitzenposition. Zum Synonym für
diese Art von Kontinuität wurde der Name Globke. Dr. Hans
Globke, unter Hitler ein hochrangiger Beamter im
Reichsinnenministerium und Verfasser des Kommentars zu den
Nürnberger Rassengesetzen, wurde von Adenauer zu dessen
engstem Berater, später sogar zum Staatssekretär im
Bundeskanzleramt gemacht.
Das Berlin der 50er Jahre mit seiner hektischen Atmosphäre
hatte Wien als Hauptstadt europäischer Spionagetätigkeit
abgelöst. Im Untergrund zwischen Ost und West waren
zeitweise – ihre Ableger mitgerechnet – bis zu acht zig
verschiedene Geheimdienste tätig. In amerikanischen und
russischen Filialen war von Kompaniestärke die Rede. Getarnt
als Forschungszentren oder wissenschaftliche Einrichtungen,
Süßwarenexporteure oder Klempnerfirmen jedweder Art,
rekrutierten und lenkten sie ihre diversen Agenten, denen der
Verkehr zwischen Ost- und West-Berlin vor den Tagen des
Mauerbaus ein Leichtes war. Es war die Zeit vor dem Beginn
des westdeutschen Wirtschaftswunders. Die Leute ließen sich
bereitwillig als Spione anwerben, wenn ma n ihnen etwas
Besseres zu essen oder einen beruflichen Lichtblick versprach.
Die westlichen Dienste konnten sich dabei auf die Anziehung
der harten Westwährung stützen und darauf, daß breite Kreise
der Bevölkerung im Osten das neue politische System
unterschwellig ablehnten; zusätzlich waren sie uns gegenüber

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dadurch im Vorteil, daß sie auf einen funktionierenden Apparat
und langjährige Erfahrung zurückgreifen konnten, von ihrer
besseren Ausstattung ganz zu schweigen. Da war es nur ein
schwacher Trost zu merken, daß auch unsere sowjetischen
Berater, die wir bisher voller Ehrfurcht betrachtet hatten, ähnlich
blutige Anfänger waren wie wir selbst.
Viele unserer damaligen Agenten und Kontakte im Westen
waren keine Kommunisten, sondern arbeiteten für uns, weil sie
die Teilung Deutschlands überwinden helfen wollten und die
Politik der Amerikaner für falsch hielten. Einige hatten wir zur
Kooperation überredet, indem wir sie wissen ließen, daß wir
über ihre Vergangenheit im Dritten Reich besser informiert
waren, als ihnen lieb sein konnte. Wieder andere wollten es sich
sicherheitshalber mit keiner Seite verderben und spionierten
deshalb für die DDR, während sie gleichzeitig strebsame Bürger
der BRD waren. Hin und wieder gelang es auch einem Ex-Nazi
in der DDR, sich in unseren Dienst einzuschmuggeln, aber
sobald wir das herausfanden, wurde der Betreffende
stillschweigend von seinem Posten entfernt – so im Fall eines
Mannes, der sich durch die SS-Tätowierung auf seinem Arm
verraten hatte. Nazis waren bei uns nicht erwünscht.
Eine unserer wenigen Chancen, tatsächlich an die
Geheimdienste des Westens heranzukommen, bot die
Parteiaufklärung der westdeutschen KPD, hervorgegangen aus
einer Tradition der KPD, deren verschiedene Dienste in enger
Kooperation mit der Komintern und den sowjetischen Diensten
gestanden hatten. Der neue Nachrichtendienst der KPD wurde
von Anfang an vom Zentralkomitee der SED aus gesteuert. Die
Frage war nur, wie verläßlich sie als Instrument der Aufklärung
war – anders ausgedrückt, ob, und wenn, wieweit sie
möglicherweise von westlichen Diensten unterwandert war.
Das konkret zu überprüfen, sollte ich Gelegenheit bekommen,
als ich beim Durchforsten der Unterlagen nach Beziehungen der
Parteiaufklärung zu solchen Organisationen auf den Namen

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einer Quelle namens »Merkur« stieß, die Kontakte zum
Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und gute
Verbindungen zur Bonner politischen Szene zu unterhalten
schien; es klang alles fast zu schön, um wahr zu sein. Als ein
Mitarbeiter unserer Abteilung den Mann in Schleswig-Holstein
aufsuchte, zeigte er sich mehr als willig, nach Berlin zu
kommen, fast als hätte er auf diese Einladung gewartet.
In einer Villa am Stadtrand von Berlin trafen wir uns mit
»Merkur«, einem schlanken, hochgewachsenen Mann um die
Dreißig, den ma n durchaus für den Elektroingenieur halten
konnte, als der er sich ausgab.
Gustav Szinda leitete das Gespräch, und obwohl wir ungeübt
waren, fast noch Amateure, taten wir instinktiv das Richtige:
Wir ließen »Merkur« zuerst ausführlich seinen Lebenslauf
erzählen. Als Student in Hamburg wollte er begonnen haben, für
die Parteiaufklärung der KP zu arbeiten; in ihrem Auftrag sei er
dann zielstrebig an rechtsradikale Organisationen herangetreten
und habe es zuletzt zum persönlichen Sekretär im Bonner Büro
Dr. Fritz Dorls, des Vorsitzenden der neonazistischen
Sozialistischen Reichspartei, gebracht. Es klang alles sehr
logisch, aber sobald ich ihm Fragen zu Leuten stellte, die er
angeblich kannte, fielen mir Ungereimtheiten in seinen
Antworten auf, hie und da gar Widersprüche zu dem, was in
seinen schriftlichen Berichten gestanden hatte. Wir baten ihn,
am nächsten Tag noch einmal zu kommen. Nach kurzer
Beratung mit Szinda studierte ich die Akten bis tief in die Nacht
– und mein Verdacht bestätigte sich.
Am Tag darauf führten wir das Gespräch mit verteilten Rollen
weiter: Szinda schlug die harten Töne an, ich setzte »Merkur«
mit den Fakten zu. Schließlich gestand er, daß er für den
britischen Geheimdienst arbeitete. Damit war der Traum von der
Spitzenquelle verflogen. Wir spielten kurzfristig mit dem
Gedanken, ihn umzudrehen und auf diesem Weg den britisehen
Geheimdienst zu infiltrieren, aber auch das zerschlug sich, als

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wir bei einem dritten Gespräch aus ihm herausholten, daß er
schon als Student im Auftrag von MI 5 den Kontakt zur
kommunistischen Parteiaufklärung gesucht hatte.
Unter diesen Umständen war es für uns nur ratsam, die Finger
von »Merkur« zu lassen. Ohnedies lag die weitere Untersuchung
des Falles außerhalb unserer Kompetenz. So geschah es, daß
mein erster Fall ausgerechnet Erich Mielke in die Hände geriet,
damals Staatssekretär im Ministerium für Staatssicherheit, dem
unser Dienst vom ersten Tag an ein Dorn im Auge gewesen und
mit Mißtrauen verfolgt worden war. Daß zwischen ihm und
Szinda seit ihrer gemeinsamen Vergangenheit im Spanischen
Bürgerkrieg unverhüllte Abneigung herrschte, machte den
Umgang nicht gerade harmonischer. Die Entlarvung »Merkurs«
bezeichnete Mielke sofort als »Quatsch«; von seinen eigenen
Mitarbeitern mußte er sich eines Besseren belehren lassen, als
der Mann in Untersuchungshaft kam, geständig war und dann
vom Gericht zu neun Jahren Haft verurteilt wurde.
Der Fall »Merkur« war meine erste Bewährungsprobe in der
Aufklärung, aus der ich die Lehre zog, daß man im
Nachrichtendienst nie die Logik außer acht lassen und sich nie
vom Wunschdenken irreführen lassen darf.
»Merkurs« Entlarvung löste nicht nur im Westen Alarm aus,
sondern mehr noch bei uns, denn er hatte bei der Vernehmung
ein Wissen über Mitarbeiter und Querverbindungen innerhalb
der Parteiaufklärung offenbart, das er eigentlich nicht hätte
haben dürfen. Ich machte mich an die mühselige Aufgabe, den
gesamten Apparat samt all seinen Kontakten zu überprüfen.
Wie bei einem Puzzle suchte ich geduldig nach den passenden
Teilchen. Um eve ntuell vom Gegner umgedrehte Agenten nicht
»anzustoßen« (ihnen nicht zu verraten, daß man sie
verdächtigte), befragte ich nicht sie, sondern die von der DDR
aus eingesetzten Kuriere und Verbindungsleute. Dabei erfuhr
ich von mehr unstatthaften Querverbindungen, die gegen alle
Regeln der Konspiration verstießen, als uns lieb sein konnte.
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Im Lauf mehrerer Monate entstand auf einem riesigen Bogen
Millimeterpapier eine »Spinne« – ein Diagramm aller
Beziehungen der Parteiaufklärung, aus dem außer mir bald
niemand mehr schlau werden konnte. Striche und Kästchen in
verschiedenen Farben bezeichneten persönliche oder
unpersönliche Verbindungen – rot für verdächtigte
Doppelagenten, blau für Quellen, grün für Residenten –,
Zeichen markierten Verdachtsmomente oder Kontakte zu
gegnerischen Diensten. Uneingeweihten sagte das nichts; für
meine Augen gewann das Diagramm jedoch immer deutlichere
Konturen.
Manche Quellen und Residenturen gingen unbeschadet aus
meinem Durchleuchten hervor – ein hoher Beamter im
Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, der uns noch
viele Jahre mit Informationen versorgen sollte, ebenso wie
unsere Residentur in Bayern, während ein Frankfurter Journalist
mit dem Decknamen Wagner mir verdächtig vorkam und sich
später beim Verhör als Doppelagent im Auftrag der Amerikaner
entpuppte.
Was tun? In welchem Ausmaß mochte die Parteiaufklärung
bereits von Agenten der Gegenseite durchsetzt und vom Gegner
aufgerollt sein? Wir unterstellten als schlimmste Möglichkeit
die, daß Verfassungsschutz sowie britischer und amerikanischer
Geheimdienst erhebliche Teile des Netzes enttarnt hatten und
mittels umgedrehter Agenten möglicherweise bereits bis in die
Berliner Zentrale vorgedrungen waren. Es blieb uns folglich
nichts anderes übrig, als auf die Parteiaufklärung zu verzichten.
Nach langen Beratungen zog ich eines Tages an der Seite
Ackermanns, die große Papierrolle unter dem Arm, zu Ulbrichts
Wohnung in Pankow. Ulbrichts Einrichtung verriet die Vorliebe
des gelernten Tischlers für gutbürgerliches Mobiliar mit
gedrechselten Verzierungen. Auf dem Eßtisch breitete ich meine
»Spinne« aus und schilderte die Ergebnisse meiner
Überprüfungen in allen Einzelheiten. Ackermann und ich

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schlugen Ulbricht vor, alle Verbindungen zur westdeutschen
Parteiaufklärung abzubrechen und alle Mitarbeiter, die Kontakt
zur KPD hatten, zurückzubeordern. Ulbricht stimmte zu, und
seitdem war die KPD bis zu ihrem Verbot im Jahr 1956 ebenso
tabu für unseren Dienst wie später ihre Nachfolgerin, die DKP.
An die folgenden Monate erinnere ich mich nicht gern. Die
zurückgerufenen Mitarbeiter der Parteiaufklärung waren fast
ausnahmslos überzeugte Antifaschisten, die Zuchthaus,
Konzentrationslager und Emigration auf sich genommen hatten
und sich jetzt unsere mißtrauischen Fragen gefallen lassen
mußten. Ihre Lage war demütigend, um es bescheiden zu sagen,
auch wenn bei uns zum Glück nicht mit Berijas Methoden
gearbeitet wurde.
Wie gewinnt, wie bewahrt man Vertrauen? Wie prüft man
Zuverlässigkeit? Darf man sich auf seine Intuition verlassen?
Diese Fragen stellte ich mir damals immer wieder. Im Verlauf
dieser Untersuchung war mir klargeworden, daß man einmal
gefaßte Meinungen ständig überprüfen muß. Diese Bereitschaft
zu vorurteilsfreiem Denken ermöglichte es uns, einige
Spitzenquellen im Westen wieder zu aktivieren, nachdem wir
sicher sein konnten, daß es den westlichen Diensten nicht
gelungen war, sie zu identifizieren. Zu unserer erheblichen
Erleichterung stellten wir fest, daß auch der Gegner nur mit
Wasser kochte.
Andererseits stellte uns der Verzicht auf die Parteiaufklärung
vor das nicht geringe Problem, einen Ersatz zu schaffen und
geeignete Kandidaten zu finden. Die Sicherheitsanforderungen,
über deren Einhaltung ein sowjetischer Berater mit
unnachgiebiger Strenge wachte, waren so hochgeschraubt, daß
allein schon die Besetzung der Zentrale schier unmöglich
schien. Kandidaten mit Verwandten im Westen oder solche, die
in westlicher Emigration oder Gefangenschaft gewesen waren,
schieden von vornherein aus. Ackermanns Stellvertreter Gerhard
Heidenreich, der beauftragt war, den Apparat zu komplettieren,

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war Sekretär für Kaderfragen bei der FDJ gewesen, der
Jugendorganisation der SED, und so kamen viele junge Leute
von der FDJ zu uns. Sie sollten den Kern meines Dienstes, der
späteren Hauptverwaltung Aufklärung, bis zu ihrer Auflösung
im Jahr 1990 bilden. Ihre in vierzig Jahren gewonnene
praktische Erfahrung hätte kein Lehrgang ersetzen können. Im
Unterschied zu den meisten anderen Geheimdiensten drehte sich
bei uns kein Karussell, wenn es um die Besetzung leitender
Positionen ging. Diese Kontinuität war einer der Hauptgründe
unserer Effizienz, und sie ermöglichte es mir, meine Denkweise
und Handschrift auf andere zu übertragen. Aber bis dahin war es
Ende 1952. noch ein weiter Weg.

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3 Learning by doing

Im Dezember 1952 wurde ich zu Walter Ulbricht bestellt,


dem Generalsekretär der SED, der bereits als der mächtigste
Mann des jungen Staates galt. Ohne zu ahnen, was er von mir
wollte, machte ich mich auf den Weg zum Zentralkomitee, das
zu jener Zeit noch nicht weit vom Alexanderplatz seinen Sitz
hatte. In der Anmeldung erhielt ich einen Passierschein, den die
Wache sorgfältig mit meinem Ausweis verglich. Die Kontrollen
waren nicht annähernd so drakonisch, und das Gebäudeinnere
war nicht annähernd so imposant wie später im sogenannten
Großen Haus am Werderschen Markt, doch schon damals wehte
ein unmißverständlicher Hauch jener Atmosphäre, die so
charakteristisch werden sollte für die abgehobene Welt der
Parteiführer.
Ich meldete mich in Ulbrichts Sekretariat. Er war no ch in
einer Besprechung, erschien aber kurz darauf und führte mich in
das benachbarte Büro seiner Frau Lotte, die als seine engste
Mitarbeiterin galt. Sie begrüßte mich freundlich, bevor er sie aus
dem Zimmer schickte. Dann kam er ohne Umschweife zur
Sache, wie es seine Art war, ohne persönliche Worte, ohne
Einleitung und ohne den Gesprächspartner anzublicken.
So erfuhr ich, daß Anton Ackermann darum gebeten hatte,
von der Leitung des Außenpolitischen Nachrichtendienstes
entbunden zu werden – hier gehorchte Ulbricht der
Sprachregelung zumindest soweit, hinzuzufügen: »Aus
gesundheitlichen Gründen.« Selbstverständlich wußte ich, daß
Ackermanns Vorstellung von einem eigenen deutschen Weg
zum Sozialismus mit Ulbrichts Moskautreue kollidierte. Später
hieß es, daß Ackermann sich in seinem Privatleben unvorsichtig
verhalten haben soll, was im puritanischen Milieu der DDR
jener Zeit das politische Aus bedeuten mußte; andererseits war
es ein offenes Geheimnis, daß die Anfeindungen Grauers

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Ackermann die Leitung des Geheimdienstes zunehmend
verleidet hatten.
Während ich diese Mitteilung noch verdutzt zur Kenntnis
nahm, hörte ich Ulbrichts nächste Worte: »Wir sind der
Meinung, daß du die Leitung des Dienstes übernehmen solltest.«
Anders ausgedrückt: Die SED-Führung war der Meinung, daß
ich, keine dreißig Jahre alt, in der Hierarchie des
Nachrichtendienstes einer unter vielen, in der Partei noch
unbedeutender, Ackermanns Nachfolger in dieser
entscheidenden Funktion werden sollte. Auf meine Frage, über
wen ich Kontakt zur Führung halten solle, erklärte Ulbricht, ich
sei unmittelbar ihm unterstellt.
Es war kaum eine Viertelstunde vergangen, als ich wieder auf
der Straße stand – nicht wenig verwirrt. Mir drehte sich alles im
Kopf, so benommen war ich von dem, was mir widerfahren war.
Sollte ich irgendein Gefühl benennen, an das ich mich erinnern
kann, wäre es wohl am ehesten Stolz, Stolz auf das Vertrauen,
das die Partei mir entgegenbrachte.
Noch heute kann ich nicht mit Gewißheit sagen, warum die
Wahl ausgerechnet auf mich fiel. Meine guten Moskauer
Beziehungen und meine Abstammung aus der Familie eines
kommunistischen Schriftstellers mochten das ihre dazu
beigetragen haben, doch meine fast gänzliche Unerfahrenheit im
Nachrichtendienst mußte in anderer Hinsicht in die Waagschale
fallen. Andererseits hatte Ackermann meine Wahl offenbar
befürwortet, was gewiß nicht ohne Gewicht war.
Wenn man mich heute fragt, wie ich so unbefangen die
Ernennung zum Leiter eines Nachrichtendienstes annehmen
konnte, der Teil dessen war, was heute vielen als
Unterdrückungsapparat erscheinen muß, dann kann ich dazu nur
sagen, daß ich es damals ganz gewiß nicht so sah und auch gar
nicht so sehen konnte. Damit will ich keineswegs dem blinden
Gehorsam das Wort reden, auf den so viele Mitläufer des Dritten
Reichs sich im nachhinein so gerne berufen haben. Mir war bei
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jeder Entscheidung in meinem Leben bewußt, daß ich mich
dem, was man von mir verlangte, auch hätte verweigern können
– mit unangenehmen Folgen, aber ohne Gefahr für Leib und
Leben. Jahre später habe ich mich tatsächlich einmal einer
Weisung widersetzt: Man hatte mich als Nachfolger Horst
Sindermanns in der Leitung der Abteilung Agitation und
Propaganda im Zentralkomitee der SED ausersehen, eine Ehre,
die ich ausschlug, sobald sie mir zu Ohren kam. In diesem einen
Fall zogen Mielke und ich am selben Strang, nur aus
unterschiedlichen Motiven: Er wollte meinen kometenhaften
Aufstieg bremsen, ich wollte die relative Unabhängigkeit und
Selbständigkeit, die ich im Nachrichtendienst genoß, nicht
aufgeben, um im schwerfälligen Parteiapparat zu verschwinden.
Als ich in unser Dienstgebäude am Rolandsufer zurückkam,
erwartete mich dort schon ungeduldig Richard Stahlmann, in
Abwesenheit Ackermanns der amtierende Chef unseres
Dienstes. Ungewöhnlich, wie er in allen Dingen war, verhielt er
sich auch jetzt: Freudig schloß er den Panzerschrank auf, um mir
die spärlichen Akten zu übergeben, als könne er es kaum
erwarten, von mir abgelöst zu werden und die leidige
Schreibtischarbeit hinter sich zu lassen. Über den Tisch schob er
mir den Schlüssel zu und sagte: »So, nun mach mal. Wenn du
mich brauchst, bin ich da.«
Wesentlich frostiger fiel Mielkes Begrüßung aus, als
Stahlmann mich ihm in meiner neuen Funktion vorstellte. Er
ließ uns zuerst über eine Stunde im Vorzimmer warten und
beschränkte sich dann darauf, in eisigem Ton zu erklären, über
meine Ernennung sei so wenig endgültig entschieden wie über
die ganze Existenz des Nachrichtendienstes.
Der Nachrichtendienst blieb nur ein knappes halbes Jahr unter
Ulbrichts direkter Kontrolle. Im Frühjahr 1953 wurde er
Wilhelm Zaisser unterstellt, nicht in dessen Funktion als
Minister für Staatssicherheit, sondern in der eines Mitglieds des
Politbüros der SED. Über seine Biographie wußte ich nur, daß

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er – wie Richard Sorge – Geheimaufträge in China ausgeführt
hatte und daß er im Spanischen Bürgerkrieg unter dem Namen
General Gomez die Elfte Internationale Brigade befehligt hatte.
Es machte Spaß, mit Zaisser zusammenzuarbeiten. Er strahlte
eine vertrauenerweckende ruhige Autorität aus, die sich
wohltuend von Mielkes wichtigtuerischer Hektik abhob, aber
auch von Ulbrichts steifer, unpersönlicher Art. Einmal in der
Woche hatte ich bei ihm eine feste Sprechstunde, zu der er mich
auf die Minute genau empfing. Fast nie gelang es mir, in dieser
Stunde alles zur Sprache zu bringen, was mir auf den Nägeln
brannte, denn bei meinen Besuchen war ich für Zaisser ein
willkommener Gesprächspartner, mit dem er als Herausgeber
der gesammelten Werke Lenins in deutscher Sprache
Übersetzungsfragen diskutieren konnte. Für Mielkes
Unterwürfigkeit gegenüber Ulbricht hatte er nur Verachtung
übrig, und auch aus seiner tiefen Abneigung gegen den
Generalsekretär der Partei machte er kein Hehl. Bei fast allen
Emigranten, die ich näher kennenlernte, genoß Ulbricht keine
Sympathie: bei den einen, weil sie sich an seine Herz- und
Fühllosigkeit in Moskau erinnerten, als er in Zeiten schlimmer
Repressalien Hilfe, die nötig und möglich gewesen wäre,
verweigert hatte, bei anderen wie Pieck oder Ackermann, weil er
sich sogar ihnen gegenüber autoritär gebärdete.
Kaum hatte Ulbricht den Nachrichtendienst an Zaisser
abgetreten, erlebten wir unseren ersten großen Skandal, die
sogenannte Vulkan-Affäre. Verursacht wurde sie durch Gotthold
Kraus, den ersten Überläufer aus unserem Dienst in den Westen.
Ausgerechnet ihn hatte Szinda aus einer anderen Abteilung zu
uns geholt und mit besonders vertraulichen Schreibarbeiten
betraut. Da er sich unmittelbar vor Ostern 1953 absetzte, hatte
die bundesdeutsche Abwehr genug Zeit, alles, was Kraus wissen
konnte, aus ihm herauszuquetschen und zu handeln, bevor wir
auch nur ahnen konnten, was vor sich ging.
Man kann sich vorstellen, wie fassungslos wir waren, als der

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bundesdeutsche Vizekanzler Franz Blücher kurz nach Ostern auf
einer Pressekonferenz unter dem Kennwort Aktion Vulkan
bekanntgab, es seien gerade fünfunddreißig ostdeutsche Agenten
durch die westdeutschen Behörden festgenommen worden.
Natürlich wußten wir sofort, daß die Zahl Fünfunddreißig eine
gigantische Übertreibung darstellte; nicht einmal leitenden
Mitarbeitern unseres Dienstes wäre die Identität so vieler
Agenten in einem fremden Land bekannt gewesen. Es stellte
sich bald heraus, daß die westdeutsche Spionageabwehr vor
lauter Übereifer neben höchstens einem halben Dutzend echter
Verbindungsleute honorige Geschäftsleute verhaftet hatte, die
im innerdeutschen Handel aktiv gewesen waren, ohne das
geringste mit dem Nachrichtendienst zu tun zu haben.
Während die Aktion Vulkan sich für den westlichen Dienst
letztlich als Blamage erwies – viele der Betroffenen klagten auf
Schadenersatz -, gab sie uns viel zu denken; wir hätten erkennen
müssen, wie verwundbar unser Dienst war. Wie viele
Maulwürfe mochten noch unerkannt in unserem Apparat
wirken? Eine Kommission unter Vorsitz von Staatssekretär
Mielke überprüfte alle Mitarbeiter auf Herz und Nieren – für
Mielke eine hochwillkommene Gelegenheit, mich seine Macht
spüren zu lassen.
Die darauffolgenden Monate verbrachten wir mit dem
mühsamen Klären der Personalfragen und dem zähen Kampf um
jeden einzelnen Mitarbeiter, den ich nicht verlieren wollte. Vor
Schrecken über das Wissen der Gegenseite wurde beschlossen,
den ganzen Apparat zu dezentralisieren und die einzelnen
Abteilungen in einem Dutzend weit auseinanderliegender
Gebäude unterzubringe n. Für die eigentliche Arbeit blieb in
dieser Phase wenig Zeit. An Problemen, die ich mit Zaisser
dringend besprechen mußte, herrschte kein Mangel.
Stalins Tod im März 1953 war ein großer Schock. Im Kreml
brachen erbitterte Machtkämpfe aus, und die übrigen
sozialistischen Staaten Osteuropas waren plötzlich auf sich

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selbst gestellt. Doch diese umwälzenden Konsequenzen wurden
mir damals nicht bewußt, denn im Nachrichtendienst waren wir
viel zu sehr mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. Vieles,
was in unserem Land geschah, nahmen wir nur halb wahr, und
die Stimmung in breiten Schichten der Bevölkerung war uns
nicht wirklich bekannt. Wir lebten in einer eigenen und sehr
abgeschotteten Welt. Selbst als Ministerpräsident Grotewohl
schon im Dezember 1952. warnend von einer drohenden
Versorgungskrise sprach, rüttelte uns das nicht wach.
Ulbricht war die treibende Kraft hinter dem ein Jahr zuvor
beschlossenen forcierten Aufbau des Sozialismus. Jeden
Widerstand dagegen wischte er als geübter Stalinist mit der
These von der gesetzmäßigen Verschärfung des
Klassenkampfes, solange die sozialistische Umwälzung noch
nicht abgeschlossen ist, vom Tisch. Es kam zu drastischen
Steuererhöhungen und Kreditbeschränkungen, zu
Zwangsmaßnahmen gegen größere Bauernhöfe, mittlere und
kleine Unternehmen und Freischaffende. Besonderen Unmut
erregten Vorschriften, die den Freiraum der Kirchen und
Geistlichen noch weiter einengten. Am gefährlichsten jedoch
waren die Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel und die
gleichzeitige Erhöhung der Arbeitsnormen, denn damit brachte
die Regierung die Arbeiter gegen sich auf.
Die Konsequenzen waren unübersehbar: Als Reaktion auf den
zunehmenden Druck wurde nicht nur immer lauter gemurrt,
sondern gehandelt; mehr als 120 000 Menschen stimmten mit
den Füßen ab und verließen in den ersten vier Monaten des
Jahres 1953 die DDR. Besonnene Politiker wie Ackermann,
Zaisser und Rudolf Herrnstadt, der Chefredakteur der
Parteizeitung Neues Deutschland, sahen die Entwicklung mit
Sorge und plädierten für einen weniger harten Kurs.
Daß ausgerechnet Lawrentij Berija, der gefürchtete
Geheimdienstchef, der seit dem Tod Stalins der entscheidende
Mann in der sowjetischen Führungstroika war, sich für eine

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Wende in der Deutschlandpolitik aussprach, die den Weg
freimachen sollte für ein vereinigtes, demokratisches und
neutrales Deutschland, hätte ich nicht in meinen
abenteuerlichsten Träumen für möglich gehalten. Heute weiß
ich, daß Berija Anfang Juni Vertreter des SED-Politbüros nach
Moskau beorderte und ihnen ein Papier mit dem Titel Ȇber die
Maßnahmen zur Gesundung der Lage in der Deutschen
Demokratischen Republik« vorlegte. Es enthielt Vorschläge,
deren Verwirklichung eine Abkehr vom administrativen
Kommandieren bedeutet hätte; eine Verständigung mit der
Bundesrepublik wäre in den Bereich des Möglichen gerückt.
Berija hatte dabei das langfristige Ziel eines vereinigten,
neutralen Deutschlands vor Augen, das sich keinem Bündnis
gegen die Sowjetunion anschließen würde – ein von Stalin
formuliertes Ziel.
Von diesen dramatischen Entwicklungen und den erbitterten
Auseinandersetzungen im Politbüro zwischen Hardlinern und
Gemäßigten verlor Zaisser mir gegenüber kein Wort. So kam es,
daß ich Ende Mai auf seinen Vorschlag hin mit meiner Familie
einen langentbehrten Urlaub antrat und die nächsten Wochen in
Prerow an der Ostseeküste mit Baden und Hemingway-Lektüre
verbrachte.
In der Zeitung las ich, Politbüro und Regierung hätten
schwere Fehler eingestanden und die Revision früherer
Entscheidungen angekündigt: Republikflüchtige wurden zur
Rückkehr aufgefordert, man versicherte, es werde ihnen nichts
geschehen; politische Repressionen und die Diskriminierung
junger Christen sollten merklich gemildert werden. Das klang
alles sehr vernünftig und beruhigend.
Aber es war zu spät. Am Morgen des 16. Juni brachte der
Rundfunk die alarmierende Nachricht, daß Berliner Bauarbeiter
von der Stalinallee zum Haus der Ministerien, Görings
ehemaligem Reichsluftfahrtsministerium in der Leipziger
Straße, marschiert waren. Dort hatten sie in Sprechchören die

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Rücknähme der neuen Arbeitsnormen und soziale
Verbesserungen gefordert. Das Gebäude war von
Bereitschaftspolizei abgeriegelt worden, die Stimmung drohte
überzukochen. Die Streikenden verlangten, daß Ulbricht und
Grotewohl sich ihnen zeigten. An ihrer Stelle erschien
Industrieminister Fritz Selbmann, ein ehemaliger Bergarbeiter,
und versuchte die Menge mit dem Hinweis auf die
beschlossenen Reformen zu beruhigen, doch vergebens. Die
Unruhen hatten sich bereits ausgebreitet und Großbetriebe in
anderen Teilen des Landes erreicht.
Abends telefonierte ich mit Richard Stahlmann, der müde und
enttäuscht von einer Parteibesprechung zurückgekommen war.
Ulbricht hatte zwar Fehler eingeräumt, aber keine konkreten
Vorstellungen erkennen lassen, was in dieser Situation, die
keinen Aufschub gestattete, zu tun sei.
Am 17. Juni überschlugen sich die Meldungen. Der Sender
RIAS ließ die Chance nicht ungenutzt, massiv zu agitieren. Die
ganze Nacht hindurch hatte er Mitteilungen gesendet, welche
Kundgebungen wann und wo stattfanden, und die Hörer in Ost-
Berlin aufgefordert, teilzunehmen. Ein Betrieb nach dem
anderen trat in Streik. Demonstrationszüge bewegten sich von
allen Seiten auf die Sektorengrenze am Potsdamer Platz zu, auch
von Westen her. Um 13.00 Uhr verhängte der sowjetische
Stadtkommandant den Ausnahmezustand.
Nun hielt es mich nicht länger am Urlaubsort. Auf halber
Strecke nach Berlin wurden wir kurz vor Neustrelitz von einem
sowjetischen Kontrollposten angehalten. Trotz unseres Protests
und trotz meines deutschen Polizeiausweises sperrte man uns im
Keller der Kommandatur zusammen mit anderen Verdächtigen
ein. Dort konnte ich in Ruhe über die wahren Machtverhältnisse
in Deutschland nachdenken. Erst als es mir gelang, dem Posten
zu beweisen, daß ich Russisch sprach, und ich zum
Kommandanten vorgelassen wurde, ließ man uns frei.
Im Stadtbezirk Pankow, wo wir wohnten, hielt ich an, um
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mich zu Hause schnell umzuziehen. Dort berichteten mir mein
Vater und meine Schwiegermutter aufgeregt, daß die Arbeiter
von Bergmann-Borsig, einem großen Metallbetrieb, direkt an
unserem Haus vorbeimarschiert waren und daß mein Vater am
Bahnhof Friedrichstraße beinahe vom Mob
zusammengeschlagen worden war. Er hatte den Eindruck
gehabt, daß viele der jungen Leute im Zentrum aussahen, als
stammten sie aus dem Westen und als wären sie nur um des
Randalierens willen gekommen.
Die folgenden Tage und Nächte verbrachte ich in meiner
Dienststelle. In dieser Zeit des Aufruhrs, als Parteibüros und
Verwaltungsgebäude gestürmt wurden und bisweilen in
Flammen aufgingen, als sowjetische Panzer durch die Straßen
rollten und von Jugendlichen mit Steinen beworfen wurden, als
es die ersten Toten und Verletzten gab – und der Aufstand sollte
mehr als hundert Menschenleben kosten -, in dieser Zeit wurde
mir klar, daß das von unserer Führung in die Welt gesetzte
Gerede vom »faschistischen Abenteuer« und vom
»konterrevolutionären Putsch« reine Schutzbehauptungen
waren. Hätte man rechtzeitig die Funktionäre in den Betrieben
über den geplanten neuen Kurs aufgeklärt und sich dem offenen
Gespräch mit den unzufriedenen Arbeitern gestellt, wäre die
Eskalation des 17. Juni vielleicht zu vermeiden gewesen.
Als Leiter des Außenpolitischen Nachrichtendienstes hatte ich
die Aufgabe herauszufinden, inwiefern der Westen bei den
Unruhen die Finger im Spiel haben mochte. So gut wir alle
wußten, daß die Ursachen hausgemachter Natur waren, so wenig
ließ sich übersehen, daß das Aufbegehren von West-Berlin aus
nach Kräften geschürt worden war, daß agents provocateurs
nach Ost-Berlin gekommen waren, um die Stimmung
aufzuheizen. Aus Informationen meines Dienstes, aus
Presseveröffentlichungen westdeutscher und amerikanischer
Politiker und aus den Verlautbarungen militanter kalter Krieger
wie der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« oder des

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»Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen« Material
zusammenzustellen, dem sich entnehmen ließ, daß Pläne
bestanden, die DDR zu liquidieren, war ein Kinderspiel. Dieses
Material benötigte unsere politische Führung, um die
Verantwortung für den 17. Juni einem äußeren Gegner in die
Schuhe schieben zu können.
An Material herrschte also kein Mangel: Da hatten sich
beispielsweise CIA-Chef Allen Dulles und seine Schwester
Eleanor, die im State Department für deutsche Angelegenheiten
zuständig war, in der Woche vor dem 17. Juni in Berlin
aufgehalten – das mußte doch einen Grund haben. Sogar vom
»Tag X«, dem Tag der Machtübernahme durch den Westen in
der DDR, dessen Prophezeiung bisher eine Spezialität
westdeutscher Boulevardblätter gewesen war, war in der DDR-
Presse mit einemmal ganz selbstverständlich die Rede, bewies er
doch die Verschwörung des Auslands gegen uns. Und selbst die
Einladung zu einer Dampferfahrt der West-Berliner
Gewerkschaften, am Vorabend des 17. Juni an Vertrauensleute
und Freunde in Ost-Berlin herausgegeben, wurde von Ulbricht
sofort zum Kennwort für die Auslösung der Unruhen
hochstilisiert.
Ulbricht und seine Gruppierung mußten nach den Ereignissen
des 17. Juni nach jedem Strohhalm greifen, denn ihre Position
war schwer angeschlagen. Moskau hatte Reformen verlangt, die
DDR-Regierung hatte die Sowjetarmee gegen die eigene
Bevölkerung zu Hilfe rufen müssen, und im Politbüro besaß
Ulbricht keine Mehrheit. Nur Hermann Matern, der Vorsitzende
der Parteikontrollkommission, und Ulbrichts junger Protege
Erich Honecker unterstützten ihn; alle anderen befürworteten,
was Ackermann am heftigsten verlangte: daß er als
Generalsekretär abgelöst wurde.
Ulbrichts Rettung war die Nachricht von Berijas Sturz in
Moskau. Die sowjetische Parteispitze hatte ganz andere Sorgen,
als sich der Ungewißheit auszusetzen, eine neue SED-Führung

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einen neuen Kurs ausprobieren zu sehen, und zog es vor, in der
DDR vorerst alles beim alten zu lassen. Sobald Ulbricht sich
seiner Sache sicher sein konnte, machte er sich unverzüglich
daran, seine ärgsten Kritiker in der Parteiführung auszuschalten.
Er prägte die Bezeichnung von der »Zaisser-Herrnstadt-
Fraktion« und beschuldigte Zaisser und Herrnstadt des
Abweichlertums von der Parteilinie, der Eigenmächtigkeit und
der Kontakte zu Berija. Sie wurden aus der Parteiführung
ausgeschlossen, mit einem Parteiurteil und Strafen belegt, die
sie hinnahmen, ohne zu protestieren. Auf der 35. Tagung des
Zentralkomitees im Juli 1953 saß Ulbricht wieder fest im Sattel.
Paradoxerweise hatte der 17. Juni ihn und seinen harten Kurs
gerettet. Eine Chance war vertan.
Drei Jahre nach diesen Ereignissen machte Rudolf Herrnstadt
sich an die Niederschrift des wahren Geschehens und nahm den
Kampf um seine Rehabilitierung auf. Wie Wilhelm Zaisser auch
sollte er sie nicht mehr erleben. Zaisser war nur noch ein
Schatten seiner selbst, durch das Parteiurteil seelisch gebrochen
und gesundheitlich gezeichnet.
Warum hatten beide 1953 geschwiegen? Das vermag
vielleicht nur der nachzuvollziehen, der die Zeit der
Verdrängung unter Stalin, das bittere Schicksal vieler Gefährten
und die Macht der Parteidisziplin, die verlangen konnte, daß
man sich opferte, ohne den Zweck in Frage zu stellen, selbst
erlebt hat.
Männer wie Herrnstadt und Zaisser hatten ihre ganze Kraft
der revolutionären Bewegung gewidmet. Eine Konfrontation mit
der Partei hätte einen radikalen Bruch mit ihrem bisherigen
Leben, mit ihren Wertvorstellungen und Idealen bedeutet.
Rudolf Herrnstadt, ursprünglich Journalist, hatte vor dem
Zweiten Weltkrieg für die Sowjetische Militäraufklärung
gearbeitet und von Warschau aus ein hervorragendes
Agentennetz aufgebaut. Zu seinen besten Leuten gehörten seine
erste Frau Ilse Stöbe und Gerhard Kegel aus der deutschen
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Botschaft in Warschau, die beide frühzeitig den bevorstehenden
Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion gemeldet
hatten. Daß all das offenbar nichts mehr bedeutete, muß
Herrnstadt tödlich getroffen haben. In den Aufzeichnungen, die
er während seiner »Verbannung« an das Staatsarchiv in
Merseburg schrieb, weist Herrnstadt alle Anschuldigungen der
Fraktionsbildung zurück, und zugleich zermarterte er sich den
Kopf mit der Frage, ob er denn klüger sein könne als die Partei.
Das Dilemma überzeugter Kommunisten, das darin ausgedrückt
ist, läßt sich vielleicht mit dem Gewissenskonflikt vergleichen,
in dem heutzutage Vertreter der Befreiungstheologie stecken,
die sowohl soziale Verantwortung empfinden als auch dem
Heiligen Stuhl Gehorsam schulden. Noch zu Zeiten, als
Herrnstadts Name in der DDR nicht genannt werden durfte, ließ
ich als kleine Geste des Respekts einen Film über seine
Warschauer Residentur für unsere Ausbilder drehen und setzte
mich auch für seine Rehabilitierung ein.
Anton Ackermann hatte bereits 1946 seine Thesen zu einem
»deutschen Weg zum Sozialismus« veröffentlicht. Ich hatte
darin eine logische Fortsetzung dessen gesehen, was wir an der
Komintern-Schule gelernt hatten. Wie Dimitroff oder Tito war
Ackermann der Ansicht, daß es sinnlos, ja unmöglich sei, das
sowjetische System auf andere Länder zu übertragen. Auch
Ackermann hatte sich der Parteiraison beugen müssen und sich
von diesen Gedanken öffentlich distanziert – allerdings ohne
dabei Schaden zu nehmen. Auch nach seinem Widerruf blieb er
im Politbüro der SED bis 1953, wurde 1949 Staatssekretär im
Außenministerium der DDR und 1951 erster Leiter des
Außenpolitischen Nachrichtendienstes.
Im Zusammenhang mit Herrnstadts und Zaissers
Amtsenthebung hatte Ulbricht harsche Kritik an der
Staatssicherheit geübt. Das bewirkte eine Untersuchung mit
personellen und strukturellen Folgen. Das Ministerium für
Staatssicherheit erhielt den Status eines Staatssekretariats und

-75-
wurde in das Innenministerium eingegliedert, dem Willi Stoph
vorstand. Der neue Mann an der Spitze der Staatssicherheit hieß
Ernst Wollweber. Unser bisher selbständiger Außenpolitischer
Nachrichtendienst wurde unter der Bezeichnung Hauptabteilung
XV Teil des Staatssekretariats Staatssicherheit, und ich als sein
Leiter wurde zum Stellvertreter Wollwebers ernannt und in
diesem Amt bestätigt. Zaissers bisherige Stellvertreter –
darunter auch Mielke – hingegen mußten warten, bis die
Parteikontrollkommission sie überprüft hatte. Man kann sich
denken, welche Demütigung es für den ehrgeizigen Mielke
bedeutet haben muß, mich neben Stoph und Wollweber am
Präsidiumstisch sitzen zu sehen, als die neue Einteilung
bekanntgegeben wurde, während er selbst mit den anderen
leitenden Offizieren im Saal saß.
Ernst Wollweber, der ein wechselvolles Leben geführt hatte,
aus dem er gern erzählte, war in jeder Hinsicht der denkbar
größte Gegensatz zu Mielke. Im Ersten Weltkrieg war er
Matrose gewesen; bis 1933 hatte er als Abgeordneter im
Reichstag gesessen, und als Leiter eines Komintern-Büros in
Kopenhagen hatte er im Kampf gegen das Dritte Reich die
konspirative Arbeit unter Seeleuten in Gang gesetzt, die im
Krieg in Sabotageaktionen eingemündet war. Wollweber
verbrachte die Abende meist in Gesellschaft, am liebsten beim
Billard, wo Richard Stahlmann zu seinen bevorzugten Partnern
gehörte. Dienstlich interessierte er sich wenig für operative
Details, um so mehr aber für die politischen Informationen. Der
kleine dicke Mann marschierte bei solchen Gesprächen auf dem
Teppich seines Arbeitszimmers auf und ab, den ständig
ausgehenden Zigarrenstummel im Mund. Seine kritische Distanz
zu Ulbricht war mir so wenig verborgen wie sein gespanntes
Verhältnis zu Mielke, der seine Ambition, selbst an die Spitze
der Staatssicherheit zu gelangen, kaum zu zügeln vermochte.
Wollwebers bewegtes Leben hat sogar die Phantasie Reinhard
Gehlens beflügelt. In seinen Memoiren erzählt Gehlen, was ihm

-76-
einer seiner Agenten berichtet hatte, der unter dem Decknamen
Brutus in Wollwebers Umgebung saß, als dieser noch
Staatssekretär der DDR für Schiffahrt war. Aus Wollwebers
buntbewegter Vergangenheit hatte »Brutus« eine weitverzweigte
neue »Wollweber-Organisation« gedichtet, die Saboteure aus
aller Welt ausbilden und Sabotageakte gegen alle westlichen
Staaten vorbereiten sollte. Sogar die Brände auf den
Passagierschiffen Queen Elizabeth und Queen Mary schrieb er
Wollweber zu. Das einzige Körnchen Wahrheit an diesen
Räuberpistolen ist der Umstand, daß Wollweber sich eine
Zeitlang mit dem Gedanken trug, in Rostock einen
internationalen Seemannsklub zu gründen, doch diese Idee
führte zu keinen bemerkenswerten Ergebnissen für den
Nachrichtendienst.
Mielke hatte tatsächlich eine Parteistrafe erhalten, und das
sollte er nie vergessen. Allein der Name Hermann Matern – des
Leiters der Kommission – war seit jener Zeit ein rotes Tuch für
ihn, und er ließ nichts unversucht, Matern als Nazi-
Kollaborateur zu entlarven. Sein Verdacht rührte daher, daß
Matern 1933 nach kurzer Haft von den Nazis entlassen worden
war. Für Mielke war jeder ein potentieller Verräter, der lebend
einem faschistischen Gefängnis oder einem Konzentrationslager
entronnen war. Zu seinem unendlichen Verdruß fand er nichts,
was er gegen Matern hätte verwenden können.
Während Mielke die Geschehnisse des 17. Juni zum Anlaß
nahm, noch unversöhnlicher und mißtrauischer als bisher
»feindlichnegative Kräfte« im eigenen Land zu befehden, ja gar
nicht erst keimen zu lassen, richtete mein Dienst den Blick nach
Westen und dort in erster Linie auf Bonn.
In den 50er Jahren behaupteten beide deutsche Staaten von
sich, als oberstes Ziel die Wiedervereinigung anzustreben. Der
Bundesrepublik ging es dabei vorrangig um wirtschaftliche
Macht, der DDR um die Durchsetzung ihrer Identität im
Ostblock. Schon damals hatte ich den Eindruck, daß diese

-77-
Bekenntnisse auf beiden Seiten rhetorischer Natur waren und
daß eine tatsächliche Wiedervereinigung in absehbarer Zeit gar
nicht durchsetzbar gewesen wäre.
Unser Dienst lernte indessen seine ersten Lektionen. Als
Anfänger muß man immer damit rechnen, alles falsch zu
machen, was man nur falsch machen kann, und wir bildeten
keine Ausnahme von dieser Regel.
Zehntausende von DDR-Bürgern strömten in jener Zeit über
die noch offene Grenze nach West-Berlin und in die
Bundesrepublik – nach dem 17. Juni 1953 erheblich mehr als
zuvor, und bis Ende 1957 hatten fast 500000 Menschen unser
Land verlassen. Es war nicht schwierig, in diesem
Flüchtlingsstrom ausgewählte Männer und Frauen
mitschwimmen zu lassen. Unsere Leute mußten zwar damit
rechnen, in den Flüchtlingslagern von westlichen Diensten
ausgefragt zu werden, doch ihre Chancen, mit einer glaubhaften
Lebensgeschichte durchzukommen, standen gut. Diese jungen
und politisch motivierten Menschen legten den Grundstein für
unsere späteren Erfolge.
Dennoch war es schwierig und zeitraubend, solche
Kandidaten für die Übersiedlung in die Bundesrepub lik
ausfindig zu machen. Allein die Prüfung der politischen
Zuverlässigkeit und der charakterlichen Eignung erforderte viel
Zeit. Im Unterschied zu unseren Mitarbeitern in der Zentrale
störte uns hier eventuelle Verwandtschaft im Westen nicht,
sondern war im Gegenteil erwünscht, denn sie konnte die
Glaubwürdigkeit unserer Leute »drüben« nur erhärten. Als
Grund für das Verlassen der DDR mußten sogenannte dunkle
Stellen in der eigenen oder der Vergangenheit eines
Angehörigen herhalten – Mitgliedschaft in der Waffen-SS oder
in der NSDAP – oder negative Äußerungen über die Politik der
DDR oder über Ulbrichts Person.
Die Schulung des auserwählten Agenten erfolgte individuell
durch den zuständigen Mitarbeiter. Sie beschränkte sich darauf,
-78-
daß die elementarsten Regeln der Konspiration und das uns
bekannte Wissen über die entsprechende Aufgabe vermittelt
wurden. Meist mußten unsere Leute anfangs Tätigkeiten mit
einfacher körperlicher Arbeit auf sich nehmen, um die
Einbürgerungsphase unauffällig hinter sich zu bringen, und
deshalb waren uns Kandidaten mit handwerklicher Qualifikation
und mit Berufspraxis am liebsten.
Für angeworbene Studenten und Wissenschaftler suchten und
fanden wir manchmal auf Umwegen Plätze in den für uns
relevanten Einrichtungen wie den Kernforschungszentren in
Jülich, Karlsruhe und Hamburg, bei Siemens und IBM und in
den Nachfolgeunternehmen des IG-Farben-Konzerns. Auch
scheinbar noch unbedeutende Betriebe wie Messerschmitt und
Bölkow ließen wir nicht außer acht, weil wir argwöhnten, daß
sie künftig mit Rüstungsprojekten befaßt sein könnten. Manche
unserer Männer drangen in Geheimhaltungsposten vor, andere
in hochdotierte Wirtschaftspositionen. Auch die Verbindungen
zwischen den Wissenschaftlern beider deutscher Staaten suchten
wir zu nutzen, um uns genauer über den Stand der
westdeutschen Wiederaufrüstung zu informieren. Von nicht
geringerem Interesse waren Beziehungen zu den deutschen
Wissenschaftlern in den USA um Wernher von Braun.
Weit schwieriger war es, unsere Übersiedler in Bonn und an
anderen Orten in die politischen und militärischen Zentren
einzuschleusen. Die Möglichkeiten, Leute dort zur
Zusammenarbeit zu motivieren, waren äußerst begrenzt. Wieviel
leichter hatten es da die westlichen Dienste in Ost-Berlin! Wie
Ernst Reuter es so richtig ausdrückte, bildete West-Berlin einen
»Stachel im Fleisch der DDR«. Während der Westen aus dem
Vollen schöpfen konnte, mußten wir uns mit einem Häuflein
Idealisten zufriedengeben, die nichts mitbrachten als ihre
Bereitschaft, alles aufs Spiel zu setzen.
Mein erster Übersiedlungskandidat war »Felix«, den ich im
Frühjahr 1952 noch zusammen mit Gustav Szinda anwarb. Als

-79-
erstes schickten wir ihn nach Hamburg, für einen
Übungseinsatz, den er für seinen ersten Ernstfall hielt. Er sollte
nach einem Vortreff in Nähe des Bahnhofs an den Eibbrücken
einen Mann treffen, der ihm Material übergeben würde. Seit er
den Zug verlassen hatte, sah er sich von den immer gleichen
Männern beschattet, die sich einfach nicht abschütteln ließen.
Deshalb gab er beim Vortreff das vereinbarte Warnzeichen,
worauf das eigentliche Treffen nicht mehr stattfand. Als wir sein
Verhalten analysierten, merkten wir, daß er vor Aufregung jeden
Mann in einem der damals verbreiteten Staubmäntel für einen
Verfolger gehalten hatte. Trotzdem wurde »Felix« zu einem
unserer besten Agenten, der sich als zunehmend kaltblütig
erwies. Oft sind es gerade die anfangs zurückhaltenden
Erscheinungen, die wahren Mut besitzen und sich in der Gefahr
bewähren, während Draufgänger in brenzligen Situationen die
Courage verlieren oder durch Tollkühnheit alles verderben.
Als Vertreter einer Firma, die Frisiersalons einrichtete, ließ
»Felix« sich zunächst in Köln nieder. Seine Aufgabe war es,
sich dort dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu nähern. Da
er jedoch als Vertreter häufig in Bonn zu tun hatte, weckte das
in uns den Gedanken, ihn das Bundeskanzleramt
auskundschaften zu lassen, zu dessen Leiter Globke vor kurzem
aufgestiegen war. Jeder von uns wußte, daß es so gut wie
aussichtslos war, sich diesem streng bewachten Objekt nähern
zu wollen nicht umsonst hatte unsere zuständige Abteilung
bisher völlig versagt. »Felix« mischte sich unter die Wartenden
der nächstgelegenen Bushaltestelle und vertraute auf seinen
Charme. Auf diese ausgesprochen schlichte Weise lernte er die
Frau kennen, die unsere erste Quelle im Bundeskanzleramt
werden sollte und die wir Norma nannten.
»Norma« wurde von uns nicht angeworben und lieferte auch
keine Geheiminformationen, aber das, was sie »Felix« erzählte,
ermöglichte uns ein systematischeres Vorgehen als bisher. Sie
war keine Schönheit, er hatte sie nur aus Berechnung

-80-
angesprochen, doch mit der Zeit wurden beide ein Liebespaar
und zogen zusammen, und er fühlte sich auch für ihren Sohn
verantwortlich. Eine Heirat war selbstverständlich
ausgeschlossen, denn eine Routineüberprüfung wäre nicht zu
umgehen gewesen, und so ein Risiko konnten wir nicht
eingehen.
Einige Jahre später erfuhren wir durch eine andere Quelle,
daß der Verfassungsschutz sich für »Normas« Lebensgefährten
interessierte, und wir zogen »Felix« ab. Erst als ich ihm in
Berlin gegenübersaß, wurde mir klar, wie eng die Bindung
zwischen ihm und »Norma« geworden war. Dennoch erklärte er
von sich aus, daß es keinen Sinn habe, sie nachzuholen zu
versuchen. Ein Leben in der DDR war für sie nicht vorstellbar.
So gesehen, war dies mein erster Romeo-Fall mit tragischem
Ausgang.
Neben diesen Übersiedlungsaktionen versprachen wir uns
größere Erfolge von den vielfältigen Ost-West- und West-Ost-
Kontakten. Gesamtdeutsche Begegnungen und Veranstaltungen
waren ideale Schauplätze, um interessante Verbindungen
anzubahnen. In kurzer Zeit etablierten wir in Parteien und
Organisationen der DDR, die über sogenannte Westabteilungen
verfügten, veritable legale Residenturen – häufig mit der
Westabteilung identisch.
So entstanden politische Beziehungen zu Personen, die aus
den unterschiedlichsten Motiven mit Adenauers Politik nicht
einverstanden waren, wie dem Altkanzler der Weimarer
Republik, Dr. Joseph Wirth. Er hatte im Zweiten Weltkrieg in
die Schweiz flüchten können und war Gerüchten zufolge von
dort aus in Kontakt zum Widerstand in Deutschland, aber auch
zu Geheimdiensten der UdSSR und der westlichen Alliierten
getreten.
Ähnlich wie im politischen Bereich ergaben sich auch auf
wirtschaftlichem und wissenscha ftlichem Gebiet Kontakte,
besonders auf der Leipziger Messe, wo gerade die strengen
-81-
Restriktionen vertrauliche Verhandlungen und illegale
Transaktionen im sogenannten Interzonenhandel zum Erblühen
brachten.
Auf diese Weise lernte ich Christian Steinrücke kennen, der
im Stahlgroßhandel der Bundesrepublik tätig war. Ich gab mich
als General aus, im Verteidigungsministerium unter Willi Stoph
tätig. Schon während des Essens freundeten wir uns an, und
abends tranken wir Brüderschaft. Völlig überraschend stellte er
mich am nächsten Vormittag bei einer internen Beratung der
westdeutschen Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl als
seinen Mitarbeiter vor. Keiner der Anwesenden schien sich
darüber zu wundern – im Unterschied zu mir waren sie
Steinrückes exzentrische Art offenbar gewohnt. Mit dem Ruf
eines Homosexuellen mit unkonventionellem Lebensstil war
Steinrücke das schwarze Schaf seiner Familie, die stets bemüht
war, seine Eskapaden ohne allzuviel Aufsehen auszubügeln. Er
war mit einer geborenen Werhahn verheiratet, der Tochter eines
der mächtigsten Männer des deutschen Großkapitals. Der
Bruder seiner Frau war Adenauers Schwiegersohn. Man kann
sich vorstellen, daß meine Ohren glühten, als ich das hörte.
Doch damit nicht genug: Kardinal Frings, der einflußreichste
Würdenträger der katholischen Kirche im Deutschland jener
Zeit, war ein Onkel seiner Frau, und enge Beziehungen
verbanden ihre Familie mit den Bankiers Abs und Pferdmenges.
Unsere Verbindung hielt mehrere Jahre an. Ich hatte mir
eigens einen fiktiven Familienhintergrund ausgedacht: Eine
Ansagerin des DDR-Fernsehens fungierte als meine Ehefrau,
Fotos ihrer Kinder zierten die Wände der kleinen Villa, die ich
Steinrücke als mein Domizil präsentierte. Obwohl unser Kontakt
nie so eng wurde, daß ich es gewagt hätte zu versuchen,
Steinrücke anzuwerben, waren die Gespräche mit ihm sehr
ergiebig, denn Steinrücke war Berater des Lockheed-Konzerns
und unterhielt gute Beziehungen zu General Steinhoff, dem
Chef der bundesdeutschen Luftwaffe, und er wußte über Franz

-82-
Josef Strauß' Rolle im Starfighter-Skandal zweifellos mehr, als
er mir gegenüber andeutete.
Daß unser Kontakt abbrach, war meine Schuld. Über
Steinrücke hatte ich Dr. Walter Bauer kennengelernt, der im
Interzonenhandel tätig war, einen scheinbar unbedeutenden
Geschäftsmann, der offiziell im Lausitzer Braunkohlerevier
Stearin in Form von Kerzenbruch billig aufkaufte. Da er vor
1945 im Flickkonzern, dem damaligen Eigentümer der Lausitzer
Braunkohle, eine hohe Stellung innegehabt hatte, lag der
Verdacht nahe, daß er in Wahrheit für seinen alten Dienstherrn
in der Lausitz nach dem Rechten sehen sollte. Ein Foto, das ihn
an der Seite Adenauers im Präsidium eines Kirchentags zeigte,
paßte ebenfalls wenig zum Bild des kleinen Händlers.
Besonderes Interesse an Bauer hatte ich wegen dessen enger
Beziehung zu Dr. Gisevius, der mir vom Nürnberger Prozeß
noch gut als Verbindungsmann des bürgerlichen deutschen
Widerstands gegen Hitler zum amerikanischen Geheimdienst
OSS, dem Vorläufer der CIA, in Erinnerung war. Ich vermutete
deshalb in Bauer einen Verbindungsmann zum US-
Geheimdienst.
Bewaffnet mit diesem Wissen und mit dem Verdacht, daß es
in Bauers Geschäften mit und in der DDR möglicherweise zu
Unregelmäßigkeiten gekommen war, glaubte ich, einen
Frontalangriff wagen zu können. Zum von Steinrücke
eingefädelten Treffen erschien ein kleiner, rundlicher Mann in
einem Anzug, der genauso unscheinbar wirkte wie seine
abgegriffene Aktentasche. Sehr schnell mußte ich mir
eingestehen, daß ich es mit einem gewieften Burschen zu tun
hatte, der für einen Grünschnabel wie mich einige Nummern zu
groß war. Davon, ihn einzuschüchtern, gar unter Druck zu
setzen, konnte nicht die Rede sein.
Als Steinrücke dem nächsten mit mir vereinbarten Treffen
fernblieb, war mir klar, daß Bauer ihn sich vorgeknöpft haben
mußte. Tatsächlich hatten Beamte des amerikanischen

-83-
Geheimdienstes ihn einer hochnotpeinlichen Befragung
unterzogen, ihn über meine wahre Identität aufgeklärt und ihn
vor mir gewarnt.
Durch mein unbedachtes Vorpreschen gegenüber Bauer hatte
ich den wertvollen Kontakt zu meinem ahnungslosen
Informanten Steinrücke ohne Not zerstört. Schmerzlich sollte
ich daran zurückdenken, als Mitte der 70er Jahre in
Zusammenhang mit der Starfighter-Affäre immer wieder der
Name Steinrücke fiel.
Bei einem anderen Kontakt hätte mir wahrscheinlich auch
mehr Geduld nicht mehr Erfolg bescheren können. Carl
Hundhausen, ein Vorstandsmitglied des Krupp-Konzerns, lernte
ich auf der Leipziger Messe kennen. Bei der Erörterung
politischer Fragen zeigte er sich aufgeschlossen, die Bonner
Regierung kritisierte er offen ob ihrer restriktiven Haltung im
Interzonenhandel, doch ich mußte begreifen, daß er
beabsichtigte, mich als vermeintlichen Regierungsvertreter der
DDR für die Ziele der Krupp-Stiftung einzuspannen, und
keineswegs vorhatte, sich von mir für meine Zwecke einspannen
zu lassen.
Wesentlich mehr Glück hatte ich bei Dr. Heinrich
Wiedemann, einem Anhänger und guten Bekannten Joseph
Wirths. Er war nicht nur ein engagierter Befürworter der
Wiedervereinigung und Gegner der Anbindung Bonns an
Washington, sondern ließ mich auch bald diskret merken, daß er
nicht abgeneigt war, ein konkretes Angebot unterbreitet zu
bekommen.
Wir setzten einen Vertrag auf. Wiedemann sollte in Bonn mit
finanzieller Starthilfe unsererseits ein »Büro Wirtschaftshilfe für
Festbesoldete« eröffnen, das ihm – und damit uns – den Zugang
zu sämtlichen Ministerien und deren Mitarbeitern ermöglichte.
Sobald Gewinne erwirtschaftet würden, wäre mein Dienst
entsprechend der Höhe unserer Einlage in bester kapitalistischer
Manier daran beteiligt gewesen. Doch dazu sollte es leider nie
-84-
kommen; statt dessen mußten wir im Lauf der Zeit die Kosten
allein aufbringen, weil Wiedemanns Büro nichts abwarf.
Nachrichtendienstlich sah die Sache besser aus. Vor allem
Wiedemanns Freundschaft mit Dr. Rudolf Kriele, als
Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt für Verteidigungspolitik
und Militärbündnisse zuständig, machte sich bezahlt. Der
hochkarätige Geheimnisträger verkehrte ahnungslos in unserem
Büro, trank mit unserem Mann beste Rheinweine und erzählte
ihm so manche Interna.
Das stachelte unseren Ehrgeiz an: Im Geiste sahen wir das
Büro bereits als Dach einer illegalen Residentur, als
Drehscheibe in Krisensituationen, wenn andere
Verbindungskanäle zu riskant gewesen wären. Den zum
Residenten ausersehenen Kandidaten machten wir mit den
einschlägigen Techniken für Entgegennahme, Bearbeitung und
Weiterleitung größerer Mengen von Informationen vertraut;
außerdem wurde er für besagte Krisenmomente am Funkgerät
und am Schnellgeber ausgebildet und in Abhörtechnik
unterwiesen, damit er wichtige Gespräche aufnehmen konnte.
Die Einschleusung unseres Residenten dauerte mehrere
Monate. Unterdessen warben wir mit Wiedemanns Hilfe seine
Lebensgefährtin an, die wir unter dem Decknamen Iris auf die
Gehaltsliste des Büros setzten. Inzwischen stellten wir besorgt
fest, daß das Mißverhältnis zwischen Kosten und Ertrag des
Büros immer krasser wurde, und wir befürchteten, daß es nur
noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis die Finanzbehörden
mißtrauisch werden und am Ende gar die Spionageabwehr
informieren würden.
Die Entscheidung über die Zukunft der »Wirtschaftshilfe für
Festbesoldete« wurde uns unversehens aus der Hand
genommen. Ein Mitarbeiter aus unserer Zentrale setzte sich in
den Westen ab, und wir sahen uns genötigt, den Residenten aus
Wiedemanns Büro umgehend abzuziehen, damit er nicht
verraten werden konnte.
-85-
Als Trostpreis blieb uns »Iris« erhalten. Als Kriele aus dem
Bundeskanzleramt als Ministerialdirektor in das Ministerium für
Wissenschaft und Bildung versetzt wurde, machten wir zuerst
lange Gesichter. Immerhin rückte »Iris« dort mit seiner
Protektion bis zur Ministersekretärin auf und arbeitete bei den
Ministern Lenz, Stoltenberg und Leussink, bis sie 1970 enttarnt
und verhaftet wurde. Wir verdankten ihr detaillierte
Informationen über Kabinettssitzungen und Forschungsprojekte,
die unsere Arbeit auf dem Gebiet der
wissenschaftlichtechnischen Aufklärung beträchtlich
erleichterten. Das Gerichtsverfahren gegen Wiedemann, der
»Iris« angeworben hatte, wurde aus Alters- und
Gesundheitsgründen eingestellt.
Neben Dr. Wiedemanns Büro ließ sich im Bonn der 50er
Jahre der Salon einer Dame recht vielversprechend an. Susanne
Sievers – so hieß sie – war uns aufgefallen, als wir vor einer
Amnestie die Liste der zur Entlassung vorgesehenen Häftlinge
durchsahen. 1951 war sie auf der Fahrt zur Leipziger Messe
verhaftet und wegen DDRfeindlicher Tätigkeit zu acht Jahren
Zuchthaus verurteilt worden. Als Beruf hatte sie freie
Journalistin angegeben, und das machte meine Leute neugierig.
Bevor sie von ihrer bevorstehenden Entlassung erfuhr, suchte
einer unserer Mitarbeiter sie im Gefängnis auf. Zu seiner
Überraschung sah er sich einer großen, schlanken Frau von
Mitte Dreißig gegenüber, deren selbstbewußte Ausstrahlung
durch die Häftlingskleidung nicht gemindert war. Sie
beschwerte sich massiv über das Unrecht, das sie erdulden
mußte, und machte aus ihrer antikommunistischen Einstellung
kein Hehl. Trotzdem war sie bereit, sich nach ihrer Entlassung
mit unserem Abgesandten an der Warschauer Brücke in Ost-
Berlin zu treffen. Bei dieser zweiten Begegnung erklärte sie sich
bereit, für uns zu arbeiten.
Lydia, so lautete unser Deckname für Susanne Sievers,
richtete in Bonn eine gastliche Wohnung ein, in der sie eine Art

-86-
Salon führte, wo Abgeordnete und Politiker sich zwanglos
einfanden, darunter Franz Josef Strauß und Willy Brandt, mit
dem Susanne Sievers vor ihrer verhängnisvollen Reise zur
Leipziger Messe eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatte.
Durch sie erfuhren wir, daß Strauß nicht zu jeder Stunde der
fanatische Sozialistenfresser war, den er vor der Öffentlichkeit
abgab, sondern ein nüchtern denkender Pragmatiker.
Dank »Lydia« waren wir auch über die Organisation »Rettet
die Freiheit« bestens informiert, an deren Spitze Rainer Barzel
stand, damals ein junger Protege Adenauers. Diese Organisation
zog die Fäden auf einem extrem rechten Flügel der Politik; sie
unterstützte Otto von Habsburg in seinem Vorhaben, König von
Ungarn zu werden, und führte einen regelrechten Kreuzzug
gegen jeden Politiker der Bundesrepublik, der auch nur entfernt
im Verdacht stand, kein Rechter zu sein.
»Lydias« große Stunde schien gekommen, als sie uns Anfang
der 60er Jahre ankündigte, Brandt und Strauß hätten sich zu
einem Gespräch unter vier Auge n in ihrer Wohnung verabredet.
Zeichneten sich da etwa erste Schritte zu einer großen Koalition
zwischen CDU und SPD ab? Wir waren mehr als gespannt, aber
über Verlauf und Ausgang dieses Gesprächs konnte ich mich
erst Jahrzehnte später bei der Lektüre von Willy Brandts
Memoiren informieren, denn es fand nach dem Mauerbau im
Sommer 1961 statt, und von diesem Zeitpunkt an hatte Susanne
Sievers jeden Kontakt zu uns abgebrochen.
Ich habe mich oft gefragt, was sie dazu bewogen haben kann,
trotz ihrer Ablehnung der DDR und trotz des
Gefängnisaufenthalts regelmäßig zu konspirativen Treffen zu
kommen und zuverlässig Informationen für uns zu sammeln.
Die finanzielle Entschädigung reichte aus, um ihre Unkosten zu
decken, mehr nicht. Wäre sie eine Doppelagentin gewesen, hätte
sie versucht, Einzelheiten über unseren Dienst in Erfahrung zu
bringen, aber das war nie der Fall.
Später fanden wir heraus, daß Susanne Sievers in den 60er
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Jahren zum Bundesnachrichtendienst übergewechselt und in
Hongkong, Tokio, Manila, Jakarta und Singapur eingesetzt
worden war. Aus BND-Akten erfuhren wir, daß ihr Vorgesetzter
für 1968 beim Leiter des Strategischen Dienstes 96000 DM für
sie angefordert hatte – ein kleiner Fisch kann sie also nicht
gewesen sein -, und Gerüchten zufolge soll sie bei Beendigung
der Zusammenarbeit vom BND eine Abfindung von 300000
DM erhalten haben.
Die Berliner Außenministerkonferenz der Siegermächte im
Januar 1954 unterschied sich von den vorangegangenen Treffen
nur dadurch, daß ihr erfolgloser Ausgang von vornherein
feststand. Jeder kannte die Karten des anderen, ein Bluff war
ausgeschlossen. Dennoch bescherte die Konferenz den
versammelten Nachrichtendiensten aus aller Welt eine Zeit
hektischer Betriebsamkeit. Unser eigener Apparat, noch nicht
ganz flügge, war auf ein solches Ereignis nur unzulänglich
vorbereitet, und unsere sowjetischen Berater geizten nicht mit
Ratschlägen. Auf einer Besprechung belehrte uns ein eigens aus
Moskau angereister Offizier, für Anlässe wie diesen benötige
man unbedingt eine malina. Der Dolmetscher stutzte, und ich
erklärte meinen Mitarbeitern, daß das russische Wort für
Himbeere im Ganovenjargon eben auch ein Puff bezeichne.
Wir sollten also ein Bordell fingieren, um dort
Konferenzteilnehmer auszuhorchen und zu kontaktieren. Das
war leichter gesagt als getan, denn in diesem Zweig des
Spionagegewerbes hatten wir nicht die geringste Erfahrung. In
aller Eile richteten wir ein Häuschen im Berliner Vorort
Rauchfangswerder als Liebesnest her: unten das Wohnzimmer
mit Seeblick und von uns installierter Abhörvorrichtung, oben
unter der Dachschräge ein winziges Schlafzimmer mit in die
Deckenbeleuchtung eingebautem Fotoapparat samt Blitzlicht
hinter infraroten Scheiben. Der Bedauernswerte, der diese
Apparatur bediente, mußte sich in ein enges Verlies von einem
Wandschrank zwängen und konnte sich erst bewegen, wenn

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Dame und Begleiter das Schlafzimmer verlassen hatten.
Als nächstes galt es, geeignete Damen zu finden. Anfangs
waren wir so blauäugig, den ehemaligen Chef der Berliner
Sittenpolizei um Hilfe zu bitten, doch als die Prostituierten aus
dem Scheunenviertel, die er anschleppte, Stahlmann unter die
Augen kamen, bemerkte dieser nur lakonisch: »Die würden
nicht mal für eine Mark einen Freier kriegen« und machte sich
selbst auf die Suche. In einem Cafe engagierte er ein paar
attraktive und abenteuerlustige Mädchen, die nicht abgeneigt
waren, dem sozialistischen Vaterland einen Gefallen zu tun und
sich ein bißchen Geld dazuzuverdienen.
Inoffizielle Mitarbeiter unseres Dienstes sollten nach West-
Berlin ausschwärmen, im Pressezentrum oder in Lokalen
Kontakte anknüpfen und die Kandidaten zu einem zwanglosen
Abend mit Damenbegleitung einladen.
Die Konferenz begann, unser Team wartete ungeduldig, aber
kein Gast ließ sich blicken. Am letzten Tag endlich erschien
einer unserer Mitarbeiter mit einem westdeutschen Journalisten.
Wenn ich nicht irre, hieß er Jansen. Unser Team rotierte.
Speisen und Getränke wurden aufgetischt, die Damen setzten
sich in Positur. Beim Aperitif wurden zwei Gläser verwechselt,
so daß der Malina-Chef und nicht der Gast das Aphrodisiakum
zu sich nahm. Als Dessert gab es beschlagnahmte Pornofilme,
vom Sittenexperten beigesteuert. Der Gast reparierte zuerst den
Vorführapparat, und während unsere Leute wie gebannt auf die
Leinwand starrten, zog er sich gelangweilt in die Küche zurück,
wo er sich mit der Haushälterin unterhielt. Für die Damen zeigte
er nicht das geringste Interesse. Schließlich richtete er sich zur
Nacht auf zwei aneinandergeschobenen Sesseln ein und
bewachte den Schlaf unseres auf dem Sofa entschlummerten
Leiters.
Am nächsten Morgen hatte unser Gast als einziger einen
klaren Kopf. Er wußte, was wir von ihm wollten, schien nicht
abgeneigt, uns mit Informationen zu versorgen, und machte ein
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weiteres Treffen aus. Zu diesem Treffen erschien statt seiner ein
anderer Journalist, ein gewisser Heinz Losecaat van Nouhuys,
der sich als Redakteur des Spiegel ausgab. Ob die beiden den
Tausch auf eigene Faust vollzogen haben, oder ob von Anfang
an ein westlicher Geheimdienst dahintersteckte, habe ich nie
herausgefunden. Van Nouhuys, Deckname Nante, ein windiger,
gewiefter Journalist, erwies sich als überaus williger und
diensteifriger Agent. Er behauptete, in West-Berlin nahezu alle
wichtigen Leute zu kennen. Sein Eifer stimmte mich
mißtrauisch. Die Informationen, die er lieferte, hielten unseren
Überprüfungen stand. In den 70er Jahren bestätigte sich mein
ursprünglicher Verdacht: van Nouhuys, inzwischen
Chefredakteur der Quick, wurde vom Stern entlarvt.
Die Erfahrung, die wir mit unserer malina gemacht hatten,
sollte sich bei ähnlichen Anlässen wiederholen – die, daß
Aufwand und Ergebnis in keinerlei vernünftigem Verhältnis
standen. Internationale Tagungen und Olympische Spiele boten
lediglich unseren Mitarbeitern Gelegenheit, sich den Wind der
großen, weiten Welt um die Nase wehen zu lassen, aber
brauchbare Kontakte wurden so nicht geknüpft.
Der fehlgeschlagene Anwerbeversuch mit Dr. Bauer und der
Mißerfolg unseres Etablissements in Rauchfangswerder hatten
mir eindrücklich vor Augen geführt, daß es unverzichtbar war,
sich eine Vielzahl von Quellen zu schaffen und im Umgang mit
ihnen Fingerspitzengefühl walten zu lassen. Nicht daß
Fingerspitzengefühl immer die starke Seite unserer Mitarbeiter
gewesen wäre. Gut erinnere ich mich an den FDP-
Bundestagsabgeordneten Artur Stegner und seinen Bruder
Herbert, denen es gelang, unserem Dienst, für den sie sich hatten
anwerben lassen, glänzende Zukunftsaussichten Arturs als
Vizekanzler einer CDU/FDP-Koalition vorzugaukeln und uns
geschickt das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Ernüchterung
kam, als wir abgehörte Gespräche der Brüder auswerteten und
begriffen, daß sie nichts zu bieten hatten und uns nur wie kleine

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Gauner ausnehmen wollten. So wenig schmeichelhaft es war,
mitanzuhören, wie sie die Intelligenzbestie – gemeint war ich –
übers Ohr zu hauen gedachten – was der Unverfrorenheit die
Krone aufsetzte, war die Gemütsruhe, mit der sie in unserer
Villa in Rauchfangswerder Teile des Silberbestecks in ihren
geräumigen Aktentaschen mitgehen ließen. Als Artur Stegner
1957 nicht wiedergewählt wurde, brachen wir den Kontakt
erleichtert ab.
Größeren Gewinn brachte die Beziehung zu Dr. Günther
Gereke, einem der Mitbegründer der CDU, der unter den Nazis
inhaftiert gewesen war und zum Kreis der Verschwörer des 20.
Juli gehört hatte. Nach dem Krieg war er als Gutsbesitzer in der
sowjetischen Besatzungszone enteignet worden und hatte sich in
der britischen Zone zum stellvertretenden Regierungschef des
Landes Niedersachsen hochgearbeitet. Seine Verbindung zu
Kurt Vieweg, dem Sekretär des Zentralkomitees der SED, war
über den von Vieweg geleiteten gesamtdeutschen Arbeitskreis
der Land- und Forstwirtschaft entstanden. In konspirative
Bahnen wurde sie gelenkt, nachdem Gereke sich 1950 mit
Ulbricht getroffen hatte, um sein Mißfallen an Adenauers
Deutschlandpolitik zu demonstrieren, und aufgrund dieses
Treffens prompt aus der CDU ausgeschlossen worden war.
Nach dem Ausschluß aus der CDU unternahm Gereke
mehrere Versuche, eine neue Partei ins Leben zu rufen, und
1950 gründete er mit Billigung und Unterstützung Viewegs die
DSP – Deutsche Soziale Partei -, Sammelbecken für Kräfte, die
von rechts, aber auch von links her in Opposition zu Adenauers
Politik standen – Nationalisten, Militärs, ehemalige NS-
Bauernfunktionäre und Kommunisten.
Leider sahen wir uns bald gezwungen, diesen wertvollen
Informanten zum Übertritt in die DDR zu bewegen, denn wir
erfuhren, daß sein persönlicher Mitarbeiter mit hoher
Wahrscheinlichkeit für den britischen Geheimdienst arbeitete.
Wir beschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und

-91-
Gereke auf einer Pressekonferenz als Überläufer aus
Gewissensgründen zu präsentieren. Bei unserer politischen
Führung fand Gerekes öffentlicher Auftritt großen Anklang –
mehr Anklang, als mir lieb sein konnte, wie ich wenig später
erkennen mußte.
Während ich im Sommer 1954 nichtsahnend am Schwarzen
Meer Urlaub machte, überlegte man in Berlin, wie man der
Bundesrepublik möglichst publikumswirksam den Beitritt zu
einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft erschweren
könnte. Auf Weisung Wollwebers wurden meine Unterlagen
durchforstet, und dabei stieß man auf eine Quelle namens
»Timm«.
Hinter diesem Decknamen verbarg sich der CDU-
Bundestagsabgeordnete Karlfranz Schmidt-Wittmack, Mitglied
der Parlamentsausschüsse für Fragen der europäischen
Sicherheit, für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, ein Mann,
der eine steile Karriere vor sich hatte. Schmidt-Wittmack
stammte aus einer gutbürgerlichen Familie und war gewiß kein
Linker. Dennoch hatte er für die Parteiaufklärung der KPD
gearbeitet, und seit wir die Verbindung zu ihm wieder
aufgenommen hatten, arbeitete er für uns. Er gehörte zu jenen
Patrioten, denen Adenauers Politik eine Wiedervereinigung
unmöglich erscheinen ließ und die seine Aufrüstungspläne
ablehnten.
Als ich aus dem Urlaub zurückkehrte, fand ich Wollwebers
Weisung vor, »Timm« sei unverzüglich in die DDR zu bringen.
Ich sträubte mich mit Händen und Füßen, meine Spitzenquelle
in der CDU zu opfern, nur um eine Pressekonferenz zu
veranstalten, auf der mein Mann obendrein Thesen vertreten
sollte, die er weder kannte noch gutheißen dürfte. Schmidt-
Wittmacks Informationen über geheime Ausschußsitzungen
waren von unschätzbarem Wert, besonders über die Haltung der
Bundesrepublik zu einem amerikanisch dominierten
Militärbünd nis. Ich bestürmte Wollweber, doch er wiederholte

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nur, es sei alles beschlossene Sache.
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu überlegen, wie ich
Schmidt-Wittmack dazu überreden wollte, sich in die DDR
abzusetzen. Wir kannten uns nicht persönlich, und bei unserer
ersten Begegnung – in derselben Villa, in der ich mit dem
Doppelagenten »Merkur« gesprochen hatte – blieb die
Atmosphäre reserviert bis frostig. Was ich als Argumente für
einen Übertritt vorbrachte, überzeugte mein Gegenüber ganz
und gar nicht. Ich war mit meinem Latein am Ende, da fiel mir
Gerekes Fall ein, und ich griff zu einer daraus abgeleiteten
Notlüge. Ich behauptete, das Bundesamt für Verfassungsschutz
sei auf Schmidt-Wittmack aufmerksam geworden und
beabsichtige, ihn zu verhaften. Das war schon besser, und nach
kurzer Bedenkzeit sagte er, er sei einverstanden, vorausgesetzt,
seine Frau, die mit den zwei Kindern nichtsahnend in Hamburg
saß, sei es ebenfalls.

Karlfranz Schmidt-Wittmack 1954


Er schrieb einen Brief an seine Frau, den ein Kurier nach

-93-
Hamburg brachte, und kurz darauf stand sie mitsamt den
Kindern vor der Tür unserer konspirativen Villa. Die
Verhandlungen mit ihr gestalteten sich auf andere Weise
schwierig als die mit ihrem Mann. Sie wußte zwar um seine
geheimdienstliche Tätigkeit, konnte sich ein Leben in der DDR
aber ebensowenig vorstellen wie ein Leben auf dem Mond. Zu
guter Letzt siegte ihr weiblicher Pragmatismus; vor der
Alternative Gefängnis für ihren Mann im Westen oder Haus am
See in der DDR entschied sie sich für das geringere Übel.
Schulferien und Parlamentspause in Bonn halfen uns, die
Abwesenheit der Familie für einige Tage abzudecken und den
wichtigsten persönlichen Besitz unauffällig zu überführen.
Am 26. August 1954 trat Schmidt-Wittmack in Ost-Berlin vor
die Presse. Seine Enthüllungen besagten, daß Adenauer den
Bundestag in wesentlichen Fragen der Außenpolitik und der
Aufrüstung hintergehe und Entscheidungen treffe, die seinen
öffentlichen Verlautbarungen widersprachen. Außerdem
verkündete er eine Information, die uns der sowjetische
Geheimdienst hatte zukommen lassen, daß nämlich ein
Mobilmachungsplan für die Aufstellung eines bundesdeutschen
Kontingents von vierundzwanzig Divisionen auf geheimen
Sonderkonferenzen beschlossen worden sei.
Inzwischen waren wir uns mens chlich nähergekommen, und
mit Anteilnahme verfolgte ich Schmidt-Wittmacks weiteren
Lebensweg. Als Vizepräsident der Kammer für Außenhandel
hatte er eine Funktion inne, die ihn wenigstens teilweise für das
entschädigte, was er hatte aufgeben müssen. Sein Los war
zumindest rosiger als das Gerekes, der einen Vorruhestands-
Funktionärsposten in der Nationaldemokratischen Partei
erhalten hatte, einem Sammelbecken ehemaliger Soldaten,
selbständiger Handwerker und Kleinunternehmer.
Der spektakulärste Übertritt jene r Jahre fand allerdings ohne
unser Zutun statt, und der Überläufer war nicht für uns tätig
gewesen, sondern im Gegenteil von Amts wegen dafür

-94-
zuständig gewesen, unsere Quellen aufzuspüren und zu
enttarnen. Am 20. Juli 1954 verschwand Dr. Otto John,
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, nach einer
Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag des mißglückten
Attentats auf Hitler in West-Berlin. Johns letzte Spur führte zu
dem mit ihm bekannten Arzt Dr. Wolfgang Wohlgemuth. Es
hatte den Anschein, daß beide mit Wohlgemuths Auto nach Ost-
Berlin gefahren waren. Kaum hatte die Bundesregierung am
Abend des 23. Juli erklärt, John könne »das Bundesgebiet nicht
freiwillig verlassen« haben, übertrug der DDR-Rundfunk eine
Ansprache Johns, in der dieser das Gegenteil versicherte.
Auf einer kurz darauf anberaumten Pressekonferenz
wiederholte John, er sei politisch unabhängig, und beschuldigte
die Bundesregierung, sich durch Adenauer als »Werkzeug der
amerikanischen Politik in Europa« mißbrauchen zu lassen und
innenpolitisch alte Nazis zu schützen, ehemalige
Widerstandskämpfer hingegen zu benachteiligen;

Otto John
als Beispiel führte er die Praxis des Amtes Blank und der

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Organisation Gehlen an, einstige SD- und SS-Chargen in
führender Stellung zu beschäftigen. Dieser öffentliche Auftritt
schlug in beiden Teilen Deutschlands wie die sprichwörtliche
Bombe ein und stürzte den westdeutschen Verfassungsschutz in
eine schwere Krise.
Johns politische Vergangenheit ließ die Gründe, die er für
seinen Übertritt vorbrachte, glaubwürdig erscheinen. Er hatte als
überzeugter Gegner des NS-Regimes zu den Verschwörern
gegen Hitler gehört und hatte im Auftrag Stauffenbergs
versucht, Kontakte zu Eisenhower und Churchill herzustellen.
Heute vermutet er, daß seine Botschaften beim britischen
Geheimdienst von Kim Philby, dem KGB-Maulwurf,
abgefangen und unterdrückt wurden. Den tragischen Ausgang
des Attentats am 20. Juli 1944 hatte er miterlebt und war über
Madrid und Lissabon nach England geflüchtet, wo Sefton
Delmer ihn mit Propagandasendungen betraute. Bei den
Nürnberger Prozessen hatte John gegen die Feldmarschälle von
Brauchitsch, von Rundstedt und von Manstein ausgesagt.
Eine diplomatische Karriere, wie sie ihm vorschwebte,
scheiterte am Korpsgeist der politisch eindeutig vorbelasteten
Ribbentrop-Clique in der Bundesrepublik. Daß er statt dessen
zum Präsidenten der Verfassungsschutzbehörde ernannt wurde,
die in der britischen Zone ihren Sitz hatte, paßte Adenauer und
dessen Staatssekretär Globke wiederum nicht. Besonders
Globke hatte von Anfang an die Organisation Gehlen favorisiert,
mit Sonderrechten versehen und unverhüllt protegiert, während
er dem Bundesamt für Verfassungsschutz die kalte Schulter
zeigte. Als ausgemachte Brüskierung mußte John es empfinden,
daß man ihm den vormaligen Vizepräsidenten der Organisation
Gehlen in sein Amt gesetzt hatte, fraglos als Aufpasser. Vor
dem Hintergrund all dessen erschien ein Übertritt Johns in die
DDR als nur zu verständlich.
Aus Akten, die ich 1990 einsehen konnte, und aus dem, was
John selbst mir bei mehreren Begegnungen 1992. und danach

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erzählt hat, läßt sich ersehen, daß John tatsächlich entführt
wurde und daß die Staatssicherheit der DDR sich ähnlich
ahnungslos wie er selbst mit dem unerwarteten Gast konfrontiert
sah, den ihr die Sowjets unversehens präsentierten.
Offenbar stand Wohlgemuth in Verbindung zum sowjetischen
Geheimdienst, und offenbar war er auf die abenteuerliche Idee
gekommen, dort Eindruck zu schinden, indem er den obersten
Verfassungsschützer als Beute anschleppte und den Sowjets in
Karlshorst, dem militärischen Hauptquartier, überreichte. John
zufolge hatten beide in West-Berlin kräftig gezecht; John war
eingeschlafen und erst in sowjetischem Gewahrsam erwacht.
Vermutlich hatte Wohlgemuth seinem Freund ein
Betäubungsmittel ins Glas praktiziert. In Karlshorst war der
dortige Leiter Ewgeni Pitawranow überrascht, und so wurden
Mitarbeiter aus Moskau angefordert, um die Situation zu klären.
Leider sind die Akten zum Fall John zwar umfangreich, aber
arm an Aussagen, und über den weiteren Verlauf der Entführung
kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich ist, daß John sich nach
mehreren Gesprächen bereit erklärte, als Überläufer aufzutreten,
da seine Laufbahn in der Bundesrepublik ohnedies irreparabel
beschädigt und an eine Rückkehr vorerst nicht zu denken war.
Auffallend ist, daß mein Freund Wadim Kutschin vom KGB
immer sehr einsilbig wurde, wenn ich ihn nach dem Fall John
auszufragen begann, und wahrscheinlich scheint mir, daß
niemand so recht Lust hat, sich zu der Wahrheit der ganze n
Sache zu bekennen.
Nach seinem Presseauftritt wurde John mit Kutschin auf eine
längere Reise durch die Sowjetunion geschickt. Bei seiner
Rückkehr freundete er sich mit dem Berliner Architekten
Hermann Henselmann und mit Wilhelm Girnus an, den ich aus
meiner Rundfunkzeit kannte. Doch im Dezember 1955, siebzehn
Monate nach seinem spektakulären Auftauchen im Osten, setzte
John sich ohne viel Aufhebens in den Westen ab. Er verließ eine
Veranstaltung der Humboldt-Universität, stieg in den Wagen

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des dänischen Journalisten Bonde-Henriksen und fuhr mit ihm
durch das Brandenburger Tor nach West-Berlin.
Daß er zu vier Jahren Zuchthaus wegen Landesverrats
verurteilt und erst nach achtzehn Monaten Haft begnadigt
wurde, hat ihn zeitlebens erbittert, und bis zu seinem Tod
kämpfte er um seine Rehabilitierung und um die Aufhebung des
Urteils.
Alles in allem waren die spektakulären Übertritte jener Zeit
von wenig strategischem Wert. Die Lehre, die ich daraus zog,
war die, künftig dem Druck von oben nie wieder nachzugeben
und nur »verbrannte« Quellen, die keinen
nachrichtendienstlichen Wert mehr besaßen, als Überläufer zu
präsentieren. Kurzfristig schienen die öffentlichen Auftritte
Schmidt-Wittmacks und Johns einiges bewirkt zu haben –
Adenauer mußte sich vor dem Bundestag rechtfertigen, Gerhard
Schröder, der damalige Innenminister, sprach von einer
»Schlappe im kalten Krieg«, und das peinliche Thema des
wachsenden Einflusses der Alt-Nazis in der Bundesrepublik ließ
sich nicht länger unter den Teppich kehren. Aber wenige Zeit
später beantragte die Bundesrepublik ihre Aufnahme in die
Nato. Die Wiederbewaffnung aufzuhalten, war uns nicht
gelungen, wir hatten sie nicht einmal nennenswert verlangsamen
können.

-98-
4 Schicksalsjahr 1956

Die Ereignisse im Jahr 1956 leiteten Prozesse ein, die letztlich


zu jener Entwicklung führten, welche sich am Ende unseres
Jahrhunderts im Zusammenbruch des Sozialismus vollendet.
Wenn ich mich nach dem Zeitpunkt meines eigenen Brechens
mit dem Stalinismus frage, fällt es mir schwer, einen
bestimmten Moment dieses langen und schmerzlichen Prozesses
herauszugreifen, doch an seinem Anfang stand zweifellos der
XX. Parteitag der sowjetischen Kommunisten.
Bis zum Februar 1956 hing über meinem Schreibtisch ein
Foto Stalins, das ihn so zeigte, wie ich ihn lange gesehen habe,
als das weise, gütige »Väterchen«, das sich gerade sein
Pfeifchen anzündet. Als ich die Rede gelesen hatte, die
Chruschtschow vor dem Parteitag gehalten hatte, nahm ich das
Bild von der Wand und feuerte es in die Ecke. Im ersten
Augenblick emp fand ich nur Schmerz und Empörung, aber die
Wirkung ging tiefer. Chruschtschows Enthüllungen versetzten
meiner Überzeugung, an der Errichtung einer besseren,
gerechteren Welt mitzuwirken, einen ersten Stoß.
Im Rückblick erscheint mir der XX. Parteitag wie eine
Vorankündigung der Perestroika. Doch so, wie zwischen
Chruschtschow und Gorbatschow ein langer Weg lag, so ging
auch ich, begleitet von Zweifeln, beeinflußt vom Fortwirken der
alten Strukturen und Denkweisen auf beiden Seiten des Eisernen
Vorhangs, einen langen und keineswegs geradlinigen Weg der
Erkenntnis bis zum Durchbruch des neuen Denkens und meinem
Ausscheiden aus dem Dienst.
Drei Jahre nach Stalins Tod wirkte die Rede Nikita
Chruschtschows wie ein Vulkanausbruch. Für die einen
verdunkelte sie die Sonne, für die anderen wich eine Spannung,
die jahrelang auf uns gelastet hatte.
In der Sowjetunion und auch in der DDR wurde diese Rede

-99-
jahrzehntelang unter Verschluß gehalten. Wer wie ich Zugang
zu westlichen Zeitungen hatte, konnte sie allerdings scho n kurz
nach dem Parteitag lesen. Sie enthüllte, daß von den 139
Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees, die 1934 auf
dem XVII. Parteitag der KPdSU gewählt worden waren, in den
Folgejahren 98 verhaftet und erschossen worden waren; von den
1966 Delegierten des Parteitags waren weit mehr als die Hälfte
als Konterrevolutionäre abgeurteilt worden. Unfaßbar erschien
mir die Liquidierung Marschall Tuchatschewskijs und weiterer
5000 Offiziere der Roten Armee und kaum weniger
unbegreiflich die Selbstherrlichkeit, mit der Stalin die
Warnungen zahlreicher Kundschafter ignoriert hatte, die unter
Einsatz ihres Lebens Zeitpunkt und Einzelheiten des deutschen
Überfalls auf die Sowjetunion in Erfahrung gebracht und
gemeldet hatten.
Natürlich erinnerte ich mich an die Jahre in Moskau, in denen
Eltern meiner Freunde plötzlich verschwunden und die eigenen
Eltern sorgenvoll und einsilbig geworden waren. Wer zur Zeit
des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion Augen und Ohren
nicht völlig verschloß, konnte später nicht behaupten, von den
Repressalien und Greueltaten nichts gewußt oder wenigstens
geahnt zu haben. Doch vieles blieb für uns damals dunkel und
widersprüchlich. Manches hielten wir für Folgen
eigenmächtigen Handelns oder unguter Einflüsse aus Stalins
engerer Umgebung, er selbst aber blieb die unantastbare, die
überragende historische Gestalt.
Die Aufdeckung und massive Verurteilung aller Verbrechen
Stalins und seiner Vergehen gegen die Ideale des Sozialismus
mußten daher wie ein Schock wirken. Viele haben seither mit
einem inneren Zwiespalt gelebt, der nicht zu bereinigen war.
Anfangs jedoch überwog das Gefühl der Erleichterung, denn wir
glaubten, nun sei das Ende der Ungerechtigkeit gekommen.
Schon im Frühjahr 1956 trübten erste Schatten alle
Erwartungen. Auf der 3. Parteikonferenz der SED, an der ich

-100-
teilnahm, wurden zwar Folgerungen aus dem XX. Parteitag der
KPdSU gezogen, die auf mehr Kollektivität in der Leitung und
eine Entfaltung der Kritik von unten nach oben zielten, doch
schon der Umgang mit Chruschtschows Rede auf der
Parteikonferenz zeigte hinlänglich, wie Ulbricht mit der neuen
Situation umzugehen gedachte. Lediglich Auszüge aus der Rede
wurden in geschlossener Sitzung verlesen. Diese unsinnige
Geheimniskrämerei wurde von Ulbricht auch weiterhin
praktiziert und von Honecker bis zuletzt fortgesetzt.
Kurz nach der Parteikonferenz fand im Staatssekretariat für
Staatssicherheit eine Kollegiumssitzung statt. Es war noch nicht
die Zeit der einsamen Monologe, mit denen Mielke uns
langweilte, nachdem er Minister geworden war. Damals forderte
Wollweber die Anwesenden zu Meinungsäußerung auf. Spontan
meldete ich mich als erster zu Wort, begrüßte die Art, wie die
sowjetische Partei mit ihrer eigenen Geschichte umging, und
sprach von meiner Erleichterung, daß nun offen über Tatsachen
geredet wurde, die mich in der zurückliegenden Zeit belastet
hatten. Mielke widersprach mir sofort. Er habe unter keiner Last
gelitten. Er betonte, daß die UdSSR unter Stalins Führung den
Faschismus zerschlagen hatte. Von den Repressalien in der
Sowjetunion habe er nichts gewußt, in der DDR habe es keine
gegeben. Einige Jahre später, nach Chruschtschows Sturz,
bezeichnete Mielke dessen Abrechnung mit Stalin als schweren
Fehler. Er bekannte sich offen zum »Stalinismus«, ein Begriff,
der damals weder in der Sowjetunion noch in der DDR benutzt
wurde, und brachte im Beisein sowjetischer Partner und vor
versammelter Mannschaft Trinksprüche auf Stalin mit dem
obligatorischen dreifachen Hurra aus.
Bereits unmittelbar nach dem XX. Parteitag der KPdSU war
Ulbrichts Sorge über die Konsequenzen der Enthüllungen
deutlich zu spüren. Von der Demontage des großen Vorbilds
mußte er zu Recht eine Gefährdung der Machtstrukturen
befürchten. Gewissen Konsequenzen konnte die DDR sich nicht

-101-
entziehen: 88 von sowjetischen Militärtribunalen verurteilte
Häftlinge wurden begnadigt, 698 weitere vorzeitig entlassen. Im
Sommer desselben Jahres folgte eine Amnestie für abermals
19000 Inhaftierte. Innerhalb der SED wurden Verfahren
überprüft und die Parteistrafen gegen Franz Dahlem, Anton
Ackermann, Hans Jendretzky und andere aufgehoben,
wenngleich keiner von ihnen in das Politbüro zurückkam.
Im Gefolge der Auseinandersetzungen über Grundfragen der
Wirtschaftspolitik, die in der Sowjetunion geführt wurden, holte
auch die DDR-Führung Reformpläne aus den Schubladen.
Schulungsseminare für Partei- und Staatsfunktionäre wurden
veranstaltet, wo ein lebhafter, ja kontroverser
Meinungsaustausch stattfand. Diskussionen zwischen
Intellektuellen behandelten Demokratisierungskonzepte
jugoslawischer, ungarischer, polnischer, deutscher und
italienischer Marxisten. Durch diese offenen Erörterungen und
durch Vorschläge, die auf mehr Demokratie und
Selbstverwaltung abzielten, sah die SED-Spitze die führende
Rolle der Partei und damit das ga nze Herrschaftssystem bedroht.
So kam es, daß ein Beschluß des Politbüros keine zwei Monate
nach der 3. Parteikonferenz jede »Fehlerdiskussion« ablehnte.
Die bescheidenen Ansätze zu innerparteilicher
Demokratisierung wurden mit der Begründung gestutzt, in der
DDR habe es keinen Personenkult gegeben und keine
Verletzung innerparteilicher Demokratie oder sozialistischer
Gesetzlichkeit. »Keine Fehlerdiskussion«, »dem Gegner keine
Argumente liefern«, »Mängel im Vorwärtsschreiten
überwinden« – so und ähnlich kla ngen die Schlagworte, mit
denen in der Folge jede offene Diskussion unterbunden wurde.
1956 wollte es fast so scheinen, als habe der kalte Krieg sich
auf ähnliche Weise verselbständigt wie seinerzeit der
Dreißigjährige Krieg. Dabei hätte dieses Jahr die Chance
geboten, Bewegung in die erstarrten Fronten zu bringen. Der
Begriff der friedlichen Koexistenz, bei Lenin ausgegraben, kam

-102-
in Mode; der heiße Krieg galt nicht länger als unvermeidlich.
Doch der kalte Krieg wurde nicht für einen Tag unterbrochen.
So sehr die restriktive Politik der SED-Führung meine
Hoffnungen enttäuschte, so wenig konnte ich mich der
Erkenntnis verschließen, daß eine Aufweichung des
sozialistischen Systems den Status quo in Europa ernstlich
gefährdet hätte. Längst nicht jede oppositionelle Stimme in der
DDR hatte ihren Ursprung in diesem Land; zunehmend
verstärkten die westdeutschen Organisationen in der DDR,
hinter denen sich westliche Geheimdienste verbargen, ihre
Aktivitäten. Einige von ihnen wurden von den
Abwehrabteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit
observiert, die auch die Telefonleitungen des Ostbüros der SPD
anzapften. Mein Dienst hatte dort eigene Quellen plaziert.
Dieses SPD-Ostbüro, das bis 1966 bestand, schleuste mit
Kurieren Propagandamaterial in die DDR ein und warb
Vertrauensleute an, um so an Informationen zu kommen – oft
mit einem sträflichen Dilettantismus, an den sich ehemalige V-
Leute noch heute voller Zorn erinnern. Mindestens 800
Angeworbene wurden in der DDR wegen
Nachrichtenbeschaffung und Spionage verur teilt. In der
Bundesrepublik bespitzelte und infiltrierte das Ostbüro von der
SPD als prokommunistisch eingestufte Gruppen und
Organisationen und belieferte den Verfassungsschutz mit seinen
Erkenntnissen.
Institutionen wie das Ostbüro stellten für die amerikanischen
Dienste eine hochwillkommene Ergänzung des eigenen
Agentennetzes dar, und ihr politischer Hintergrund bildete eine
beinahe zwangsläufige Parallele zur psychologischen
Kriegführung, der in den USA ein hoher Stellenwert im Kampf
gegen den Kommunismus zugemessen wurde.
Ende April 1956 weckte unsere Hausangestellte mich eines
Tages in der Morgendämmerung mit den Worten: »Der Minister
erwartet Sie am Gartentor.« Ein Blick aus dem
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Schlafzimmerfenster ließ diesen ungewöhnlichen Besuch noch
seltsamer erscheinen: Der ältere Volkswagen auf der Straße
paßte ebensowenig zu Wollweber wie die frühe Stunde.
Wollweber fuhr üblicherweise die große sowjetische SIM-
Limousine mit Begleitschutz. Sicherheitshalber bewegte ich
mich mit durchgeladener Dienstpistole in der Tasche zur
Eingangstür – bei der knappen Entfernung nach West-Berlin
und der offenen Grenze mußte man auf alles gefaßt sein. Vor
der Tür stand jedoch tatsächlich der rundliche Ernst Wollweber
mit dem unvermeidlichen Zigarrenstummel zwischen den
Lippen. Von einem Anruf aus dem Bett geholt, war er in den
Wagen eines Mitarbeiters aus der Nachbarschaft gesprungen.
In halsbrecherischem Tempo rasten wir über die
menschenleeren Straßen in Richtung des Flughafens Schönefeld.
Hinter Alt-Glienicke, etwa einen Kilometer vor dem Flugplatz,
trafen wir auf ein Trüppchen Männer – zur Hälfte sowjetische
Soldaten -, das am Rand eines Friedhofs eine Grube auszuheben
schien. Sie gruben einen Tunnel aus, den seither berühmt
gewordenen amerikanischen Spionagetunnel. Wollweber
erklärte mir nun, daß die CIA in Zusammenarbeit mit dem SIS
die neben der Landstraße verlaufenden Kabelstränge aller von
Berlin in den Süden der DDR verlaufenden Telefonleitungen
angezapft habe, wobei das besondere Augenmerk zweifellos
dem Strang galt, der zum sowjetischen Hauptquartier in
Wünsdorf führte.
Inzwischen hatten die Grabenden ein Stück der Tunnelröhre
aufgeschweißt und die schwere Metalltür zum geräumigen
Verstärkerraum unter der Straße geöffnet; nachdem sie das
Terrain nach Minen und Sprengladungen abgesucht hatten,
durften wir die Anlage besichtigen. In dem recht wohnlich
eingerichteten Verstärkerraum tat sich unseren staunenden
Blicken ein wahres Wunderwerk der Technik auf. Sämtliche
Kabel – gewiß einige hundert – waren durchtrennt, mit einem
Verstärker verbunden und wieder verkabelt zu einem Gebäude

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etwa 500 Meter hinter der Grenze geleitet, das eigens dafür
errichtet worden und als meteorologische Beobachtungsstation
getarnt war. Durch den Tunnel tappten wir bis zu der
unterirdischen Stelle, wo ein amerikanischer Spaßvogel hinter
einer Stacheldrahtrolle ein kleines Pappschild mit der Aufschrift
»Hier beginnt der amerikanische Sektor« aufgestellt hatte.
Viele Jahre später erzählte mir George Blake, der berühmte
Maulwurf des KGB im britischen Geheimdienst, die
Hintergründe dieses Tunnelbaus. Er war damals in der West-
Berliner Dienststelle des britischen Dienstes eingesetzt gewesen,
und durch ihn waren die Sowjets von Anfang an über das
Unternehmen auf dem laufenden gehalten worden. Uns
gegenüber ließ der KGB wie immer größte Zurückhaltung
walten; man ließ das Ministerium für Staatssicherheit lediglich
irgendwann wissen, daß es opportun sein könnte, den Bau einer
Einrichtung unbekannter Art in der Nähe des Flughafens
Schönefeld zu beobachten. Das Ergebnis dieser Beobachtungen
war das, was sich an jenem frühen Morgen im April 1956
abspielte.
Als George Blake nach seiner aufsehenerregenden Flucht aus
dem britischen Gefängnis, in das ihn Enttarnung und Prozeß
gebracht hatten, häufiger in die DDR fuhr, wo er sich mit seiner
in Holland lebenden betagten Mutter traf, sahen wir uns hin und
wieder und freundeten uns an. Es war faszinierend, wenn er
seine Lebensgeschichte erzählte – wie er als Sohn eines reichen
Bankiers aus Kairo und einer holländischen Aris tokratin zum
britischen Marineoffizier und Geheimdienstmitarbeiter
geworden war, wie er in Gewissenskonflikte geraten war, als die
Alliierten sich gegen die UdSSR zu stellen begannen, und
deshalb 1950 in der Gefangenschaft während des Koreakrieges
von sich aus den Kontakt zum KGB gesucht hatte.
Wie Blake lebte auch Kim Philby, der wohl bekannteste
sowjetische Kundschafter im britischen Geheimdienst, seit
Enttarnung und Rückzug in Moskau. Beide waren mit

-105-
Russinnen verheiratet und einander freundschaftlich ve rbunden.
In Philby lernte ich nach Blake einen zweiten Engländer kennen,
der aus Überzeugung gegen den Nachrichtendienst seines
Mutterlandes für die Sowjetunion gearbeitet hat, weil er in ihr
den Beginn einer neuen, besseren Welt zu erkennen glaubte.

Mit George Blake 1980


Blake wie Philby hatten sich der Realität in der Sowjetunion
nicht verschließen können, und ihr Blick auf das verheißene
Land war im Lauf der Jahre immer nüchterner geworden. Offen
tauschten sie mit mir kritische Ansichten aus, hielten aber nach
wie vor am Glauben an mögliche Veränderungen des
Sowjetsystems fest. Beide gehören für mich zu den großen und
tragischen Gestalten der Nachrichtendienste.
Seit Chruschtschows Rede waren in Polen und Ungarn Unruhen
aufgeflackert und eskaliert. Die polnische Partei hatte
Wladislaw Gomulka, der seit 1951 als »titoistischer und
nationalistischer« Abweichler im Gefängnis saß, ebenso
rehabilitiert wie die früheren Angehörigen der

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antikommunistischen Landesarmee, die die
Emigrantenregierung während des Krieges von London aus
befehligt hatte. Auch in Ungarn und in der Tschechoslowakei
wurden Politiker rehabilitiert, die zu Anfang der 50er Jahre
unrechtmäßig verurteilt worden waren. Außerdem fanden
Umbesetzungen in der politischen Führung dieser Länder statt.
Mátyás Rákosi, Ungarns »kleiner Stalin«, mußte auf einer
Massenkundgebung in Budapest Selbstkritik üben. 150
Sozialdemokraten wurden aus den Gefängnissen entlassen, die
ungarische Partei bemühte sich, ihr Verhältnis zur katholischen
Kirche zu normalisieren, und jeden Donnerstag versammelten
sich Tausende rund um den Petöfi-Klub.

Mit Kim Philby 1981


In Polen kam es im Sommer während der Industriemesse in
Poznan zu blutigen Zusammenstößen, die 53 Tote und 300
Verletzte forderten. Gomulka, von den Dogmatikern nach wie
vor beargwöhnt, galt als kommender Parteichef, während man
davon überzeugt war, daß als Stalinisten verrufene Politiker wie

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der den Polen von den Sowjets als Verteidigungsminister
aufgenötigte sowjetische Marschall Rokossowskij aus der
Parteiführung entfernt werden würden. Begleitet von der
gesamten Staatsspitze der UdSSR und vierzehn hohen Militärs,
landete Chruschtschow auf einem polnischen Militärflugplatz.
Es gelang den Polen, ihn zu beruhigen. Gomutka wurde zum
Ersten Sekretär der Partei gewählt, Chruschtschow billigte
seinen neuen Kurs. Kardinal Wyszynski, die Symbolfigur
oppositioneller Kreise, wurde aus der Haft entlassen.
In Ungarn spitzte die Situation sich Ende Oktober so
dramatisch zu, daß sie uns Tag und Nacht in Atem hielt. Täglich
strömten mehr Menschen zu den Kundgebungen, auf denen
anfangs noch Gedichte Petöfis und Kossuths rezitiert worden
waren; nun wurden politische Forderungen laut, der Ruf nach
Freiheit, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, nach dem
Ausstieg aus dem Warschauer Pakt und einer Annäherung an
den Westen. Rákosi mußte zurücktreten. Am 23. Oktober wurde
das Stalin- Denkmal gestürzt und der Rundfunksender gestürmt.
Es gab den ersten Toten. Über Nacht rückten sowjetische Panzer
in die Stadt Budapest ein. Imre Nagy, den ich aus Moskau
kannte, wurde wieder zum Ministerpräsidenten ernannt. Von
ihm versprach ich mir eine besonnene, vernünftige Politik, und
das sagte ich auch Wollweber und Mielke. Der Verlauf der
nächsten Tage schien mir recht zu geben: Die sowjetischen
Panzer zogen aus Budapest ab, Nagy verkündete sein
Regierungsprogramm, der eingekerkerte Kardinal Mindszenty
wurde auf freien Fuß gesetzt. Aber die Krise ließ sich nicht
mehr beherrschen, weder von der Regierung noch von der
Kommunistischen Partei. Am 4. November rückten erneut
sowjetische Panzer in Budapest ein.
In diesen Tagen sah ich Europa ständig auf der Schwelle
zwischen kaltem und heißem Krieg. Das Radio war wichtiger
als die Informationen des eigenen Dienstes. Mein Sondertelefon
klingelte pausenlos. Im Wechsel wollten sowjetische

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Verbindungsoffiziere und meine Vorgesetzten wissen, was die
Nato tun werde.

Sowjetische Panzer in Budapest 1956


Zur gleichen Zeit tat sich im Nahen Osten ein weiterer
Konfliktherd auf. Israel trat in einen bewaffneten Konflikt mit
Jordanien, offenbar ermutigt durch die Destabilisierung des
Warschauer Pakts. In einer handstreichartigen Aktion griffen
israelische Truppen ägyptische Stellungen im Sinai an, von
Zypern aus unterstützt durch britische und französische Bomber.
Erst als die Sowjetunion ihr Eingreifen androhte und die USA
Druck auf ihre Verbündeten ausübten, endete der Konflikt.
Selbst eine so lapidare Auflistung der Ereignisse jener Zeit
läßt erahnen, in welcher Anspannung und Ungewißheit wir
damals lebten. Die Entscheidungen über Krieg und Frieden, aber
auch über die grundlegende Entwicklung der Interessensphären
des westlichen und östlichen Bündnisses fielen in Washington
und Moskau. Bei den dramatischen Geschehnissen in Ungarn
respektierten die USA den Status quo genauso wie zuvor am 17.
Juni 1953 in der DDR, wie später beim Mauerbau und beim

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Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der
Tschechoslowakei – aber wer hätte es verbindlich
vorauszusagen gewagt? Angesichts der wechselseitigen
atomaren Bedrohung konnten falsche Informationen und
fehlerhafte Analysen katastrophale Folgen zeitigen. Über den
Nutzen von Geheimdiensten mag man denken wie man will, und
es ist mir nicht darum zu tun, den Dienst der DDR in seinem
Gewicht überzubewerten, doch selbst im kritischen Rückblick
halte ich ihm zugute, daß er damals mit seinen Informationen
dazu beigetragen hat, eine militärische Konfrontation zu
verhindern.

Imre Nagy verkündet Ungarns Austritt aus dem Warschauer


Pakt
Heute ist es einfach zu sagen, die sowjetischen Panzer hätten
in Ungarn einen Volksaufstand niedergewalzt. In jenen Wochen
im Herbst 1956 schienen national und international wirkende
Ursachen und Kräfte zu einem unauflöslichen Knäuel
verflochten. Aus der historischen Distanz ist unverkennbar, daß
Imre Nagy und mit ihm die Mehrheit der Ungarn sich die

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Forderungen der Studenten und Intellektuellen zu eigen gemacht
hatten, als Patrioten, die nach Freiheit und Unabhängigkeit
strebten und die einen eigenen demokratischen Weg der
gesellschaftlichen Entwicklung einschlagen wollten. Damals
sahen wir in erster Linie, daß die noch immer vorhandenen
Anhänger des Horthy-Regimes die Unruhen für sich zu nutzen
suchten und mit Hilfe aus dem Westen zu ihnen stoßender
Gesinnungsgenossen Exzesse schürten, wo immer sie
Gelegenheit dazu fanden.

Panzerabwehrgeschütze auf Budapests Straßen

Die meisten meiner ungarischen Kollegen sind über die


Ereignisse des Herbstes 1956, über ihre unmittelbaren und ihre
langfristigen Folgen nie wirklich hinweggekommen: die
Massenflucht der Ungarn ins Ausland, das Schicksal Imre
Nagys und seiner Gefährten, die nach der Niederschlagung des
Aufstands nach Rumänien verschleppt, in einem Geheimprozeß
zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren. Die
Wiederherstellung der sozialistischen Macht unter János Kádár,
der unter Rákosi inhaftiert und schweren Mißhandlungen

-111-
ausgesetzt gewesen war, ließ dennoch zu, daß Ungarn für
Reformen offen blieb und für seine Bürger in vielem erträglicher
war, als es die damalige DDR für ihre Bewohner war.
Bereits im Sommer desselben Jahres kursierten im Kollegium
der Staatssicherheit Gerüchte über die Gefahr eines kleinen
Krieges – etwas, was ich auf deutschem Boden für kaum
wahrscheinlich hielt. Derartige Vorstellungen paßten jedoch zu
den ständigen Bedrohungsängsten der politischen Führung, und
sie bestimmten deshalb für längere Zeit viele Aufgaben meines
Dienstes.
Unter solchen Umständen mußte ein Dokument über Pläne
mit der Bezeichnung DECO-II, das wir von einer Quelle mit
Decknamen Kohle erhielten, Wasser auf die Mühlen unserer
Führung sein, denn wenn es wirklich echt war, dann handelte es
sich bei ihm um nichts Geringeres als um eine Studie zur
militärischen Einverleibung der DDR durch die Bundesrepublik.
Das Ziel der Operation war die »Befreiung der SBZ und
Wiedervereinigung Deutschlands durch militärische Besetzung
des mitteldeutschen Raumes bis zur Oder-Neiße- Linie«. Auf
mehreren als geheime Bundessache abgestempelten Seiten und
vier beigefügten Karten waren Aufgaben und Stoßrichtungen
der Heeresgruppen, Armeekorps und Divisionen genau definiert
und beschrieben; datiert war das Dokument vom 2. März 1955.
Die Zuverlässigkeit der Quelle, schien uns über jeden Zweifel
erhaben. Ihre bisherigen Informationen waren immer korrekt
gewesen. »Kohles« wichtigste Verbindung war eine
Vorzimmerdame im Büro von General Speidel, der im Verteiler
des DECO-Dokuments genannt war und aus dessen
Panzerschrank es stammen sollte. Als wir es 1959
veröffentlichten, nachdem die Verbindung zu »Kohle« nicht
mehr bestand, erfolgte kein Dementi aus Bonn.
Angesichts des Umstands, daß inzwischen Truppenteile
beider deutscher Staaten in die jeweiligen Bündnisse integriert
waren, gewann eine Information an Gewicht, der zufolge Franz
-112-
Josef Strauß, der neue Bundesverteidigungsminister, schriftlich
beim Nato-Oberbefehlshaber Lauris Norstad angefragt haben
sollte, ob bei »grenzüberschreitenden Unruhen an der
Demarkationslinie« zwischen DDR und Bundesrepublik der
Nato-Fall eintrete – anders gesagt, ob es möglich sei, die
Bundeswehr auf DDR-Gebiet einzusetzen.
Auch die Information, daß Staatssekretär Globke in
Adenauers Auftrag in den kritischen Novembertagen 1956 nach
West-Berlin gefahren war, um zu verhindern, daß ein Aufruf des
West-Berliner Gewerkschaftsvorsitzenden Scharnowski zum
Generalstreik in der DDR über den Rundfunk verbreitet wurde,
paßte nicht gerade in die bei uns gängige Klischeevorstellung
vom westdeutschen Politiker, und Ulbricht tat sie
selbstverständlich als pure Erfindung ab. Mir aber gab dieser
Auftrag des Bundeskanzlers ebenso zu denken wie der Umstand,
daß General Norstad sich nicht beeilte, Strauß auf seine Anfrage
zu antworten.
Durch die Informationen, die wir im Sommer und Herbst
1956 lieferten, trugen wir unabsichtlich selbst zu dem Druck bei,
der später auf unseren Dienst ausgeübt wurde mit dem Ziel, die
militärische Komponente in unserer Arbeit stärker zu betonen.
Nach den Ereignissen in Ungarn war Ulbricht von der Furcht
vor einem begrenzten Konflikt auf deutschem Boden mehr denn
je beherrscht. Wollweber erließ einen Befehl, der alle Bereiche
des Ministeriums verpflichtete, die HVA – inzwischen hatte
mein Dienst diese Bezeichnung, die er bis zuletzt beibehalten
sollte – bei der Aufklärung militärischer Objekte und
Entwicklungen in der Bundesrepublik zu unterstützen. Das
führte zu einem Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen
stand: Leitende Mitarbeiter reisten in die Bezirke des Landes,
um in den einzelnen Verwaltungen des Ministeriums für
Staatssicherheit alles zu erläutern, und allerorten begann man
sich in einem Wust von Informationen zu verzetteln, die
möglicherweise den Nachrichtendienst der Armee interessieren

-113-
konnten.
Unsere Tätigkeit im militärischen Bereich gestaltete sich zu
Anfang ähnlich schwierig wie auf politischem Gebiet, und erst
allmählich kamen wir zu vo rzeigbaren Ergebnissen. Schwierig
sollte sie immer bleiben.
Einer unserer ersten Versuche auf diesem Gebiet war die
Übersiedlung von Rosalie Kunze in den Westen, einer
hübschen, jungen DDR-Bürgerin von Ende Zwanzig, der es in
erstaunlich kurzer Zeit gelang, als Topsekretärin bis ins
Bundesverteidigungsministerium vorzudringen und dort als
Geheimnisträgerin verpflichtet zu werden. Ihr Resident mit
Decknamen Schatz hatte bald alle Hände voll zu tun, die Flut an
Geheimdokumenten, die sie ihm übermittelte, zu fotografieren
und die Kopien per Kurier zu uns zu befördern. Leider verliebte
unsere Agentin »Ingrid« – so nannten wir sie – sich ernsthaft
und hatte das Bedürfnis, dem Mann ihres Herzens alles zu
erzählen, und auch er machte aus seinem Herzen keine
Mördergrube. So kam es, daß 1960 ein erster spektakulärer
Prozeß gegen unseren Dienst in der Bundesrepublik stattfand.
Rosalie Kunze weigerte sich in der Folge, in die DDR
zurückzukehren, was für mich eine herbe Enttäuschung war,
denn ich hatte sie für eine überzeugte Kommunistin gehalten.
Erfolgreicher operierten wir im militärischen Bereich mit
Ruth Moser, Deckname Gerlinde, die Mitte der 50er Jahre für
uns tätig wurde. Sie war uns als eventuelle Kandidatin
aufgefallen, weil sie in Bonn wohnte und Verwandte in der
DDR hatte. Die Verbindung stellten wir über ihren Bruder her,
und sie erklärte sich auch bereit, für uns zu arbeiten. In relativ
kurzer Zeit warb sie ihren Ehemann Karl-Heinz Knollmann als
Quelle mit Decknamen Stein an. Als Oberstleutnant beim
Bundesgrenzschutz war er für die Absicherung zentraler
Regierungsobjekte verantwortlich, und durch ihn erfuhren wir
sowohl den Baubeginn als auch Betriebsdetails des
Regierungsbunkers in Ahrweiler bei Bonn.

-114-
Nach der Scheidung von Knollmann warb »Gerlinde« ihren
zweiten, sieben Jahre jüngeren Ehemann Norbert Moser,
ebenfalls Offizier, für unseren Dienst an, auch diesmal wieder
aus eigener Initiative. Er informierte uns über Ausrüstung und
Leistungsfähigkeit der Luftwaffentransportverbände und später,
als er Verbindungsoffizier zum Stab einer Panzerbrigade war,
der Einblick in Verschlußsachen höchster Nato-
Geheimhaltungsstufe hatte, über die Panzer Leopard 2 und
Gepard. Ihm verdankten wir aufschlußreiche Einblicke in das
militärpolitische und strategische Verteidigungskonzept der
Bundesrepublik und einiger ihrer Nato-Partner. Anfang der 80er
Jahre lernte ich das Ehepaar erstmals persönlich kennen; Ruth
Moser war es gerade gelungen, ihren Mann nach vier Jahren
Haft im Austausch gegen Spione der Bundesrepublik in die
DDR zu holen. Bei beiden hatte ich den Eindruck, daß sie aus
innerer Überzeugung, zu der sie nach wie vor standen, für die
Aufklärung gearbeitet hatten.
Anders verhielt es sich da mit dem westdeutschen
Journalisten Helmut Ernst, der unter dem Decknamen Henry für
uns aktiv war. Seine Spionagekarriere endete tatsächlich
angemessen, nämlich wie in einem James-Bond-Film, als sein
Wagen eines Dezembermorgens auf vereister Landstraße
zwischen Bad Ems und Arzbach auf einen verunglückten
Lastwagen prallte. »Henry« wurde mit Bein- und Beckenbruch
ins Krankenhaus eingeliefert, und die Polizei staunte nicht
schlecht, als sie in seinem Auto unter anderem eine Minox-
Kleinstkamera, wie sie damals zu unserer Standardausrüstung
gehörte, Filme, eine Pistole und einen Radioempfänger
entdeckte, der mit einigen Extras versehen war, die erforderlich
waren, damit unsere Leute die mysteriösen Stimmen hören
konnte, die über Kurzwelle unsere Anweisungen in Form von
Zahlenkombinationen übermittelten. Das Glatteis hatte dem
Verfassungsschutz zu einem unverhofften Erfolg verholfen.
Mittelbar wurden über »Henry« gleich drei Frauen enttarnt.

-115-
Sein etwas bizarres Privatleben, das im Prozeß ausführlich
gewürdigt wurde, hatte er sich allerdings nicht in unserem
Auftrag so eingerichtet. Mit der einen Dame – Deckname Lilo -,
die als Kurier seine Informationen zu uns beförderte, führte er
offenbar eine sogenannte Onkelehe. In beider Haushalt lebte
»Lilos« geschiedene Tochter, Deckname Heike, die für unseren
Mann im Bundesamt für Wehrtechnik in Koblenz Pläne von
elektronischen Waffensystemen beschaffte, und »Henrys«
Geliebte, Deckname Blanche, arbeitete als Sekretärin im
Haushaltsreferat des Verteidigungsministeriums und lieferte
Strukturpläne, Mitarbeiterverzeichnisse und Dokumente über
Finanzoperationen zwischen der Bundeswehr und den USA. Bei
der Gerichtsverhandlung stellte sich heraus, daß »Blanche« im
Glauben gelebt hatte, für einen französischen Dienst tätig zu
sein. »Henry« selbst wurde krankheitshalber für
verhandlungsunfähig erklärt.
Unsere ranghöchste Quelle bei der Bundeswehr war lange
Zeit Major Bruno Winzer, Deckname Südpol, Presseoffizier
beim Stab der Luftwaffengruppe Süd in Karlsruhe. Zur
Zusammenarbeit war es gekommen, weil er als strikter Gegner
eines Dritten Weltkriegs jede forcierte Aufrüstung der
Bundeswehr ablehnte. Das Ende seiner Tätigkeit für uns war
wiederum ein Unfall, diesmal von seinem Kurier verursacht, der
Informationen aus einem Versteck abgeholt hatte. Die Papiere
des Kuriers hätten nicht einmal die oberflächlichste
Verkehr skontrolle überstanden, und deshalb flüchtete er zu Fuß.
Die Informationen von »Südpol« waren im Wagen geblieben. Es
blieb uns nichts anderes übrig, als Winzer zu warnen, der
daraufhin – im Mai 1960 – aus seinem Urlaub in die DDR
überwechselte, wo wir ihn mit Propagandafanfaren auf einer
Pressekonferenz als Deserteur aus Gewissensgründen
präsentierten.
Eine unserer ergiebigsten Bonner Quellen jener Jahre war ein
einfacher Bote im Innenministerium, ein sogenannter

-116-
Amtgehilfe, der den stolzen Decknamen Minister trug. Er besaß
einen nachgefertigten Schlüssel für die Kuriertaschen seines
Hauses, die er erbarmungslos plünderte. Er war das lebende
Beispiel dafür, daß der Dienstrang noch lange nicht die wahre
Bedeutung eines Agenten ausmacht. Die Papiere, die er uns
verschaffte, zeigten, wie weit die Planung für den Ernstfall
vorangeschritten war – lange vor der Verabschiedung der
Notstandsgesetze. Alles war bis ins einzelne vorbereitet: das
Lenken der Flüchtlingsströme, die Requirierung ziviler
Fahrzeuge, Benzin- und Lebensmittelrationierung, Internierung
als gefährlich eingestufter Personen und Ausländer. Die
durchkoordinierte Planung überraschte uns nicht, war sie doch
von Fachleuten ersonnen, die unter Hitler einen Weltkrieg
vorbereitet und in diesem Krieg ihre Erfahrungen gesammelt
hatten.
Spitzenquellen im militärischen Bereich waren in der
Folgezeit Lothar-Erwin Lutze, seine Frau Renate und sein
Freund Jürgen Wiegel, die alle drei im Bonner
Verteidigungsministerium beschäftigt waren. Anläßlich ihrer
Enttarnung sprach die westdeutsche Presse vom schwersten und
folgenreichsten Spionagefall in der Bundesrepublik. Sie hatten
uns nicht nur Konstruktionspläne für den Kampfpanzer 3,
Baupläne für Raketenbasen und Atomwaffendepots und
Notfallpläne der Nato besorgt, sondern auch regelmäßig die
jährlichen Zustandsberichte der Bundeswehr, die, wie das
Bonner Verteidigungsministerium selbst erklärte, »ein
zuverlässiges und vollständiges Bild über den Ist-Zustand der
Bundeswehr« lieferten.
Erste Erkundungen über die Nato stellten die Informationen
dar, die uns Peter Kranick, Deckname Bruno, ein ehemaliger
Fremdenlegionär, beschaffte. Wir warben ihn an, als er im
Stabsquartier der französischen Streitkräfte in West-Berlin
arbeitete. Später frischte er seine Freundschaft zu einer
Sekretärin auf, die inzwischen in der Botschaft der

-117-
Bundesrepublik in Paris eine Stelle hatte, und nachdem es ihm
gelungen war, sie für uns anzuwerben, siedelte er nach Paris
über und zählte von da an zu unseren Spitzenleuten im Hinblick
auf das Nato-Hauptquartier.
Hinweise auf konkrete Vorbereitungen für den von unserer
Führung gefürchteten kleinen Krieg erhielten wir von keiner
unserer Quellen. Statt dessen erfuhren wir durch sie, wie die
Bundesrepublik die sogenannte verdeckte Kriegführung
vorbereitete, die auf den Fall eines sowjetischen Angriffs
abzielte. Offenbar befürchtete man auch in Bonn den kleinen
Krieg, nur mit Stoßrichtung von Ost nach West.
Als das Jahr 1956 zu Ende ging, hatte kein Dritter Weltkrieg
stattgefunden; die stalinistischen Dogmatiker in den Ländern des
Warschauer Pakts hatten eine Niederlage erlitten, aber sie waren
nicht geschlagen, geschweige denn ausgeschaltet, und sie
nutzten jede Chance, die sich ihnen bot, ihre erschütterte
Position erneut zu festigen.
In der DDR kam es abermals zu einem Eklat innerhalb der
SED, abermals verbrämt mit dem Spektakel um eine
»parteifeindliche Fraktion«. Der Spielleiter hieß diesmal Mielke,
und als Sündenböcke hatte er sich Ernst Wollweber und Karl
Schirdewan auserkoren. In meinen Augen war das Ganze so
fingiert wie 1953 die sogenannte Zaisser-Herrnstadt-Fraktion.
Allerdings gab es für mich einen signifikanten Unterschied,
denn diesmal war auch ich involviert, da ich als enger Vertrauter
Wollwebers galt.
Mielkes Intrige gegen Wollweber traf sich mit Erich
Honeckers Ambitionen, dem bei seinem Aufstieg Schirdewan,
der zweite Mann hinter dem Generalsekretär, im Weg stand, und
bei dem chronisch mißtrauischen Ulbricht fielen ihre
Einflüsterungen auf fruchtbaren Boden. Schirdewan und
Wollweber waren in den ersten Nachkriegsjahren Nachbarn
gewesen, aber meines Wissens hatten sie nie engere
Beziehungen unterhalten.
-118-
Auf einer Tagung der Parteiorganisation der HVA zog Mielke
im Beisein Wollwebers über uns her, ohne daß Wollweber etwas
dagegen sagte, und ich begriff, was auf uns zukam. Kernpunkt
des Gepolters war die Anschuldigung, wir unterschätzten das,
was er »ideologische Diversion« nannte.

Karl Schirdewan 1958


Robert Korb, meinen Stellvertreter, und mich griff er
persönlich an, hatten wir uns doch beide für eine differenzierte
Beurteilung der verschiedenen Strömungen innerhalb der
Sozialdemokratie ausgesprochen, während Mielke die gesamte
SPD mit ihrem Ostbüro gleichsetzte und in Herbert Wehner den
schlimmsten Anstifter überhaupt zur »ideologischen Diversion«
sah.
In diesem Zusammenhang sei nicht verschwiegen, daß Mielke
immer sehr stolz darauf war, diesen Begriff erfunden zu haben.
Erst später wurde dieser Terminus auch von anderen
Sicherheitsdiensten – leider auch von sowjetischen –
übernommen und floß zuletzt sogar in den Sprachgebrauch der
kommunistischen Parteien ein, wo er bei der Einschätzung

-119-
politisch Andersdenkender einem simplifizierenden Schwarz-
Weiß-Denken Vorschub leistete, das weit von jeder Realität
entfernt war. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde
dieser Kautschukbegriff, der jede Auslegung zuließ, die der
politischen Führung gerade opportun erschien, sogar durch
Paragraphen des Strafrechts legitimiert und als Ordnungsmittel
angewandt. »Politischideologische Diversion« – der deutschen
Abkürzungssucht folgend PID genannt – wurde zu einem
bestimmten Element der Sicherheitsdoktrin und zur Grundlage
der verfassungswidrigen Repression Oppositioneller, PID war
die entscheidende Waffe, mit der die Dogmatiker ihre
verkrustete Macht behaupteten, bis sie zerbrach.

Ernst Wollweber 1955


Als Mielke mich mit Unterlagen über Gespräche, die Wilhelm
Girnus am Rande der Genfer Außenministerkonferenz mit
Wehner geführt hatte, und mit Unterlagen zur Person von
Girnus zu sich ins Ministerium bestellte, ahnte ich, was er
bezweckte. Girnus sollte wohl als Kurier zwischen dem
»Parteischädling« Schirdewan und dem ideologischen Verderber
Wehner angeschwärzt werden, und zwar darüber, daß Girnus
-120-
Schirdewan aus der gemeinsamen Haft im Konzentrationslager
Sachsenhausen kannte. Ich brachte ihm Kopien jener
Gesprächsberichte, die Ulbricht selbst abgezeichnet und
teilweise mit handschriftlichen Bemerkungen versehen hatte.
Die Originale schloß ich in meinen Safe ein und informierte
Robert Korb. Damit hatte ich nicht nur Girnus, sondern
möglicherweise auch mich selbst vorerst aus der Schußlinie
gebracht.
Der Vorwurf, Wollweber habe die Staatssicherheit und sich
selbst über die Partei zu stellen versucht, sollte mit einem Befehl
bewiesen werden, der die Kontakte zwischen leitenden
Ministeriumsmitarbeitern und dem Apparat des Zentralkomitees
betraf, obwohl Wollweber diese Kontakte stets seinen
Stellvertretern überlassen hatte. Obwohl das alle wußten und ich
es auch laut sagte, als Ulbricht die Leitung des Ministeriums
vorlud, um das Belastungsmaterial zu testen, änderte diese
Reaktion nichts an dem abgekarteten Spiel.
Karl Schirdewan und Ernst Wollweber wurden im Oktober
1957 aller Funktionen enthoben mit der Begründung, sie hätten
»in der Zeit verschärften Klassenkampfs schädliche
Auffassungen« vertreten. Wieder einmal hatte der politische
Fuchs Ulbricht eine für ihn bedrohliche Situation zu seinem
Vorteil zu wenden verstanden. Hatten ihn im Sommer 1953
ausgerechnet die gegen seine Politik gerichteten Unruhen
gerettet, so bewahrte ihn jetzt die antistalinistische Rebellion in
Polen und Ungarn vor den Konsequenzen des XX. Parteitags der
KPdSU, den lauter werdenden Forderungen nach Reformen,
nach innerparteilicher Demokratie und nach seiner Ablösung.
Und auch Mielke konnte sich die Hände reiben. Er hatte sein
Ziel erreicht: Er wurde Minister für Staatssicherheit.
Ich befand mich nun in einer wenig beneidenswerten Lage.
Einerseits wußte ich, daß Mielke bei Ulbricht meine Ablösung
verlangt hatte, andererseits war ich stark versucht, öffentlich
Stellung zu Mielkes Ränken zu nehmen und die »Schirdewan-

-121-
Wollweber-Fraktion« als das zu bezeichnen, was sie war,
nämlich pure Erfindung. Damit hätte ich mich selbst ins Aus
manövriert und der relativen Selbständigkeit meines Dienstes
ein Ende bereitet. Wollweber selbst riet mir eindringlich davon
ab, die Konfrontation zu suchen. So geriet ich in eine der
peinlichsten Situationen meines politischen Lebens: Auf einer
Parteikonferenz des Ministeriums verlas ich in Anwesenheit
Ulbrichts einen Diskussionsbeitrag, der das erforderliche Maß
an »Selbstkritik« aufwies. Jetzt konnte ich nachvollziehen, wie
andere sich gefühlt haben mußten, wenn sie dazu erpreßt
worden waren, dem Ritual der Parteidisziplin ihre Reverenz zu
erweisen. Die Frage, die sich von nun an nie ganz verdrängen
ließ, war die, ob meine vermeintliche Selbständigkeit an der
Spitze des Nachrichtendienstes nicht bloß eine Illusion war.

-122-
5 Die Betonlösung

Das wirtschaftliche und soziale Gefalle zwischen DDR und


Bundesrepublik machte sich 1960 und 1961 bemerkbarer denn
je zuvor, und die Folgen waren gravierend. Der
Flüchtlingsstrom nach Westen schwoll von Monat zu Monat
weiter an; 1961 wäre die Rekordzahl des Jahres 1953 von mehr
als 300000 Aussiedlern wahrscheinlich weit überschritten
worden. Am 9. August hatte die Zahl der in West-Berliner
Aufnahmelagern erfaßten Flüchtlinge den höchsten je an einem
Tag registrierten Stand von 1926 Personen erreicht. Und wer
hätte es den Arbeitern, Medizinern, Ingenieuren, den jungen
Menschen am Beginn ihres Lebensweges verübeln wollen, daß
es sie dorthin zog, wo sie gutes Geld verdienen und sich einen
entsprechenden Lebensstandard leisten konnten? In ihrem
Selbstverständnis verrieten sie nicht die DDR, sondern zogen
von einem Teil Deutschlands in einen anderen, wo Verwandte
oder Freunde sie oft schon erwarteten.
Doch dieser unablässige Aderlaß war für die wirtschaftlich
ohnehin geschwächte DDR nicht länger zu verkraften. Daß
etwas geschehen mußte, um dem Einhalt zu gebieten, war allen
klar.
Was geschah, war allerdings nicht nur für den Westen eine
Überraschung, sondern auch für die meisten Bürger der DDR.
Auf die Gefahr, meinen Nimbus als einer der bestinformierten
Männer der DDR zu verlieren, muß ich gestehen, daß die
Schließung der Grenzen der DDR am 13. August auch für mich
unerwartet kam; wie die meisten erfuhr ich von den
Straßensperren und Abriegelungen, aus denen die Berliner
Mauer entstand, durch die Radionachrichten. Bis heute kann ich
nicht mit Gewißheit sagen, ob der Grund dafür in der beinahe
krankhaften Geheimhaltungssucht unserer politischen Führung
zu sehen ist oder in Mielkes Mißtrauen gegenüber der

-123-
Aufklärung, denn er war selbstverständlich eingeweiht und an
allen Vorbereitungen beteiligt.

Grenzkontrolle an der geschlossenen Sektorengrenze


Für meinen Dienst und mich war die Situation zunächst
katastrophal. Meine Mitarbeiter zweifelten an meiner
Ahnungslosigkeit und mußten mir mangelndes Vertrauen in sie
unterstellen, aber schlimmer als das war die durch die
Grenzschließung völlig veränderte Lage, auf die wir nicht
vorbereitet waren; ab sofort war der Grenzübertritt innerhalb
Berlins in beide Richtungen nicht mehr ohne weiteres möglich.
Bevor die Mauer – von unserer Führung als
»antifaschistischer Schutzwall«, vom Westen als
»Schandmauer« bezeichnet – vollendet und die Stadt mit
deutscher Gründlichkeit zweigeteilt war, spielten sich
erschütternde Szenen ab: Kinder und Greise wurden an
zusammengeknoteten Bettlaken aus den Fenstern jener Häuser,
die auf der Grenzlinie standen, in den Westteil Berlins abgeseilt;

-124-
viele ließen sich in die Sprungtücher der West-Berliner
Feuerwehr fallen; Dutzende primitiver Tunnel wurden gegraben,
durch die Hunderte unter Lebensgefahr den Weg in den Westen
suchten, und manche krochen durch die Kanalisation, bis auch
sie mit Gittern versperrt wurde.

Ausbesserung an der Mauer


Die Begründung unserer Führung, mit der Schließung der
Grenze sei ein Schutzwall gegen einen bevorstehenden Angriff
oder das Eindringen von Agenten und Saboteuren errichtet
worden, war schon damals unglaubwürdig, weil soziale und
wirtschaftliche Faktoren als Ursache auf der Hand lagen. Die
DDR hatte nicht nur ungünstigere Startbedingungen als die
Bundesrepublik gehabt, sondern auch ungleich mehr
Reparationsleistungen als Wiedergutmachung erbringen müssen.
Wie viele andere glaubte ich damals, eine Atempause würde uns
helfen, nach und nach die Vorzüge des Sozialismus zur Geltung
zu bringen.
Die Menschen vom attraktiven Westen Deutschlands
abzusperren, war keine Lösung, sondern betonte die Diskrepanz
zwischen den beiden deutschen Staaten. Durch die zugemauerte

-125-
Grenze gewannen das Pochen des Westens auf die
Menschenrechte und die Forderung nach Reisefreiheit an
Überzeugungskraft und beeinflußten den Ausgang des kalten
Krieges, auch wenn das damals von mir so nicht erkannt wurde.

Flucht aus dem Fenster auf die Bernauer Straße


Die wesentlichen Gründe, die der DDR-Führung und ihren
Verbündeten den Bau einer Mauer als letzte Rettung erscheinen
ließen, sind zweifellos innerhalb und nicht außerhalb des Landes
zu suchen. Mag sein, daß Ulbricht der Initiator war, der auf
Schließung der Grenzen drängte. Die Entscheidung aber fiel in
Moskau. Was 1961 in der Mitte Europas an der sensiblen
Grenze zwischen den zwei feindlichen Machtblöcken geschah,
wurde von den Großmächten und niemandem sonst entschieden.
Nach dem Ende der DDR unterhielt ich mich mit Valentin
Falin, einem der besten Kenner der sowjetischen
Deutschlandpolitik, über den Mauerbau, und er sagte: »Nach
den Ereignissen in Ungarn, im Nahen Osten und in Polen
gewann das Thema Stabilität für Chruschtschow an Aktualität.
Der zentrale Punkt war die innere Stabilität der DDR. Ich denke,
daß die Krise der DDR, die mit der Katastrophe von 1989

-126-
endete, bereits 1953 begonnen hat. Die Zahl derer, die das
Regime in der DDR unterstützten, war nie höher als dreißig
Prozent, in der Regel niedriger. Folglich stellte sich irgendwann
die Frage, die DDR entweder aufzugeben oder an der Grenze
zur Bundesrepublik eine Ordnung einzuführen, die es
ermöglichte, die Menschen daran zu hindern, das Land zu
verlassen.«

Zugemauerte Häuserfront
Falin erinnerte sich, daß Ulbricht im Sommer 1961 erklärt
hatte, falls die Abwanderung anhalte, werde es unmöglich sein,
die DDR stabil zu erhalten. Die Entscheidung über den Bau der
Mauer verlief bekanntlich so, daß die Mitgliedsländer des
Warschauer Vertrags via Beschluß die DDR aufforderten, eine
wirksame Grenzkontrolle einzurichten. »Damit«, sagte Falin,
»wurde Ulbricht formal zum Vollzug des Beschlusses
autorisiert. Er handelte also nicht in nationaler Selbständigkeit,

-127-
sondern im Auftrag des Bündnisses.«
Daß Ulbricht im Frühsommer 1961 Chruschtschow durch den
sowjetischen Botschafter Perwuchin mitteilen ließ, bei weiterhin
offener Grenze sei der Zusammenbruch der DDR
unvermeidlich, und daß Chruschtschow Ulbricht durch den
Botschafter die Genehmigung überbringen ließ, die Grenze zu
schließen und unter äußerster Geheimhaltung sofort mit den
Vorbereitungen zu beginnen, bestätigte Julij Kwizinskij, später
selbst Botschafter der UdSSR in Bonn, der Perwuchin damals
begleitete.
Es steht also außer Frage, daß Chruschtschow und nicht
Ulbricht die Hauptrolle in dem Drama spielte, das im Sommer
1961 über die Bühne ging.
Absprachen zum Bau der Mauer zwischen den beiden
Großmächten hat es zwar nicht gegeben, wohl aber Kontakte:
auf der offiziellen Ebene ziemlich frostige, auf der inoffiziellen
jedoch versicherte die UdSSR Washington ihr Interesse an guten
Beziehungen. Am Vorabend der Grenzschließung ließ Moskau,
ohne die bevorstehende Aktion zu erwähnen, die USA wissen,
daß die Sowjetunion nie etwas gegen West-Berlin unternehmen
würde, was die USA provozieren könnte.
Nach dem Krisenjahr 1956 hatte die sowjetische Führung
unter Chruschtschow sich bemüht, Konflikte und Spannungen
aufzulösen oder wenigstens unterhalb einer bestimmten
Schwelle zu halten, um sich den eigenen hochgesteckten
wirtschaftlichen Zielen widmen zu können. Chruschtschows
protzige Zahlen und seine optimistischen Reden lösten zwar bei
manchen Zuhörern ein eher ironisches denn bewunderndes
Lächeln aus, aber er selbst glaubte an seine ehrgeizigen Pläne.
Er nannte Fristen, in denen die USA-Wirtschaft eingeholt und
überholt werden sollte. Obwohl solche Ankündigungen in der
DDR von Fachleuten mit einem Achselzucken abgetan wurden,
überbot die Führung in Berlin die Moskauer Parole mit der
abenteuerlichen, jeder Logik hohnsprechenden Losung:
-128-
»Überholen, ohne einzuholen.« Nikitas (wie Chruschtschow in
der DDR nicht unfreundlich von vielen genannt wurde) Glaube
an den Mais als Wunderwaffe zur Lösung der
Versorgungsprobleme ließ findige Agitatoren zu seiner Freude
den Begriff Wurst am Stengel für Maiskolben prägen.
Bei seinen Besuchen in der DDR erlebte ich Chruschtschow
aus nächster Nähe, zum erstenmal, als er 1957 mit Anastas
Mikojan, dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets, von Mielke
und mir als »Ehrensicherheitsbetreuern« begleitet wurden. Es
war im Sommer, und wir fuhren in einer großen SIL-Limousine
mit aufgeklapptem Verdeck, Chruschtschow und Mikojan in der
Mitte, Mielke vorn neben dem Fahrer, der Dolmetscher und ich
hinten. Das fast eine Woche umfassende Programm strapazierte
alle bis zur Erschöpfung – alle außer Chruschtschow, dessen
Vitalität jede Vorstellung übertraf. Selbst während der seltenen
Atempausen, die Mikojan meist zum Schlafen nutzte, war er
immer zum Plaudern und Scherzen aufgelegt. Zur Begrüßung
standen überall Menschenmengen am Straßenrand. Natürlich
war das organisiert, doch viele Gesichter spiegelten freundliche,
sogar herzliche Gefühle. Chruschtschow hielt volkstümliche
Reden, die er gern mit witzigen Beispielen und Anekdoten
ausschmückte. Er wirkte überzeugend, weil er im Unterschied
zu Ulbricht frei sprach.
Bei großen Teilen der DDR-Bevölkerung genoß er eine
Sympathie wie vor und nach ihm kein anderer sowjetischer
Politiker mit Ausnahme Gorbatschows, doch anders als dieser
besaß Chruschtschow die Ausstrahlung des einfachen Mannes.
Er wirkte wie ein russischer Bauer und erzählte oft von seinem
Heimatort Kalinowka.
Unvergessen ist jene Szene, als er seinen Protest vor den
Vereinten Nationen mit dem Schuh auf das Pult hämmerte.
Doch gerade diese Spontaneität, die naiv wirkende Art, mit der
er in den USA die Propagandatrommel für den Sieg des
Kommunismus über den Kapitalismus rührte, imponierte vielen

-129-
Amerikanern.

Nikita Chruschtschow beim Staatsbesuch in der DDR 1957


(Autor: 2. von rechts)
Ohne Zweifel besaß Chruschtschow einen starken Willen.
Wie er mit dem gefürchteten Widersacher Berija fertig wurde,
ist vielfach beschrieben worden. Als er 1957 die DDR besuchte,
hatte er kurz zuvor den Versuch seiner Gegner im Politbüro, ihn
zu stürzen, entschlossen durchkreuzt. Unterstützt von Marschall
Shukow hatte er die Mitglieder des Zentralkomitees mit
Militärflugzeugen zu einer Sondersitzung nach Moskau
befördern lassen und auf dieser Sitzung durchgesetzt, daß der
von Molotow geführte konservative Flügel aus der Parteispitze
entfernt wurde. In der DDR war davon nichts bekannt. Zur
Überraschung nicht nur seiner sowjetischen Begleitung, sondern
auch der anwesenden DDR-Politiker referierte Chruschtschow
bei seinem Besuch der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf
vor großem Publikum in epischer Breite den parteiinternen
Konflikt und das Vorgehen »gegen die Fraktionsmitglieder
Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Bulganin« sowie den
»zu ihnen gestoßenen Schepilow«. Ulbricht, Grotewohl und
Mielke dürften dieser offenherzigen Rede mit gemischten
-130-
Gefühlen gelauscht haben.
Gewiß fehlte es Chruschtschow an allgemeiner Bildung und
an Realitätssinn. Er neigte dazu, wichtige Entscheidungen
spontan zu fällen, und nic ht zu Unrecht wurde ihm
Voluntarismus vorgeworfen. Bei der Auswahl seiner Berater
hatte er nicht immer eine glückliche Hand. Er hatte feste
Wurzeln in seiner Vergangenheit und war ebenso fest
eingebunden in ein System, das viele seiner vernünftigen Ideen
abbremste und schließlich zunichte machte. Aber er war ein
Vollblutpolitiker, der an seine Ideale glaubte. Überzeugend war
er nicht nur auf Massenkundgebungen, sondern auch bei
vertraulichen Verhandlungen mit Politikern der anderen Seite.
Die Entspannung, die für die Sowjetunion lebenswichtig war,
hat Chruschtschow nie aus dem Auge verloren. Es wäre ein
Irrtum, die Ausschaltung der »Molotow-Fraktion« für einen rein
innenpolitischen Vorgang zu halten. Chruschtschow brauchte
freie Hand für den angestrebten Ausgleich mit den USA. Für
Chruschtschow war der Begriff der friedlichen Koexistenz keine
leere Floskel.
Meinem Dienst waren die dem Bonner Auswärtigen Amt
vorliegenden Berichte bekannt, aus denen hervorging, daß das
State Department in Washington Moskaus erneute Vorschläge
zu einem Friedensvertrag mit Deutschland unter Rückgriff auf
den alten Plan einer Konföderation der beiden deutschen Staaten
so skeptisch beurteilte wie ehedem. Auch dem Plan des
polnischen Außenministers Rapacki, Mitteleuropa zur
atomwaffe nfreien Zone zu machen, stand es ablehnend
gegenüber, und besonders empfindlich schien es auf die Idee zu
reagieren, Berlin in eine »freie Stadt« umzuwandeln, denn so
etwas hätte essentielle Rechte der westlichen Siegermächte
tangiert.
Dennoch schien sich beim Gipfeltreffen zwischen Präsident
Eisenhower und Chruschtschow 1959 in Camp David eine neue
Phase der Verständigung anzubahnen. Eilfertige
-131-
Kommentatoren kündigten bereits das Ende des kalten Krieges
an, die Medien feierten den »Geist von Camp David«. Von gut
informierten amerikanischen Quellen – nicht etwa von unseren
sowjetischen Partnern – erfuhren wir, daß beide Staatsmänner
sich in der heiklen Berlin-Frage nähergekommen seien und für
ihr nächstes Treffen in Paris eine Vereinbarung anstrebten, die
die sowjetischen Vorschläge berücksichtigte.
Aber das Pariser Gipfeltreffen kam nicht zustande, weil die
sowjetische Raketenabwehr ein amerikanisches
Aufklärungsflugzeug vom Himmel holte, den überlebenden
Piloten Gary Powers vor Gericht stellte und bei nächs ter
Gelegenheit gegen den sowjetischen Kundschafter Rudolf Abel
austauschte, der in den USA zu dreißig Jahren Gefängnis
verurteilt worden war.
Ein halbes Jahr darauf kündigte sich der Führungswechsel im
Weißen Haus an. Fieberhaft versuchten wir, uns Kenntnisse
über John F. Kennedy und seine neue Mannschaft zu
beschaffen. Es war nicht leicht, zu einer eigenen Wertung zu
gelangen, selbst wenn man alle wichtigen Zeitungen las und die
Berichte der bundesdeutschen Botschaft in Washington
studierte, soweit wir Zugang zu ihnen hatten.
Die Einschätzung des Auswärtigen Amtes verriet zusammen
mit anderen Quellen Adenauers Sorge, die USA könnten ihre
eigenen Interessen über die ihres deutschen Verbündeten stellen.
Mit den Republikanern Eisenhower und Dulles hatte Adena uer
sich gut verstanden, während er dem Demokraten Kennedy
mißtraute.
Allmählich begann sich für mich ein Bild der
unkonventionellen Art abzuzeichnen, mit der Kennedy sein Amt
und die Probleme seiner Regierung anging. Daß die sowjetische
Presse seine Antrittsrede in vollem Wortlaut abdruckte, setzte
auch von Moskau aus ein positives Zeichen.
Doch dann überschlugen sich die Ereignisse, die in die

-132-
gegenteilige Richtung wiesen und Schlimmes befürchten ließen.
Was hatten wir von einer amerikanischen Regierung zu
erwarten, die ein Unternehmen wie die Intervention in der
kubanischen Schweinebucht vom April 1961 nicht nur tolerierte,
sondern unterstützte? Denn daß die dort gelandeten Exilkubaner
von den USA unterstützt worden waren, unterlag keinem
Zweifel.
Der Fehlschlag der Schweinebucht-Invasion bewegte
Chruschtschow und seine außenpolitischen Berater dazu, die
West-Berlin-Frage offensiver anzugehen. Die wie eine Insel
mitten in der DDR liegende Teilstadt war ein gewichtiges
Faustpfand, und das war Kennedy bewußt. Anders als
Eisenhower 1954 in Guatemala, zögerte er, eigene Streitkräfte
gegen Kuba zu entsenden. Die sowjetische Führung wußte, daß
die USA mit der Minuteman-Rakete eine Erstschlagwaffe
besaßen und daß das Verhältnis bei den Nuklearsprengstoffen
20 : 1 zugunsten der USA stand. Das Bündnis zwischen
Sowjetunion und China war zerbrochen, und aus der DDR
strömten immer mehr Menschen über die offene Grenze in den
Westen. Innerhalb der sowjetischen Führung bildete sich erneut
eine Gruppe, die gegen Zugeständnisse an den Westen
opponierte. Andererseits konnte Chruschtschow unmittelbar vor
der gescheiterten Invasion in der Schweinebucht, die er als Indiz
der Führungsschwäche Kennedys deutete, mit dem ersten
beinannten Weltraumflug am 12.. April 1961 einen
spektakulären Erfolg verbuchen, der psychologisch das nukleare
Ungleichgewicht der Supermächte minderte.
In dieser Situation schlug Chruschtschow dem
amerikanischen Präsidenten, der mit seinen Beratern nach einer
tragfähigen Grundlage für den Umgang mit der Sowjetunion
suchte, ein baldiges Gipfeltreffen als Ersatz für den geplatzten
Pariser Gipfel vor. Keine unserer Quellen konnte die Haltung
der USA zur Berlin-Frage einschätzen. Aufgefallen war ihnen
lediglich eine gewisse Zurückhaltung; Kennedys Reden

-133-
enthielten nicht einmal ein Minimum der üblichen
Treuebekenntnisse zu Berlin.
Die Fernsehbilder vom Gipfeltreffen in Wien zeigten der
Öffentlichkeit zwei fröhliche Politiker, die freundschaftlich
miteinander umgingen, doch in den Verhandlungen, die
abwechselnd in der amerikanischen und in der sowjetischen
Botschaft stattfanden, prallten die Standpunkte hart und
unvereinbar aufeinander.
Chruschtschow beharrte für eine Übereinkunft in der
deutschen Frage auf der Bedingung, daß West-Berlin in eine
»freie Stadt« umgewand elt würde, und drohte, andernfalls bis
Ende des Jahres ultimativ mit der DDR einen separaten
Friedensvertrag mit allen Konsequenzen zu schließen – womit
vor allem die Kontrolle der Verbindungswege nach West-Berlin
inklusive der Luftkorridore gemeint war.
Als er entgegen seinen Erwartungen in Kennedy alles andere
als einen zögernden oder schwachen Kontrahenten vorfand,
reagierte er zornig. Da Chruschtschow nun – womit die US-
Experten nicht gerechnet hatten – auch hinsichtlich Laos und
des Atomtest-Abkommens kein Entgegenkommen zeigte,
unternahm Kennedy in einem Gespräch unter vier Augen den
Versuch, die gefährliche Konfrontation in der Berlin-Frage zu
entschärfen. Vergeblich. Im nachhinein wissen wir, daß die
Kontrahenten sich gegenseitig die Verantwortung für den Fall
zuschoben, daß es zum Krieg gekommen wäre. Kennedy soll
nach dem Gespräch gesagt haben: »Es kann ein kalter Winter
werden.«
Unsere Informationen aus Washington besagten inzwischen,
daß im Pentagon hektisch militärische Gegenmaßnahmen für
den Fall einer Berlin- Blockade erarbeitet würden, und
Washington lancierte ähnlichlautende Meldungen in der
Öffentlichkeit.
Aus westlichen Militärstäben hatten wir uns Dokumente zu

-134-
einem Stufenplan verschafft, der Fahrten amerikanischer
Garnisonen nach West-Berlin vorsah, die mögliche Sperren mit
Waffengewalt durchbrechen sollten, um die Reaktion der
Sowjets zu testen. Verteidigungsminister McNamara schlug vor,
den nationalen Notstand zu verkünden, und ein anderer Plan sah
für den Fall einer Blockade West-Berlins sogar den begrenzten
atomaren Erstschlag als Warnung vor. Natürlich mußten wir mit
der Möglichkeit rechnen, daß die Konfidenten unserer Quellen
diese Informationen absichtlich durchsickern ließen, doch am
Ernst der Lage nach dem Gipfel von Wien war nicht zu
zweifeln.
Für Klarheit sorgte eine Fernsehansprache Kennedys Ende
Juli 1961, in der er sich unmißverständlich zu den
Verpflichtungen gegenüber West-Berlin bekannte und jede
Aggression gegen die Stadt als »Angriff auf uns alle«
bezeichnete. Auch wenn Chruschtschow noch für eine Weile
seinen separaten Friedensvertrag mit der DDR im Munde führen
sollte, waren die Würfel nunmehr gefallen. Chruschtschow,
nicht Kennedy, trat den Rückzug an.
Die unerwartet entschiedene Haltung Kennedys und die
Betonung der drei essentials in der Berlin-Frage – Anwesenheit
der westlichen Alliierten, freier Zugang und Lebensfähigkeit der
Stadt – hatten die Grenze zwischen Krieg und Frieden
abgesteckt. So sah die Situation aus, die bis zum Morgen des 13.
August 1961 bestanden hatte.
So groß der Schock, die Empörung und die Verzweiflung der
Berliner und des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin,
der vergeblich energische Reaktionen der Westmächte
einforderte, an jenem Sonntag morgen waren, so erleichtert
atmeten die Politiker in Washington, London und Paris auf, da
die bedrohliche Krise um Berlin entschärft war. »Ihre Rechte,
auf West-Berlin bezogen, blieben unangetastet, die befürchtete
Kriegsgefahr war abgewendet«, schrieb Willy Brandt in seinen
Erinnerungen.

-135-
Sämtliche westliche Geheimdienste traf der 13. August so
unvorbereitet wie meinen Dienst. Kennedy wurde erst Stunden
später informiert, setzte aber seine unterbrochene Segelpartie
fort, nachdem er den obligatorischen »feierlichen Protest«
ausgesprochen und Weisung gegeben ha tte, die Lage nicht zu
verschärfen, sondern der Sowjetunion zu signalisieren, daß man
Ruhe bewahren werde.
Auch Chruschtschow befand sich an diesem Sonntag fernab
von Moskau am Schwarzen Meer. Die Reaktion Washingtons,
die er richtig voraussah, konnte er in seinem Urlaubsdomizil
Pizunda auf der Krim gelassen abwarten, hatte er doch peinlich
darauf geachtet, daß die drei essentials nicht verletzt wurden,
und Ulbrichts Wünschen, an der Schraube des freien Zugangs
nach West-Berlin zu drehen, einen Riegel vorgeschoben.
Ein Fernsehinterview des amerikanischen Senators Fulbright
vom 30. Juli – keine zwei Wochen vor dem Mauerbau – war von
der deutschen Öffentlichkeit seltsamerweise nicht beachtet
worden; darin hatte der einflußreiche Außenpolitiker unter
anderem ge sagt: »Wenn sie die Grenze abriegeln wollen,
können sie das nächste Woche tun – und sogar ohne
vertragsbrüchig zu werden. Ich verstehe nicht, weshalb die
Ostdeutschen ihre Grenzen nicht schon längst zugemacht haben,
denn ich glaube, sie haben jedes Recht dazu.« Jahre später
wurde Kennedys drastische Bemerkung bekannt, die lautete:
»Eine Mauer ist, verdammt noch mal, besser als ein Krieg.«
Die erste große Aufregung schien verflogen, als ein
Zwischenfall noch einmal für Schrecken sorgte. Kennedy hatte
General Lucius D. Clay, seinerzeit als »Held der Luftbrücke«
gefeiert, als Boten der »moralischen Aufrüstung« nach West-
Berlin entsandt, wo dieser, bekannt als erbitterter
Kommunistenfresser und hitziger Amateurpolitiker, einen
relativ unbedeutenden Vorfall benutzte, um große Politik zu
machen, wie er sie verstand.
Allan Lightner, der höchste Zivilbeamte der US-Mission in
-136-
West-Berlin, war am Checkpoint Charly von einem DDR-
Posten aufgefordert worden, sich auszuweisen, obwohl die
militärischen wie die zivilen Angehörigen der Westmächte das
Recht auf ungehinderten Zugang nach Ost-Berlin besaßen.
Sogleich sah Clay die Stunde gekommen, um ein Exempel zu
statuieren. Er entsandte zunächst zwei Militärpolizisten in Zivil
samt riesigem Presseaufgebot an einen Grenzübergang nach
Ost-Berlin, wo sie versuchten, die Posten zu passieren, ohne
sich auszuweisen. Zurückgewiesen, kehrten sie in Begleitung
von drei Jeeps mit Soldaten in voller Kampfausrüstung zurück,
wiederholten das ganze Spektakel an drei Tagen hintereinander,
und am dritten Tag ließ Clay zur Krönung der Veranstaltung
Panzer am Checkpoint Charly auffahren, worauf hinter der
Grenze sowjetische Panzer erschienen. Dann wurde es Moskau
und Washington zu bunt; beide Seiten zogen ihre Panzer ab, und
Washington rief Clay aus West-Berlin zurück.
Eine aktuelle Krise war wieder einmal überwunden, nicht aber
der kalte Krieg. Das wurde uns mehr als deutlich, als Kennedy
fast zwei Jahre nach Errichtung der Mauer im Juni 1963 West-
Berlin besuchte und vor fast 400000 Menschen die berühmten
Worte »Ich bin ein Berliner!« rief, Worte, die eine Absage an
Chruschtschow waren.
Und dennoch nahm beinahe unmerklich eine neue Phase in
der Weltpolitik ihren Beginn. Mit seinem Rücktritt im Oktober
1963 zollte der siebenundachtzigjährige Kanzler Adenauer nicht
nur dem Alter Tribut. Seine Zeit war auch im übertragenen Sinn
abgelaufen. Mit ihm war keine Entspannung möglich gewesen,
und selbst in seiner eigenen Partei mehrten sich Anzeichen der
Unzufriedenheit. Auch wir merkten, daß bundesdeutsche
Politiker vermehrt vom Gedanken der Konfrontation mit der
östlichen Großmacht abrückten, wobei das Beispiel der
Flexibilität des bewunderten amerikanischen Präsidenten sicher
keine geringe Rolle spielte. Eine Woche nach Kennedys Berlin-
Besuch hielt Egon Bahr eine vielbeachtete Rede vor der

-137-
Evangelischen Akademie in Tutzing, deren Tragweite damals
nicht vorauszusehen war. Sie hatte das Thema »Wandel durch
Annäherung« und ist später als Konzeption einer neuen
Ostpolitik in die Geschichte eingegangen. Willy Brandt erklärte
auf derselben Tagung: »Es gibt eine Lösung der deutschen Frage
nur mit der Sowjetunion, nicht gegen sie.« Durch die
Grenzschließung am 13. August 1961 war mein Dienst nicht nur
in der prekären Lage, den Grenzverkehr unserer Kuriere und
Agenten neu organisieren zu müssen, sondern sah sich
obendrein den Bestrebungen der Mielke unterstellten Abwehr
ausgesetzt, an die Identität unserer Quellen und Illegalen
heranzukommen, was wir strikt ablehnen. So kam es zu der
paradoxen Situation, daß die Grenzkontrollen der eigenen Seite
für unseren Nachrichtendienst das weitaus größere Problem
waren als die relativ harmlosen Kontrollen auf der Westseite.
Sogar Treffen am Rand der Transitautobahnen, die für unsere
westlichen Informanten oft leichter zu bewerkstelligen waren als
DDR-Besuche, mußten nun so eingerichtet werden, daß wir
dabei nicht ins Visier unserer Abwehr gerieten. Bis zur
Grenzschließung war es ein leichtes gewesen, unsere Mitarbeiter
im großen Flüchtlingsstrom nach Westen mitschwimmen zu
lassen. Jetzt war dieser Weg versperrt. Eine Reihe von
Aussiedlungskandidaten steckte mitten in der Vorbereitung, und
da die grüne Grenze noch nicht so dicht war, gingen wir das
Wagnis ein, unsere Leute über Fluchtwege auszuschleusen.
Die Praxis der Übersiedlung mußte völlig neu durchdacht
werden. Sie wurde sehr viel aufwendiger, angefangen bei den
erforderlichen Papieren bis hin zur Durchforstung des
bundesdeutschen Meldesystems nach Lücken bei Zuzügen aus
dem Ausland. Manche unserer Kandidaten statteten wir mit der
Identität von Opfern der Luftangriffe auf Dresden aus, weil die
vielen Flüchtlinge unter den Toten nicht vom zentralen
Melderegister erfaßt waren. Es konnte vorkommen, daß der
ursprüngliche Inhaber einer solchen Identität noch lebte und sich

-138-
in der Bundesrepublik aufhielt, aber oft kam es nicht vor.
Zwischen der Abteilung VI unserer HVA, die für die
Übersiedlungen zuständig war, und der sogenannten illegalen
Linie der Ersten Hauptverwaltung des KGB entwickelten sich
im Lauf der Jahre enge, ja freundschaftliche
Arbeitsbeziehungen, die auch darin gründeten, daß Jurij
Andropow, der Vorsitzende des KGB, die Grenzen der
nachrichtendienstlichen Möglichkeiten legaler Residenturen in
Auslandsvertretungen richtig einschätzte und sich für die
Stärkung der illegalen Linie aussprach.
Unsere Abteilung VI war für die Herstellung sämtlicher
Dokumente zuständig, die benötigt wurden. Eine wahre
Meisterleistung vollbrachten die Experten dieser Abteilung nach
meinem Ausscheiden aus dem Dienst: die weltweit von Kennern
neidlos bewunderte Fälschung der vermeintlich
fälschungssicheren neuen bundesdeutschen Reisepässe und
Personalausweise.
Da unsere Vorkehrungen auch im Ernstfall, also bei
Unterbrechung aller im Frieden offenen Verbindungswege,
funktionieren mußten, bildeten wir die illegalen Residenten im
Senden und Empfangen verschlüsselter Funksprüche aus. Dazu
dienten ihnen eigens gefertigte getarnte Kleinstgeräte, die
ständig verbessert wurden. In den ersten Jahren mußten unsere
Männer und Frauen das Funken noch mühselig an Morsetasten
lernen und üben, während sie zuletzt den chiffrierten Text ohne
viel Aufhebens in wenigen Sekunden über einen Schnellgeber
absetzen konnten, der nicht größer als eine Zigarettenschachtel
war. Sie lebten im ständigen Zweikampf mit der Peiltechnik der
gegnerischen Abwehr, doch keiner unserer Leute wurde durch
das Funken entdeckt.
Der einseitige Funk, das Senden von der Zentrale ins
Einsatzgebiet, blieb immer eines der wichtigsten
Verbindungsmittel. Mit einem im Handel erhältlichen Gerät –
möglichst mit gespreizter Kurzwelle – konnte der Empfänger
-139-
die verschlüsselten Funksprüche empfangen. Der
Bundesnachrichtendienst praktizierte übrigens das gleiche
System, das er Rundspruchdienst nannte. So gut und einfach
diese Methode war, hing doch alles von der Zuverlässigkeit des
Chiffresystems ab. Auf die fatalen Folgen der Entschlüsselung
unserer Funksprüche aus der Zeit vor 1961 komme ich später
noch zurück.
Um die Mitte der 70er Jahre tauchte ein neues, bis dahin
kaum für möglich gehaltenes technisches Phänomen auf:
Normale Radioempfänger konnten durch eine bestimmte
Abstrahlung zur Gefahr werden. Das bedeutete die schwere
Entscheidung, entweder mit einem normalen Gerät die geringe
Wahrscheinlichkeit in Kauf zu nehmen, daß man angepeilt
wurde, oder einen speziellen Empfänger zu benutzen, der einen
im Fall der Entdeckung der Spionage überführen mußte.
In Anbetracht all dessen war es nur zu verständlich, daß die
Regeln der Konspiration von uns ernster denn je genommen
wurden, sowohl innerhalb unserer Hauptverwaltung als auch
gegenüber den sowjetischen Verbindungsoffizieren und erst
recht gegenüber der Abwehr unseres Ministeriums. Niemand
außer den unmittelbar mit einem Vorgang befaßten Mitarbeitern
durfte irgendwelche Kenntnisse über das Netz und die Identität
unserer Agenten besitzen. Die ständig wiederkehrenden
Bestrebungen Mielkes und der Abwehr, bestehende
Sonderregelungen aufzuheben und eine zentrale Erfassung der
Agenturen durchzusetzen, gegen die ich mich ebenso
unermüdlich zur Wehr setzte, sorgten für dauerhafte Reibung.
Da er selbst die Konspiration in jedem Befehl und jeder Rede
bemühte, konnte er schlecht etwas dagegen sagen. Bis ich den
Dienst verließ, war die zentrale Erfassung für die HVA
ausschließlich mit vier Grunddaten zur Person möglich, so daß
unsere Quellen in keinerlei Weise von zehntausenden anderer
Personen, die irgendwann in unser Blickfeld gerieten, zu
unterscheiden waren oder sind.

-140-
Die erschwerten Bedingungen beim Grenzübertritt und der
Hickhack mit der Abwehr waren nicht unsere einzigen
Probleme; schwere personelle Verluste zwangen uns zu
erhöhten Anstrengungen. Der für die christlichen Parteien der
Bundesrepublik verantwortliche Referatsleiter der Aufklärung,
Max Heim, hatte sich in den Westen abgesetzt und sein
gesamtes Wissen der Gegenseite verraten. Es kam zwar nicht zu
einer Wiederholung der seinerzeitigen »Vulkan-Affäre«, aber
einige Quellen wurden festgenommen. Besonders hart traf uns
die Verhaftung Wolfram von Hansteins, des Generalsekretärs
der Liga für Menschenrechte, der zu sechs Jahren Zuchthaus
verurteilt wurde.
Von Hanstein hatte sich unserer Zusammenarbeit mit Leib
und Seele verschrieben und eine große Zahl wichtiger
Verbindungen aufgebaut. Er entstammte einer alten
Adelsfamilie; sein Vater und Großvater waren bekannte
Wissenschaftler und Schriftsteller gewesen, Anhänger eines
humanistischen Weltbilds. Wolfram von Hanstein folgte dieser
Tradition, als er sich gegen die aufkommende NS-Bewegung
wandte. Nach 1933 verdiente er seinen Lebensunterhalt mit
historischen Romanen. Der Einberufung zur Wehrmacht entzog
er sich, indem er in der Illegalität untertauchte.
Den ersten Hinweis auf von Hanstein hatte ich von Wilhelm
Zaisser erhalten. Von Hanstein war einige Jahre in der
Sowjetunion inhaftiert gewesen und lebte seit seiner Freilassung
in Dresden. Wider Erwarten fand sich nicht nur er, sondern auch
seine Frau ohne Zögern bereit, für uns zu arbeiten und deshalb
nach Westdeutschland überzusiedeln. Ihr Grundstück samt Villa
traten sie an die vom Krieg schwer heimgesuchte Stadt Dresden
ab, die wertvolle Einrichtung überließen sie uns zur Nutzung.
Es war erstaunlich, mit welcher Zielstrebigkeit und Energie
der auf die Sechzig zugehende von Hanstein Verbindungen
knüpfte und aktivierte. Als besonders wertvoll erwiesen sich
seine Kontakte zu Heinrich Krone, Adenauers engstem

-141-
Vertrauten, der als Sonderminister für Sicherheitsfragen
zuständig war, und zu Ernst Lemmer, dem Minister für
Gesamtdeutsche Fragen und führenden Kopf des Kuratoriums
Unteilbares Deutschland (KUD). Von Hanstein konzentrierte
sich vorrangig auf alle Aktivitäten, die gegen die DDR und
andere sozialistische Staaten gerichtet waren. Seine Tätigkeit im
Kuratorium Unteilbares Deutschland ermöglichte uns Einblicke
in die konzeptionellen Vorstellungen der Bonner Regierung und
die Koordinierung der Opposition. Sein besonders enger
Kontakt zu Stephan Thomas, dem Leiter des Ostbüros der SPD,
und seine Kontakte zu den Komitees »Rettet die Freiheit« und
»Vereinigung der Opfer des Stalinismus« verhalfen uns
frühzeitig zu allem Wissenswerten über diese Organisationen.
Wie sehr von Hanstein uns verbunden war, zeigt am
deutlichsten vielleicht der Umstand, daß er während seiner Haft
für uns die Verbindung zu drei interessanten Mithäftlingen
herstellte. Nach seiner Freilassung kehrte er in die DDR zurück,
wo er 1965 verstarb.
Ebenfalls von Heim verraten wurde Freiherr von Epp, der
Träger eines in Deutschland bekannten Namens, ein Verwandter
jenes berüchtigten Ritters von Epp, der in den Anfängen der
NSDAP eine Rolle gespielt hatte. Von Epp trat aus freien
Stücken mit uns in Verbindung. Er war von dem Drang erfüllt,
Wiedergutmachung zu leisten und eine eventuelle Wiederkehr
des Nationalsozialismus in Deutschland zu verhindern. Bei den
ersten Gesprächen unterbreitete er mir abenteuerliche
Vorschläge, die bis an die Grenze des Terrorismus gingen, und
nur durch längere Debatten war er von diesen Vorstellungen
abzubringen. Als er verraten wurde, hatte er gerade eine
vielversprechende Quelle in der CDU erschlossen.
Zum gleichen Zeitpunkt eröffneten sich in Bonn neue
Perspektiven. Mit zwei Millionen hinzugewonnener Stimmen
erreichten die Sozialdemokraten ihr bestes Wahlergebnis seit
Kriegsende. Zum erstenmal war nicht nur in haltlosen

-142-
Spekulationen von einer möglichen Regierungsbeteiligung der
SPD die Rede. Es kam nicht zur großen Koalition; die
Regierungspolitik wurde weiterhin von Christdemokraten und
Freien Demokraten bestimmt. Doch für uns galt es, auch die
geringsten Anzeichen zu verfolgen und zu bewerten, die zum
Abbau des kalten Krieges und zu eine r dauerhaften Entspannung
führen konnten.

-143-
6 Spionage aus Liebe

Die enge Verbindung zwischen Spionage und


Liebesgeschichten ist weder eine Erfindung der Kolportage noch
der Geheimdienste, sondern so alt wie das Zweitälteste Gewerbe
der Welt selbst.
Im 4. Buch Mose wird geschildert, wie der Herr Mose gebot,
Männer als Kundschafter in das Land Kanaan zu entsenden, und
wie Mose zwölf Männer auswählte, aus jedem Stamm einen.
Einem der Männer, Hosea, dem Sohne Nuns, gab er in bester
geheimdienstlicher Tradition den Decknamen Josua. Nachdem
die Kundschafter Informationen über die Bewohner Kanaans
und die Wirtschaftspolitik des Landes, in dem Milch und Honig
floß, gesammelt hatten, schnitten sie eine Weinrebe ab, mit
einer Traube, die so schwer war, daß zwei der Männer sie an
einer Stange nach Hause tragen mußten. Im Buch Josua erfahren
wir, wie Josua als Amtsnachfolger Mose zwei Kundschafter
nach Jericho entsandte, wo diese im Hause der Rahab, einer
Dirne, übernachteten – ein erstes Aufeinandertreffen der zwei
weltältesten Gewerbe. Die Abwehrleute des Königs von Jericho
informierten ihn von der Anwesenheit der Fremden in Rahabs
Haus. Als Rahab die nahenden Tugendwächter erspähte,
versteckte sie die Spione auf dem Dach und behauptete
gegenüber den Ermittlern, sie habe zwar Fremde bewirtet, diese
seien aber bereits abgereist. So rettete sie zwei sehr geheimen
Agenten das Leben, die sich später revanchierten, indem sie ihr
das Leben retteten.
Weniger launig läßt sich feststellen, daß die Verknüpfung von
Spionage und Liebe naheliegend, ja zwangsläufig ist. Zu den
vielfältigen Ursprüngen, in denen die Motivation derer, die sich
für meinen Dienst engagierten, gründete, gehört neben der
politischen Überzeugung, dem Idealismus, den finanziellen
Motiven und denen des unbefriedigten Ehrgeizes auch das der

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Liebe, der Zuneigung zu einem Mitarbeiter meines Dienstes.
Die wohl eher mediengerechte Behauptung, meine HV
Aufklärung habe regelrechte Romeo-Spione auf unschuldige
weibliche Wesen in der Bundesrepublik angesetzt, gewann
schnell ein unausrottbares Eigenleben, und seitdem haftet
meinem Dienst der zweifelhafte Ruf an, Herzensbrecher
ausgebildet zu haben, um auf diesem Weg die Geheimnisse der
Bonner Regierung auszukundschaften.
Ich brauche wohl nicht eigens zu betonen, daß eine solche
Abteilung in den gleichen Bereich gehört wie die des MI 5, in
der die jeweils neuesten Hilfmittel für den Agenten 007
erfunden und getestet werden, den Bereich der Phantasie. Daß
dieses Romeo-Klischee überhaupt entstehen konnte, hat damit
zu tun, daß die meisten Kundschafter, die wir in den Westen
entsandten, alleinstehende Männer waren.
Glaubhafte »Legenden« waren für Ehepaare weit schwieriger
zu erstellen als für Alleinstehende. Alleinstehende, die sich für
die HVA in die Bundesrepublik aufmachten, waren in den
weitaus meisten Fällen Männer und nicht Frauen. Daß sie im
Westen Freundinnen kennenlernten, war von unserer Seite aus
nicht untersagt, und wenn sich dabei Bekanntschaften ergaben,
die für unseren Dienst lohnende Aussichten beinhalteten, sahen
wir es nicht als geboten an, unsere Leute davon abzuhalten. Das
aber bedeutete noch lange nicht, daß wir »Agenten mit
spezieller Auftragsstruktur« in Herzensdingen in die
Bundesrepublik aussandten, damit sie dort den ledigen Fräulein
den Kopf und den Verstand verdrehten.
Ein erster »Romeo« war zweifellos »Felix«, dessen Liebe zu
seiner Quelle »Norma« in Bonn so unglücklich endete, als wir
ihn Hals über Kopf abziehen mußten. Was blieb, waren ein
gebrochenes Herz, eine moralische Bürde, an der »Felix« noch
lange zu tragen hatte, und die Erinnerung an eine entfernte
Bekannte, die er uns als mögliche Quelle empfahl. Es handelte
sich um eine Sekretärin in Globkes Büro, von der er den
-145-
Eindruck hatte, sie könne durch den richtigen Mann
möglicherweise beeinflußbar sein.
Wir entschieden uns für Herbert S., Deckname Astor, als
Kandidaten. Er war Sportflieger und ehemaliger Major im Stab
des Generalfeldmarschalls Kesselring. Ähnlich anderen
Offizieren hatte er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft eine
politische Wandlung durchgemacht. Nach seiner Entlassung
bekannte er sich zu den Zielen der DDR und trat der
Nationaldemokratische Partei Deutschlands – NDPD – bei, in
der zahlreiche ehemalige Offiziere und kleine Mitläufer der
Nazis eine neue politische Heimat fanden. Seine Mitgliedschaft
in der NSDAP, die er nicht verschwiegen hatte, kam uns ebenso
wie seine Beziehung zu anderen einstigen Offizieren aus der
Umgebung Kesselrings zugute, um seine Möglichkeiten in
Richtung Bonn zu aktivieren und eine glaubwürdige Geschichte
für seinen Weggang aus der DDR zu ersinnen.
Mitte der 50er Jahre machte er sich auf nach Bonn. Er wurde
Immobilienmakler und trat in den exklusiven Fliegersportklub
von Hangelar ein, wo Regierungsmitglieder verkehrten. Vor
diesem Hintergrund knüpfte er unaufdringlich eine Beziehung
zu »Gudrun« an, der Dame, die »Felix« genannt hatte. Schon in
der ersten Phase der Bekanntschaft »Astors« mit »Gudrun«
erhielten wir Informationen über Personen und Vorgänge aus
Adenauers unmittelbarer Umgebung, ebenso über Gehlens
Kontakte zum Kanzler und dessen Staatssekretär Globke.
Sie wurden ein Paar. Nach einiger Zeit schlug »Astor« vor,
seine Freundin anzuwerben, indem er sich als sowjetischer
Aufklärungsoffizier ausgab. Das fanden wir merkwürdig, aber
sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen: Eine Großmacht wie die
UdSSR war für seine Geliebte etwas ganz anderes als ein Staat
wie die DDR, dessen Souveränität sie nur belächeln konnte. In
einem abgelegenen Wintersportort in der Schweiz fand die
offizielle Anwerbung statt.
Leider verschlimmerte ein Lungenleiden »Astors« sich so
-146-
dramatisch, daß wir ihn zurückholen mußten, und das bedeutete
das Ende der Zusammenarbeit mit »Gudrun«, seiner Freundin.
Sie hatte aus Liebe zu ihm spioniert, nicht aus Neugierde oder
Abenteuerlust. Das Ende der Beziehung gab uns jedoch
Gelegenheit, das Wissen, das wir durch »Gudrun« erworben
hatten, in unserer Kampagne gegen Globke zu verwenden,
dessen Rücktritt im Jahr 1963 wir um einiges beschleunigt
haben.
Eine gute Besetzung war auch Roland G., Direktor eines
angesehenen Theaters in Sachsen, der auf der Bühne vielleicht
eher den Don Giovanni als den jugendlichen Romeo gegeben
hätte. Er war ein hochintelligenter, gutaussehender Mann mit
dem Naturtalent, in jede Rolle zu schlüpfen, kurzum, der
geborene Kand idat für das, was uns vorschwebte. 1961 fuhr er
in unserem Auftrag nach Bonn, um dort eine Frau
kennenzulernen, die als Dolmetscherin an der Nato-Zentrale in
Fontainebleau bei Paris arbeitete.
Zu diesem Zweck schlüpfte er in die Rolle eines dänischen
Journalisten namens Kai Petersen und sprach Deutsch mit
dänischem Akzent. Unser Zielobjekt, passenderweise mit dem
Namen Margarete, war hübsch und katholisch, fleißig, sittsam
und scheu. Andere Romeo-Agenten hatten sich bereits
vergeblich um sie bemüht. Doch Ro land G. kannte das Wort
Niederlage nicht. Es gelang ihm, Margarete zu einer Reise nach
Wien zu überreden, wo er als galanter Verehrer glänzte, der im
Kunsthistorischen Museum ebenso zu Hause war wie im Prater
oder beim Heurigen. Im Verlauf dieser Reise verführte er die
junge Dame und enthüllte ihr seine Identität als Spion, indem er
sich als Offizier der dänischen militärischen Aufklärung ausgab.
Eine Zeitlang ging alles gut: Margarete beschaffte ihrem
Geliebten Nato-Geheiminformationen, die er an uns weitergab.
Eines Tages jedoch eröffnete sie ihm, daß sie zunehmend
Gewissensbisse habe, verstärkt durch den Umstand, daß sie in
der Sünde mit ihm zusammenlebte. Unser Mann überlegte, was

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zu tun sei, beriet sich mit seinen Verbindungsleuten in Karl-
Marx-Stadt und begab sich zusammen mit Margarete nach
Jutland. Dort erwartete sie ein Mitarbeiter unseres Dienstes, der
eigens hatte Dänisch lernen müssen, als Feldkaplan verkleidet,
um Margarete die Beichte abzunehmen.
Als wir Roland G. zurückziehen mußten, weil wir fürchteten,
er sei ins Visier der Abwehr geraten, blieb Margarete im
Westen. Obwohl sie eine Zeitlang sogar bereit war, einen
anderen Agenten mit Material zu versorgen, verlor sie bald das
Interesse daran. Wie »Gudrun« hatte auch sie nur um des
geliebten Mannes willen spioniert.
Wenn diese Romeo-Fälle etwas beweisen, dann beweisen sie,
daß niemand – und schon gar keine Frau – gegen den eigenen
Willen zur Spionage gezwungen werden kann. Das bestätigt
auch der Fall einer Quelle mit Decknamen Schneider, die uns
über Jahre hinweg wertvolle Informationen aus dem
Bundeskanzleramt lieferte. Sie hatte sich in unseren Mitarbeiter
verliebt und sogar um seinetwillen dessen politische
Überzeugung zu der ihren gemacht; bei einem Treffen in der
DDR bat sie um Aufnahme in die SED. Nach seinem Abzug war
sie weiterhin für uns tätig, doch eines Tages trat ein anderer
Mann in ihr Leben, dem sie alles gestand und der sie dazu
bewegte, ihre Stelle zu kündigen, um ein neues Leben mit ihm
zu beginnen. Obwohl sie auch danach noch zu Treffs nach Ost-
Berlin kam, mußten wir ohnmächtig mitansehen, wie uns eine
unserer besten Quellen verlorenging.
Weniger Glück hatten wir mit der Quelle »Hulda«. Unser
Mann mit dem Decknamen Reggentin fand keinen anderen
Weg, als sie zu ehelichen, um an die gesuchten Informationen
heranzukommen, doch selbst nach der Eheschließung blieb
»Hulda« ihrem Dienstherrn Rainer Barzel gegenüber loyal und
ihrem Ehemann gegenüber enttäuschend zugeknöpft. Als die
Abwehr unserem Mann auf die Fährte kam und wir ihn
überstürzt abziehen mußten, war es ein herbes Erwachen für die

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Getäuschte.
Gerda O. hatte zu Beginn der 60er Jahre als Neunzehnjährige
an der Pariser Sprachenschule Alliance Française ihren späteren
Ehemann und Führungsoffizier Herbert S. kennengelernt. Aus
der Liebelei wurde Liebe. Herbert – Deckname Kranz –
entdeckte Gerda seine wahre Identität, und sie arbeitete von da
an bewußt für unseren Dienst unter dem Decknamen Rita, und
das mit außergewöhnlicher Effizienz. Ab 1966 war sie in der
Abteilung Telco tätig, dem Nachrichtenzentrum des
Auswärtigen Amtes, wo die Telegramme aller bundesdeutschen
Botschaften dechiffriert und weitergeleitet wurden.
Der Arbeitsstil bei Telco war lässig, um es euphemistisch
auszudrücken, und »Rita« war kein ängstliches Naturell; immer
wieder stopfte sie kaltblütig meterlange Telegrafenpapierstreifen
in ihre geräumige Handtasche und spazierte damit aus dem
Haus, ohne daß man sie durchsucht hätte. Als sie für drei
Monate als Chiffreuse an die deutsche Botschaft in Washington
versetzt wurde, erhielten wir durch sie ungeahnte Einblicke in
Interna der deutschamerikanischen Beziehungen.
Anfang der 70er Jahre wurde »Rita« dann an die Bonner
Mission in Warschau versetzt. Doch nun begann es in unserer
Zusammenarbeit zu kriseln, was leider den Zustand der Ehe
zwischen »Rita« und »Kranz« widerspiegelte. Herbert S. hatte
in der Bundesrepublik bleiben müssen, und seine Frau hatte in
Warschau einen westdeutschen Journalisten kennengelernt,
einen getarnten Agenten des BND, in den sie sich verliebte und
dem sie ihr Herz ausschüttete. Die Zuneigung zu »Kranz« war
immerhin noch so lebendig, daß »Rita« ihn anrief und ihm eine
Warnung zukommen ließ.
Was dann geschah, klingt eher wie ein Spionagekrimi als wie
die nüchterne Realität: Herbert S., der Enttarnung knapp
entronnen, saß bei uns, Gerda S. wurde in der Warschauer Villa
des bundesdeutschen Botschafters argusäugig bewacht. Noch
hofften wir, daß sie ihre Meinung ändern und nicht nach Bonn
-149-
zurückkehren würde, doch vergebens. Meine polnischen
Kollegen versprachen mir, die geringste Chance zu nutzen, um
»Ritas« Abflug zu verhindern, doch eine solche Chance ergab
sich nicht. Als der Botschafter und ein Botschaftsrat zusammen
mit zwei BND-Mitarbeitern »Rita« zur Abfertigung am
Flughafen begleitete, trat dort ein polnischer Offizier vor und
bot ihr Asyl in Warschau an. Sie zögerte für einen Augenblick –
der dem Botschafter zweifellos wie eine Ewigkeit vorgekommen
sein muß –, doch dann schüttelte sie den Kopf und stieg ins
Flugzeug.
Für meinen Dienst war das kein Ruhmesblatt. »Rita« hatte
den westdeutschen Behörden bereitwillig alles über uns erzählt,
was sie wußte, und »Kranz« war in der Bundesrepublik durch
seine Enttarnung verbrannt. Doch kaum aus dem Westen
abgezogen, lernte er im Urlaub an der Schwarzmeerküste
Bulgariens eine Frau kennen, die eine feste Beziehung mit ihm
einging, obwohl er ihr notgedrungen reinen Wein einschenkte,
als sie in einer Illustrierten in einem Bericht über »Ritas« Prozeß
auf sein Foto und seinen Namen stieß. Seine neue Liebe,
Deckname Inge, suchte sich zielstrebig eine Stelle in Bonn und
fand tatsächlich in relativ kurzer Zeit eine Anstellung im
Bundeskanzleramt. Jahrelang versorgte sie uns von dort mit
Informationen. In ihrem Büro war sie beliebt, weil sie gern für
Kolleginnen einsprang, wenn abends länger gearbeitet werden
mußte, denn dann konnte sie in Ruhe die Extrakopien für
unseren Dienst machen.
Obwohl »Inge« wußte, daß ein Eheleben mit »Kranz« in der
Bundesrepublik nicht möglich gewesen wäre, wollte sie ihn
unbedingt heiraten, wenigstens in der DDR. Trotz unserer
Bedenken ließen wir ihr Papiere auf ihren Mädchennamen
ausstellen, und in einem Standesamt in Lichtenberg gaben die
beiden sich das Jawort. Was sie nicht wußten, war, daß die Seite
im Heiratsregister mit ihrem Eintrag nach der Veranstaltung
entfernt und vernichtet wurde. Erst Jahre später, als »Inge« ohne

-150-
eigenes Verschulden enttarnt und verurteilt wurde, erfuhren die
beiden zu ihrer Empörung, daß ihre Ehe bislang null und nichtig
gewesen war.
Das Jahr 1979 war ein schwarzes Jahr für meinen Dienst.
Ingrid Garbe, Sekretärin in der bundesdeutschen Nato-
Botschaft, wurde Anfang des Jahres enttarnt und verhaftet. Die
Medien behaupteten, sie sei »so gefährlich wie Guillaume«
gewesen. Im März trat Ursel Lorenzen, Mitarbeiterin des Nato-
Generalsekretariats, in die DDR über und erklärte in einem
Fernsehauftritt, daß sie aus Gewissensgründen diesen Schritt
getan habe. Am gleichen Abend wurde in den Nachrichten
gemeldet, Ursula H., eine Sekretärin in der CDU-Führung, sei
enttarnt und mitsamt ihrem Ehemann verhaftet worden. Der
Name sagte mir zunächst nichts – war es »Christel«, die für den
Generalsekretär der CDU arbeitete? Oder »Herta«, die im
Vorzimmer des außenpolitischen Sprechers der Fraktion saß?
Oder »Uta«, die in der Bundesgeschäftsstelle der Partei
beschäftigt war? Sicher war nur, daß allen drei Frauen eines
gemeinsam war: Ihre Ehemänner oder Lebensgefährten
stammten aus der DDR, lebten unter falscher Identität in der
Bundesrepublik und führten mit den Papieren eines
Ausgewanderten oder eines Verstorbenen, dessen Tod nicht
registriert war, eine sogenannte Doppelgängerexistenz. Offenbar
war es der westdeutschen Abwehr gelungen, diese Tarnung, die
uns bisher sicher vorgekommen war, zu entschlüsseln.
Alarmiert durch die Festnahmen innerhalb weniger Wochen,
beschloß ich, kein weiteres Risiko einzugehen und vor allem die
möglicherweise gefährdeten Quellen in der Bundesrepublik
keinem unnötigen Risiko auszusetzen. Am selben Abend noch
ordnete ich den Rückzug an, ohne Aufsehen, aber unve rzüglich.
So kam es, daß sich kurz darauf Inge G., die Sekretärin von Dr.
Werner Marx, und ihr Ehemann, Kurt Biedenkopfs Sekretärin
Christel B. samt Lebensgefährten und Helga R., Sekretärin des
Staatssekretärs Manfred Lahnstein, ebenfalls mit ihrem

-151-
Lebensgefährten, in die DDR absetzten.
Die Boulevardpresse überschlug sich – Sekretärinnen, die aus
Liebe zu Spioninnen wurden, vielleicht gar aus Gründen
sexueller Abhängigkeit oder Angst vor Schlägen, das ließ sich
weidlich ausschlachten. Heribert Hellenbroich, damals
Abteilungsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, sah die
Sache wesentlich differenzierter und sagte dazu: »Die besondere
Beziehung entsteht in der Regel ohne Druckmittel, ohne
Erpressung, auch Geld spielt keine Rolle, sondern eben nur
dieses ideelle Motiv.«
Wie aber war die Gegenseite uns mit einemmal auf die
Doppelgänger-Identität unserer Männer gekommen?
Als in den Nachwehen der Guillaume-Affäre Dr. Richard
Meier Günther Nollau als Präsident des Bundesamts für
Verfassungsschutz abgelöst hatte, waren in dieser Behörde mit
einem Schlag größere Professionalität und höhere Effizienz
eingekehrt, und das bekamen wir durch Rückschläge und
Erschwernisse unserer Arbeit schmerzlich zu spüren.
Die Verhaftungen unserer Quellen Anfang 1979 und mein
Entschluß, alle eventuell gefährdeten Personen zurückzurufen,
waren die späte und für meinen Dienst schmerzlichste Folge der
sogenannten Aktion Anmeldung, durch die der
Verfassungsschutz seit Beginn der 70er Jahre gezielt alle aus
dem Ausland in die Bundesrepublik einreisenden Personen auf
bestimmte Rastermerkmale überprüfte. Scharen von Rentnern
durchkämmten die Karteien der westdeutschen Meldebehörden,
und Zollbeamte waren angewiesen, männliche Einzelreisende
aus der DDR im Alter zwischen fünfundzwanzig und
fünfundvierzig Jahren mit auffallend wenig Gepäck und
unmodischem Haarschnitt besonders scharf ins Auge zu fassen
und auszufragen.
Immer wieder hatten wir uns den Kopf zerbrochen, wenn
ausgerechnet Mitarbeiter mit guten Papieren den Argwohn der

-152-
bundesdeutschen Abwehr erregten, doch diese Einzelfälle hatten
wir dem Zufall oder – Alptraum jedes Geheimdienstes der
Tätigkeit eines Maulwurfs zugeschrieben. Erst die unnatürliche
Häufung von Enttarnungen in den ersten Monaten des Jahres
1979, gekrönt von einem Fernseha uftritt Dr. Meiers, in dem er
die Verhaftung von sechzehn DDR-Spionen bekanntgab, sorgte
für unmißverständliche Klarheit.
Wir zogen alle Mitarbeiter zurück, die möglicherweise
gefährdet waren. Das war zwar aufwendig, aber kein Ding der
Unmöglichkeit. Unverständlich bleibt mir, warum der
Verfassungsschutz seine »Aktion Anmeldung« damals publik
gemacht und uns von sich aus über seine Rasterfahndung
aufgeklärt hat. Auf lange Sicht hätte er meinem Dienst mit einer
wohldosierten Salamitaktik weit mehr schaden können –
materiell mit gezielten Festnahmen und psychologisch durch die
Ungewißheit und die Zweifel, die er bei uns gesät hätte. So, wie
die Dinge nun lagen, blieben die Auswirkungen der Aktion
begrenzt. Nach den ersten spektakulären Festnahmen wurden bis
Mitte der 80er Jahre noch etwa zweihundert Falschidentitäten
herausgefunden, von denen nur ein minimaler Prozentsatz
geheimdienstlich relevant war.
Humor bewies die Katholische Nachrichtenagentur, aus der
wir wegen der »Aktion Anmeldung« eine Quelle hatten
abziehen müssen. Die Agentur schrieb daraufhin einen Brief an
Mielke, in dem sie erklärte: »Dieser Mitarbeiter steht in den
Diensten Ihres Hauses und ist inzwischen in seine Heimat
zurückgekehrt.« Da »entgegen den Sitten des Hauses kein
sogenannter Ausstand gegeben wurde«, möge Minister Mielke
so freundlich sein, an Stelle des Betreffenden die Mitarbeiter der
Katholischen Nachrichtenagentur zu einem Umtrunk
einzuladen, da dies »der bewährten Zusammenarbeit unserer
Häuser« nur zuträglich sein könne.

-153-
Helga Rödiger 1981
Die Ehen von Inge G. und Ursula H., in der Bundesrepublik
unter den falschen Namen ihrer Partner geschlossen, blieben in
der DDR – nun unter richtigem Namen – stabil. Wie Christel B.
konnte auch Helga Rödiger ihren Lebensgefährten erst in der
DDR heiraten, und mit ihrer Geschichte, in die ich auch
persönlich einbezogen bin, will ich dieses Kapitel beschließen.
Unter dem Decknamen Hannelore war Helga Rödiger im
Bundeskanzleramt für uns aktiv. Als wir ihren ursprünglichen
Verbindungsmann zurückziehen mußten und ihn durch Gerd K.
ersetzten, beschloß ich, beim Vorstellungsgespräch der beiden
selbst dabei zu sein, da »Hannelore« wissen wollte, ob sie ihrem
Chef Manfred Lahnstein in das Finanzministerium folgen sollte
oder nicht.
Unter dem Deckmantel der Olympischen Winterspiele 1976
trafen wir uns in Innsbruck. Die Gespräche verliefen
problemlos, das winterliche Alpenpanorama und der Charme der
alten Stadt taten das ihre, und zu meiner großen Erleichterung

-154-
waren sich die beiden auf Anhieb sympathisch. Bald merkte ich,
daß zwischen ihnen mehr war als bloße Sympathie.
Daß eine Heirat ausgeschlossen war, wußten beide. Dennoch
fanden sie einen Weg, ihre Beziehung zu besiegeln, von dem ich
erst aus der westdeutschen Boulevardpresse erfuhr, als
»Hannelore« enttarnt worden war und beide in die DDR
geflüchtet waren. An ihrer Wohnungstür war auf dem
Namensschild nicht nur ihr Name zu lesen gewesen, sondern
auch der Name K., unter dem ihr Verbindungsmann und
Lebensgefährte in der Bundesrepublik firmierte.
Das Happy-End dieser Geschichte erlebte ich ebenso mit wie
ihren Anfang. Schauplatz der Trauung des überglücklichen
Paares war das mittelalterliche Städtchen Wernigerode im Harz,
ein kaum weniger romantischer Rahmen als Innsbruck. Leider
fand ihr Eheglück nach wenigen Jahren durch den Tod Gerds
nach schwerer Krankheit ein allzu frühes Ende.

-155-
7 Der deutschdeutsche Dschungel

Schon Anfang der 50er Jahre kam ich zu dem Schluß, daß
eine Wiedervereinigung Deutschlands auf absehbare Zeit
unmöglich sein würde. Die Politik der Westmächte und der
Bonner Regierung verfolgte andere Ziele. Die Unruhen vom
Juni in der DDR 1953 bestärkten sie in ihrer Überzeugung, daß
sie mit einer rollback-Strategie den Kommunismus besiegen
könnten – durch politischen, wirtschaftlichen und auch
militärischen Druck.
Konrad Adenauer hatte schon vor Gründung der
Bundesrepublik insgeheim einen Kurs verfolgt, der die schnelle
Wiederbewaffnung und die Integration Westdeutschlands in ein
westeuropäisches Militärbündnis vorbereitete. Obwohl er in
seinen öffentlichen Reden die deutsche Einheit beschwor, war
uns klar, daß seine Politik eine Annäherung der beiden
deutschen Teilstaaten ausschloß.
Noch als ich bei Robert Korb in der Informationsabteilung
saß, kamen wir konspirativ in den Besitz eines Dokuments, das
unsere Befürchtungen bestätigte. Es war der geheime Entwurf
des »Generalvertrags«, in dem die Aufrüstung der BRD unter
dem Dach einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft
konzipiert war. Diese Pläne aufzudecken und nach Möglichkeit
zu verhindern, war unsere wichtigste politische Aufgabe in
diesen Jahren.
Wir fanden dabei nicht wenige Verbündete auch in
Westdeutschland, denn Adenauers Kurs war selbst in seinen
eigenen Reihen umstritten. Dem Rheinländer wurde
vorgeworfen, daß ihm die Franzosen näherstünden als die
protestantischpreußischen Deutschen jenseits der Elbe und daß
er die Spaltung nutzen wolle, um einen katholisch dominierten
Rheinbund zu schaffen.
Der Widerstand gegen die Politik Adenauers kam daher auch

-156-
aus rechten Kreisen – von Nazigruppierungen über
nationalkonservative Mitglieder der Unionsparteien bis zum
nationalliberalen Flügel der FDP. Einige dieser Kanzlergegner
suchten den Kontakt mit uns, so Gereke mit seiner 1950
gegründeten Partei, denn die DDR-Führung propagierte zu jener
Zeit noch die Wiedervereinigung als Ziel ihrer
Deutschlandpolitik.
Den Entwurf des »Generalvertrags« lieferte uns eine
Agentengruppe, die unter dem Decknamen Kornbrenner
arbeitete. An ihrer Spitze stand ein ehemaliger Mitarbeiter des
NS-Sicherheitsdienstes SD. Geführt wurde der Agent von einem
Widerstandskämpfer jüdischer Abstammung, was für diesen
Mann eine beinahe unzumutbare Belastung war. Entgegen allen
Legenden, die später in Umlauf gesetzt wurden, war der
»Kornbrenner«-Kontakt der einzige Fall, in dem wir die Netze
ehemaliger SS- und SD-Angehöriger nutzten. Hätten wir
weniger Skrupel gehabt, wären wir schon in den Anfangsjahren
unseres Dienstes leichter und schneller in die Spitzen der
westdeutschen Geheimdienste und der Bundeswehr
eingedrungen. Der sowjetische Nachrichtendienst ging in dieser
Hinsicht mit großem Erfolg sehr viel pragmatischer vor.
Trotzdem flössen Informationen aus allen möglichen
politischen und nachrichtendienstlichen Quellen in unsere
Kanäle. Zu einigen Abgeordneten aus dem rechten Lager des
Bundestages hatten sich vertrauliche Beziehungen entwickelt.
Sie waren unterschiedlicher Natur. Es gab konspirative und
politische Kontakte und auch Fälle, in denen die Politiker nur
von einem Mitarbeiter »abgeschöpft« wurden, der sie
aushorchte, ohne daß es ihnen bewußt war.
Einer dieser Kontakte war Erwin Feller von der Partei Bund
der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), einem
Sammelbecken Rechtskonservativer und ehemaliger Nazis,
zeitweiligem Koalitionspartner Adenauers. Feller überredete
seinen Fraktionsvorsitzenden Dr. Karl Mocker zu

-157-
deutschlandpolitischen Erklärungen, die im Gegensatz zur
Bonner Politik standen und mit den damaligen Positionen der
DDR-Führung vereinbar schienen. Bei diesen Kontakten
vermengte sich der nachrichtendienstliche Aspekt mit dem
Interesse, Einfluß zu nehmen.
Gleiches galt für den Minister für Gesamtdeutsche Fragen im
Kabinett Adenauer, Ernst Lemmer. Wir waren im Besitz einer
Verpflichtungserklärung, die der CDU-Politiker für den
sowjetischen Nachrichtendienst unterschrieben hatte. Es wurde
von unserer Seite aber nie versucht, ihn damit zu konspirativer
Zusammenarbeit zu nötigen. Sein Wissen abzuschöpfen war uns
ein leichtes, da er in engem Kontakt zu Wolfram von Hanstein,
der für uns arbeitete, und zu unserer amerikanischen Quelle
»Maler« stand.
Lemmer gehörte zu der Minderheit von Unionspolitikern, die
im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen waren
und nach der Kapitulation in die Politik gingen, um beim
Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken.
Hilflos mußten sie mit ansehen, daß Spitzenfunktionen in der
Bundesrepublik mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzt
wurden. Eine antifaschistische Vergangenheit war in
Westdeutschland bald ein Karrierehindernis, unter anderem
deshalb, weil man Leuten aus dem Widerstand mangelnde
antikommunistische Standfestigkeit vorwarf. Dieses Mißtrauen
war nicht ganz unberechtigt, denn einige unserer wichtigsten
Quellen und politischen Gesprächpartner kamen aus dem Kreis
konservativer Nazigegner. Viele hatten wie Lemmer schon im
Widerstand Kontakt zu kommunistischen Kreisen gehabt. Sie
sahen es als patriotische Pflicht an, gegen den deutschland- und
innenpolitischen Kurs Adenauers zu wirken.
Gute Kontakte hatten wir schon früh in die bayerische CSU,
und sie sollten bis zur Wende nicht abreißen. Eine unserer
Quellen gehörte zum Kreis um den Vorsitzenden Dr. Josef
Müller, genannt »Ochsensepp«, der Adenauers Politik kritisch

-158-
gegenüberstand. Durch sie erfuhren wir auch erstmals von
einem Nachwuchstalent namens Franz Josef Strauß. Politisch
schien Strauß damals wie sein Ziehvater Müller undogmatisch
und aufgeschlossen zu sein. Uns wurde zugetragen, er habe sich
nach Kriegsende sogar zunächst um die Mitgliedschaft in der
KPD beworben.
Überraschendes erfuhren wir auch über den einflußreichsten
CSU-Politiker, den Bundesfinanzminister und Vizekanzler Fritz
Schäffer. Den Kontakt zu ihm hielt ein westdeutscher
Geschäftsmann, der unter dem Decknamen Markgraf Informant
unserer Hauptabteilung Wirtschaft war. »Markgraf« berichtete,
daß Schäffer deutschlandpolitische Vorstellungen hege, die in
krassem Widerspruch zur Politik seines Regierungschefs
standen. Der Vizekanzler dachte angeblich über die Möglichkeit
einer deutschen Konföderation nach. Diese Berichte schienen
uns wenig glaubwürdig, weil wir es für ausgeschlossen hielten,
daß der zweite Mann in der Bonner Regierung Pläne
entwickelte, die mit Adenauers Politik unvereinbar waren.
Die Skepsis wurde nicht geringer, als »Markgraf« einen
Besuch Schäffers in Ost-Berlin ankündigte, bei dem der
Vizekanzler mit hochrangigen Vertretern der Sowjetunion und
der DDR über seine Konföderationspläne sprechen wollte.
Gespräche mit Repräsentanten der »Sowjetzone« waren für
Bonn damals ein Tabu, über das sich kein westdeutscher
Politiker ungestraft hinwegsetzen durfte. Wir glaubten deshalb
»Markgraf« so wenig, daß wir die Nachricht weder an die SED-
Führung noch nach Moskau weitergaben, da wir fürchteten, uns
zu blamieren.
Zu unserer Überraschung stieg dann am 11. Juni 1955 zur
angegeben Zeit tatsächlich der Vizekanzler der Bundesrepublik
Deutschland nur in Begleitung unseres Informanten am Bahnhof
Marx-Engels-Platz aus der S-Bahn. Dort empfingen ihn ein
Oberst und der Major, der für die Führung »Markgrafs«
verantwortlich war. Zum Glück hatten wir wenigstens einen

-159-
Fotografen verdeckt postiert, der das historische Ereignis im
Bild festhielt.

Konspirative Aufnahme von Fritz Schäffers Ankunft in Ost-


Berlin 1955 (»Markgraf«: 2. von rechts)

Konspirative Aufnahme der Begrüßung Fritz Schäffers

-160-
Vincenz Müller
Der vorgeschobene Anlaß für Schäffers Ausflug in den Osten
war ein Besuch bei General a. D. Vincenz Müller, mit dessen
Familie der Vizekanzler befreundet war. Unser Oberst brachte
den Gast zunächst in Müllers Wohnung und benachrichtigte
mich dann davon, daß das Unglaubliche wahr geworden war.
Ich befand mich nun in keiner beneidenswerten Lage.
Schäffer erklärte bei Müller, daß er ein Gespräch mit dem
sowjetischen Botschafter Puschkin erwarte. Gegen eine
Zusammenkunft mit dem Ministerpräsidenten Grotewohl habe
er allerdings noch Bedenken. Er wolle lieber fürs erste mit
einem DDR-Vertreter unterhalb des Kabinettsrangs reden. Der
Vizekanzler behauptete, Adenauer von dem Besuch informiert
zu haben. Der »Alte« habe ihm allerdings geraten: »Fahren Sie
nicht.« Er habe ihn auch vor den persönlichen Konsequenzen
des Abenteuers gewarnt.
Der Zeitpunkt für Schäffers Mission war kein Zufall. Wenige
Wochen zuvor hatte der österreichische Bundeskanzler Julius
-161-
Raab in Moskau die Verhandlungen über einen Staatsvertrag
abgeschlossen, der Wiedervereinigung und Neutralität der
Alpenrepublik festschrieb. In der sowjetischen Führung gab es
ernsthafte Erwägungen, das österreichische Modell auch auf
Deutschland zu übertragen. Der Nato wäre dadurch
Westdeutschland als Aufmarschgebiet verlorengegangen.
Adenauer hatte entsprechende Vorstöße Moskaus immer als
Propagandamanöver abgetan. Am 5. Mai 1955 sollten die
Pariser Verträge in Kraft treten, die die Bundesrepublik an das
westliche Militärbündnis banden. Verhandlungen über
Neutralität und Wiedervereinigung schienen damit obsolet.
Für die Gegner von Adenauers Politik der Westintegration
gab es im Frühjahr 1955 nur noch eine letzte Chance. Der
Vizekanzler suchte sie zu ergreifen, indem er unter hohem
persönlichen Risiko nachrichtendienstliche Wege nutzte, um mit
dem Osten Kontakt aufzunehmen. Motiv seines Besuchs war
offensichtlich zu signalisieren, daß es auch im Bonner
Regierungslager einflußreiche Kräfte gab, die eine
Wiedervereinigung auf dem Verhandlungsweg noch nicht
abgeschrieben hatten. Er hoffte auf konkrete Vorschläge aus
dem Osten, mit denen die Meinungsbildung im Kabinett und in
der Öffentlichkeit noch zu beeinflussen gewesen wäre.
Wir waren also zu überrascht, um auf diese Mission
vorbereitet zu sein. Ich rief Ministerpräsidenten Grotewohl an,
schilderte ihm die Situation und fragte, was zu tun sei. Da ich
mit meinem sowjetischen Verbindungsoffizier abgesprochen
hatte, die unglaubwürdige Ankündigung des Besuchs nicht nach
oben weiterzugeben, war es unmöglich, den nicht eingeweihten
Botschafter Puschkin zu mobilisieren. Grotewohl entschied, da
Schäffer ohnehin nicht mit ihm reden wolle, solle ich den Part
des Regierungsvertreters übernehmen. Als Vertreter der
sowjetischen Seite könne mein Verbindungsoffizier Semjon
Logatschow fungieren, der offiziell als Botschaftsrat akkreditiert
war.

-162-
Fritz Schäffer wurde in die kleine Villa am Zeuthener See
gefahren, die uns schon während der Außenministerkonferenz
für weniger diplomatische Zwecke gedient hatte. Er war
sichtlich enttäuscht, als er statt des sowjetischen Botschafters
und eines hochrangigen DDR-Vertreters nur uns traf: zwei junge
Männer, deren Namen ihm unbekannt waren und die ihm viele
Fragen stellten, ohne selber konkrete Antworten geben zu
können.
Trotzdem entwickelte der Vizekanzler über annährend zwei
Stunden seine Vorstellungen. Er zeigte sich gründlich
vorbereitet und begann mit einem historischen Exkurs. Schäffer
erinnerte an die Vorgeschichte der deutschen Einigung von
1871, die schon 1834 mit der Gründung des deutschen
Zollvereins eingeleitet worden war. Daraus könne man lernen,
meinte er, daß es zunächst zu Vereinbarungen zwischen den
beiden Staaten auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet
kommen müsse. Voraussetzung für die Vereinigung sei, daß die
deutschen Staaten keinem Machtblock angehörten.
Auf unseren Einwand, daß gerade wegen dieser Frage alle
Vorschläge der sozialistischen Seite von Bonn zurückgewiesen
worden seien und die BRD gerade im Begriff stehe, sich an das
Lager der USA zu binden, entgegnete Schäffer, ein vereintes
Deutschland könne sich für neutral erklären, das ließen auch die
Pariser Verträge zu. Bis dahin müßte die Stärke der Streitkräfte
entsprechend der Bevölkerungszahl in beiden Staaten begrenzt
werden. Eine atomare Bewaffnung käme nicht in Frage.
Gingen diese Vorstellungen, gemessen an den
entgegengesetzten Plänen Adenauers, schon sehr weit, so waren
die Kompromisse, die er innenpolitisch machen wollte, noch
bemerkenswerter. Er sagte, persönlich sei er ein überzeugter
Anhänger der Marktwirtschaft. Er verstehe aber, daß die
Entwicklung der letzten zehn Jahre im östlichen Teil
Deutschlands nicht einfach rückgängig gemacht werden könne.
Man müsse sich da annähern und nicht die Differenzen in den

-163-
Vordergrund stellen. Das wichtigste sei, daß sich die beiden
Staaten nicht mehr feindlich gegenüberstünden.
Es waren nicht allein nationale Motive, die Fritz Schäffer zu
seiner gewagten Initiative trieben. Wichtiger noch schien ihm zu
sein, daß eine Annährung der deutschen Staaten die
Kriegsgefahr verminderte. In meinem Bericht zitierte ich ihn
wörtlich: »Ich habe im Zweiten Weltkrieg meinen Sohn
verloren, und darum will ich verhindern, daß noch einmal
Millionen von Familien von solch einem Unglück getroffen
werden.«
Auch dieser kleine, eher bescheidene und unauffällige Mann
hatte eine andere Vergangenheit als die große Mehrheit der
Funktionsträger im Bonner Staat, die dem Nationalsozialismus
aktiv oder zumindest als Mitläufer gedient hatten. Schäffer war
aus politischen Gründen mehrfach von der Gestapo verhaftet
und schließlich in das KZ Dachau gebracht worden, aus dem er
1945 befreit worden war.
Er hat sich uns damals nicht ganz offenbart. Auf der
Rückfahrt sagte er voller Enttäuschung zu unserem
Gewährsmann: »Ich habe eine Schlappe erlebt. Vielleicht hätte
ich mit einem Gespräch bei Botschafter Puschkin der deutschen
Situation helfen können. Ich war bereit, Geheimverhandlungen
zu führen. Doch als ich die zwei jungen Männer sah, habe ich
nicht alles gesagt.«
Über unsere Kanäle erfuhren wir, warum Adenauer, wenn
auch widerstrebend, seinen Stellvertreter nach Ost-Berlin hatte
fahren lassen. Der alte Fuchs hatte das Scheitern des
Alleingangs vorausgesehen. Gegenüber den USA konnte er
Schäffers Initiative als Trumpfkarte ausspielen. Sie
demonstrierte, wie stark selbst im Kabinett der Widerstand
gegen die Bindung der Bundesrepublik an die USA war.
Adenauer konnte sich als unverzichtbarer Garant der
Westintegration präsentieren, auf dessen Wünsche man deshalb
Rücksicht zu nehmen hatte.
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Doch Schäffer gab nicht auf, und wir bemühten uns, die
Scharte auszuwetzen. Die Kontakte wurden mit Hilfe von
Vincenz Müller aufrechterhalten. Am 20. Oktober 1956 kam der
Vizekanzler wieder nach Berlin und sprach diesmal auch mit
Botschafter Puschkin. Schäffer legte weiter Wert auf strikte
Geheimhaltung. Für den Fall, daß die Kontakte doch bekannt
würden, gab es die Sprachregelung, man habe über aktuelle
Themen gesprochen, zum Beispiel über die Gebührenpauschale
für die Transitautobahn.
Nach einigem Zögern erklärte sich Schäffer zu regelmäßigen
Kontakten auch mit unserer Seite bereit. Auf meinen Vorschlag
übernahm der Volkskammerabgeordnete der
Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), Professor
Otto Rühle, die Rolle als Verbindungsmann zum Vizekanzler.
Er traf den Unionspolitiker in München und Bonn. Fern von der
politischen Realität entwarf Schäffer Vorschläge, die beide
deutsche Staaten zusammenführen sollten. Da sein Ziel – die
Vereinigung – immer utopischer zu werden schien, strebte er
zunächst eine deutschdeutsche Zusammenarbeit nach dem
Vorbild der Benelux-Länder an. Schäffer betonte, daß
Parteifreunde in seine Pläne eingeweiht seien. Als einen seiner
engsten Vertrauten beschrieb er Franz Josef Strauß.
Die Direktiven, die ich dem Kontaktmann Rühle für die
Gespräche geben konnte, waren vage. Es blieb zunächst dabei,
daß Schäffer immer neue Fragen gestellt wurden, ohne daß er
konkrete Antworten erhielt. Die DDR-Führung hatte kein
Verhandlungskonzept. Einerseits wollte man die vom
Vizekanzler angestrebten direkten Verhandlungen zwischen den
deutschen Staaten, weil das die Hallstein- Doktrin ausgehebelt
hätte. Andererseits sah man Konföderationspläne mit
gemischten Gefühlen, weil immer das Mißtrauen blieb, Moskau
könne für eine gesamtdeutsche Neutralität die DDR aufgeben.
Der Einmarsch der Roten Armee in Ungarn zerstörte
endgültig alle Wiedervereinigungsillusionen, auch bei Schaffen

-165-
Doch im Jahr 1958 machte Ulbricht plötzlich den Vorschlag
einer deutschdeutschen Konföderation, der im wesentlichen mit
den ursprünglichen Vorstellungen Schäffers übereinstimmte.
Bonn lehnte brüsk und herablassend ab.
Ulbricht hatte dabei offensichtlich auf meine Berichte über
den Schäffer-Kontakt zurückgegriffen, die Grotewohl im
Oktober 1956 mit dem Vermerk versehen hatte: »Einstweilen
abwarten.« Nun aber brach Ulbricht um eines schnellen
Propagandaerfolgs willen die Zusage strikter Vertraulichkeit, die
ich dem Vizekanzler hatte geben lassen. Ulbricht erklärte, in
seinem Plan habe er doch nur die Vorschläge eines Bonner
Regierungsmitglieds aufgegriffen.
In Bonn wurde diese Erklärung als »unverschämte Lüge«
zurückgewiesen. Das wiederum brachte den mit Berichten
wohlgerüsteten Ulbricht dazu, den Vertrauensbruch noch weiter
zu treiben. Er ließ General Müller und Professor Rühle, die in
Absprache mit mir den Kontakt zu Schäffer aufrechterhalten
hatten, eine öffentliche Erklärung verfassen. Darin wurde die
Initiative des Vizekanzlers korrekt wiedergegeben, allerdings
ohne den nachrichtendienstlichen Hintergrund und meinen Part.
Bonn reagierte hektisch. Zu unserer großen Überraschung
hatten die Enthüllungen für Schäffer keine Konsequenzen.
Adenauer ließ die Untersuchungen der Affäre schnell beenden
und nahm seinen Stellvertreter unter den Mantel der
Nächstenliebe. Später wurden in Publikationen für
Zeitgeschichte sogenannte Dokumentationen des Falles
veröffentlicht, die allenfalls Halbwahrheiten enthielten. Sie
belegten allerdings, wie selektiv Schäffer den Kanzler informiert
hatte.
Eine abenteuerliche Version der Schäffer-Initiative gibt Franz
Josef Strauß in seinen Erinnerungen zum besten. Er behauptet,
der Vizekanzler habe die Verbindung zu General Müller
gesucht, weil der ihm »weitreichende Andeutungen« über einen
bevorstehenden Putsch der NVA gemacht habe, »bei dem
-166-
Ulbricht verhaftet und die ganze Regierung abgesetzt werde«.
Strauß veröffentlichte diesen Unsinn wider besseres Wissen.
Wir wußten nicht nur von Schäffer, daß Strauß in die
Konföderationspläne eingeweiht war. Unsere Kontakte zu einem
seiner engsten Vertrauten, dem Verleger und Chefredakteur der
Passauer Neuen Presse, Hans Kapfinger, bestätigten die
Mitwisserschaft von Strauß. Im übrigen waren alle Gespräche
zwischen Schäffer und Müller unter unserer Kontrolle, denn der
General kooperierte in dieser Sache aus politischer Überzeugung
mit meinem Dienst.
Der Versuch des Vizekanzlers, schon in den 50er Jahren eine
Politik der Wiedervereinigung einzuleiten, ist eine jener
Episoden, die offenbar aus der bundesdeutschen
Nachkriegsgeschichte gestrichen werden sollten.
Über vielfältige Kontakte in die Unionsparteien hatten wir
immer ein ziemlich genaues Bild von den Aktivitäten auf der
politischen Rechten in der Bundesrepublik bis ins
Bundeskanzleramt. Mit Glück und Voraussicht hatten wir
unseren dienstältesten Kundschafter in Westdeutschland, Adolf
Kanter, in der Umgebung eines rheinlandpfälzischen
Nachwuchspolitikers namens Helmut Kohl plaziert. Kanter,
Deckname Fichtel, war von der Parteiaufklärung zu unserem
Dienst gekommen. Nach dem Krieg hatte er die FDJ in
Rheinland-Pfalz mit aufgebaut und gehörte ihrem
Landesvorstand an. 1949 verließ er die kommunistische
Jugendorganisation und trat nach einer Schamfrist der Jungen
Union bei, in der er Kreisvorsitzender und
Bezirksschulungsreferent wurde.
Kanter schloß sich der jungen CDU-Truppe an, die gegen den
Widerstand der Parteihonoratioren den Weg für die Karriere von
Helmut Kohl bahnte. Zu Kanters politischen und persönlichen
Freunden zählte der Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch.
Über ihn besorgte er schon früh Spenden für Kohls Mannschaft.
Er kannte dadurch den späteren Kanzler persönlich und konnte
-167-
vertrauliche Beziehungen zu einigen der Männer aufbauen, die
Kohl zunächst in Mainz und später in Bonn um sich scharte.
Adolf Kanter war einer unserer wenigen Männer mit einer
erfolgversprechenden Perspektive in der Bunderepublik. Der
erhoffte Aufstieg in der CDU an der Seite Kohls wurde
allerdings 1967 gebremst, als Kanter die Zweckentfremdung
von Spenden vorgeworfen wurde. Zwar endete das
Strafverfahren mit einem Freispruch, doch sein Ruf hatte
Schaden genommen, und eine politische Karriere an der Seite
Kohls war unrealistisch geworden. Die engen Verbindungen
zum Kreis um Kohl und zum Flick-Manager von Brauchitsch
blieben allerdings erhalten.
Mit unserer Hilfe etablierte er ein Bonner Büro für Finanz-
und Wirtschaftsberatung. Außerdem ermöglichten wir ihm die
Herausgabe eines Hintergrunddienstes für Verantwortliche aus
Wirtschaft und Politik. Viele der Beiträge in dem Dienst wurden
von unserem Verbindungsmann zu »Fichtel«, Dr. Werner K.,
geschrieben. K., der sich seit 1962 regelmäßig mit Kanter traf,
war ein hervorragender Wirtschaftsfachmann. Vor seinem
Wechsel zur HVA hatte er als Vorstandsmitglied im Verband
Deutscher Konsumgenossenschaften gearbeitet.
Daß es sich gelohnt hatte, eine so hochqualifizierte Kraft als
Instrukteur Kanters einzusetzen, wußten wir spätestens 1974.
»Fichtel« wurde Prokurist und stellvertretender Leiter im
Bonner Büro des Flickkonzerns. Es entbehrte nicht der Ironie,
daß ein Mann, der sich dem Sozialismus verpflichtet fühlte, die
politische Stabsabteilung eines der mächtigsten Konzerne führte.
Kanters Aufgabe war es, für Flick bei Parteien und Regierung
Informationen zu sammeln und politisch im Sinne des Konzerns
Einfluß zu nehmen. Ähnliches erwarteten auch wir vom ihm.
Seine Arbeit für uns wurde durch die neue Position natürlich
noch effektiver. Dem Vertreter des Flickkonzerns vertrauten
Politiker Geheimnisse an, ohne ein schlechtes Gewissen zu
haben. Gepflegt wurden die Beziehungen durch großzügige
-168-
Spenden des Flickkonzerns. Kleinere Beträge konnte Kanter in
eigener Verantwortung vergeben, während er auf die Verteilung
großer Summen zumindest Einfluß hatte, was ihm viele Türen
bei CDU und FDP öffnete.
Lange bevor die illegale Spendenpraxis des Flickkonzerns der
Öffentlichkeit bekannt wurde, waren wir bis in die Details
informiert. Was »Fichtel« uns an Informationen über die
Verbindung von Kapital und Politik lieferte, illustrierte die
marxistische Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus
recht deutlich.
Schon um unsere Quelle zu schützen, widerstanden wir der
Versuchung, das Material westdeutschen Medien zuzuspielen.
Zur Aufdeckung des Parteispendenskandals im Jahr 1981 hat
mein Dienst nicht beigetragen. Allerdings wurde auch damals
nur die Spitze eines Eisbergs bekannt.
Das Bonner Flick-Büro mußte als Folge der Affäre von 1981
geschlossen werden. Adolf Kanter wurde mit 320000 DM vom
Konzern abgefunden. Er blieb, wie er es nannte, offiziell
»Dolmetscher zwischen Wirtschaft und Politik« und inoffiziell
Dolmetscher zwischen West und Ost. Seine Informationen
versetzten uns in die Lage, auch die Politik der neuen Bonner
Regierung unter Helmut Kohl realistisch zu analysieren. Nun
zahlten sich »Fichtels« Verbindungen aus der Zeit in Rheinland-
Pfalz aus, die er als Flick-Repräsentant hatte weiter pflegen
können. Nutzen konnte er vor allem die alte Freundschaft zu
Philipp Jenninger, der als Kanzleramtsminister zu den engsten
Vertrauten Kohls gehörte. Kanter hatte nicht den direkten
Zugang zur Regierungsspitze wie Günther Guillaume, aber seine
Informationen waren kaum weniger wertvoll.
Alle Alarmglocken schrillten deshalb bei uns, als 1983 eine
Eilmeldung von einer Quelle im Verfassungsschutz kam: Unser
Kontaktmann zu Kanter, Dr. Werner K., gerade auf dem Weg in
die Wohnung, die Kanter als Unterkunft für seinen
regelmäßigen Besucher gemietet hatte, war enttarnt worden. Er
-169-
stand seit dem Grenzübertritt unter Beobachtung. Die Beschatter
folgten ihm bis vor die konspirative Wohnung. Seine Verfolger
warteten noch mit dem Zugriff, weil sie natürlich K.s Gastge ber
in flagranti überraschen wollten. In der Wohnung erreichten wir
unseren Mann endlich, und ihm gelang eine abenteuerliche
Flucht.
Wir fürchteten, eine unserer wichtigsten Quellen zu verlieren.
Kanter mußte zum Verhör, dann aber wurden überraschend die
Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Unser Mann beim
Verfassungsschutz, Klaus Kuron, gab Entwarnung: Auf höhere
Weisung seien die Untersuchungen gestoppt worden. Seinen
Instrukteur K., der in Jahrzehnten der Zusammenarbeit längst zu
einem guten Freund geworden war, konnte Kanter allerdings nur
noch im Ausland treffen.
Als Adolf Kanter im Frühjahr 1994 dann doch noch verhaftet
wurde, blieben die in solchen Fällen üblichen
Triumphmeldungen über die Enttarnung eines weiteren
»Topspions« aus. Die sonst so auf Öffentlichkeit bedachte
Bundesanwaltschaft hielt sich zurück. Die Behandlung dieses
Falles unterschied sich bemerkenswert von vergleichbaren
Verfahren, etwa dem endlosen Spektakel des Prozesses gegen
Karl Wienand.
Das Hauptverfahren wurde binnen eines Monats
durchgezogen. Es fand praktisch unter Ausschluß der
Öffentlichkeit statt. Einige Journalisten wurden erst später auf
den Fall aufmerksam und wunderten sich, mit welcher
Diskretion er über die Bühne gebracht worden war. Während
des Verfahrens wurde Kanter nie in die Verlegenheit gebracht,
sein umfangreiches Wissen über Interna der Regierungsparteien
und ihre Verbindungen zur Industrie, über ihre Tarnfirmen und
Geldwaschanlagen preisgeben zu sollen. Adolf Kanter wurde
unter anderem mit Rücksicht auf die »geringe Brauchbarkeit des
Verratsmaterials« zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung
verurteilt.

-170-
Zu Recht hatte das Gericht festgestellt, daß durch Kanters
»Verrat« der Bundesrepublik wohl kaum Schaden entstanden
sei. Der Entspannungspolitik hat er genützt. Das Bild, das er von
westdeutschen Politikern und Wirtschaftsführern mit seinen
Informationen vermittelte, war zwar nicht immer
schmeichelhaft, aber es widersprach dem Stereotyp der
dogmatischen kalten Krieger im konservativen Lager, wie es
manche in der DDR-Führung pflegten. Durch Kanter erfuhren
wir – wie später auch durch »Lydia« mit ihrem Salon -, daß man
im Lager von Kohl, Strauß und Flick sehr viel pragmatischer
dachte, als es den Anschein haben mochte, und das nicht nur,
wenn es um Geld ging.
Durch die Vereinigung von KPD und SPD und die vielen
Bindungen, die im gemeinsamen antifaschistischen Widerstand
gewachsen waren, ergab sich für die Aufklärung beider Seiten
die Möglichkeit, relativ problemlos Leute beim Gegner
einzuschleusen. Das Ostbüro der SPD konnte in großer Zahl
Sozialdemokraten rekrutieren, die gegen ihren Willen zu
Mitgliedern der SED geworden waren. Bei uns gab es
Kommunisten, die unverdächtig zur West-SPD wechseln
konnten, weil sie freundschaftliche Beziehungen zu
Sozialdemokraten hatten. Als plausible Erklärung für ihren
Wechsel bot sich die Ablehnung des Stalinismus an. Ein
Problem für uns war, daß es einigen der besten dieser Leute
ernst war mit ihren Vorbehalten gegen das stalinistische System
in der DDR und daß sie gegenüber der SPD Loya lität
entwickelten.
Ein solcher Problemfall war »Freddy«. Er war in seiner
Jugend KPD-Mitglied geworden und nach dem Krieg zur
Parteiaufklärung gekommen. Paul Lauffer, der später auch die
Guillaumes auf ihren Einsatz vorbereitete, hatte »Freddy« in die
West-Berliner SPD geschickt. »Freddy« wurde somit der erste
von Lauffers Leuten, die in unmittelbarer Nähe Willy Brandts
plaziert waren.

-171-
Er hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, daß ich heute
seinen Namen preisgebe, denn er konnte immer zu dem stehen,
was er tat. Aber mit Rücksicht auf seine Familie nenne ich nur
seinen Decknamen. Wer ihn erlebt hat, wird ihn in der
Beschreibung erkennen.
»Freddy« machte in der West-Berliner SPD schnell Karriere,
doch seine Bereitschaft, mit uns zu kooperieren, wurde immer
geringer. Die Tonbänder, die wir ihm gaben, blieben
unbesprochen. Er weigerte sich, über Personen seiner näheren
Umgebung zu informieren, und lehnte es kategorisch ab,
Angehörige des Ostbüros zu benennen.
»Freddy« hatte seinen Eintritt in die SPD als politischen
Parteiauftrag begriffen. Er wollte in der SPD seiner
Überzeugung gemäß gegen Rechtsopportunismus und
Antikommunismus streiten. Daß er automatisch von unserem
Dienst übernommen worden war, paßte ihm nicht. Er verstand
sich nicht als »Agent«. Den Resid enten in West-Berlin, der ihn
führte, verwickelte er in hartnäckige Diskussionen über den
Kurs der SED unter Ulbricht. Auf unserer Seite wuchs das
Mißtrauen gegen ihn.
Andererseits wurde immer deutlicher, daß die Berliner SPD
entscheidenden Einfluß auf die Deutschlandpolitik der
Gesamtpartei nahm und daß sie in ihrer Mitte einen Mann mit
Führungsqualitäten und großer Perspektive hatte: Willy Brandt.
Eine Quelle in seiner Nähe war wichtig für uns. Außerdem
fühlte ich mich angezogen von dem außergewöhnlichen
Charakter »Freddys«, den er gerade dadurch bewies, daß er uns
Probleme bereitete.
Ich beschloß, ihn persönlich zu führen. Wir trafen uns in dem
winzigen Mansardenzimmer eines Genossen. Wir rauchten, bis
wir uns in dem Qualm kaum noch sahen. »Freddy« blieb
unerbittlich in seiner Kritik an den bürokratischen Auswüchsen
unseres Systems. Walter Ulbricht war für ihn eine Reizfigur. Mit
Harne imitierte er die Fistelstimme des SED-Chefs. Ich stimmte
-172-
in vielem mit ihm offen oder heimlich überein. Aber wirklich
zusammen kamen wir noch nicht.
Dazu bedurfte es eines besonderen Ereignisses, und das war
der XX. Parteitag in Moskau mit Chruschtschows Enthüllungen
über die Verbrechen Stalins. »Freddy« konnte triumphieren:
»Habe ich es nicht schon immer gesagt!« Dieser Parteitag war
auch der Wendepunkt in unserer Beziehung. Gemeinsam
träumten wir von der Zukunft eines Sozialismus, der sich von
den furchtbaren Irrtümern der Vergangenheit befreite.
Wir beschlossen, uns einmal ohne zeitliche Beschränkung zu
treffen, und verabredeten eine Vorfeier seines 50. Geburtstags
zu zweit. Das Gespräch fand in jener kleinen Villa am See statt,
in der ich schon andere wichtige Begegnungen hatte, die keine
Zeugen vertrugen. Es war ein herrlich sonniger Tag, den wir
beide nie vergessen sollten. Wir saßen auf der von fremden
Blicken abgeschirmten Veranda und tranken eisgekühlten Sekt.
Das war ganz nach »Freddys« Geschmack.
Statt die SED zu kritisieren, ging er nun mit der SPD ins
Gericht. Er nannte den sozialdemokratischen Parteivorsitzenden
Erich Ollenhauer einen Mann ohne Rückgrat, der sich von der
Rechten einwickeln lasse. Am bissigsten waren seine
Kommentare zu Willy Brandt. Er schien voller Verachtung für
den Mann, den er für einen Renegaten hielt, weil dieser seiner
Ansicht nach von einer radikal linken Position während der
Emigration zum rechten Flügel seiner Partei gewechselt war.
Wir waren uns in dieser Beurteilung damals ziemlich einig.
Wir kamen überein, nicht nur an die Reformierbarkeit des
sozialistischen Systems zu glauben, sondern gemeinsam auch
mit nachrichtendienstlichen Mitteln gegen die Aufrüstung der
BRD und die Unterstützung dieses Kurses durch die SPD zu
kämpfen. Ich glaube, daß ich durch meinen persönlichen Einsatz
eine wichtige Quelle für uns erhalten habe. Die
nachrichtend ienstliche Beziehung entwickelte sich zur
Freundschaft, die auch mir viel gab. Die ungewöhnliche Praxis,
-173-
daß ein Geheimdienstchef selber Quellen führt, hat sich für mich
nicht nur in diesem Fall ausgezahlt.
Die Einstellung »Freddys« zu Willy Brandt sollte sich
übrigens bald ändern. Nicht ohne Stolz zeigte er mir später einen
handschriftlichen Brief des Parteivorsitzenden Brandt an ihn,
der belegte, wie vertrauensvoll die beiden zusammenarbeiteten.
An jenem Tag in der Villa am See gingen die reichlichen
Sektvorräte irgendwann aus. Wir wechselten zu Bier, und
obgleich ich von meinen russischen Freunden gestählt war, hatte
ich Mühe, mit »Freddys« Trinktempo Schritt zu halten.
Zum Glück hatte ich den Mitarbeiter, der mit der praktischen
Durchführung des Treffens betraut war, angewiesen, keinen
Alkohol anzurühren. Kurz vor Mitternacht fuhr er uns in die
Stadt zurück. Ich ließ den Wagen in einiger Entfernung vom
Grenzübergang halten. Wir schwankten durch den Treptower
Park und waren schon in Hörweite der Grenzposten, als
»Freddy« aus vollem Halse zu singen begann. Erst: »Wenn wir
schreiten Seit' an Seit'« und dann die »Internationale«. Ich
wurde schlagartig wieder nüchtern und herrschte ihn wenig
freundschaftlich an: »Halt die Klappe!«
Ich mußte ihn zu einem anderen Übergang bringen. Ich
versuchte, ihm einzuschärfen, den Kopf einzuziehen und kein
unnötiges Wort bei der Kontrolle zu sagen. Mit klopfendem
Herzen sah ich, wie er auf den Posten zuschwankte. Er drehte
sich noch einmal um, fuchtelte mit den Armen in meine
Richtung und rief: »Wir trinken noch tausend Tassen
zusammen, du und ich!«
Ich befürchtete, daß die Polizisten auf der Westseite die lokale
Politgröße erkennen würden. Für die Springer-Presse wäre das
ein gefundenes Fressen gewesen: SPD-Politiker sturzbetrunken
im Osten. Mit gespannter Sorge blätterte ich in den folgenden
Tagen die West-Berliner Zeitungen durch. Die Geschichte
wurde nicht publik.

-174-
So war »Freddy«: eine imposante Erscheinung, lebensfroh,
abenteuerlustig, arbeitswütig, oft auch sehr ernst und immer
politisch engagiert. Er zog die personalpolitischen Fäden in der
West-Berliner SPD und wurde Bundestagsabgeordneter. Auch
in der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit behielt er seinen
eigenen Kopf. Er informierte mich, wenn er es für richtig und
wichtig hielt; über ihn erfuhr ich von den wirklichen Intentionen
Brandts; er analysierte die Konflikte und Machtverhältnisse
innerhalb der SPD. Er war eine Quelle von unschätzbarem Wert,
die ganz wesentlich dazu beitrug, das Verhältnis der SED-
Führung zu den Sozialdemokraten zu versachlichen. So hatte
»Freddy« auch seine Verdienste beim Zustandekommen der
zunächst meist noch geheimen Kontakte unserer Seite zum
West-Berliner Senat.
Viel Gelegenheit, die tausend Gläser zusammen zu leeren,
hatten wir allerdings nicht mehr. Es war auch ohne Gelage
riskant für ihn, zu unseren Treffen in den Osten zu kommen.
Nach dem Mauerbau mit all seinen Konsequenzen trafen wir uns
auf der Transitstrecke, wenn »Freddy« zum Bonner Bundestag
fuhr. Diese Lösung erforderte allerdings minutiöse und operativ
komplexe Planung.
Die Zeit der Ein- und Ausfahrt auf der Transitautobahn wurde
von den Grenzwächtern beider Seiten festgehalten. Da die
Höchstgeschwindigkeit von hundert Stundenkilometern
vorgeschrieben war, ließ sich unschwer errechnen, wieviel Zeit
ein Wagen für die Strecke brauchte. Eine längere Unterbrechung
der Fahrt war also nicht möglich, ohne daß man sich verdächtig
gemacht hätte. Polizei und Abwehr kontrollierten die Strecke;
Raststätten, Parkplätze und unübersichtliche Teile der Route
wurden von Kameras überwacht, denn die Transitstrecke war für
westliche Agenten, Fluchthelfergruppen oder Geschäftemacher
ein beliebtes Aktionsfeld.
Wie auch in anderen Fällen wollte ich die Abwehr möglichst
nicht von meinen Treffen informieren, um die Identität meiner

-175-
Quellen zu schützen. Ganz nebenbei war für mich ein bißchen
Abenteuer eine erfrischende Abwechslung in der Routine und
bot die Möglichkeit, einmal so zu agieren, wie man sich
gemeinhin die Arbeit eines Spions vorstellt. Außerdem war die
Sache auch nach »Freddys« Geschmack.
Das erstemal stieg ich am späten Nachmittag in einen
dunkelblauen Mercedes mit Kölner Kennzeichen. Ich war
getarnt im Tuch des westdeutschen Geschäftsmannes, mit
falschen BRD-Papieren und Westzigaretten. Mein Fahrer war
entsprechend ausstaffiert. Wir fuhren auf die Transitautobahn.
Ich wußte, daß »Freddy« etwas später in West-Berlin startete.
Wie hielten an der ersten Tankstelle, tranken unter den
Überwachungskameras eine Tasse Kaffee und vertraten uns an
einer Stelle des Parkplatzes die Beine, von der aus wir die
passierenden Autos im Blick hatten. Das Warten wurde
kurzweilig. Nachdem ich einigen ostdeutschen Lkw-Fahrern
meine Westzigaretten angeboten und mich als Fabrikant aus
dem Ruhrgebiet vorgestellt hatte, wurden sie redselig. Sie zogen
über die ostdeutschen Bonzen her. Einer meinte: »Diese
Apparatschiks bei uns leben wahrscheinlich genauso gut wie ihr.
Der Unterschied ist nur: Ihr schafft was, und die bringen nichts
zustande.« Solche seltenen Begegnungen mit der Wirklichkeit
im real existierenden Sozialismus waren aufschlußreicher als die
Berichte von Mielkes Spähern. Hätten die guten Lkw-Fahrer
gewußt, daß sie gerade mit einem dieser Bonzen redeten, wäre
ihnen wohl vor Schreck die Westzigarette aus der Hand
gefallen.
Als »Freddys« Auto uns bei einbrechender Dunkelheit
passierte, mußten wir uns abrupt verabschieden. Wir folgten
dem Wagen mit verboten hoher Geschwindigkeit. Alles war fast
auf die Sekunde geplant. Wir überholten »Freddy« kurz vor
einer der Abfahrten, die für Polizei und Forstfahrzeuge
reserviert waren. Beide Autos bogen mit ausgeschalteten
Scheinwerfern ab und hielten hinter der nächsten Wegbiegung.

-176-
Ich rutschte auf den Fahrersitz. »Freddy« schob sich, so schnell
es sein Bauch erlaubte, neben mich. Mein Fahrer saß da schon
am Steuer von »Freddys« Wagen. Es dauerte nur Sekunden, bis
wir wieder auf der Autobahn waren.
Wir waren glücklich wie nach einem gelungenen Streich.
»Freddy« stöhnte: »Das ist doch mal was anderes als die ewige
Politik.« Er überreichte mir Material und erklärte mir die
aktuelle Situation in der SPD und Willy Brandts jüngste
Schachzüge. Ich gab ihm neue Instruktionen. Dann hatten wir
noch genügend Zeit zum Diskutieren und Philosophieren, über
Politik und das Leben an und für sich. Nur der kalte Sekt fehlte.
Kurz vor der Grenze wiederholten wir dann das Manöver des
Autotauschs.
So trafen wir uns etliche Male. Das Problem war nur, daß
offenbar auch westliche Dienste und Fluchthelfer mit dieser
Methode unsere Abwehr narrten, die wiederum reagierte, so daß
die Überwachung der Waldwege an der Autobahn allmählich
immer lückenloser wurde. Es blieb uns nichts anderes übrig, als
die Umstände unserer Treffen immer wieder zu variieren und
immer vorsichtiger zu werden. Nicht ohne Stolz kann ich
verraten, daß wir dabei so routiniert wurden, daß uns die eigene
Abwehr dabei im Verlauf der Jahre kein einziges Mal auf die
Schliche kam.
Ende der 60er Jahre, wenige Tage nach einem Treffen,
versagte »Freddys« Herz – viel zu früh. Sein intensives Leben,
die harte Arbeit, die psychische Doppelbelastung als SPD-
Politiker und HVA-Kundschafter, die Leidenschaft für Politik,
Essen und Trinken hatten ihren Tribut gefordert.
Eine der Belastungen, die »Freddy« zu schaffen gemacht
hatten, war die Angst, seine junge Frau könne von seiner
Tätigkeit für uns erfahren. Er hatte immer gemeint, sie würde
seine Motive nicht verstehen. Ich stand nun vor der schwierigen
Entscheidung, die Witwe im Unwissen zu lassen oder ihr die
Pension zu zahlen, auf die Hinterbliebene unserer Quellen
-177-
Anspruch hatten. Ich schickte einen Mitarbeiter zu »Freddys«
Frau, der ihr behutsam erklärte, warum wir ihr Geld schuldeten.
Sie schien nicht wirklich überrascht. »Freddy« hatte sie zwar nie
eingeweiht, aber geahnt hatte sie immer etwas. Für mich war das
ein neuer Beleg dafür, daß Frauen meist mehr über ihre
Ehemänner wissen, als diese glauben.

Fritz Erler 1966

Heinz Kühn 1982

In der Bundesrepublik war es nach der Wende üblich, alle


-178-
Westdeutschen, zu denen wir intensivere Verbindungen hatten,
als »Landesverräter« und »Agenten« abzuqualifizieren. Mit der
Wirklichkeit hat dieses Pauschalurteil nichts zu tun. Zu
unterschiedlich waren die Kontakte und ihre Motive. Unter
unseren westdeutschen Partnern waren Idealisten wie
Pragmatiker und auch vo rnehmlich materiell Interessierte. Es
gab rein politische Kontakte, neudeutsch back channels genannt,
die dem Informationsaustausch und oft auch der Vorbereitung
offizieller Verhandlungen dienten. In einigen Fällen konnten
solche Beziehungen auch nachrichtendienstlich interessant
werden. Es gab Partner, die uns gelegentlich bewußt Interna
anvertrauten, und zwar aus den unterschiedlichsten Gründen,
und es gab jene, die sich an unseren Dienst banden.
Vertrauliche politische Kontakte meines Dienstes gab es zum
Beispiel zu zwei der einflußreichsten sozialdemokratischen
Politikern der Nachkriegszeit, Fritz Erler und Heinz Kühn. Erler
war Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag und
stellvertretender Parteivorsitzender, Kühn war Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen. Beide kamen aus linken
Gruppierungen der Sozialdemokratie, die vor und während der
NS-Herrschaft in Opposition zur SPD-Führung gestanden
hatten. Unabhängig voneinander hielten sie Kontakte zu
Mitkämpfern des antifaschistischen Widerstands aufrecht, die
nun in der DDR lebten. Natürlich war ihnen klar, daß die
regelmäßigen Besuche der alten Freunde mit Billigung einer
offiziellen Institution in der DDR stattfanden. Sie wußten, was
Konspiration war, und nutzten diesen Kanal bewußt.
Die gemeinsame Erfahrung des Widerstands und die Sorge
um die weltpolitische Lage bestimmten den Charakter der
Kontakte. Weder Erler noch Kühn hielten mit ihrer Kritik am
System der DDR zurück; andererseits sahen sie auch die
Entwicklung im Westen mit einiger Skepsis, und sie hielten es
für ihre moralische Pflicht, uns über innen- und außenpolitische
Tendenzen, die ihnen gefährlich erschienen, zu informieren.

-179-
Ein alter Freund Erlers, der fest in unsere
nachrichtendienstliche Arbeit eingebunden war, hielt den
Kontakt zum Fraktionsvorsitzenden und machte meine
Mitarbeiter mit den Problemen vertraut, die ehemals linke
Sozialdemokraten mit ihrer Einbindung in das reformistische
Partei-Establishment hatten. Gerade diese Probleme machten sie
ansprechbar für uns.
Erler war vom SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher dazu
bestimmt worden, als Wehrexperte der Partei zu fungieren. Es
hieß, Schumacher habe damit den Linken von der
innerparteilichen Diskussion fernhalten wollen. Erler mußte sich
nun um ein gutes Verhältnis zu den ehemaligen Offizieren der
Hitler-Wehrmacht bemühen. Das war natürlich nicht einfach für
ihn, aber für uns war es von großem Nutzen. Seine Analysen der
Vorgänge innerhalb der Nato oder seine Hinweise auf die Pläne
der »Falken« in Washington brachten uns wichtige
Erkenntnisse. Auch seine Einschätzung der innenpolitischen
Situation half uns bei der richtigen Bewertung der
Entwicklungen in Westdeutschland.
Der frühe Tod Fritz Erlers hinterließ eine spürbare Lücke.
Seine scharfsichtige Beurteilung der Dinge fehlte uns sehr, als
sich die Stationierung neuer Kernwaffenträger in Europa
abzeichnte und die politischen Absichten Washingtons immer
schwerer zu deuten waren.
Die Beziehungen zu Erler und Kühn beschränkten sich auf die
Ebene politischer Kontakte. Die beiden Sozialdemokraten
verfolgten politische Ziele mit ihren Informationen, sie wollten
gefährlichen Entwicklungen entgegentreten und uns zudem mit
ihrer sozialdemokratischen Sicht der Dinge beeinflussen. Nicht
in allen Fällen lassen sich Kriterien, Motive und Ausmaß einer
Zusammenarbeit so eindeutig bestimmen.
Ein Beleg dafür ist der Fall Wienand. Der SPD-Politiker Karl
Wienand wurde von uns zunächst nur durch einen Agenten
abgeschöpft. Er unterhielt geschäftliche und persönliche
-180-
Beziehungen zu dem Ost-West-Händler Horst Bosse, der unter
dem Decknamen Jäger unser Informant war. Wienand war
gegenüber dem Geschäftsfreund sehr freigebig mit
Informationen, obwohl er von dessen vielfältigen Beziehungen
in die DDR wußte.
Als Bosse auf einer seiner Reisen in die DDR bei einem
Verkehr sunfall ums Leben kam, drohte der Kontakt zu Wienand
abzureißen. Aufgrund des Persönlichkeitsprofils, das wir von
Wienand erarbeiteten, schien es uns erfolgversprechend, ihn
direkt anzusprechen. Das übernahm einer unserer Mitarbeiter,
der Wirtschaftsexperte Alfred Völkel – Deckname Krüger -, der
Wienand aus dem Kreis um Bosse bekannt war und der seine
Qualifikation schon in anderen Operationen bewiesen hatte.
Unser Mann gab sich wie üblich als Mitarbeiter des DDR-
Ministerrats aus.
Wienand reagierte aufgeschlossen. Er bekam den Decknamen
Streit. Im Lauf des Jahres 1970 gelang es Völkel, die
Verbindung auf eine feste Grundlage zu bringen. Die beiden
trafen sich regelmäßig, und ihre Zusammenarbeit war so
erfolgversprechend, daß wir Völkel ganz für diese Aufgabe
freistellten.
Fast zwanzig Jahre, bis zur Wende, blieb er hauptberuflich
Wienand-Besucher.
Karl Wienand war 1970 Geschäftsführer der Bonner SPD-
Fraktion und galt als der einzige Vertraute Wehners. Niemand
war so umfassend über die Bonner SPD-Interna informiert wie
er. Mit dieser zusätzlichen Quelle hatte ich von da an einen
beneidenswerten Einblick in die unterschiedlichen
Vorstellungen, Absichten und Grabenkämpfe innerhalb der
SPD-Troika Brandt-Wehner-Schmidt.
Ob Herbert Wehner von dem Kontakt seines engs ten
Mitarbeiters zu Völkel wußte, ob Wienand sogar im Auftrag des
»Onkels« mit uns kooperierte, weiß ich nicht. Da Wienand im

-181-
Geruch außergewöhnlicher materieller Interessiertheit stand,
wagten wir es, die direkte Werbung ins Auge zu fassen. Nun
war uns aber zugetragen worden, daß das Objekt unserer
Werbung nicht nur gute Geschäfte schätze, sondern eine noch
größere Leidenschaft für die Jagd hege. Statt die Unterschrift
unter eine Verpflichtungserklärung zu verlangen, was wir in
solchen Fällen ohnehin selten taten, wollten wir Wienand über
Völkel zur gemeinsamen Pirsch mit mir auf Mufflons einladen,
da die seltenen Wildschafe ihm offenbar noch in seiner
Trophäensammlung fehlten.
Karl Wienand wies die Einladung nicht zurück, einer
konkreten Verabredung aber wich er immer aus. Ich bin ihm
deshalb nie persönlich begegnet. Er war ein vorsichtiger Mann.
Nur ein einziges Mal kam er zu Gesprächen in eines unserer
Berliner Objekte, sonst traf Völkel ihn immer im Ausland.
Als Folge verschiedener Affären mußte Wienand alle Bonner
Ämter aufgeben, blieb aber ein geschätzter Berater führender
Sozialdemokraten und pflegte seine engen Beziehungen
insbesondere zu Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Nach der
Verhaftung Guillaumes waren wir in großer Sorge vor einer
Entdeckung der Wienand-Verbindung, Wir wollten nicht Anlaß
zu einem weiteren Kanzlersturz geben. Es wurde deshalb
erwogen, die Kontakte zeitweise ruhen zu lassen.
Mit einigem Unbehagen genehmigte ich eine Reise Völkels
an den Gardasee zu Wienand, der die Verbindung
aufrechterhalten wollte. Völkel berichtete hinterher, Wienand
habe in einem langen, persönlichen Gespräch seine politische
Nähe zu uns bekannt.
Die beiden setzten ihre regelmäßigen Treffen unter noch
größeren Vorsichtsmaßnahmen fort. Die Kontakte wurden nur
einmal für etwas mehr als ein Jahr unterbrochen, als wir
erfuhren, daß der KGB allem Anschein nach mit Wienand ins
Geschäft zu kommen versuchte. Es ist immer mißlich, wenn
zwei Dienste, auch wenn sie befreundet sind, sich um dieselbe
-182-
Quelle kümmern. Ich konnte schließlich die sowjetischen
Kollegen mit energischen Argumenten davon abbringen, sich an
Wienand heranzumachen. Der KGB zog sich von »Streit«
zurück.

Karl Wienand und Herbert Wehner 1973

Karl Wienand (rechts) und Alfred Völkel bei Wienands


Prozeß 1996

-183-
Die Verbindung zu Wienand gehörte über die Jahre zu
unseren kostspieligsten Unternehmungen, wenngleich sie unsere
hochgesteckten Erwartungen am Ende nicht erfüllt hat. Wienand
war auf keine Rolle festzunageln und blieb schwer zu
kontrollieren. So erfuhr ich, daß er an einem Projekt beteiligt
war, das der DDR dringend benötigte Kredite bringen sollte,
dem sogenannten Züricher Modell. Geplant war Anfang der
80er Jahre, mit Unterstützung Bonns und unter DDR-
Beteiligung eine Bank in der Schweiz zu gründen, über die
Devisen vom internationalen Kapitalmarkt in die DDR fließen
sollten. Wienand erhoffte sich für seine Mitwirkung nicht nur
Provisionen, sondern auch den Posten eines Bankdirektors.
Eingeweiht in das Projekt war auch der Kohl-Vertraute Philipp
Jenninger, ein alter Freund Wienands.
Das Unternehmen lief hinter unserem Rücken ab, und zwar
ausschließlich über die Schiene Schalck-Mielke; mein Minister
hatte mich nicht informiert. Als ich Mielke zur Rede stellte, tat
er die ganze Sache als »Hirngespinst« ab und meinte, ich sei
einer Desinformation aufgesessen. Tatsächlich hatte ich jedoch
aus der Umgebung von Kohl und Jenninger sowie durch die
Verbindung zu Wienand Entsprechendes in Erfahrung gebracht.
Eines der Motive für die Geheimniskrämerei Mielkes war,
daß er die Meriten als Retter der DDR vor dem Bankrott nur mit
Schalck teilen wollte. Ein anderer Grund war, daß weder die
meisten Mitglieder des Politbüros noch die Führung in Moskau
offiziell in diese Verhandlungen eingeweiht waren, obwohl es
dabei auch um wichtige politische Zugeständnisse unserer Seite
ging. Die Sowjets, informiert von den eigenen Quellen,
mißtrauten dieser unkontrollierten und undurchsichtigen
Kungelei, bei der sich private mit politischen Interessen
mischten. Die Verhandlungen um das Züricher Modell
scheiterten. Der bitter benötigte Devisensegen sollte sich aber
dennoch einstellen. Die von Schalck über seine Verbindung zu

-184-
Franz Josef Strauß eingefädelten Verhandlungen über einen
weiteren Milliardenkredit wurden mit dem Beauftragten Helmut
Kohls fortgesetzt. Wienand ging dabei leer aus.
Karl Wienand war nicht der einzige, der seine politische
Mission mit dem Geschäft zu verbinden suchte. Franz Josef
Strauß rechnete in größeren Summen. Ich erinnere mich, daß die
sowjetischen Kollege n zur Zeit der sozialliberalen Koalition um
ein Persönlichkeitsprofil des CSU-Politikers baten. In Moskau
hielt man ihn damals für einen radikal rechten ideologischen
Dogmatiker. Ich berichtete ihnen, Strauß sei zwar der
Repräsentant des militärischindustriellen Komplexes in der
BRD, aber kein ideologisch verbohrter Antikommunist, sondern
eher jemand, der Geschäfte macht – politische wie persönliche -,
wo sie sich anbieten.
Für uns war Strauß seit den 50er Jahren kein Unbekannter
mehr. Schon Josef Müller und Fritz Schäffer hatten uns den
jungen Strauß als »klugen und flexiblen Kopf« beschrieben, der
sicherlich bereit sei, mit uns zu reden. Als Strauß Atomminister
wurde, ging die Initiative zu Kontakten von ihm aus. Er ließ sie
ruhen, als er Verteidigungsminister wurde, und nahm sie nach
der Entlassung aus dem Amt wieder auf. Der bayerische
Politiker versuchte in der Tradition seiner Vorgänger Müller und
Schäffer, auf eigene Faust in der Deutschlandpolitik
mitzumischen. Eines seiner Interessengebiete war dabei der
innerdeutsche Handel.
Eine wichtige Verbindung zu Strauß lief folglich über einen
der wenigen privaten Außenhändler in der DDR. Das war Simon
Goldenberg, der in Zusammenarbeit mit der HVA seine
Außenhandelsfirma betrieb. Einer der Handelspartner
Goldenbergs war der Großschlachter März, Geschäftsfreund,
Jagdgenosse und Intimus von Franz Josef Strauß. Dieser
Verbindung verdankten die DDR-Bürger, daß Steaks und andere
gute Stücke vom Rind Mangelware blieben in der DDR. Das
Qualitätsfleisch ging zu Dumpingpreisen an den Strauß-Freund

-185-
März.
Für die Zusammenarbeit mit privaten Außenhändlern wie
Goldenberg war mein Stellvertreter Hans Fruck zuständig. Er
hatte dafür zu sorgen, daß sie einen Teil ihrer Gewinne an die
SED abführten und sich auch nachrichtendienstlich nützlich
machten.
Da wir bei der Devisenbeschaffung durch private Händler
mehr staatliche Ordnung wünschenswert fanden, wurde Mitte
der 60er Jahre begonnen, die Außenhandelsaktivitäten straffer
zu koordinieren, Fruck schlug für diese Aufgabe Alexander
Schalck-Golodkowski vor, Parteisekretär im Ministerium für
Innerdeutschen- und Außenhandel. Schalck baute in den
nächsten Jahren eine eigene Handelsorganisation auf, die
Kommerzielle Koordinierung (KoKo), arbeitete aber weiter mit
den privaten Außenhändlern zusammen. Über Goldenberg stieg
er auch in die Strauß-Verbindung ein.
Schalcks Bereich wurde schließlich weitgehend von der HVA
abgekoppelt und direkt dem Minister unterstellt. Wie
Rechtsanwalt Vogel durfte Schalck allein Mielke berichten. Daß
Mielke zwei so wichtige Männer selber führte, schmeichelte
nicht nur seinem Geltungsbedürfnis, sondern erhöhte auch sein
politisches Gewicht bei Honecker. Zudem hoffte er, daß die
Informationen, an die er so gelangte, die Rolle meines Dienstes
bei den Sowjets schmälern würden.
Ich wurde über Schalcks Aktivitäten von Mielke nur noch
informiert, wenn es um außenpolitisch besonders relevante
Erkenntnisse ging. Solche Erkenntnisse brachte der Strauß-
Kontakt. Mit nicht geringem Erstaunen las ich in den Schalck-
Berichten, wie locker Strauß gegenüber seinem DDR-Partner
politische und militärische Interna der BRD und des westlichen
Bündnisses ausplauderte.

-186-
Franz Josef Strauß (links) und Alexander Schalck-
Golodkowski auf der Leipziger Herbstmesse
Ich habe Alexander Schalck-Golodkowski als einen
intelligenten, sehr amüsanten, aber auch eiskalten Mann erlebt,
dem es nur noch verbal um Ideologisches und tatsächlich weit
mehr um sein Ansehen bei der Führung und ums Geschäft ging.
Ähnlichen Pragmatismus hatte ich schon bei Strauß konstatiert.
Es war also nicht weiter verwunderlich, daß die beiden sich
verstanden. Wie auch in anderen Fällen war aus einer
konspirativen Verbindung eine Männerfreundschaft geworden.
Ich hatte wenig persönlichen Kontakt zu Schalck. Der Zufall
wollte es, daß Schalck und ich nach den ersten drei
Geheimtreffen zwischen ihm und Strauß zur selben Zeit Urlaub
in Bulgarien machten. Ein Foto, das uns beim Fischessen in
Varna zeigt, suggeriert ein vertrauliches Verhältnis zwischen
uns, doch das Bild täuscht. Selbst an der Bar hielt sich der
Devisenbeschaffer streng an die Weisung, nur Mielke über seine
Aktivitäten zu berichten.
Bei der Beobachtung der geheimen Kontakte zwischen Strauß
und Schalck war ich bisweilen auf den Augenschein
angewiesen. Etwa einen Monat nach unserer Urlaubsbegegnung

-187-
überholte mich auf dem Weg nach Dresden ein Konvoi von
Nobelkarossen mit Münchner Kennzeichen, dazwischen ein
Volvo. Schalck und Strauß kamen von einem Ausflug aus der
Schorfheide, wo sie in Honeckers Revier gejagt hatten. In Erfurt
stieß ich wenig später wieder auf die Spuren von Strauß. Ich
fand einen verwirrten Parteisekretär vor, der ohne Vorwarnung
und Erklärung in seiner Stadt mitbekommen hatte, wie der
oberste westdeutsche »Kriegstreiber« mit Huldigungen und
Geschenken überhäuft wurde, bevor er sein Flugzeug zurück in
die Bundesrepublik steuerte. Der Parteisekretär hatte nun große
Probleme, dieses Phänomen seinen Mitarbeitern zu erklären. Ich
konnte ihm auch nicht helfen.
Einmal im Jahr traf ich Schalck, um die Aufgaben zu
koordinieren. Es ging dabei um die Führung der von der HVA
genutzten Firmen und um Devisen, die Schalck für die Arbeit
meines Dienstes zur Verfügung stellte. Die Strauß-Verbindung
durfte dabei nie erwähnt werden. Sie war auch bei allen anderen
Kontakten zwischen HVA und KoKo ein Tabu.
Folglich war die Meldung, daß die DDR auf Vermittlung von
Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit bekam, eine
Überraschung für mich. Die Verhandlungen mit Schalck waren
so diskret geführt worden, daß unsere Quellen in Bonn nichts
erfahren hatten. Auch ich kann die Frage nicht beantworten,
warum ausgerechnet der bayerische Ministerpräsident die DDR
vor der Zahlungsunfähigkeit bewahren wollte. Die Hintergründe
des Handels blieben Mielkes und Schalcks Geheimnis.
Ende der 70er Jahre war ich noch einmal mit einem Problem
der Strauß-Verbindung befaßt. Der Initiator des Kontakts,
Simon Goldenberg, meldete sich von einer Geschäftsreise ins
westliche Ausland. Er war erkrankt, lag in einem Wiener
Hospital und erklärte, daß er nicht in die DDR zurückkehren
werde.
Die Erklärung für diesen Schritt lag nahe. Die Abwehr hatte
Goldenberg seit langem im Visier und wollte ihn verhaften
-188-
lassen, denn manche seiner Geschäfte waren selbst bei
großzügigster Auslegung auch mit DDR-Recht unvereinbar. Da
Schalck die wichtigsten seiner Verbindungen übernommen
hatte, war Goldenberg auch nicht mehr unentbehrlich.
Andererseits war es ohne Beispiel, daß sich ein nicht ganz
unbedeutender inoffizieller Mitarbeiter des MfS einfach
fernmündlich aus der DDR abmeldete – und das, als wäre nichts
weiter dabei. Er verlangte noch, daß seiner Frau die Ausreise in
den Westen gestattet würde und daß er sein luxuriöses Anwesen
in Berlin verkaufen könne. Seltsam war es dann, daß Mielke, der
sonst jedem Fahnenflüchtigen Tod und Teufel an den Hals
wünschte, von Fruck nicht lange dazu überredet werden mußte,
Goldenbergs Wünschen nachzugeben.
Goldenbergs Ansinnen wunderte mich auch deshalb, weil wir
wußten, daß in der Bundesrepublik ein Haftbefehl gegen ihn
vorlag. Dort war nicht nur seine Verbindung zum MfS bekannt
geworden, ihm wurde auch die Beteiligung an einer Entführung
vorgeworfen. Um so erstaunlicher war es, daß wir ihn wenig
später in Bayern orteten, wo er unbehelligt seinen Lebensabend
genoß. Es muß eine starke Hand gewesen sein, die ihn vor dem
Verfassungsschutz und der bundesdeutschen Justiz schützte.
Die Geschichte der Strauß-Verbindungen zeigt beispielhaft,
wie komplex die Problematik der geheimen deutschdeutschen
Kontakte ist und wie selektiv diese Kontakte nach der Wende
verurteilt oder gar kriminalisiert wurden. Was konservativen
Politikern als gesamtdeutsche Politik nachgesehen wird, rückt
Sozialdemokraten in die Nähe des Landesverrats. Mitarbeiter
und Kontaktpersonen von uns, die auf der politischen Rechten
und der Industrie umfangreiches internes Wissen sammelten,
konnten im allgemeinen auf eine sehr diskrete und gnädige
Behandlung durch die Bundesanwaltschaft rechnen oder wurden
erst gar nicht verfolgt.

-189-
8 Herbert Wehner

Herbert Wehner blieb für mich immer ein Mensch


unauflösbarer Widersprüche. In all den Jahren, die ich mich mit
dieser herausragenden Figur der deutschen
Nachkriegsgeschichte beschäftigte, wurden stets nur einige
Konturen des Mannes deutlicher. Das heute verbreitete, schon
legendäre Bild vom »politischen Urgestein«, Demokraten und
Patrioten, dem die Stasi zeitweilig nach dem Leben trachtete,
wird gewiß von der historischen Forschung zu differenzieren
sein. Ohne Kenntnis von Wehners Einstellung gegenüber der
DDR und seinen intensiven geheimen Kontakten zum
realsozialistischen deutschen Staat sind manche verschlungenen
Wege der Deutschlandpolitik kaum nachzuvollziehen.
Die Hintergründe sind selbstverständlich nicht nur mir
bekannt. In den Panzerschränken Honeckers und Mielkes
befanden sich die Wehner-Dossiers. Dazu gehörten die
Protokolle über seine Treffen mit Abgesandten der DDR,
insbesondere die Niederschriften der Gespräche, die
Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Vogel über fast eineinhalb
Jahrzehnte hinweg mit Wehner führte.
Die Akten aus diesen Panzerschränken wurden bekanntlich
während der Wendewirren nach Westdeutschland gebracht.
Warum sie bis heute weder der Öffentlichkeit noch – allem
Anschein nach – den mit der Person Wehner befaßten
Historikern zugänglich gemacht wurden, darüber kann man nur
spekulieren.
Die Protokolle der Wehner-Kontakte waren so geheim, daß
von den jeweiligen von Mielke redigierten Berichten Vogels nur
drei Exemplare angefertigt wurden, von denen eines an
Honecker, eines an Mielke und eines an mich ging. Diese
Unterlagen standen mir bei Abfassen des Buches zur Verfügung.
Nach Lage der Dinge sehe ich keinen Anlaß, Dinge zu

-190-
verschweigen, deren Kenntnis zum Verständnis der
deutschdeutschen Vergangenheit beitragen kann.
Herbert Wehners Bruch mit der Vergangenheit war nicht so
konsequent und endgültig, wie es der Öffentlichkeit erscheinen
mag. Nach seinem Ausschluß aus der KPD 1942 hat er die
Verbindung zu seinen ehemaligen Genossen nie ganz
abgebrochen. Ein Kontakt von ihm zur DDR war schon
installiert, als ich 1951 zur Aufklärung kam. Eingefädelt hatte
ihn Kurt Vieweg, damals ZK-Sekretär für Landwirtschaft,
verantwortlich aber auch für konspirative Westkontakte mit
Hilfe seines Gesamtdeutschen Arbeitskreises Land- und
Forstwirtschaft (GAK). Vieweg kannte Wehner aus der
skandinavischen Emigration. Auf den Rat unseres sowjetischen
Beraters Grauer und nach Rücksprache mit Ulbricht nahm mein
Dienst im November 1951 Kontakt zu Vieweg auf, und seitdem
kontrollierten wir seine Westverbindungen. Als
Verbindungsmann fungierte der Journalist Ernst Hansch, später
inoffizieller Mitarbeiter der HVA und Chefredakteur der Ost-
Berliner BZ am Abend.
Die Treffen mit Hansch waren für Wehner ein Risiko, denn er
stand bei der Rechten in der Bundesrepublik im Verdacht, ein
heimlicher Kommunist und »Ostagent« zu sein. Wir mußten
davon ausgehen, daß die Kontakte von westlichen Diensten
beobachtet wurden. Eine Enttarnung der Hansch-Besuche hätte
ihm erheblich geschadet. Wehner waren diese Besuche aber
offenbar das Risiko wert.
Die Informationen von Hansch, Deckname Henkel, über seine
Gespräche mit Wehner paßten schlecht zum Bild des
»Arbeiterverräters«, das wir von ihm hatten, oder zu dem des
antikommunistischen Vorreiters, als der er sich öffentlich
präsentierte.
Die politische Führung der DDR blieb äußerst mißtrauisch
gegenüber seinen vorsichtigen Annährungsversuchen. Für
Walter Ulbricht war er aus unerfindlichen Gründen ein
-191-
»englischer Agent«. Er galt als einer unserer gefährlichsten
Feinde. Seine Akte wurde in der HVA unter dem Decknamen
Wotan geführt.
Einige Verwirrung stiftete eine Eilbotschaft, die uns Wehner,
damals stellvertretender SPD-Vorsitzender, im November 1956
zukommen ließ. Er warnte vor möglichen Unruhen in der
Region Magdeburg und riet uns, öffentliche Proteste in
Grenznähe unter allen Umständen zu verhindern. Zu dieser
Warnung paßte ein uns zugespieltes Memorandum des SPD-
Sicherheitsreferenten Beermann, das sich mit der Möglichkeit
befaßte, im Falle »grenzüberschreitender Unruhen an der
Demarkationslinie« die Bundeswehr einzusetzen. Darin wurde
ausgeführt, daß sich einzelne Gebiete von der DDR lösen, den
Anschluß an die Bundesrepublik proklamieren und danach von
der Bundeswehr besetzt werden könnten.
Dies wiederum stimmte überein mit Erkenntnissen der
Abwehr, daß in und um Magdeburg sozialdemokratische
»Agitatoren« Unzufriedenheit schürten und zum Widerstand
aufriefen. Es gab damals erhebliche
Versorgungsschwierigkeiten, und nach der Niederschlagung des
ungarischen Aufstands und den Enthüllungen Chruschtschows
über den Stalin- Terror war die Stimmung in der DDR insgesamt
angespannt. Die Abwehr vermutete eine gezielte Kampagne,
vom Ostbüro der SPD über V-Leute gesteuert. Da Herbert
Wehner der direkt Verantwortliche für das Ostbüro war, mußte
er also wissen, wovor er warnte.
Ganz offensichtlich gingen ihm die Konsequenzen der
sozialdemokratischen Destabilisierungsversuche in der DDR zu
weit, und er befürchtete, daß im Verteidigungsministerium
allzusehr mit dem Gedanken eines militärischen Einsatzes der
Nato an der deutschdeutschen Grenze geliebäugelt wurde.
Im Rückblick wird am Fall Magdeburg deutlich, was den
SPD-Politiker Wehner mit den Erfahrungen seiner
kommunistischen Vergangenheit offenbar schon damals zum
-192-
»Geheimnisverrat« motivierte: alles zu tun, was in seinen
Kräften stand, damit von deutschem Boden nicht wieder ein
Krieg ausging. In seinen späteren geheimen politischen
Botschaften ließ er wesentlich deutlicher durchblicken, daß er
von rechtskonservativen Politikern in der Bundesrepublik und
vor allem von den »Falken« in der CIA und der US-Führung
befürchtete, daß sie die Welt in die atomare Katastrophe treiben
könnten. Er schien schon damals verläßliche Partner einer
Friedenspolitik im Osten zu suchen.
Eine Erklärung für sein Verhalten fand ich auch in den
Aufzeichnungen über seine Vergangenheit, die er einem Kreis
führender Sozialdemokraten anvertraut hatte. Dieses Bekenntnis
war uns bekannt und bildete für mich gewissermaßen den Prolog
zum Vorgang »Wotan«. Das seltsame Papier war eine Mischung
aus offener Darstellung dunkler Punkte seiner Biographie und
subjektiver Rechtfertigung. Wer es im Wissen um den
Lebensweg Wehners las, erkannte darin den Versuch, sich nach
beiden Seiten von den Sünden der eigenen Vergangenheit
loszukaufen.
Zunächst bemühte er sich im Westen als scheinbar militanter
Antikommunist um politische Vergebung und Anerkennung.
Doch selbst in dieser Zeit unterließ er es nicht, der östlichen
Seite unter der Hand zu signalisieren, daß er nicht der Renegat
und Verräter war, für den wir ihn hielten. Nachdem er in der
Bundesrepublik als führender Sozialdemokrat akzeptiert und
respektiert war, lag ihm nun die Rehabilitierung durch die
ehemaligen Genossen und schließlich die persönliche
Freundschaft zu Erich Honecker besonders am Herzen. Unsere
frühen Kontakte, von Ulbricht und Mielke noch argwöhnisch
beobachtet, bereiteten diesen Weg vor.
Das Magdeburg-Signal dokumentierte schon früh einen
Widerspruch in Wehners Ostpolitik. Während er öffentlich den
Zusammenbruch des kommunistischen Systems voraussagte,
wirkte er insgeheim, um eine DeStabilisierung im

-193-
sozialistischen Lager zu verhindern. Es gibt in den Kontakten zu
uns eine Linie von 1956 bis zu seiner Aufforderung im Jahr
1980, konsequent gegen die polnische Solidarnosc-Opposition
vorzugehen, auch wenn das Gewalt bedeutete.
Solche Zeichen eines zwiespältigen Verhaltens gab es auch
im Fall Kurt Viewegs, des Mannes, der den Kontakt zu Wehner
hergestellt hatte. Vieweg drohte Maßregelung wegen
abweichender Auffassungen in der Landwirtschaftspolitik, und
eine außereheliche Beziehung belastete ihn zusätzlich. Im März
1957 floh er Hals über Kopf in die Bundesrepublik, stellte sich
dort aber nicht den Behörden, sondern suchte bei Herbert
Wehner Zuflucht. Bei uns wurde Großalarm ausgelöst. Der
Altkommunist Vieweg war nicht nur eine politische Größe,
deren Frontwechsel vom Gegner propagandistisch ausgenutzt
werden konnte, als Geheimnisträger wußte er um zahlreiche
konspirative Kontakte und Verbindungen nach Westen, die
unser Apparat von ihm übernommen hatte.
Es drohte, was damals für beide Seiten Waffe im Propaganda-
Krieg war: die medienwirksame Präsentation eines präparierten
Überläufers. Ich bekam den Auftrag, Vieweg in die DDR
zurückzuholen. Die Mittel, mit denen fahnenflüchtigen
Funktionsträgern und Geheimdienstlern nachgestellt wurde,
waren damals nicht zimperlich, doch für mich war Gewalt nie
eine vernünftige Lösung, weil sie meist mehr Schaden anrichtete
als verhinderte. Ich setzte auf die »Wotan-Verbindung« – mit
nicht eben viel Optimismus, aber in der vagen Hoffnung, daß
Wehner schon aus Eigeninteresse möglicherweise Hilfestellung
leisten könnte.
Gemeinsam mit Viewegs zurückgelassener Frau entwarf ich
einen Brief, der von Hansch überbracht wurde. Daß Wehner sich
auch unseren Kopf zerbrach, konnte ich aus seiner ersten
Reaktion ersehen. Über Hansch belehrte er uns, Vieweg sei
unklug und ungerecht behandelt worden. Vor Vertretern des
britischen und des US-Geheimdienstes, die an Gesprächen

-194-
interessiert waren, hatte er Vieweg bereits gewarnt. Und er
zeigte sich überraschenderweise bereit, den Überläufe r zur
Rückkehr zu überreden, wenn wir Straffreiheit garantierten.
Nachdem Ernst Wollweber, damals Minister für
Staatssicherheit, mir diese Zusicherung gegeben hatte, ließ ich
Wehner mitteilen, sein Schutzbefohlener habe in der DDR
nichts zu befürchten. Wehner schien dieser Garantie zu
vertrauen, obwohl er die Unerbittlichkeit des Machtapparates in
solchen Fällen eigentlich kannte. In Wehners Hamburger
Wohnung wurde mit dessen Vertrauten Peter Blachstein das
weitere Prozedere beraten.
Vieweg kehrte am 19. Oktober 1957 freiwillig in die DDR
zurück. Trotz der gegebenen Zusage und gegen meinen Protest
wurde er verhaftet und am 1. Oktober 1959 verurteilt; erst am
17. Dezember 1964 kam er wieder frei. Die »Wotan-
Verbindung« wurde durch den Vertrauensbruch nicht gestört.
Den Vernehmern des Ministeriums für Staatssicherheit
offenbarte Vieweg 1957 Erstaunliches: Wehner habe zwar
Einwände gegen den Staatsaufbau in der DDR und bemängele
das Fehlen jeglicher parlamentarischen Kontrolle, halte aber die
DDR für einen sozia listischen Staat. Er stehe weiterhin auf dem
Boden des Marxismus-Leninismus und betrachte den Sturz des
Kapitalismus in der DDR als einen positiven Impuls für ganz
Deutschland. Erste Bedingung für eine Verständigung zwischen
SED und SPD sei die Beseitigung des gegenseitigen Mißtrauens.
Diese als Botschaft zu verstehende Aussage Viewegs gelangte
schon nicht mehr auf den Schreibtisch Wollwebers, da dessen
Sturz zu jener Zeit bereits vorbereitet wurde.
Das Verhalten Wehners in diesem Fall ist am ehesten so zu
deuten, daß er einerseits Vieweg als Boten für sein Angebot der
Verständigung benötigte und andererseits fürchten mußte, daß
Vieweg in den Verhörmühlen der westdeutschen und
amerikanischen Dienste alles preisgeben konnte, sogar das
Wissen um seinen, Wehners, Kontakt zu Hansch. Vieweg war

-195-
also aus Wehners Sicht in der DDR sicherer aufgehoben.
Obendrein schien es aber auch, als wolle er uns beweisen, daß
wir ihm zu Unrecht mißtrauten.
Ähnlich überraschend verhielt er sich bei einer anderen
Gelegenheit. Einem einflußreichen Bundestagsabgeordneten,
der mit uns zusammenarbeitete, grummelte er im Vorbeigehen
zu: »Paß auf, über dir zieht sich ein Netz zusammen.« Unsere
sofortigen Nachforschungen ergaben, daß die Quelle in das
Fadenkreuz des Verfassungsschutzes geraten war. Wir konnten
sie noch rechtzeitig schützen.
Mein Mißtrauen gegenüber dem janusköpfigen Renegaten
aber blieb trotz solcher Vorkommnisse. Ich fragte mich, wer
denn nun der echte Wehner war. War es der Mann, der die
Linke in der SPD kaltstellte, der mit dem Godesberger
Programm das sozialistische Erbe der Sozialdemokraten
verleugnete, der mit seiner Rede vom 30. Juni 1960 die Partei
zur Akzeptanz von Aufrüstung und bedingungsloser
Westintegration trieb? Und das ohne Abstimmung mit
führenden Sozialdemokraten, zum Beispiel Willy Brandt, wie
wir von unserer Quelle »Freddy« wußten. Oder war der Herbert
Wehner, der sich uns als verläßlicher Partner anbot, ein
zwischen den Systemen Schwankender?
Wir hatten früh erkannt, daß Wehner zum mächtigsten Mann
in der SPD aufstieg und die westdeutsche Politik gegenüber dem
Osten entscheidend beeinflußte. Dementsprechend aufwendig
waren unsere Anstrengungen, ihn unabhängig vom direkten
Kontakt unter Beobachtung zu halten. Schon Anfang der 50er
Jahre warben wir einen seiner wenigen Freunde und politischen
Vertrauten an, den Journalisten Otto W, Deckname Wanger. Er
gab mit unserer Unterstützung einen Pressedienst in Bonn
heraus. »Wanger« arbeitete aus politischer Überzeugung für uns.
Zudem hatte er sein Herz an eine junge DDR-Journalistin
verloren, die uns nahestand. Ob Wehner ahnte, daß sein Freund
für den Nachrichtendienst der DDR arbeitete, weiß ich nicht.

-196-
Auch »Wanger« beschrieb in seinen Berichten einen
doppelgesichtigen Wehner: den antikommunistischen Polterer
vor Publikum und den Nachdenklichen im vertraulichen
Gespräch, der von gemeinsamen Interessen der beiden
deutschen Staaten ausging, der sich um den Frieden und um die
Stabilität der DDR sorgte.
Mein Mißtrauen gegenüber Wehner blieb. Geschürt wurde es
durch das, was ich von Richard Stahlmann erfuhr, der in der
schwedischen Emigration enger Mitarbeiter Wehners gewesen
war. Stahlmann erzählte, wie Wehner in einem seiner
Wutausbrüche die Pfeife zerbiß, als er aus Moskau den Auftrag
bekam, nach Deutschland zu gehen, um dort die illegale Partei
zu führen. Er wußte natürlich, daß das ein
Himmelfahrtskommando war, denn die Organisation der KPD
im Untergrund war von der Gestapo schon zerschlagen. Daß
trotzdem eine zentrale Führung in Deutschland agieren sollte,
war einer der sinnlosen Beschlüsse der Partei, denen Menschen
geopfert wurden.
Um dem zu entgehen, so Stahlmann, habe Wehner seine
Verhaftung durch die schwedische Polizei provoziert. Bei den
Vernehmungen soll er sich nicht nur vom Kommunismus
distanziert, sondern auch Namen von Genossen preisgegeben
haben, die er nach Deutschland geschickt hatte, und das, obwohl
er wußte, daß die schwedische Polizei mit den Nazis
kooperierte. Wir fanden später in Gestapo-Akten Hinweise
darauf, daß Wehners Aussagen in Akten von
Widerstandskämpfern vorkamen, die verhaftet und hingerichtet
worden waren.
Dieser Verrat – als solchen mußte ich es sehen – bewegte
mich persönlich, weil ich Genossen kannte, deren Namen
Wehner im Verhör offenbar genannt hatte, darunter Charlotte
Bischoff, eine bescheidene Frau und eine Heldin des
Widerstands. Sie hatte schon an den Straßenkämpfen während
der Novemberrevolution in Berlin teilgenommen. Auf Wehners

-197-
Befehl war sie ohne irgendwelche Papiere 1941 als Matrose
verkleidet von Schweden nach Deutschland gereist, hatte sich
nach Berlin durchgeschlagen und dort bis Kriegsende in der
Illegalität ausgeharrt. Wie durch ein Wunder war sie der
Gestapo immer wieder entkommen. Die Begegnungen und
Gespräche mit dieser Frau festigten meine Abneigung gegen den
Mann, den ich für einen Verräter halten mußte.

Herbert Wehner auf schwedischem Polizeifoto 1942


Da Wehner nachrichtendienstlich aber von großem Wert war,
arbeitete ich mit gemischten Gefühlen an dem Auftrag, soviel
Belastendes wie möglich gegen ihn zu sammeln. Das Material
war dazu gedacht, ihn in der westdeutschen Öffentlichkeit
bloßzustellen, falls so etwas politisch opportun sein sollte. Der
Leitfaden für den Plan seiner Kompromittierung waren die
Aufzeichnungen, mit denen er sich bei Kurt Schumacher
gerechtfertigt hatte.
Auf Material aus Moskau, dessen Veröffentlichung »Wotan«
wirklich politisch erledigt hätte, wartete ich zehn Jahre. Erst

-198-
1967 wurde es uns vom KGB-Vorsitzenden Wladimir
Semitschastnij überlassen. Es waren die handschriftlichen
Berichte Wehners für das NKWD von Ende 1937, in denen er
viele seiner Mitkämpfer der »trotzkistischen Wühlarbeit«
bezichtigte, wohl wissend, daß ihnen daraufhin Tod oder Gulag
drohen konnte.
In meinem Tagebuch habe ich damals notiert: »Wie würde
Wehner wohl auf eine Erinnerung daran reagieren?« Die
Protokolle habe ich mit Bestürzung gelesen, denn sie
dokumentieren, wie viele Genossen, die Freiheit und Leben für
ihre sozialistischen Ideale eingesetzt hatten, Opfer des
stalinistischen Terrors geworden waren.
Mein Urteil über Wehner habe ich im Verlauf der Jahre
teilweise revidiert. Ich frage mich, ob man richten darf über das,
was ein Mensch in Todesgefahr tut, ohne daß man selbst einer
solchen Situation ausgesetzt war. Denn die Weigerung, mit dem
NKWD zusammenzuarbeiten, hätte Wehner wohl nicht überlebt.
Und in schwedischer Haft drohte ihm 1941 die Auslieferung an
die Gestapo, also Folter und Tod. Schließlich ist es nicht
auszuschließen, daß er zumindest subjektiv der Meinung war,
den Vernehmern nicht mehr verraten zu haben, als sie ohnedies
schon wußten.
Die Versuchung war immer groß für unsere Seite, durch eine
Veröffentlichung der Dossiers die Weichen in der SPD und in
Bonn anders zu stellen. Im Fall Wehner gab es wiederholt
ernsthafte Erwägungen der Führung, das gesammelte Material
gegen ihn zu benutzen. Doch zu einem entsprechenden Beschluß
kam es nicht. Gegen eine solche Entscheidung stand das
Argument, daß mit unserem Wissen die geheimen Kontakte
besser nutzbar waren, zumal sie sich aussichtsreich
entwickelten.
Die Gelegenheit, die konspirativen Beziehungen auf eine höhere
Stufe zu stellen, hatte sich schon 1955 ergeben. Wehner gehörte
damals zur BRD-Delegation auf der ersten Genfer
-199-
Außenministerkonferenz, bei der die Vertreter beider deutscher
Staaten am Katzentisch dabeisein durften. Für westdeutsche
Politiker war es allerdings noch ein Tabu, mit Abgesandten der
»Sowjetzone« zu sprechen. Über unseren Kontakt Hansch hatten
wir bei Wehner eruiert, ob er bereit sei, sich mit einem
Repräsentanten der DDR in Genf zu treffen. Er war es. Zur
DDR-Delegation gehörten auch Angehörige meiner
Hauptverwaltung. Noch nie hatte es die Möglichkeit gegeben,
an so viele führende westdeutsche Politiker direkt
heranzukommen.
Uns gelang es, in Genf unter anderem mit dem FDP-
Generalsekretär Karl- Hermann Flach Gespräche zu führen, der
eine sehr progressive Position in der Deutschlandpolitik vertrat.
Wichtiges Zielobjekt jedoch blieb Wehner. Es war nicht gerade
eine Routineaufgabe, in einer Stadt des westlichen Auslands
einen konspirativen Treff mit einer so bekannten Figur zu
organisieren, zumal zu einer Zeit, in der Journalisten und die
Observateure der verschiedenen Geheimdienste die Szene
kontrollierten.
Wir arrangierten ein Zusammentreffen Wehners mit Wilhelm
Girnus, der offiziell Sekretär des Ausschusses für deutsche
Einheit war. Ich hatte Girnus auf die Begegnung vorbereitet. Für
Wehner war diese Kontaktaufnahme wieder ein großes Risiko;
dem Exkommunisten hätte man im Westen nie verziehen, wenn
bekanntgeworden wäre, daß er sich entgegen allen
parteiübergreifenden Absprachen heimlich mit einem Vertreter
des Ulbricht-Regimes traf. Die Informationen, die er Girnus
freimütig gab, und die Positionen, die er vertrat, waren so wohl
kaum mit der SPD-Führung abgesprochen. Wehner erläuterte
unter anderem seine Vorstellungen von einem Deutschlandplan
der SPD, zu dem damals in seiner Partei erst vorläufige
Überlegungen vorlagen. Am Ende schlug er von sich aus vor,
die Gespräche mit einem Politbüromitglied fortzusetzen. Er
wollte sich mit Professor Albert Norden in West-Berlin treffen.

-200-
Die Zusammenkunft sollte in der Wohnung von Probst Heinrich
Grüber stattfinden.
Über den Minister für Staatssicherheit, Ernst Wollweber,
informierte ich Walter Ulbricht von dem Vorschlag. Der Bericht
kam zurück mit Ulbrichts markantem Vermerk:
»Einverstanden.« Sehr viel kleiner stand darunter: »Nicht mit
Norden, sondern mit Matern. In der Hauptstadt der DDR.« Das
war ein typischer Ulbricht-Schachzug. Er wollte die
Annährungsversuche Wehners nicht brüsk zurückweisen, aber
der immer enger werdende Kontakt zu dem »englischen Spion«
blieb ihm suspekt. Dem Intellektuellen und Westemigranten
Norden wollte er diesen Kontakt nicht anvertrauen. Der
Treffpunkt Ost-Berlin wiederum war für Wehner kaum
akzeptabel, denn er mußte fürchten, sich zu sehr in unsere Hand
zu begeben. Wir wußten, daß er die Begegnung mit ehemaligen
Genossen noch immer scheute. Wie ich erwartet hatte, lehnte er
den Vorschlag ab.
Wie risikoreich die Verbindung zu Wehner für alle
Beteiligten war, wurde nach 1957 deutlich. Ernst Wollweber als
Minister wurde ebenso wie Karl Schirdewan als Mitglied des
Politbüros parteifeindlicher Fraktionstätigkeit beschuldigt und
entlassen. Als gravierendster geheimer Anklagepunkt gegen
beide fungierte der Kontakt zu Wehner. Es nützte Wollweber in
seinem Parteiverfahren nichts, daß Ulbricht alle Berichte über
die Treffs mit Wehner abgezeichnet hatte und daß ich diese
Belege vorweisen konnte. Nur den ebenfalls beschuldigten
Wilhelm Girnus, der sich in Genf mit Wehner getroffen hatte,
rettete am Ende der Nachweis, daß Ulbricht das Treffen gebilligt
hatte.
Auch wenn diese Anschuldigungen nur ein Vorwand waren,
dokumentierten sie doch, wie zwiespältig das Verhältnis der
SED zur SPD in jener Zeit war. Es gab in dieser Frage zwei
unvereinbare Positionen. Für die einen waren alle
Sozialdemokraten ideologische Diversanten, Spalter der

-201-
Arbeiterbewegung und damit die gefährlichsten Feinde. Wehner
galt ihnen als der Chef-Diversant. Die anderen zählten den
linken Flügel der SPD zur Arbeiterbewegung und befürworteten
Kontakte.
Der Kontakt zu Wehner wurde durch die taktischen Manöver
Ulbrichts zwar beeinträchtigt, aber nie abgebrochen, denn auch
der erste Mann in der Partei dachte nicht daran, eine solche
Verbindung ernsthaft zu gefährden. Er wollte sie nur unter
zuverlässiger Kontrolle wissen. Dafür stand der 1958 ernannte
Minister für Staatssicherheit Erich Mielke. Bei den sowjetischen
Kollegen betonte dieser gern, daß er die direkteste und
authentischste Verbindung zum bundesdeutschen Machtzentrum
und damit zur westlichen Allianz habe.
Die politischen Aktivitäten des mächtigsten Mannes in der
SPD blieben weiter undurchsichtig. Über unseren Kontaktmann
Hansch deutete er Unterstützung von DDR-Positionen an. Wir
wußten über unsere Quellen, daß er gleichzeitig insgeheim mit
Politikern paktierte, die wir zu den »reaktionärsten Kreisen des
westdeutschen Revanchismus« zählten, etwa mit dem
erzkonservativen CSU-Ideologen Baron Guttenberg. Ehe
sozialdemokratische Abgeordnete oder die Öffentlichkeit etwas
ahnten, kannten wir den Zweck solcher Allianzen. Der »Onkel«
bereitete mit den ihm vertrauten konspirativen Mitteln die große
Koalition von Unionsparteien und SPD vor.
Wehner stand in der Öffentlichkeit immer noch für die
politischen Positionen, die wir bekämpften. Da unterschied er
sich allerdings kaum von anderen Sozialdemokraten, zu denen
wir nicht nur politische, sondern auch nachrichtendienstliche
Kontakte hatten. Quellen in Positionen wie etwa Günter
Guillaume wurden von uns angewiesen, bei der
innerparteilichen Diskussion rechte Positionen zu vertreten,
denn uns war klar, daß der Weg zu den bundesrepublikanischen
Einflußzentren nicht über die linke Spur führte. Für manche
Sozialdemokraten, die aus politischer Überzeugung mit uns

-202-
zusammenarbeiteten, war es eine schwere Belastung, sich auf
diese Weise taktisch verhalten zu müssen.

Herbert Wehner als Vorsitzender des Ausschusses für Gesamtdeutsche


Fragen

In der SED-Führung gab es Stimmen, die forderten, daß die


SPD-Politiker, zu denen engere Kontakte bestanden, vor allem
als politische Einflußagenten genutzt werden sollten. Je weiter
Herbert Wehner die SPD nach rechts führte, um so intensiver
wurden die Überlegungen, die SPD mit Hilfe uns nahestehender
Leute zu spalten und auf diesem Weg eine Art neue USPD zu
etablieren. Kurzfristig schien das eine realistische Option zu
sein, denn die Zahl der mit uns auf verschiedene Weise
verbündeten SPD-Bundestagsabgeordneten und leitenden Partei-
und Gewerkschaftsfunktionäre erreichte bald Fraktionsstärke.
Nicht nur aus nachrichtendienstlichem Interesse habe ich solche

-203-
Pläne immer abgelehnt. Unsere Analysen gaben einer solchen
Gruppierung auf Dauer keine Chance. Schließlich wurde das
Projekt SPD-Spaltung zu den Akten gelegt.
Der Kontakt zu Wehner bekam eine ganz neue Qualität, als er
sein innenpolitisches Ziel erreicht und die SPD 1966 in die
große Koalition geführt hatte. Wehner war nun Minister für
Gesamtdeutsche Fragen. Die langjährige Verbindung zu
unserem Mann Ernst Hansch wurde abgeschaltet, da sie zu
risikoreich geworden war. Von nun an kontrollierte Mielke die
Verbindung selbst und hatte damit einen Trumpf gegenüber der
HVA in der Hand. Den Kontakt übernahm Rechtsanwalt
Wolfgang Vogel, der mit dem Westen »humanitäre Fragen«
verhandelte. Sein offizieller Ansprechpartner war der
Gesamtdeutsche Minister. Nicht nur offene, sondern auch
geheime Treffen der beiden waren dadurch gedeckt. Die Inhalte
ihrer Gespräche durften nicht bekannt werden. Deshalb
berichtete Vogel direkt dem Minister. Mielke allein redigierte
die Berichte über Gespräche mit Wehner für die Weitergabe an
Honecker. Da das Formulieren nicht seine Stärke war, zog er
sich oft einen ganzen Tag zurück, um die Botschaften des
»Onkels« in die rechte Form zu bringen.
Kaum etwas in der DDR war geheimer als diese Berichte.
Außer den drei Exemplaren für Honecker, Mielke und mich gab
es noch eine extraredigierte und zensierte Version der
Protokolle, die an die sowjetischen Partner ging.
Im Westen galt Vogel als »Vertrauter Honeckers«.
Tatsächlich handelte Vogel mit Wissen und auch im Auftrag
Honeckers. Aber instruiert wurde er von Mielke und dessen
Offizier für diese Sonderaufgabe, Heinz Volpert. Noch unter
Ulbricht hatte ich die Anordnung bekommen, alle Ermittlungen
in Sachen Wehner einzustellen. Der enger werdende Kontakt zu
dem SPD-Politiker bedeutete für Mielke mehr Ansehen und
mehr Macht in der Parteiführung und gegenüber dem
sowjetischen Dienst. Das erklärt vielleicht, warum sein

-204-
abgrundtiefes Mißtrauen sich zu einem geradezu naiven
Zutrauen gegenüber Wehner wandelte.
Ich vertraute meinem Tagebuch damals Zweifel über die
Gesetzmäßigkeit des Verlaufs der Geschichte an, weil ich
wieder einmal sah, wie sehr die Politik von Schwächen,
Ambitionen und Emotionen der einzelnen Akteure bestimmt
wurde.
Mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich
Honecker war der Kontakt zu Wehner nicht mehr belastet von
den persönlichen Erfahrungen der alten Kommunisten aus der
Sowjetunion und der skandinavischen Emigration. Honecker
kannte Wehner aus dem Widerstand gegen die Nazis im
Saarland. Der junge Dachdecker Honecker hatte die
kommunistische Führungspersönlichkeit Wehner in den 30er
Jahren bewundert. Im Unterschied zu anderen KPD-
Spitzenfunktionären hatte Wehner damals erfolgreich die
ehrliche Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten gesuc ht.
Auch das hat Honecker wohl noch nachträglich beeindruckt. Die
Rückerinnerung an die unschuldige und heroische gemeinsame
Jugend wurde ein wichtiger Faktor der Ost-West-Politik.
Zunächst entwickelte sich Anfang der 70er Jahre eine
intensive Brieffreundschaft zwischen den beiden. Briefträger
war Anwalt Vogel. Die Briefe begannen bald mit »Mein lieber
Freund« und endeten mit »herzlichen Grüßen«. Aus den
konspirativen politischen Kontakten wurden geheime
persönliche Beziehungen.
Besiegelt wurde die wiedererweckte Freundschaft während
des Besuchs von Wehner bei Honecker im Mai 1973. Dieses
Treffen war mit der SPD-Führung abgesprochen. Wehner nahm
den FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick mit, um
dem Verdacht bei Gegnern und Freunden entgegenzuwirken, er
mache in der DDR geheime Politik auf eigene Faust. Den
Parteifreunden vertraute er allerdings nur die halbe Wahrheit an.
Schon einen Tag vor dem offiziellen Gespräch, an dem auch
-205-
Mischnick teilnahm, traf er sich unter strenger Geheimhaltung
mit Honecker in der Schorfheide. Aus seiner Umgebung erfuhr
ich, wie penibel der Erste Sekretär dieses Wiedersehen
persönlich vorbereitet hatte. Er wählte selber das Gebäck aus,
das er dann am Gartentisch seinem Gast anbot. Der Kuchen
sollte schmecken wie der Selbstgebackene, mit dem Honeckers
Mutter den hungrigen Wehner einst im Saarland verwöhnt hatte.

Erich Honecker und Herbert Wehner im Mai 1973


Erich Honecker legte auch alle Einzelheiten der
Berichterstattung fest. Gegen alle Regeln wurde der
westdeutsche Gast auf der ersten Seite des Neuen Deutschland
gewürdigt. Eine neue Sprachregelung bestimmte, daß er nicht
mehr als H. Wehner, sondern mit vollem Vornamen genannt
werden mußte. Diese bevorzugte Behandlung in den DDR-
Medien war taktisch wenig klug, denn sie konnte im Westen
Mißtrauen bestärken. Aber die Beziehung Honecker-Wehner
war eben nicht taktischer, sondern auch sentimentaler Natur.

-206-
Tagebucheintrag vom 15. 4. 1980 (Transkription im Anhang)

-207-
Tagebucheintrag vom 16. 4. 1980 (Transkription im Anhang)
Erich Honecker erfüllte seinem Freund den Wunsch, der ganz
offensichtlich auch eine Triebfeder für Wehners Kontakte zur
DDR war, den Wunsch nach Rehabilitierung innerhalb der

-208-
Partei. Vor dem Politbüro gab er eine feierliche Ehrenerklärung
für Wehner ab. Der Sozialdemokrat durfte in Publikationen
nicht mehr als Verräter an der Arbeiterbewegung dargestellt
werden. Um das sicherzustellen, beschloß das Politbüro im
Januar 1974, daß Memoiren von »Persönlichkeiten der
revolutionären deutschen Arbeiterbewegung« nur noch auf
Beschluß des ZK-Sekretariats veröffentlicht werden durften.
In die »Giftschränke« wanderten daraufhin die Erinnerungen
von Karl Mewis, in denen Wehner detailliert Verrat an
Genossen vorgeworfen wurde. Mielke wollte außerdem
inzwischen herausgefunden haben, daß nicht Wehner, sondern
Mewis der eigentliche Verräter in Schweden war, und diese
These fand sich bald darauf in einer bundesrepublikanischen
Wehner-Biographie von Alfred Freudenhammer und Karlheinz
Vater wieder.
Die »Lex Wehner« des Politbüros wirkte wie eine späte
Rache Wehners an seinen Gegnern in der Kommunistischen
Partei. Die bereits publizierten Erinnerungen von Erich
Glückauf, in denen die Vorwürfe gegen Wehner bereits nur
mehr sehr vorsichtig formuliert waren, wurde aus dem
Buchhandel zurückgezogen.
Die Protokolle von Wehners Gesprächen mit Vogel und die
Briefe an Honecker lassen den Schluß zu, daß Wehner sich im
Lauf der Jahre immer weiter dem sozialistischen Lager
angenähert hat. Im August 1981 schien er sich dann schon voll
mit der Sache des »real existierenden Sozialismus« zu
identifizieren. Wolfgang Vogel traf auf Öland an drei Tagen
einen deprimierten Wehner, der geradezu prophetisch vom
drohenden Untergang der DDR und des Sozialismus in Europa
orakelte. Wieder einmal warnte er vor Brandt, der die
Sowjetunion zur Aufgabe der DDR bewegen wolle. Für mich
war das eine absurde Vorstellung.

-209-
Tagebucheintrag vom 24. 8. 1981 (Transkription im Anhang)

-210-
Tagebucheintrag vom 8. 3. 1983 (Transkription im Anhang)

-211-
Tagebucheintrag vom 8. 3. 1983 (Transkription im Anhang)
Die akute Gefahr sah Wehner in der polnischen Solidarnósc-
Bewegung. Er fürchte, sagte er zu Vogel, einen »gefährlichen
Ermunterungssog«, wenn man die Opposition in Polen nicht
unter Kontrolle bekäme. Er riet seinem Freund Honecker zu

-212-
»entschlossenen Maßnahmen« der sozialistischen Staaten, »je
eher, desto besser«. Wehner dachte dabei offenbar nicht nur an
politische Pressionen, denn er meinte: »Es geht nicht ohne
innere Gewalt, leider. Es ist eine halbe Minute vor zwölf.«
Sein Rat, die polnische Opposition gewaltsam zu zerschlagen,
fand glücklicherweise kein Gehör. Die Voraussage aber, daß ein
Erfolg der Solidarnósc der Anfang vom Ende der sozialistischen
Herrschaft in Europa sei, sollte sich als zutreffend erweisen.
Wehner verabschiedete sich in diesem August von Vogel mit
überschwenglichen Beteuerungen seiner Freundschaft zu
Honecker. Er bekannte, das schönste Geschenk zu seinem 75.
Geburtstag sei die Gabe des Staatsratsvorsitzenden, eine
geschnitzte Holzfällerfigur aus dem Erzgebirge.
Nach der Wende sagte Honecker in einem Interview einen
Satz, der kaum Beachtung fand, weil er so unglaubwürdig klang:
»Herbert war seit den 30er Jahren mein unersetzlicher Freund
und Berater.«
Nicht allein das Gespräch im August 1981 mit Vogel legt die
Deutung nahe, daß Herbert Wehner am Ende seines Wirkens
wieder nahe der politischen Heimat seiner Jugend angelangt
war. Seine Genossen aus jenen Zeiten standen ihm offenbar
politisch und menschlich näher als Sozialdemokraten vom
Typus Willy Brandts oder auch Helmut Schmidts. Er wirkte tief
enttäuscht von der Sozialdemokratie.
Wenn man das aus westdeutscher Perspektive als Verrat
deuten will, ist das eine allzu platte Sicht. Wehner war nie ein
Agent im klassischen Sinn. Die Konspiration war für ihn von
Jugend an ein Mittel der Machtpolitik und auch des politischen,
ja bisweilen des physischen Überlebens. Von den ersten
Kontakten zu uns bis zur Freundschaft mit Honecker hat er wohl
immer geglaubt, der Stärkere im politischen Spiel zu sein.
Eine Rückkehr Wehners zum Kommunismus sehe ich in
alledem nicht. Zu sehr war er von den Repressionen der

-213-
Stalinzeit gezeichnet, zu sehr hatte er unter dem Mißbrauch der
Ideale seiner Jugend gelitten. Wehners Absage an jede Form der
Diktatur entsprach seiner Überzeugung. Auf seine Art förderte
er aber die Annäherung und den friedlichen Ausgleich der
beiden Welten, deren Konflikte sein Leben ausfüllten. Er tat dies
oft auf seine Weise.

Erich Honecker und Herbert Wehner in Bonn 1987

-214-
9 Der heiße Sommer von 1968

In den USA, in Frankreich und der Bundesrepublik war das


Jahr 1968 durch den Höhepunkt der Studentenrevolte und der
Protestbewegung gekennzeichnet, in den Ländern des
Warschauer Vertrags durch den »Prager Frühling« und den
Einmarsch der Truppen der Vertragsstaaten in die CSSR.
Ähnlich den Ereignissen in Ungarn im Herbst 1956 hatten diese
Geschehnisse tiefreichende Auswirkungen auf das Denken
vieler von uns, Auswirkungen, deren die meisten sich erst im
nachhinein bewußt wurden.
Ulbricht hatte permanent Angst vor einem »kleinen Krieg«
und mißtraute insgeheim Moskaus Bündnistreue. Der israelisch-
ägyptische Sechstagekrieg 1967 schürte seine Befürchtungen
noch. So wenig sich die strategische Lage der DDR, in der die
größte sowjetische Streitmacht außerhalb der UdSSR stationiert
war, mit der Ägyptens vergleichen ließ, traute Ulbricht dennoch
der Bundesrepublik ein ähnliches Vorgehen wie Israel zu und
fürchtete, die Sowjetunion könne die DDR in einem
militärischen Konflikt der deutschen »Brüder« ihrem Schicksal
überlassen.
Das, was Leonid Breschnew, seit 1964 Chruschtschows
Nachfolger als Generalsekretär der KPdSU, in geschlossenen
Sitzungen des Zentralkomitees und bei Beratungen mit
führenden Politikern der sozialistischen Länder zur Lage im
Nahen Osten sagte, ließ aufhorchen. Er war der Ansicht, daß
Nasser an der Kampfkraft des sozialistischen Lagers zweifle und
das Kräfteverhältnis zwischen den Supermächten falsch
einschätze. Israel zerstören zu wollen, so Breschnew, bedeute
Krieg. Deshalb müsse Ägypten nach einer politische n Lösung
suchen. Das Interesse der Sowjetunion am Friedenserhalt war
offenkundig. Dies aber verleitete die Falken in der US-
Administration zu gefährlichen Schlüssen. Walt Whitman

-215-
Rostow, außenpolitischer Berater Präsident Johnsons, folgerte
aus den sowjetischen Friedensbemühungen, daß es für die USA
nicht nur möglich, sondern geboten sei, den Vietnam-Krieg bis
zum Sieg über die Kommunisten weiterzuführen; danach könne
der Erfolg der Israelis gegen die Araber ausgebaut werden, und
dann werde man sich Europa zuwenden.
Anfang 1968 nahmen die Studentenunruhen im Westen
dramatische Formen an. Das beanspruchte meine
Aufmerksamkeit weit mehr als das Geschehen bei unseren
östlichen und südlichen Nachbarn, und deshalb wurde mir die
kritische Zuspitzung der Ereignisse in der Tschechoslowakei
erst relativ spät bewußt.
Im Vorjahr war während des Staatsbesuchs von Schah Reza
Pahlewi in West-Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem
Polizisten erschossen worden; das hatte eine Welle der
Rebellion an westdeutschen Universitäten ausgelöst. Kaum
waren sie abgeebbt, verübte im Frühjahr 1968 ein Neonazi ein
Attentat auf Rudi Dutschke, den Wortführer der
Außerparlamentarischen Opposition, was neue Unruhen
auslöste.
In Frankreich eskalierte der Studentenaufstand zu
Straßenschlachten mit der Polizei. Die Gewerkschaften riefen
einen Solidaritätsstreik aus, der eine allgemeine Streikbewegung
zur Folge hatte; Fabriken wurden durch Arbeiter und Studenten
besetzt.
Für eine ganze Generation bildeten die Ereignisse des Jahres
1968 eine historische Zäsur. Der Protest gegen den weiter
eskalierenden Vietnam-Krieg weitete sich zur Auflehnung
gegen die herrschenden Machtverhältnisse aus. In der
Bundesrepublik mündete die Protestbewegung in den
politischen Protest gegen die geplante Verabschiedung der
Notstandsgesetze durch den Bundestag. Im Parlament stimmten
fünfzig Abgeordnete der SPD mit der FDP gegen die Annahme
der Gesetze und damit gegen die Beschlüsse ihrer Parteiführung.
-216-
Wir nutzten unsere Verbindungen zu Abgeordneten des
Bundestags soweit wie möglich, um das Abstimmungsergebnis
zu beeinflussen – immerhin waren wir uns der Haltung etwa
eines Dutzends Abgeordneter sicher, die ihrerseits nichts
unversucht gelassen hatten, um auf andere einzuwirken.
Mit diesem Beitrag meines Dienstes im Kampf gegen die
Notstandsgesetze hätte unser soeben von einem leichten
Gehirnschlag genesener Minister eigentlich zufrieden sein
können, doch Mielke war keineswegs zufrieden, denn seine
Aufmerksamkeit war zur Gänze von der Entwicklung in den
sozialistischen Nachbarländern beansprucht.
Über die Lage in Prag hatte ich kein klares Bild. Am
Jahrestag der Staatssicherheit, dem 8. Februar, hatte Ulbricht
sich skeptisch über Alexander Dubcek, den neuen
Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunisten,
geäußert. Da er die von Gomulka in Polen verfolgte
Landwirtschaftspolitik und die Einführung der
Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien noch heftiger
kritisierte, hatte ich seine Bemerkungen zunächst seiner
bekannten Besserwisserei zugeschrieben. Als ich jedoch
Dubceks erste Reden las, stutzte ich. Die Ankündigung eines
»neuen Kurses« mit dem Ziel demokratischer Reformen drückte
das aus, worauf auch in der DDR viele warteten. Sehr bald
jedoch tauchten neben Dubcek neue Namen auf, und aus dem
Mund dieser Männer wurden Forderungen laut, die weit über
das hinausgingen, was er propagierte. Das erinnerte an den
Ablauf der Ereignisse in Ungarn 1956, genau wie die
Studentenkrawalle, die aus Warschau gemeldet wurden.
Aus dem Zentralkomitee der SED kamen widersprüchliche
Auskünfte über die Gipfeltreffen der sozialistischen Länder, auf
denen Dubcek sich bemühte, die Besorgnis der anderen
Teilnehmer zu entkräften. Seine öffentlichen Auftritte in Prag
bezeichneten Anwesende als ausgewogen, in seiner Umgebung
aber bestimmten andere den Ton, so der Parlamentspräsident

-217-
Josef Smrkovsky oder Eduard Goldstücker. Die Erklärungen des
Außenministers Jirj Hajek ließen deutlich sozialdemokratischen
Einfluß erkennen. Die Informationen meines Dienstes ergänzten
das, was man ohnedies über die Be ziehungen der Prager
Liberalen zu Westpolitikern wußte oder zumindest ahnte. Diese
unterschieden zwischen Dubceks Reformkurs, den mit
westlichen Modellen sympathisierenden Liberalen und den an
Moskau orientierten Konservativen.

Alexander Dubcek mit Jan Pudlák und Ludvik Svoboda

Großes Interesse bei unserer politischen Führung fanden


Informationen über tschechische Kontakte zu westdeutschen
Sozialdemokraten und zur italienischen KP, die als Wiege eines
reformierten Eurokommunismus besonders suspekt war. Als
ideologisch absolut verderblich galt die Konvergenztheorie
dieser Kreise, die einer Annäherung der gesellschaftlichen
Systeme und eines »dritten Weges« das Wort redete.
Mielke wußte durch meinen Dienst von den Gesprächen, die

-218-
Mieczyslaw Rakowski, Chefredakteur der Zeitung Polityka und
Mitglied des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten
Arbeiterpartei, in der Bundesrepublik geführt hatte. Dabei hatte
er betont, daß Polen sich um ein hohes Maß an nationaler
Eigenständigkeit bemühe, entgegen Moskaus
Hegemonialbestrebungen, und hatte erklärt, nicht nur er sei der
Auffassung, die Konvergenz sei unvermeidlich und
wünschenswert.
Konvergenz – das war das Stichwort für Mielke. Als der
polnische stellvertretende Innenminister Francisek Szlachcic,
der für die Aufklärung zuständig war, Mielke besuchte, wetterte
dieser gegen Rakowski wie gegen den bösen Feind. Szlachcic
fragte mich hinterher einigermaßen verwirrt, was Mielke mit
seiner Schimpftirade denn eigentlich gemeint habe.
Szlachcic schilderte mir eingehend, was in Warschau in den
letzten Wochen geschehen war. Sowohl die Studentenunruhen
als auch das Einschreiten der Ordnungskräfte waren seinen
Worten zufolge weit weniger harmlos gewesen, als offiziell
behauptet worden war. Nicht weniger besorgniserregend fand er
den aufflackernden Antisemitismus, der sich mit dem
Deckmantel der Kritik am Zionismus tarnte. Erst bei der
Niederschrift dieser Erinnerungen ist mir aufgefallen, welche
Rolle der unterschwellige Antisemitismus bei der Bekämpfung
von Reformbestrebungen und ihrer Exponenten durch die
konservativen Kräfte in den sozialistischen Staaten von jeher
gespielt hat. Auch in der Tschechoslowakei waren es Juden, die
am massivsten angefeindet und deren Entfernung am lautesten
gefordert wurde.
Im Sommer 1968 kamen mir der Fortgang der Ereignisse in
der Tschechoslowakei und die Reaktionen darauf wie ein
Wechselbad vor. Anzeichen für eine bevorstehende Intervention
wechselten in immer kürzeren Abständen mit Bemühungen um
eine tragfähige einvernehmliche Lösung.
Im Mai hatte eine Meldung der Berliner Zeitung für
-219-
Aufregung gesorgt: Acht amerikanische Panzer sollten in Prag
gesichtet worden sein. Diese »Nachricht« war der Redaktion
ohne unser Wissen von sowjetischer Seite untergeschoben
worden. Der wahre Sachverhalt sah so aus, daß in Prag
Außenaufnahmen für den Film Die Brücke von Remagen
gemacht wurden. Die Panzer schrumpften schnell zu einer
Handvoll Statisten in amerikanischen Uniformen. Derart
unseriöse Unternehmungen interpretierte ich damals als Indiz
der Unsicherheit Moskaus. Gesprächspartner aus dem Westen
fragten mich rundheraus, ob man annehmen müsse, daß die
Panzerente als Alibi für eine sowjetische Intervention gedacht
sei. Das hielt ich für absurd, ja geradezu kindisch.
Im Juni lud mein Prager Kollege Houska mic h nach Prag ein.
In einem offiziellen Schreiben kündigte Mielke meinen Besuch
dem neuen Prager Innenminister Pavel mit der Erklärung an, ich
müsse mich mit meinem Kollegen über einen
geheimdienstlichen Vorgang beraten. Am 8. Juli holte Houska
mich an der Grenze ab. Unterwegs schilderte er mir die Lage in
Partei- und Staatsführung in den düstersten Farben. Die meisten
Slowaken in der Führung hatten offenbar kein Vertrauen mehr
zu ihrem Landsmann Dubcek und fanden sich immer ärgeren
Diffamierungen und Angriffen ausgesetzt. Am nächsten Tag traf
ich mich mit dem stellvertretenden Innenminister Vilian
Salgovic, der für Staatssicherheit und Nachrichtendienst
zuständig war. Als Slowake stellte er gemäß den in Prag
geltenden Regeln die Parität zum tschechischen Minister Pavel
her. Er sagte, im Parteipräsidium hätten die »Rechten«, die sich
selbst als Progressive bezeichneten, die Mehrheit. (Wie sehr die
Begriffe »rechts« und »links« durcheinandergingen und vom
jeweiligen Standpunkt des Betrachters abhängig waren, konnte
ich während meines Besuchs wiederholt feststellen.) Dubcek
gebe ihrem Druck immer mehr nach. Für September werde ein
Parteitag vorbereitet, zu dem unter dem herrschenden Druck nur
»Progressive«, meist Intellektuelle, gewählt würden. Salgovic

-220-
und seine als konservativ abgestempelten politischen Freunde
hätten auf diesem Parteitag zweifellos keine Chance. Auf meine
Frage, was von unserer Seite aus getan werden könne,
antwortete er ratlos: »Ich weiß es nicht.« Seiner Meinung nach
war Pavel die treibende Kraft, die alle »Konservativen«
denunzierte. Er sagte, Pavel terrorisiere alle ihm nicht genehmen
Mitarbeiter mit Hilfe von Presse und Fernsehen; Rufmord und
Psychoterror seien an der Tagesordnung, man sei sich bald
seines Lebens nicht mehr sicher.
Gegen Salgovic und andere Offiziere des Innenministeriums
lief tatsächlich eine regelrechte Diffamierungskampagne. An
Häuserwände wurden Galgen mit ihren Namen gepinselt. Viele
fühlten sich so bedroht, daß sie im Ausland Unterschlupf
suchten. Salgovic ging nach Bulgarien. Auf seinem Rückflug
Ende November unterhielten wir uns kurz in Ost-Berlin. 1991
las ich eine kurze Notiz in der Zeitung: Salgovic hatte sich in
der Slowakei das Leben genommen.
Meine Begegnungen und Eindrücke habe ich so geschildert,
wie ich sie damals erlebte. Natürlich waren sie einseitig von der
Sicht derer geprägt, die auch in Moskau und bei der Führung in
Ost-Berlin Gehör fanden. Daß der Zorn großer Teile des Volkes
sich oft auf extreme Weise Luft machte, wie ich es ähnlich nach
dem Zusammenbruch der DDR gegenüber der Staatssicherheit
erlebt habe, lag hie wie da an den gleichen Ursachen. Nicht
zuletzt waren Männer wie Salgovic und unsere Partner im
Prager Innenministerium vierzig Jahre lang selbst diejenigen
gewesen, die politisch Andersdenkende unterdrückt hatten.
Unerwartet traf meine Reise nach Prag auf öffentlichen
Widerhall. Am 19. Juli erschien in der Zeitung Literarny Listy
unter der Überschrift »Interpellation« eine Meldung über meine
Anwesenheit, verbunden mit der Frage: »Was wollte General
Wolf in Prag?« Da außer den von mir erwähnten
Gesprächspartnern nur Borecký, der Leiter der Abteilung für
Aktive Maßnahmen im Prager Nachrichtendienst, von meinem

-221-
Besuch informiert war, fiel es mir nicht allzu schwer, den
Zusammenhang zu erraten. Borecký galt schließlich als
Wortführer der »Progressiven« im Geheimdienst. Die Meldung
war die Revanche für Angriffe der DDR-Presse auf den CSSR-
Reformkurs.

Sowjetische Panzer in Prag 1968

Obwohl Mielke und die DDR-Führung meinem Dienst keine


Ruhe ließen, konnten wir nicht mit den gewünschten Belegen
für eine unmittelbare Einmischung westlicher Staaten in die
Prager Vorgänge aufwarten. Moskauer und Berliner Zeitungen
veröffentlichten im Frühsommer einen kritischen Artikel zur
Lage in der CSSR nach dem anderen, was aus Prag von
namhaften Autoren gekontert wurde, die mit nationalem Pathos
ihren erstmals in der Geschichte etablierten freiheitlichen
Sozialismus verteidigten. Ein Treffen der Prager Regierung mit
der sowjetischen Führung Ende Juli resultierte in einem
Abschlußkommunique, in dem von »umfangreichem
kameradschaftlichen Meinungsaustausch« und einer
»Atmosphäre völliger Freimütigkeit, Offenherzigkeit und

-222-
gegenseitigen Verständnisses« die Rede war. Für den 3. August
war ein gemeinsames Treffen mit den Vertretern der übrigen
Staaten des Warschauer Vertrags festgesetzt.
Trotz zunehmender Anzeichen hielt ich ein direktes
Eingreifen des Warschauer Pakts noch immer für
unwahrscheinlich. Von der Begegnung der Parteiführer Anfang
August erwartete ich keine Wunder. In meinem Tagebuch
notierte ich: »Wir werden noch ganz schön strampeln müssen,
um mit den nach einem Kompromiß auf uns zukommenden
Problemen fertig zu werden.« Da rechnete ich noch fest mit
einem Kompromiß, und das, was unmittelbar nach dem Treffen
der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, sah ganz danach aus, als
habe man sich geeinigt. Smrkovsky verkündete triumphierend:
»Unsere Hoffnungen wurden weit übertroffen – die Spaltung der
sozialistischen Welt ist verhindert worden! «
In Ost-Berlin wurde unterdessen eine Mitteilung der
Parteiführung, die eine Intervention in der CSSR begründen
sollte, hastig eingezogen. Wir konnten uns wieder unserem
eigentlichen Arbeitsgebiet im Westen zuwenden. Am 17.
August fuhr Mielke zu einem Kurzurlaub nach Heringsdorf, und
ich fuhr nach Ahlbeck nahe der polnischen Grenze. Bis dahin
war Mielke in völliger Unkenntnis dessen, was drei Tage später
geschehen würde.
Als ich im Ferienhaus ankam, wurde ich dort von Boten
Mielkes erwartet, die mich zu ihm brachten. Er sagte mir, er
müsse sofort nach Berlin zurück, weil für den nächsten Tag
überraschend ein Treffen der Parteiführer in Moskau angesetzt
worden sei. Er vermutete, daß in der CSSR nun doch »Ernst
gemacht« würde. Am 21. August holte mein Fahrer mich kurz
nach 4.00 Uhr morgens in Ahlbeck ab. Der Einmarsch in die
Tschechoslowakei hatte schon vor Mitternacht begonnen. Um
2.00 Uhr brachte Radio Prag die erste Meldung. Auf der Fahrt
nach Berlin hörte ich abwechselnd die Rundfunkmeldungen aus
Ost und West.

-223-
Der ganze Ablauf paßte zu meiner Annahme, daß die Führung
in Moskau buchstäblich bis zur letzten Stunde gezögert hatte,
den Marschbefehl zu geben. Drei Tage vor dem Einmarsch soll
Breschnew noch einmal mit Dubcek telefoniert haben. In den
Wochen zuvor war es bereits zu Vorbereitungen für eine
militärische Lösung gekommen. Einheiten der Sowjetarmee und
der Nationalen Volksarmee der DDR waren nördlich der Grenze
zur CSSR zusammengezogen und in Bereitschaft gehalten
worden. Das hatte ich als Machtdemonstration mißdeutet, die
Dubcek unter politischen Druck setzen sollte.
Über die Beteiligung der DDR und ihrer Armee an der
Invasion sind bis heute verschiedene Versionen in Umlauf.
Ulbricht und die Mehrheit der Parteiführung gehörten ohne
Frage zu den Befürwortern eines militärischen Eingreifens.
Hohe Offiziere der NVA wiederum haben mir versichert, daß
sie bis zur Nacht vom 20. auf den 21. August keine Kenntnis
von der geplanten Unternehmung hatten und auch danach nicht
in die Planung einbezogen wurden.
Im September kam KGB-Chef Andropow zu einem
Arbeitsbesuch nach Berlin. Mielke hatte ihn darum gebeten,
weil unsere Reise nach Moskau ausgefallen war. An dem
Bankett in unserem Gästehaus in Pankow nahmen von deutscher
Seite Minister Mielke, elf ranghohe Offiziere des Ministeriums
für Staatssicherheit und ich teil. Die Atmosphäre war entspannt,
was ich nicht zuletzt Andropows Führungsstil zuschrieb. Wie
üblich gaben beide Minister einen allgemeinen Überblick zur
politischen Lage und den Aktivitäten der anderen Seite. Dann
kam das Gespräch auf die CSSR.
Mielke zog sogleich gegen ideologische Diversanten und
gefährliche Konvergenzbefürworter vom Leder und gelobte,
keine ideologischen Aufweichungserscheinungen in der DDR
zuzulassen, wie sie Prag zugrunde gerichtet hätten.
Andropow hörte ihm höflich zu. Dann sagte er: »Das ist aber
nur eine Seite der Geschichte. Wir hatten zwei Möglichkeiten:
-224-
militärisch einzugreifen, auf die Gefahr hin, unseren Ruf zu
schädigen, oder die CSSR aufzugeben und zwar mit allen
Konsequenzen, die das für die sozialistischen Staaten Europas
mit sich gebracht hätte. Es war keine angenehme Wahl.« Er fuhr
fort: »Man muß in jedem Land sorgfältig abwägen, wie die
innenpolitische Lage beschaffen ist. Die neue Regierung in der
CSSR wird es nicht leicht haben. Im übrigen wären wir gut
beraten, die Gründe für das, was in der CSSR geschehen ist, bei
uns selbst zu suchen, in der inneren Entwicklung unserer
Staaten, in der kommunistischen Bewegung. Ich glaube, diese
Entwicklung wird zu einer weiteren Differenzierung führen. Ich
glaube auch, daß es unabdingbar ist, über den Leninschen Weg
zum Sozialismus und über den sozialdemokratischen Weg neu
nachzudenken und zu diskutieren.«
Es verschlug uns fast die Sprache. Statt die Intervention
ideologisch zu untermauern, hatte Andropow dafür plädiert, die
Ursachen der Prager Ereignisse zu untersuchen. Das waren
ungewohnte Töne aus dem Mund eines KGB-Oberen, aber noch
ungewohnter war sein Appell, die Sozialdemokratie nicht in
Bausch und Bogen zu verteufeln, sondern möglicherweise als
ernstzunehmenden Verhandlungspartner in Betracht zu ziehen.
Für Mielke muß das ein harter Brocken gewesen sein, und er
kam nie auf diese Äußerungen Andropows zurück. Aus jedem
anderen Mund hätte er sie als Ketzerei gebrandmarkt. Vielleicht
hat er die Erinnerung daran einfach verdrängt, weil so etwas
nicht in sein Denkschema paßte. Dennoch hat er sich bemüht,
die Kontakte zu westdeutschen Politikern, auch zu
Sozialdemokraten wie Herbert Wehner, auf einem anderen
Niveau als bisher zu pflegen.
Von heute aus gesehen ist der Einmarsch der Staaten des
Warschauer Vertrags in die CSSR Ausdruck einer
Machtdoktrin, an deren Auswirkungen das System des »real
existierenden Sozialismus« zwei Jahrzehnte später mit zerbarst.
War mit dem Brechen der souveränen Rechte der CSSR die

-225-
Chance vertan worden, ein besseres Sozialismusmodell zu
schaffen, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«? War
die Marxsche Utopie einer freien Assoziation freier Bürger am
internationalen Kräfteverhältnis und am sowjetischen
Gesellschaftsmodell Stalinscher Prägung gescheitert?
Politik ist letztlich die Kunst des Möglichen. Die Männer, die
an der Spitze des Prager Frühlings standen, haben – sofern der
Sozialismus für sie überhaupt noch eine lebensfähige
Alternative zum kapitalistischen System darstellte – die
weltpolitischen Gegebenheiten des Jahres 1968 falsch
eingeschätzt. Von der Sympathie des Volkes und vom Westen
ermutigt, haben die Männer um Dubcek die Erfahrungen
vergangener Jahrzehnte außer acht gelassen. Sie spürten, daß
Moskau zögerte und daß die anderen Partner des Warschauer
Vertrags widersprüchliche Haltungen vertraten; sie glaubten, das
Experiment eines »dritten Weges« sei ein realisierbarer
Gegenentwurf zum Stalinismus, und zumindest einige unter
ihnen erwarteten von den USA, daß sie an die Sowjetunion die
ultimative Forderung richten würden, jedes militärische
Eingreifen in die inneren Angelegenheiten der CSSR zu
unterlassen. Im politischen Klartext hätte dies bedeutet, daß die
USA die Tschechoslowakei zu einem ähnlich essentiellen
Gebiet hätten erklären müssen wie seinerzeit West-Berlin.
Solche Erwartungen ignorierten völlig, wie die USA auf den 17.
Juni 1953, auf den ungarischen Herbst 1956 und auf den
Mauerbau 1961 reagiert hatten.
Wie aber ließ sich sozialistische Staatsmacht erhalten und mit
Demokratie verbinden? Eine auf Demokratie gestützte Macht
schien mir unbedingt erstrebenswert: pluralistische Strukturen
und Meinungsbildung, die Möglichkeit, zwischen Parteien zu
wählen, vernünftige Relationen zwischen gesellschaftlichem
und privatem Eigentum, zwischen Plan- und Marktwirtschaft,
zwischen Geist und Macht – die Macht aber sollte eine
sozialistische sein. In meinem Tagebuch hatte ich damals

-226-
notiert: Ȇber Polen, Ungarn 1956 bis zum August 1968 in der
CSSR führt eine Kette von Unruhen, die ihren Kern in diesem
widersprüchlichen Prozeß der Transformation der Macht haben.
Da die feindliche Umwelt und ihre Wirkung auf die eigenen
Menschen weiterhin sehr stark sind, geht es nicht so einfach,
demokratische und humanistische Prinzipien in die Gesellschaft
einzuführen, sich auf die Fragen des wissenschaftlichen,
technischen und kulturellen Fortschritts zu konzentrieren, die
komplizierten Machtfragen einfach zu ignorieren, zu reduzieren
oder auszuklammern. Dann kommt es so wie in der CSSR.«
Heute sehe ich die Machtfrage wesentlich differenzierter.
Auch wenn meine Zweifel in den 70er Jahren zunahmen und
mich Anfang der 80er Jahre zu dem Entschluß bewegten, mich
aus der Mitverantwortung für die Folgen subjektiven
Machtdenkens zu verabschieden, beschäftigt mich dieses
Problem nach wie vor.
Bis heute würde ich nicht mit Sicherheit sagen wollen, ob die
Erhebungen in Ungarn oder in der CSSR bei ungestörtem
Fortgang zu einem reformierten Sozialismus geführt hätten. Gab
es 1968 oder danach eine denkbare sozialistische Alternative?
Das ist eine spekulative Frage, die nach 1989 oft gestellt wurde.
Ohne Veränderungen in Moskau hätte keine Alternative in Ost-
und Mitteleuropa auch nur ansatzweise eine Chance gehabt.
Hätte in der UdSSR ein Mann an der Spitze umsichtig und
konsequent den Weg zu einem reformierten Sozialismus
freigemacht und dies schon im Frühjahr 1968, dann wäre ein
ähnlicher Wandel auch in anderen Ländern Osteuropas denkbar
gewesen. Dies jedoch hätte vorausgesetzt, daß der Westen eine
strikte Nichteinmischung praktiziert hätte, aber wer wollte das
ernsthaft annehmen? Unstrittig ist, daß in der weltpolitischen
Konstellation damals die Konfrontation gepflegt wurde, nicht
die Verständigung.
Die Geschichte ist kein Schachspiel, bei dem die
nachträgliche Analyse gestattet, daß man Züge zurücknimmt

-227-
und andere Varianten durchspielt. Der Einmarsch in die
Tschechoslowakei war meiner Einschätzung nach für die
meisten Teilnehmer keineswegs das, was sie gewollt hatten. Um
bei der Schachmetapher zu bleiben: Die Partie verlief in
mehrfach erprobten Varianten, die einzelnen Züge führten
immer weiter in das fatale Endspiel, bis die Fähigkeit zu
manövrieren erschöpft war. Saint-Just hat in einer Rede vor dem
Nationalkonvent die berühmten Worte gesagt, die großen
historischen Ereignisse geschähen durch »die Macht der Dinge«,
die Ergebnisse zeitigen könne, die niemand vorauszusehen
vermag.
So wie im Westen die Zusammenstöße mit der Staatsmacht
für einen Teil der jungen Generation zum Kristallisationspunkt
einer unausweichlichen Auseinandersetzung mit dem
kapitalistischen System wurden, so wirkte der Einmarsch in die
Tschechoslowakei auf die Jugend der DDR. Viele
Bürgerrechtler, die an der Spitze der Bewegung von 1989
standen, hatten das Jahr 1968 als tiefen und schmerzlichen
Einschnitt erlebt, als den Anfang der bewußten Auflehnung
gegen ein Regime, von dem sie sich innerlich mehr und mehr
entfernten.

-228-
10 Wandel durch Annäherung

Das Jahr 1969 begann mit einer schlechten Nachricht. Die


bevorstehende Wahl des Bundespräsidenten sollte in West-
Berlin stattfinden. Nach dem Rechtsverständnis der DDR und
der Sowjetunion war West-Berlin kein Teil der Bundesrepublik,
und demnach konnten dort auch keine Präsidentenwahlen
stattfinden.
Wieder begann ein fruchtloses Kräftemessen zwischen den
beiden deutschen Staaten. Es ging zeitweilig zu wie im
Tollhaus. Die Reaktionen unserer Seite waren widersprüchlich
und ohne strategischen Ansatz für eine Politik auf längere Sicht.
Sie erschöpften sich wieder einmal im Ritual der Drohgebärden:
Verschärfte Kontrollen an der Grenze, Behinderung des
Transitverkehrs, militärische Übungen. Zu allem Überfluß
brausten auch noch sowjetische Düsenjäger im Tiefflug über
den Reichstag.
Fast gleichzeitig liefen über meinen Dienst geheime
diplomatische Initiativen. Die Wege waren noch verschlungen.
Am Abend des 21. Februar 1969 übergab mir Mielke einen
Brief Ulbrichts an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt. Ich
reichte das Schreiben weiter an unseren Mitarbeiter Hermann
von Berg, Deckname Günter, der offiziell im Presseamt des
Innenministeriums arbeitete.
Von Berg nutzte seinen geheimen Kanal zu dem späteren
West-Berliner Bürgermeister Klaus Schütz, dem er den Brief
brachte. Ulbricht bot in dem Schreiben an, den West-Berlinern
zu Ostern 1969 Passierscheine für den Besuch Ost-Berlins zu
gewähren, wenn die Präsidentenwahl in eine andere Stadt
verlegt würde.
Davon unabhängig nutzte Mielke seinen Kanal zum Minister
für Gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, über Rechtsanwalt
Wolfgang Vogel. Mit geradezu naiver Genugtuung meldete

-229-
Mielke, Wehner sei gegen die Präsidentenwahl in West-Berlin
und werde die Annahme des Ulbricht-Vorschlags befürworten.

Tagebucheintrag vom 27. 2. 1969 (Transkription im Anhang)


Wehner hatte zudem Vogel einen überaus freundlichen und

-230-
höflichen Brief mitgegeben und Mielke einen Herzenswunsch
erfüllt: Der prominenteste Maulwurf des KGB im BND, Heinz
Felfe, wurde im Austausch gegen einundzwanzig in der DDR
inhaftierte Personen aus dem Gefängnis entlassen. Spätestens
nach diesem Erfolg seines Kanals war der ehemalige
»gefährliche Renegat« und »ideologische Diversant« Wehner
für Mielke die beste Adresse in Bonn.
Die verschiedenen Drähte zu westdeutschen Politikern
sorgten immer wieder auch für Verwirrung. Während über
unseren Kanal der Brief Ulbrichts an Brandt ge gangen war,
hatte Rechtsanwalt Vogel gleichzeitig seinen Kontaktmann
Wehner von dem Angebot informiert. Der wiederum schloß sich
nicht mit Brandt kurz, sondern gab die Nachricht an den CDU-
Kanzler Kiesinger weiter. Kiesinger ließ sofort den sowjetischen
Botschafter Zarapkin per Hubschrauber kommen, um zu
demonstrieren, daß es keine Verhandlungen mit der DDR an der
Sowjetunion vorbei gebe. Brandt blieb nichts anderes übrig, als
Ulbrichts Offerte schroff zurückzuweisen. Er lehnte jede
Erörterung des angebotenen Handels ab. Gleichzeitig jedoch
ließ uns Klaus Schütz indirekt über Hermann von Berg wissen,
daß man an Verhandlungen interessiert sei. Wir sollten nur die
anderen »Scheißkerle«, gemeint waren die von der CDU, aus
dem Spiel lassen.
Statt mit einer realistischen Initiative die Offensive in der
Deutschlandpolitik zu ergreifen, hatte unsere politische Führung
nur Porzellan zerschlagen. Dabei sagten uns verläßliche
Quellenberichte, daß es sowohl auf dem Kiesinger-Flügel der
CDU als auch bei der SPD bemerkens werte Anzeichen für die
Bereitschaft zu vernünftigen Lösungen in der West-Berlin-Frage
gab.
Da offizielle Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten
noch immer problematisch waren, liefen viele geheime
Botschaften und Gespräche über meinen Dienst. Dabei kam
Hermann von Berg eine wesentliche Rolle zu. Er war 1959

-231-
geworben worden, um auf dem Gebiet der »gesamtdeutschen
Arbeit« tätig zu sein. Schon bald wurde er in politischoperative
Vorgänge einbezogen.

Wahl des Bundespräsidenten 1969 in West-Berlin


Als zeitweiliger Mitarbeiter des DDR-Presseamtes konnte er
engere Beziehungen zu einflußreichen westdeutschen
Journalisten aufbauen. Über Medienvertreter kam er in Kontakt
zu Politikern, zunächst vor allem in West-Berliner
Senatskreisen. Seine unkonventionelle Art, seine
Schlagfertigkeit und Ironie machten ihn zu einem beliebten
Gesprächspartner. So wurde er allmählich zu einer Art
Sonderbotschafter für die Geheimdiplomatie zwischen den
deutschen Staaten – zumindest mußten seine westlichen
Gesprächspartner das so sehen.
Hermann von Berg wurde von Willy Brandt empfangen,
verhandelte mit Egon Bahr und Horst Ehmke, sprach mit
Richard von Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher. Er
überbrachte Briefe Ulbrichts und bereitete offizielle
Verhandlungen vor. Er war eingeschaltet in die vorbereitenden
Gespräche zu den Passierscheinabkommen und zum
Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR. Er bereitete den

-232-
Dialog zwischen SED und SPD ebenso vor wie Verhandlungen
unserer Führung mit dem westdeutschen
Arbeitgeberpräsidenten.
Von Bergs Position in der DDR wurde in der Bundesrepublik
überschätzt. Manche hielten ihn für einen Oberst des MfS,
andere für einen wichtigen politischen Berater des
Ministerpräsidenten Willi Stoph. Das brachte ihn immer wieder
in verzwickte Situationen, denn wirkliche
Verhandlungsvollmacht hatte er nicht. Wir versuchten zwar, ihn
vor seinen wichtigen Missionen so genau wie möglich zu
instruieren, doch angesichts der schwankenden und
konzeptlosen Deutschlandpolitik der DDR war das nicht gerade
einfach. Je nach Stimmungslage im Politbüro – die nicht zuletzt
von der in Moskau abhängig war – sollte von Berg das eine Mal
den Kontakt zu den westlichen Gesprächspartnern suchen, das
andere Mal den Wünschen der anderen Seite nach Begegnungen
die kalte Schulter zeigen.
Hermann von Berg wurde zwar für seine Arbeit mit dem
Vaterländischen Verdienstorden in Silber ausgezeichnet, aber
Mielke und die Abwehr mißtrauten ihm. Für ihren Geschmack
redete er im Westen zu freimütig über Probleme der DDR. Er
galt als jemand, der durch seine Kontakte für
sozialdemokratisches Gedankengut anfällig war.
In meinem Prozeß 1993 wurde mir die
»nachrichtendienstliche Führung dieses IM« vorgeworfen. Erst
durch Dokumente, die die Bundesanwaltschaft in das Verfahren
einbrachte, wurde publik, daß von Berg für die HVA tätig
gewesen war. Auf seine Zeugenvernehmung verzichteten die
Bundesanwälte dann allerdings. Es lag wohl nicht in ihrem
Interesse zu dokumentieren, daß die Vorbereitungen der
Entspannungspolitik über meinen Dienst gelaufen waren und
daß hochrangigen Politiker der Bundesrepublik über Jahre
hinweg politische Kontakte zu einem meiner Mitarbeiter
gepflegt hatten.

-233-
Hermann von Berg 1986
Das Jahr 1969 brachte nicht nur für die westdeutsche
Innenpolitik eine Wende, sondern auch in der
Deutschlandpolitik. Am 5. März 1969 wurde Gustav Heinemann
als erster Sozialdemokrat in West-Berlin zum
Bundespräsidenten gewählt. Wenige Monate später wurde Willy
Brandt als erster Sozialdemokrat Bundeskanzler. In Washington
war man überrascht, wir hatten mit dieser Entwicklung
gerechnet. Über unsere Quellen in der FDP wußten wir, daß die
FDP-Spitze mit Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher eine
sozialliberale Koalition anstrebte. Über unsere internen
Kontakte mit Wehner, Erler und Kühn und über unsere Quellen
wie Günter Guillaume kannten wir auch die Strategie der SPD.
Wir konnten uns also rechtzeitig auf den Regierungswechsel
vorbereiten.
Als bei den Sozialdemokraten die Auswahl der Kandidaten
begann, die für Regierungsposten in Frage kamen, suchten auch
wir in unserem Netz nach geeigneten Leuten. Wir registrierten
die Namen, die für Positionen in Bonn genannt wurden, und

-234-
machten unsere Mitarbeiter auf sie aufmerksam. War es bisher
vor allem darum gegangen, durch unsere Verbindungen in die
SPD den Widerstand gegen die Anpassungsstrategie der
Führung zu stärken, so ging es nun darum, einflußreiche
Positionen in Regierung und Parlament anzustreben.
So mußte der überzeugte Linke »Freddy«, von dem ich schon
berichtet habe, als Bundestagsabgeordneter die Nähe der rechten
»Kanalarbeiter« in der SPD-Fraktion suchen. Denn ohne die
Unterstützung der »Kanalarbeiter« wäre er nicht für einen
wichtigen Parlamentsausschuß nominiert worden. Zu anderen
einflußreichen Sozialdemokraten, zu denen nur lockere
Kontakte bestanden, mußte versucht werden, feste Beziehungen
aufzubauen.
In den wichtigsten Fällen, wie bei Wienand, übernahm ich die
Aufgabe selber. Wienand wich einer Zusammenkunft mit mir
zwar immer wieder aus, doch bei einem anderen
Bundestagsabgeordneten, den wir »Julius« nannten, war meine
Strategie erfolgreich.
»Julius«, in den 50er Jahren Kommunalpolitiker, Journalist
und Abgeordneter in einem Landtag, hatte im Rahmen der
Städtepartnerschaften eine engere Beziehung zu einem DDR-
Bürgermeister aufgebaut. Es gelang uns, einen unserer Leute in
diese Beziehung einzuschalten. Ende der 50er Jahre gaben wir
»Julius« auf seinen Wunsch Gelegenheit zu einem Gespräch mit
Ministerpräsident Grotewohl. Danach konnte unser Mann
problemlos unter der üblichen Legende als Mitarbeiter des
Ministerrats den Kontakt zu »Julius« vertiefen. Mit der
Zusicherung strikter Vertraulichkeit war ein wichtiger Schritt
zur Zusammenarbeit getan.
1969 war »Julius« nicht nur Bundestagsmitglied, sondern
auch Mitglied des Europarates und wichtiger Ausschüsse beider
Parlamente. Unser Mann lud ihn zu einer Reise durch die
Sowjetunion ein, die im Sommer des Jahres stattfand. Zur
Vertiefung der Konspiration erhielt er einen DDR-Reisepaß mit
-235-
falschem Namen. Da ich zur gleichen Zeit an der Wolga Urlaub
machte, war ein »zufälliges« Zusammentreffen mit ihm geplant.
Mein Aussehen war bis dahin im Westen noch nicht bekannt. So
konnte ich zunächst als hoher Regierungsvertreter auftreten und
alles weitere dem Gang der Gespräche überlassen.
Die sowjetischen Kollegen waren um organisatorische Hilfe
gebeten worden. Unsere Partner in Wolgograd, dem früheren
Stalingrad, boten mir die Villa an, die für Treffen
Chruschtschows mit ausländischen Staatsmännern gebaut
worden war. Nach einer Besichtigung des mit Plüsch und
Kristalleuchtern protzenden Gebäudes hielt ich es für den
Zweck wenig geeignet. Ich wählte einen anderen Ort, ein
abgelegenes Anglerparadies an der Wolga, das vor allem von
Rentnern besucht wurde. Mein Fahrer hatte mich einmal zu
diesem verzauberten Refugium gebracht.
Die Geborgenheit am Lagerfeuer, die fast kultische
Zubereitung und der feierliche Verzehr der Ucha, der
Fischsuppe, ließen mich die Dürftigkeit der alten Bretterbuden
und rostigen Wellblechhütten, die hier als Unterkunft dienten,
schnell vergessen. Nachdem die Leute erst einmal Vertrauen zu
dem seltsamen Deutschen gefaßt hatten, der auch ein Russe sein
konnte, kam eines jener innigen Gespräche bis tief in die Nacht
in Gang, die ich so nur fernab der Großstädte in Rußland,
besonders in Sibirien, kennengelernt habe.
In der Isba, dem aus Baumstämmen kunstvoll gezimmerten
Haus eines meiner neuen Freunde, sollte das Treffen mit
»Julius« stattfinden. Er wurde mit einem Tragflügelboot
gebracht.
Als ich ihn begrüßte, wirkte er sehr reserviert. Er taute auch
nicht auf, als ich ihn durch das Dorf führte und ihm die
herrlichen Ikonen in der Dorfkirche zeigte. Ich war ratlos, bis
mir unser Mann, der ihn begleitete, den Grund der
Zurückhaltung zuraunen konnte. Sie hatten die Gedenkstätte in
Wolgograd besichtigt und das Gästebuch eingesehen, in das ich
-236-
mich bei einem Besuch kurz zuvor mit richtigem Namen und
vollem Rang eingetragen hatte. Aus dem Regierungsvertreter
Wolf war der General der Staatssicherheit geworden.
Dennoch führte ich »Julius« abends in das Holzhaus, in dem
schon alles zu seinem Empfang vorbereitet war. Der Tisch war
reich gedeckt mit den köstlichsten Vorspeisen der russischen
Küche, darunter reichlich Kaviar. Als die Stimmung schon
gehoben war, folgten Fischsuppe mit Piroggen und dann
Pelmeni, jene Teigtaschen, in deren Zubereitung mein Bruder
und ich so manches Mal wetteifertern. Ich dolmetschte das
Gespräch zwischen »Julius« und dem Hausherrn, der einer jener
typischen russischen Arbeiter war, die trotz einfacher Bildung
klar, unverstellt und damit glaubwürdig reden. Er erzählte vom
Krieg, in dem seine beiden Söhne gefallen waren. Das in der
Politik so oft strapazierte Wort Frieden hatte an diesem Abend
seinen eigenen, menschlichen Klang.
Als sich noch ein Dutzend weitere Gäste in der kleinen Stube
versammelten, holte der Hausherr seine alte Knopfzieharmonika
vom Schrank, und wir hörten die melancholischen Gesänge, in
denen sich die »russische Seele« am deutlichsten ausdrückt.
Dieser unvergeßliche Abend bestimmte noch die Atmosphäre,
als ich am nächsten Ta g mit dem Abgeordneten über seine
Zusammenarbeit mit uns sprach. Ich habe meinen sowjetischen
Freunden oft gesagt: Ihr versteckt euer wertvollstes Kapital, den
einfachen russischen Menschen! »Julius« hatte seine
Reserviertheit abgelegt. Für den ständig in der Öffentlichkeit
agierenden Politiker war die Bereitschaft zum konspirativen
Doppelleben kein leichter Schritt, aber er tat ihn, obwohl ich
ihm die Risiken deutlich vor Augen geführt habe. Mit »Julius«
hatten wir einen weiteren wichtigen Mann in der SPD, und das
genau zu dem Zeitpunkt, an dem Willy Brandt Bundeskanzler
wurde.
In der anderen Regierungspartei, der FDP, hatten wir durch
die Verhaftung von Hannsheinz Porst, der 1968 von seinem
-237-
Privatsekretär verraten worden war, eine wichtige Quelle
verloren. Wir mußten uns daher mehr auf unsere Verbindung
zum FDP-Vorsitzenden Erich Mende, Deckname Elch,
konzentrieren. Auf den ehemaligen HJ-Führer und
Ritterkreuzträger hatten wir einen Jugendfreund, Deckname
Otter, angesetzt. Da »Otter« den FDP-Vorsitzenden regelmäßig
aus der DDR besuchte, mußte es Mende klar sein, daß sein
Gesprächspartner Verbindungen zu offiziellen Stellen der DDR
hatte. Er war trotzdem so auskunftsfreudig, daß die Berichte
über die Treffen schließlich Aktenbände füllten.
Mein zuständiger Mitarbeiter war der Meinung, daß Mende
materiell so interessiert sei, daß man eine direkte Werbung
versuchen solle. Er wies auf die trüben Quellen hin, aus denen
sich Mende schon finanziell bediente, darunter die betrügerische
Geldanlagefirma IOS. Ich stimmte der Operation am Ende nicht
zu, weil ich zum entgegengesetzten Schluß kam: Die Geschäfte
des FDP-Vorsitzenden liefen ohnedies schon so gut, daß er auf
ein vergleichsweise bescheidenes Honorar aus unserer Tasche
nicht angewiesen war. Zudem hätte ein Fehlschlag der Werbung
Hannsheinz Porst zusätzlich schaden können.
Schließlich hatten wir auch noch andere Verbindungen in die
FDP, unter anderem zum Geschäftsführer der FDP in Bonn,
Karl-Hermann Flach, zu Politikern einiger Landesverbände,
zum Herausgeber eines FDP-Informationsdienstes und nicht
zuletzt zu William Borm, dem Altliberalen, der seit Anfang der
60er Jahre eine wichtige Quelle war. Unsere Verbindungen
waren so vielschichtig, daß wir, wenn auch in bescheidenem
Umfang, Einfluß auf die Politik der Partei nehmen konnten. So
lag der Entwurf der Rede, die der Alterspräsident Borm vor dem
neugewählten Bundestag halten wollte, zur Ergänzung und
Korrektur auf meinem Schreibtisch. Übrigens erhielt ich über
unsere Kanäle auch die erste Grundsatzrede des Kanzlers Brandt
vorab, ohne darin allerdings etwas ändern zu können.
Die Analyse dieser Rede und der umfangreichen

-238-
Informationen aus dem Lager der neuen Regierung war nicht
leicht. Erst im Rückblick ist klar erkennbar, daß die
Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition eine
Wegscheide der deutschen Nachkriegspolitik war. So deutlich
wurde uns das damals nicht. Wir hatten Brandt natürlich schon
als Außenminister der großen Koalition genau beobachtet.
Unsere Quellen im Auswärtigen Amt gaben ein nahezu
vollständiges Bild; beispielsweise erhielten wir die Protokolle
der von Brandt geleiteten Botschafterkonferenzen in Japan,
Chile und an der Elfenbeinküste. Dabei hatten wir Brandts
Engagement für die Nichtverbreitung von Kernwaffen, für eine
Truppenreduzierung und den Abbau der Ost-West-Spannungen
registriert.
Weniger deutlich jedoch war für uns zu erkennen, daß mit der
sozialliberalen Koalition die Ära einer neuen eigenständigen
nationalen Politik der Bundesrepublik Deutschland begann.
Trotz großer Widerstände vo n rechts und trotz zunehmendem
Mißtrauen der Verbündeten setzte Brandt ein eigenes
realpolitisches Konzept durch, das der Bundesrepublik im
westlichen Bündnis die Rolle eines selbständigen Partners
zuwachsen ließ.
In der SED-Führung herrschte anfangs Uneinigkeit darüber,
wie die neue Bonner Regierung zu beurteilen sei. Die
Konfrontationspolitik Adenauers und seine Kooperation mit
ehemaligen Nazis hatte ein klares Feindbild geschaffen. Daß der
Weg zum Sozialismus dem vorzuziehen war, das hatte für viele
in der DDR außer Frage gestanden. Diese klare Frontstellung
geriet ins Wanken, als der Antifaschist Brandt Kanzler wurde
und nach Osten die Hand der Verständigung ausstreckte. Die
Furcht vor dem Einfluß sozialdemokratischen Gedankenguts
und »ideologischer Diversion« vor allem auf die Intellektuellen
in der DDR machte sich breit.
Noch vor seiner Wahl zum Kanzler hatte Brandt in einem
Gespräch unter vier Augen mit einer unserer wichtigsten

-239-
Quellen deutlich gemacht, wie wichtig für ihn eine Entspannung
des Verhältnisses zur Sowjetunion war. Über verschiedene
Kanäle erfuhren wir, daß Vertrauensleute Brandts, darunter
Egon Bahr, Kontakte zu sowjetischen Gesprächspartnern
unterhielten. Die Sowjets informierten ihre deutschen
Verbündeten über diese beginnende Annährung zur BRD
überhaupt nicht oder nur oberflächlich.
Ich war allerdings auf Informationen aus Moskau auch nicht
angewiesen. Dank der Quellen im Auswärtigen Amt, in
Botschaften und auch in den Parteien der sozialliberalen
Koalition standen mir annährend die gle ichen Informationen zur
Verfügung wie dem Bonner Außenminister. Eine dieser Quellen
nahm zeitweise an den Gesprächen Egon Bahrs in Moskau teil.
Über den positiven Fortgang der Verhandlungen war ich auf
diese Weise immer auf dem laufenden.
Es gelang uns sogar, im Privathaus Egon Bahrs Abhöranlagen
zu installieren. Wir belauschten ihn dort bei ebenso geheimen
wie freimütigen und oft auch fröhlichen Gesprächen mit seinen
sowjetischen Partnern. So wußte ich bisweilen wahrscheinlich
vor dem Bundeskanzler, mit wieviel Geschick der Unterhändler
über seine konspirativen Kanäle die Verhandlungen vorantrieb.
Die »Verwanzung« seines Hauses, die uns im Verlauf von
Reparaturarbeiten gelang, war ein seltener Glücksfall. Trotz
einigem Aufwand glückten uns solche Operatione n sehr selten.
Nach einiger Zeit blieben alle Mikrofone in Bahrs Haus mit
einem Schlag stumm. Ich vermute, daß unsere sowjetischen
Freunde etwas gemerkt und Egon Bahr gewarnt hatten, denn
Moskau paßte es gar nicht ins Konzept, daß die DDR-Führung
allzuviel über die Annäherung der UdSSR an Bonn erfuhr.
Noch lückenloser informiert waren wir über die
Verhandlungen der Brandt-Regierung mit Polen. Aus der BRD-
Mission in Warschau wurden wir mit allen Informationen
versorgt, die über den Tisch des bundesdeutschen Botschafters
gingen. Unsere Informantin, Deckname Komteß, war 1967 an

-240-
die Mission versetzt worden. Alles, was der dortige Botschafter
Dr. Heinrich Box schrieb, las und sagte, übermittelte uns
»Komteß«. Schriftliches trug sie im Einkaufsbeutel unter dem
Strickzeug aus der Mission. Als mit der Zeit zwischen ihr und
Böx ein sehr privates Verhältnis entstand, plauderte der
Botschafter auch ungeniert Geheimes aus, das nicht in
Schriftstücken auftauchte. Da Böx CDU-Mitglied war,
interessierten uns seine Bewertungen ganz besonders.
Wir erfuhren, daß die polnische Regierung erstaunlich
offenherzig mit der westdeutschen Seite verhandelte. Sie zeigte
ganz ungeniert das Interesse, ohne viel Rücksicht auf die
Sowjetunion und die DDR möglichst schnell mit Bonn zu einer
vertraglichen Vereinbarung zu kommen.
Dank dieser umfassenden Informationen erkannte ich schon
früh, daß es Brandt mit der Entspannungspolitik ernst war und
daß er erfolgreich sein würde. Die DDR-Führung aber schien
sich blind und taub zu stellen gegenüber dem Wandel, für den
ich fast täglich neue Belege lieferte. Verantwortlich für die
Harthörigkeit unserer Führung war nicht zuletzt die
undurchsichtige Haltung Moskaus, wo man der DDR gegenüber
zu verheimlichen versuchte, wie weit die Gespräche mit Bonn
bereits gingen. Die SED-Führung, insbesondere der zweite
Mann in der Partei, Erich Honecker, interpretierte die Signale
aus Moskau als Bestätigung einer unverändert starren Politik der
UdSSR gegenüber der BRD.
Als sich Ulbricht 1969 mit Breschnew traf, ließ er seine Sorge
durchblicken, Moskau könne sich hinter dem Rücken der DDR
mit Bonn verständigen. Der Kreml-Führer versicherte ihm
darauf, er werde nicht vom gemeinsamen Kurs abweichen, und
bestärkte Ulbricht darin, den harten Kurs gegenüber der
Bundesrepublik beizubehalten. In Grundsatzfragen dürfe es
keine Kompromisse geben, und zunächst stehe die
Völkerrechtliche Anerkennung der DDR auf der Tagesordnung.
Breschnew übte sogar Kritik an den Bemühungen der DDR um

-241-
weitergehende Handels- und Wirtschaftsbeziehunge n zur BRD.
Im November desselben Jahres war ich mit Mielke bei Jurij
Andropow. Weniger differenziert als bei vorangegangenen
Treffen bewertete er die Politik der SPD so kritisch wie
Breschnew. Auf meinen Einwand, unsere Informationen
belegten, daß es Brand t ernst sei mit der Entspannung, warnte
Andropow vor Illusionen. Selbst wenn der Bonner Kanzler
subjektiv guten Willens sei, gebe es für einen wirklichen
Wandel kaum ausreichende Voraussetzungen.
Mielke konnte mit der Botschaft nach Hause fliegen, daß alles
beim alten bleibe. Mir gegenüber jedoch hatte unser
sowjetischer Verbindungsoffizier Oleg Gerassimow, mit dem
mich ein Vertrauensverhältnis verband, durchblicken lassen, daß
Moskau an die Verhandlungen mit der BRD pragmatisch und
ohne Prinzipienreiterei herangehe.
Breschnew schlüpfte seinen Gesprächspartnern gegenüber
ohne Schwierigkeiten in die Rolle, die er jeweils für opportun
hielt. Zur selben Zeit, in der er die SED-Führung zur starren
Haltung gegenüber der BRD mahnte und in ihrer ablehnenden
Positio n zur Sozialdemokratie bestätigte, hatten die von ihm und
Brandt beauftragten Sonderemissäre die Wende in den
Beziehungen zwischen Bonn und Moskau schon vollzogen.
Breschnew wollte die Öffnung nach Westen selber
kontrollieren. Nichts wäre ihm ungelegener gewesen als
eigenmächtige, schwer überschaubare Kontakte zwischen der
DDR und der BRD. Die sowjetischen Deutschlandexperten
waren zudem sehr viel realistischer als die SED-Führung bei der
Beurteilung der Stimmung in der DDR-Bevölkerung. Sie
fürchteten die Sogwirkung des reicheren Westens und den
Erfolg der Bonner Propaganda, die auf das nationale
Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zielte.

-242-
Walter Ulbricht auf der Leipziger Messe 1970 (Willi Stoph: 1. von links,
dahinter Erich Honecker)
Wie widersprüchlich die Führung der DDR auf diese
Entwicklung reagierte, erlebte ich auf einer Festveranstaltung
zum 20. Jahrestag des Ministeriums für Staatssicherheit.
Ulbricht setzte bemerkenswerte neue Akzente, indem er in
einem Trinkspruch die eigenständige Entwicklung der DDR
betonte. Zwischen den Zeilen erkannte ich auch eine
Abgrenzung von den sowjetischen Vorstellungen der
zukünftigen Deutschlandpolitik. Ganz anders Honecker, der in
seiner Festansprache die Veränderungen in Bonn ignorierte und
unsere Kundschafter dafür lobte, daß »sie durch mutigen Einsatz
die westdeutschen revanchistischen Pläne in Erfahrung
bringen«. Als dann die Verhandlungen über ein Treffen der
beiden deutschen Regierungschefs liefen, warnte Honecker,
Bonn wolle »mit Hilfe der Politik des Brückenschlags, der
Konvergenz und der Wirtschaftshilfe den Stoß in die
sozialistischen Länder« führen. Nur Insider ahnten damals
schon, daß Honecker der harten Linie Moskaus folgte, um
Ulbricht bei der sowjetischen Führung zu demontieren.

-243-
Dieser Strategie fo lgend erhielt das geplante Treffen zwischen
Stoph und Brandt bei der Staatssicherheit den Codenamen
»Konfrontation I«. Die Widersprüche in der Parteiführung
wurden deutlich in den wechselnden Instruktionen, die ich für
unseren Verbindungsmann zur SPD-Spitze, Hermann von Berg,
bekam.
Als das Treffen am 19. März 1970 in Erfurt stattfand,
schienen sich die pessimistischen Prognosen zu bestätigen.
Schon die Ausgangspositionen der beiden Regierungschefs
waren unvereinbar. Stoph bestand auf der Anerkennung der
DDR als Voraussetzung für weitergehende Verhandlungen,
Brandt wollte über »menschliche Erleichterungen« zwischen
den deutschen Teilstaaten verhandeln.
Bereits am ersten Tag erwiesen sich auch Befürchtungen der
Staatssicherheit als begründet, das Ereignis könne außer
Kontrolle geraten. Trotz aller Vorsorge kam es dazu, daß
hunderte Menschen vor der Unterkunft Brandts, dem Erfurter
Hof, die Absperrungen durchbrachen und »Willy, Willy!«
riefen.

Willy Brandt und Willi Stoph vor dem Erfurter Hauptbahnhof 1970

-244-
Es war klar, daß sie nicht Willi Stoph meinten. Nach einigem
Zögern zeigten sich Brandt und Stoph auf einem Balkon der
jubelnden Menge. Der Kanzler war sichtlich bewegt.
Bei Mielke hinterließ diese Erfahrung anhaltende Wirkung.
Fortan wurde bei politischen Besuchen aus dem Westen der
Apparat der Staatssicherheit in unvorstellbarem Maße
strapaziert. Die Mitarbeiter wurden nicht nur zur Absicherung
eingesetzt, sondern mußten auch Passanten, Museums- oder
Theaterbesucher spielen. Auch Mitarbeiter meiner
Hauptve rwaltung wurden dabei eingesetzt. Selbst der Hinweis,
daß dadurch die Sicherheit bei Auslandsreisen gefährdet war,
befreite uns nicht ganz von diesen Einsätzen.
Der Besuch in der DDR hatte Brandt Sympathie und Achtung
eingebracht. Für viele Menschen wurde er zum Hoffnungsträger
der Entspannung. Auch ich zog damals ein optimistisches Fazit.
In meinem Tagebuch notierte ich, die Erfurter Begegnung könne
»für die weitere Entwicklung eine akzentsetzende Bedeutung
haben« und »im Zeichen der Einsicht in die Notwendigkeit der
Beendigung der langen Phase des kalten Krieges in der
Nachkriegszeit stehen«.
Die SED-Führung betrachtete das Ergebnis mit gemischten
Gefühlen. Honecker und Stoph kamen von einer anschließenden
Beratung in Moskau mit der Orientierung zurück: Nun müsse
Brandt erst einmal über die völkerrechtliche Anerkennung der
DDR und die Aufnahme beider deutschen Staaten in die Uno
nachdenken.
Dementsprechend erhielt das geplante zweite Treffen der
Regierungschefs am 21. Mai 1970 im Ministerium den
Codenamen »Konfrontation II«. Da die Gespräche in Kassel
stattfanden, war die Belastung für die Staatssicherheit dieses
Mal gering. Neben dem Personenschutz reisten nur Mitarbeiter
meiner Hauptverwaltung in der Delegation.

-245-
Willy Brandt und Conrad Ahlers am Fenster des Hotels Erfurter Hof
Der Einsatz der westdeutschen Sicherheit war kaum weniger
aufwendig als bei uns; trotzdem kam es auch in Kassel zu
Zwischenfällen. Aufgeputschte Jugendliche zerfetzten eine
DDR Fahne, und eine geplante Kranzniederlegung durch Stoph
mußte abgesagt werden, weil Ausschreitungen befürchtet
wurden.
Am Ende der ergebnislos verlaufenen Gespräche fragte
Brandt: »Was nun?« Stoph antwortete: »Denkpause.« Meine
Mitarbeiter berichteten von ihren inoffiziellen Kontakten, daß in
der Umgebung Brandts der Wunsch bestehe, die Gespräche
fortzuführen, auch wenn dafür Zugeständnisse notwendig seien.
Einer der engsten Vertrauten des Kanzlers, Conrad Ahlers, sagte
zu Hermann von Berg: »Wir sind uns einig, die Anerkennung
kommt, aber wir können noch nicht. Innenpolitisch wegen der
Wahlen im Juni, außenpolitisch wegen der Verbündeten,
besonders der USA, und wegen der Haltung der DDR.«
Keine drei Monate später hatten sich Moskau und Bonn auf

-246-
den »deutschsowjetischen Vertrag« geeinigt. Zwei Wochen
bevor sich Brandt und Breschnew trafen, um die Vereinbarung
zu unterzeichnen, mußte Honecker bei Breschnew vorsprechen.
Der Kreml-Chef wandte sich in dem Gespräch scharf gegen
Ambitionen der SED, »der Brandt-Regierung zu helfen und mit
der deutschen Sozialdemokratie zusammenzuarbeiten«. Es dürfe
zu keiner Annäherung zwischen der DDR und der BRD
kommen. Der Generalsekretär hielt es sogar für notwendig
hinzuzufügen: »Wir haben doch Truppen bei euch. Erich, vergiß
das nie, ohne uns gibt es keine DDR.«
Die Gardinenpredigt war eigentlich für Walter Ulbricht
bestimmt. Der erste Mann der SED las meine Berichte und
Analysen sehr genau, und er traute ihnen eher als den Papieren,
die von den Leuten seines Apparates fabriziert wurden. Ulbricht,
der schon immer mißtrauisch gegenüber der sowjetischen
Deutschlandpolitik gewesen war, durchschaute offenbar das
doppelte Spiel Breschnews. Vorsichtig hatte er begonnen,
Ansätze einer eigenständigen Politik gegenüber der BRD zu
formulieren.
Der Mehrheit der Funktionäre in der SED-Führung kamen die
barschen Regieanweisungen aus Moskau aber gerade recht. Das
erlebte ich, als ich Anfang August 1970 mit meiner Familie in
einem Heim der bulgarischen Staatsführung für ausländische
Führungskader Ferien machte. Meine deutschen Miturlauber
schwadronierten sogar noch beim Sonnenbaden über die
Gefährlichkeit der Ostpolitik Brandts. Wenn man sich darauf
einließe, meinten sie, sei die Sicherheit, ja die Existenz der DDR
bedroht. Ungewöhnlich offen kalkulierten sie auf den Sturz
Ulbrichts und die Machtübernahme Honeckers.
Auch der bevorstehende Besuch Brandts in Moskau schien sie
nicht zu beunruhigen. Sie rechneten damit, daß der Kreml die
Visite des Kanzlers protokollarisch niedrig hängen und Brandt
wie einen beliebigen westlichen Staatsmann behandeln würde.
Ich verspürte wenig Lust, mir den Urlaub mit solchen

-247-
Diskussionen zu verderben. Ich sagte nur zu Paul Markowski,
dem Leiter der außenpolitischen Abteilung des Zentralkomitees,
einem der wenigen vernünftigen DDR-Gäste in diesem
Ferienheim: »Die werden sich wundern.«
Am 13. August sah ich früh in die Prawda. Auf der ersten
Seite war ein Bild Willy Brandts, daneben, groß aufgemacht, der
Bericht über die Unterzeichnung des Vertrags. Ich schnappte
mir einen Stapel der Zeitungen, die immer schon morgens mit
dem Flugzeug aus Moskau kamen, und legte jedem deutschen
Gast ein Exemplar auf den Frühstückstisch. Die Verblüffung in
den meisten Gesichtern war ein wenig Genugtuung für mich.
Die Irritation hielt aber nicht lange an. Die Betonköpfe scharten
sich nur noch enger um Erich Honecker.
In diesem Sommer 1970 verdichteten sich die Anzeichen, daß
Honecker zu seinem Meister Ulbricht auf Distanz ging. Mir fiel
auf, wie sich der Zauberlehrling während der offiziellen
Geburtstagsgratulation für Ulbricht gegen seine sonstige
Gewohnheit im Hintergrund hielt. Honecker, der ohne Ulbrichts
Förderung nie auf einen vorderen Platz in der Führung
gekommen wäre, konnte auf die Protektion nun verzichten. Er
wußte sich mit Moskau im Bunde.
Als Honecker von Abrassimow unter dem Siegel der
Verschwiegenheit ein Blatt mit russischem Text über den Stand
der sowjetischen Verhandlungen mit der BRD erhalten hatte,
kannten wir und damit auch Ulbricht durch unsere Quelle in der
FDP-Spitze bereits den vollständigen Wortlaut des
Vertragsentwurfes. Ulbricht, mit seinem besseren Gespür für
politische Wendungen, folgte der Bewertung meines Dienstes,
daß Brandts Ostpolitik ernst zu nehmen sei. Auf einer Tagung
des Zentralkomitees der SED machte er sehr nuancierte
Bemerkungen über die Beziehungen zur Bundesrepublik. Aus
seiner Umgebung erfuhr ich, daß er sogar die Bildung
gesamtdeutscher Kommissionen geplant hatte, mit diesem
Vorschlag im Politbüro aber nicht durchgekommen war.

-248-
Die Meinungsverschiedenheiten in der Parteispitze über die
Einschätzung der Bo nner Regierung und der SPD wurden
immer deutlicher. Ulbricht wies für ihn erarbeitete Analysen
zurück, die das alte monolithische Feindbild des westdeutschen
Revanchismus bestätigten. Er glaubte unserer Einschätzung, daß
Brandts Entspannungspolitik durch gefährliche Angriffe der
Rechten in der Bundesrepublik bedroht sei. »Herta«, als
Sekretärin Quelle beim CDU-Rechtsaußen Werner Marx,
informierte uns über das Zusammenspiel der konservativen
Kräfte mit den Medien, vor allem mit dem Springer-Konzern.
Durch Zuspielen und Veröffentlichung angeblicher oder
tatsächlicher geheimer Dokumente, verbunden mit
Meinungsmache, wurde eine regelrechte Hysterie angefacht. Im
Anklang an die Vaterlandsverräter-Kampagne gegen Brandt in
früheren Jahren wurden nun seine Verhandlungen mit dem
Osten als Verrat nationaler Interessen dargestellt.
Bei einem Treffen mit mir beschrieb eine Spitzenquelle aus
der SPD, unter welchem Druck die Mitglieder der
Regierungsfraktionen stünden. Man machte sich sogar schon auf
Übertritte und den Verlust der parlamentarischen Mehrheit
gefaßt. Unsere Einschätzung der Lage in der Bundesregierung
wurde von den Verantwortlichen im Zentralkomitee
zurückgewiesen, weil sie »Wasser auf die Mühlen Ulbrichts«
und seiner Berater Gerhard Kegel und Dr. Wolfgang Berger sei.
Kegel hatte seinerzeit aus der deutschen Botschaft in Moskau
dem sowjetischen Nachrichtendienst den Termin von Hitlers
Überfall gemeldet; Berger, Berater in Wirtschaftsfragen, kannte
Ulbrichts wachsende Zweifel an der Fähigkeit Honeckers, unter
komplizierteren Bedingungen Partei und Staat zu führen.
Walter Ulbricht begriff die Bedeutung der
wissenschaftlichtechnischen Revolution. Er sah das stürmische
Wachstum der Produktivkräfte in der Bundesrepublik und
anderen entwickelten kapitalistischen Staaten, und er begann,
daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Mit großem Interesse

-249-
verfolgte er Vorführungen von Mustern modernster
technologischer Entwicklung, die mein Dienst beschafft hatte.
Im kleinen Kreis verriet er seine Skepsis an der Fähigkeit
Moskaus, aus den umwälzenden Entwicklungen die
notwendigen Konsequenzen abzuleiten.
Die immer größer werdende Diskrepanz zwischen dem
Lebensstandard in Ost und West und die damit verbundene
Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung ließen Ulbricht wieder
an längst zu den Akten gelegte Pläne denken. In
Einzelgesprächen erörterte er den Gedanken einer
deutschdeutschen Konföderation mit dem Akzent auf
wirtschaftlicher und wissenschaftlichtechnischer
Zusammenarbeit. Es ging ihm dabei nur darum, die
Lebensfähigkeit der DDR zu erhalten. Am Ende seiner Amtszeit
bewies er eine Weitsicht, die ihm kaum jemand zugetraut hatte.
Da Ulbricht sich aber nicht traute, diese Gedankenspiele in
der Parteiführung und im Gespräch mit sowjetischen
Repräsentanten zu diskutieren, wuchs das Mißtrauen der
Hardliner nur. Völlig überraschend für die anderen Mitglieder
der Parteiführung sprach Ulbricht auf einer Arbeiterkonferenz in
Rostock von »Merkmalen für eine neue geschichtliche Zäsur«.
Ich glaubte damals, Ansatz eines neuen Denkens zu erkennen.
Mein Minister sah das offenbar ähnlich, reagierte aber gerade
deshalb entrüstet. Mielke erklärte, die Rostocker Rede sei »nicht
abgestimmt« gewesen. Ungeduldig erwartete er die Rückkehr
des Leiters der Berliner KGB-Vertretung, Iwan Fadejkin, der
wegen der Vorgänge im Politbüro nach Moskau geflogen war,
um mit Andropow zu konferieren. Honecker reiste ebenfalls
nach Moskau, um sich bei Breschnew über Ulbricht zu
beschweren. Breschnew bestärkte ihn in dem Plan, Ulbrichts
Nachfolge als SED-Chef anzustreben. Gemeinsam mit Honecker
zog er die Fäden, die zum Sturz Ulbrichts führen sollten.
Walter Ulbricht war ein Mann mit Fehlern und Schwächen. Er
war ein Kommunist stalinscher Prägung. Er hatte ein
-250-
ausgeprägtes Gefühl für Macht und kannte kaum Skrupel. Seine
Neigung zu eigenmächtigen Entscheidungen und zur
Selbstüberhebung wurden durch den Altersstarrsinn des fast
Achtzigjährigen noch verstärkt. Aber all das warfen ihm seine
Widersacher nicht vor. Er sollte entmachtet werden, weil er mit
bemerkenswertem Realitätssinn die Lage im sich verändernden
Europa sah und über politische Konsequenzen dieser
Entwicklung nachdachte.
Als die Intrigen gegen Ulbricht selbst im inneren
Führungszirkel noch nicht für alle zu erkennen waren, bekam
ich ihre Auswirkungen bereits zu spüren. Mielke übermittelte
mir die Mißbilligung Honeckers, weil ich den Bericht über ein
mehrstündiges Treffen mit einem der führenden Männer der
SPD-Fraktion an Ulbricht weitergegeben hatte. Soweit war es
also schon gekommen, daß der erste Mann in Partei und Staat
wichtige Informationen des Nachrichtendienstes nicht mehr
erhalten sollte.
Nach außen vollzog sich der Rücktritt Ulbrichts dann im
Vergleich zu solchen Ereignissen in anderen sozialistischen
Staaten korrekt und ehrenvoll. Auf dem VIII. Parteitag der SED
im Juni 1971 wurde Honecker die Macht anvertraut, während
Ulbricht zum Ehrenvorsitzenden gewählt wurde. Der alte Mann
blieb formell sogar noch einige Zeit Vorsitzender des
Staatsrates.
Über den Ablauf der Entmachtung Ulbrichts ist viel
geschrieben worden. Aber die Umstände waren dramatischer,
als es die 1990 bekanntgewordenen Dokumente verraten. Zur
entscheidenden Konfrontation zwischen Ulbricht und Honecker
kam es bei einem Vier-Augen-Gespräch im Sommersitz Dölln.
Vor der Begegnung hatte Honecker die Männer des
Personenschutzes aufgefordert, ihn von seinem Jagdsitz
Wildfang abzuholen und zu Ulbrichts Residenz in Dölln zu
begleiten. Die Leute der Hauptabteilung Personenschutz
wunderten sich über den ungewöhnlichen Befehl, zu einem

-251-
solchen Besuch unter Freunden nicht nur die normale
Ausrüstung, sondern auch Maschinenpistolen mitzunehmen. Vor
Ulbrichts Residenz angekommen, berief sich Honecker
gegenüber dem Kommandanten auf seine Weisungsbefugnis als
verantwortlicher ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen. Er ordnete
an, alle Tore und Ausgänge zu besetzen und die
Nachrichtenverbindungen zu kappen. Honecker schien also
entschlossen, seinen Ziehvater festzusetzen, falls dieser sich
seinen Forderungen verweigern sollte.
Soweit kam es nicht. Nach eineinhalbstündiger harter
Auseinandersetzung resignierte Ulbricht, verlassen von Moskau
und der Mehrheit des Politbüros. Er unterschrieb das geforderte
Rücktrittsgesuch an das Zentralkomitee. Er hoffte noch, das
Gesicht zu wahren und als Staatsratsvorsitzender politischen
Einfluß ausüben zu können. Aber Honecker unterband das mit
der gleichen Härte, mit der er den Sturz betrieben hatte.
Verbittert sprach der alte Mann, der ein Stück deutsche
Geschichte mitgeschrieben hatte, von einem Putsch Honeckers
und Mielkes, seiner ehedem engsten Vertrauten.
Nicht einmal zwanzig Jahre später schloß sich der Kreis, als
Honecker – Ironie der Geschichte – auf ähnliche Weise vom
Sockel gestoßen wurde. Auch er sprach danach von einem
Putsch.
Vom Ende der Ära Ulbricht und der Inthronisierung
Honeckers versprachen sich viele Menschen in der DDR
frischen Wind. Anfänglich sah es in der Wirtschafts- und
Kulturpolitik tatsächlich nach einem Neubeginn aus. In der
Führung praktizierte Honecker einen kollegialeren Leitungsstil;
er ließ andere Meinungen gelten, forderte sie sogar heraus. Aber
diese Ansätze waren bald vergessen. Honecker war wie sein
Lehrmeister Ulbricht ein Produkt des real existierenden
Sozialismus. Reformideen, die es immer wieder gab, hatten
keine Chance. Schon vor der Eröffnung des VIII. Parteitags
waren die Delegierten in einer Instruktion darauf hingewiesen

-252-
worden, daß es »keinen Grund zur Fehlerdiskussion« gebe,
Probleme würden »im Vorwärtsschreiten« überwunden –
Floskeln, die uns bis zum Oktober 1989 begleiteten. Jeder
Versuch einer demokratischen Diskussion innerhalb der Partei
wurde unterdrückt.

Erich Honecker und Walter Ulbricht 1972


Verständlich ist die Frage der Jüngeren an uns Ältere,
weshalb wir uns dieser im Widerspruch zu den »Leninschen
Normen des Parteilebens« stehenden Disziplinierung mehr oder
weniger widerstrebend immer wieder gefügt haben. Auch ich
muß mich dieser Frage stellen.
Nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags hatte sich
die Politik der Entspannung in den beiden deutschen Staaten
längst noch nicht durchgesetzt. Es gab gewaltige außen- und
innenpolitische Hürden zu überwinden, bevor es zu vernünftigen
Beziehungen zwischen DDR und BRD und nach mühseligen
Verhandlungen zu den Verträgen zwischen ihnen kommen
konnte.
Unsere Quellen in den Unionsparteien berichteten über

-253-
verschiedene geheime Manöver, mit denen Brandts Politik
torpediert und schließlich der Sturz seiner Regierung erreicht
werden sollte. Eine wesentliche Rolle spielte dabei das
Zusammenwirken von Konservativen im Auswärtigen Amt,
Industriekreisen und den Blättern des Springer-Konzerns. Dies
nötigte Brandt zu großer Vorsicht bei Zugeständnissen an die
östliche Seite. Die DDR nutzte unter anderem die
unterschiedlichen Auffassungen über den Status von West-
Berlin als Bremse bei den Verhandlungen über praktische
Lösungen, zum Beispiel auf den Transitwegen.
Moskau sah eine Annährung der deutschen Staaten weiter mit
Mißtrauen, aber auch die westlichen Siegermächte pochten auf
ihre Rechte in West-Berlin und komplizierten die Problematik
zusätzlich. Es bedurfte vertrauensvoller Zusammenarbeit und
großer diplomatischer Kunst der Unterhändler Bahr und Falin,
ihre jeweiligen Verbündeten zum Einlenken zu bewegen.
Für Uneingeweihte völlig überraschend wurden im Oktober
1970 die konträren Grundsatzpositionen in der Berlin-Frage
ausgeklammert und ganz pragmatisch über den Transitverkehr
verhandelt. Die SED-Führung war so überrumpelt von den
neuen Direktiven aus Moskau, daß zwei Mitglieder des
Politbüros, die sich in Paris aufhielten, die Wende gar nicht
mitbekamen und immer noch der alten Sprachregelung in der
Berlin-Frage folgten. Mitarbeiter meines Dienstes mußten
alarmiert werden, um den beiden die neuen Direktiven zu
erläutern.
Nach eineinhalb Jahren war schließlich auch das Berlin-
Abkommen unter Dach und Fach und bildete mit dem
Transitabkommen den Abschluß der Verhandlungen. Damit
begann die Phase der Normalisierung in den Beziehungen
zwischen beiden deutschen Staaten und West-Berlin. In der
historisch kurzen Zeit von nur zwei Jahren war es Willy Brandt
und seinen Unterhändlern gelungen, die Weichenstellung für
den künftigen Verlauf der europäischen Geschichte

-254-
entscheidend zu verändern.
Im Rückblick glaube ich sagen zu dürfen, daß Informationen
und Kontakte meines Dienstes die Entspannungspolitik auf
spezifische Weise unterstützt haben. Die politische Führung in
Moskau und die Verhandlungsführer der DDR waren
über die Intentionen der anderen Seite so gut unterrichtet, daß
sie das Erreichbare und die notwendigen Kompromisse real
einschätzen konnten.
Die Paraphierung des Abkommens mit der DDR in Berlin und
die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt in
Oslo fielen fast auf den Tag zusammen. Dazu notierte ich am
11. Dezember 1971 in meinem Tagebuch: »Brandt hielt eine
seiner emotional wirkenden Reden. Er legte heute ein
beachtenswertes politisches Bekenntnis ab, mit viel aufhorchend
machenden Gedanken eines Kosmopoliten, denen man
zustimmen muß.« Für ihn traf Bismarcks Feststellung zu:
»Politik ist keine Wissenschaft… Sie ist eben eine Kunst.«
Für Brandt brach der innenpolitische Sturm jetzt erst richtig
los. Vertreter der Landsmannschaften, auch in der eigenen
Fraktion, bezichtigten ihn wieder einmal des Verrats, weil er
deutschen Boden den Polen überlassen habe. »Confidenten« aus
dem Auswärtigen Amt belieferten die Springer-Blätter mit
angeblichen Belegen für die These, die Sowjetunion wolle
West-Berlin schlucken, die Verträge sollten die Bedingungen
dafür schaffen.
Unsere Quellen meldeten, daß CDU und CSU, insbesondere
Strauß und Marx, vielfältige Aktivitäten entfalteten, um
Abgeordnete der Regierungskoalition für ein Votum gegen die
Verträge und damit gegen Brandt zu gewinnen. Wir erhielten
sichere Informationen, daß drei Parlamentarier der FDP darunter
der frühere Vorsitzende Mende – und ein Sozialdemokrat, der
Vertriebenen-Funktionär Herbert Hupka, die Seite gewechselt
hatten.

-255-
Da sich die Opposition von Neuwahlen wenig versprach,
setzte sie auf ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Brandt,
mittels dessen ihr Kandidat Rainer Barzel zum Kanzler gewählt
werden sollte. Mit den gekauften Stimmen schien der Union ein
Sieg sicher. Die Ratifizierung der Verträge wäre gescheitert.
In Moskau wurde Honecker von Breschnew belehrt, die
Verträge hätten epochale Bedeutung, weil sie den Frieden in
Europa für die nächsten zwanzig, fünfundzwanzig Jahre
sicherten. Der Generalsekretär warnte zwar gleichzeitig wieder,
Brandt wolle wie Barzel die Grundlagen der DDR untergraben
und deshalb dürfe sie sich nicht in wirtschaftliche Abhängigkeit
von der BRD begeben. In dieser Situation aber müsse Brandt
unterstützt werden, um die Verträge zu retten.
Über die Kontakte Hermann von Bergs zu Bahr, Schütz,
Spangenberg, Ahlers und Flach wurde nach Wegen gesucht, der
Brandt-Regierung politisch zu helfen. Honecker, vom Saulus
zum Paulus gewandelt, setzte sich für noch weiter gehende
Kompromisse in der Berlin-Frage ein.
Gegen den Kauf von Abgeordneten durch die Union waren
politische Aktionen wenig erfolgversprechend. Ich erinnerte
mich an den CDU-Parlamentarier Julius Steiner aus Baden-
Württemberg, der sich zu einer mittelmäßigen
Informationsquelle entwickelt hatte und dafür regelmäßige
Geldzuwendungen bekam. Ich stellte aus unserer Kasse 50000
DM zur Verfügung, um Steiner zur Stimmabgabe gegen das
Mißtrauensvotum zu bewegen. Später behauptete Steiner, von
Wienand 50000 DM erhalten zu haben. Der Sachverhalt wurde
nie geklärt, und deshalb ist auch die Frage nicht zu beantworten,
ob der CDU-Mann möglicherweise zweimal kassiert hat.
Vor der Abstimmung über das Mißtrauensvotum am 27. April
1972 wurden die Namen von vier weiteren
Koalitionsabgeordneten, die gegen Brandt abstimmen würden,
bekannt. Entsprechend siegesbewußt gab sich die Opposition.
Als dann das Ergebnis verkündet wurde, fehlten ihr wider
-256-
Erwarten zwei Stimmen. Das Fernsehen zeigte die betretenen
Gesichter in ihren Reihen, die Fassungslosigkeit Rainer Barzels.
Mindestens zwei Unionsabgeordnete hatten gegen die eigene
Partei gestimmt. Die Regierungsfraktionen jubelten. Nur zwei
Abgeordnete schienen ganz gelassen zu bleiben: Herbert
Wehner und Franz Josef Strauß. Beide waren offenbar gut
informiert über den geheimen Kampf um Stimmen, der dem
Votum vorausgegangen war. Barzels Niederlage machte im
übrigen für Strauß den Weg frei zur eigenen Kanzlerkandidatur.
Trotz dieser Niederlage gab das rechte Bündnis den Kampf
gegen die Verträge nicht auf und arbeitete weiter mit
Indiskretionen. Das Auswärtige Amt registrierte vierundfünfzig
Fälle von Geheimnisverrat im Zusammenhang mit der
Stimmungsmache gegen die Ostverträge. Am Ende gab es aber
auch in der CDU Meinungsverschiedenheiten über die
Bewertung der Abkommen. Bei der Abstimmung enthielt sich
fast die ganze Opposition der Stimme. Das Ja exakt der Hälfte
der Abgeordneten reichte zur Ratifizierung.
Als Walter Ulbricht kurz nach seinem 80. Geburtstag am 1.
August 1973 starb, war Europa politisch verändert. Beide
deutsche Staaten saßen als gleichberechtigte Mitglieder in der
Uno. Honecker hatte seine Haltung gegenüber der
Sozialdemokratie revidiert und empfing Herbert Wehner als
neuen Freund auf Schloß Hubertusstock.
Bei mir wurde zur gleichen Zeit durch die Meldung Alarm
ausgelöst, daß unsere Spitzenquelle im Bundeskanzleramt
observiert werde. Wir forschten nach den Ursachen und
ergriffen alle möglichen Schutzmaßnahmen. Nachdem wir
gerade dazu beigetragen hatten, den Sturz Brandts zu
verhindern, geriet der Kanzler nun durch unser Zutun in Gefahr.
Noch ahnte ich allerdings nicht, daß neun Monate später
geschehen würde, was man mir bis heute anlastet: der Rücktritt
Willy Brandts nach der Verhaftung unseres Kundschafters
Günter Guillaume.

-257-
11 Des Kanzlers Schatten

Drei Wochen nach Willy Brandts Wahl zum Bundeskanzler


am 21. Oktober 1969 stellte sich dem Chef des Kanzleramts ein
Mann namens Günter Guillaume vor. Guillaume hatte in der
Frankfurter SPD eine steile Karriere gemacht und sich soeben
erst als Wahlhelfer des Rechten Georg Leber gegen den
beliebteren Linken Karsten Voigt glänzend bewährt.
Kanzleramtschef Horst Ehmke sah keinen Grund, Guillaumes
Befürwortern ihren Wunsch abzuschlagen, und der neue Mann
wurde als Hilfsreferent in einem neuen Ressort eingestellt, das
für engere Kontakte zum Parlament, zu Verbänden, Kirchen und
Behörden zuständig war. Nach kaum einem halben Jahr stieg er
zum Referenten auf, nach einem Jahr wurde er zum
Oberregierungsrat befördert und dem Chef des Kanzleramts
direkt unterstellt.
Niemand konnte ahnen, daß der kometenhafte Aufstieg des
zielstrebigen und tüchtigen SPD-Mitglieds Guillaume der HVA
und ihrem Leiter Markus Wolf noch mehr Freude bereitete als
Guillaumes Vorgesetzten im Bonner Kanzleramt. Tatsächlich
waren wir noch wie betäubt vom Eintreten dessen, was wir in
unserem kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt hätten: einen
der Unseren in unmittelbarer Nähe des Kanzlers zu plazieren.
Natürlich hatten wir nichts unversucht gelassen, um Spione in
möglichst zentralen Regierungskreisen Bonns einzuschleusen,
doch daß Guillaume, Deckname Hansen, den Weg ins
Kanzleramt finden würde, damit hätten wir nie gerechnet, allein
schon wegen der strengen Sicherheitsüberprüfungen, denen
Übersiedler aus der DDR ausgesetzt waren, wenn sie in Bonn
vorstellig wurden.
Günter Guillaume und seine Frau Christel waren wie
Dutzende anderer junger Menschen Mitte der 50er Jahre im
Auftrag meines Dienstes unter ihrem richtigen Namen in die

-258-
Bundesrepublik gegangen. Da Christels Mutter, eine
Holländerin, schon früher nach Frankfurt am Main gezogen war,
blieben ihnen Flüchtlingslager und Befragung durch westliche
Geheimdienste erspart. Das Ehepaar war von uns beauftragt,
Quellen innerhalb der SPD zu erschließen und zu »führen«, und
so schien es am zweckdienlichsten, daß beide in die Partei
eintraten und sich als engagierte Parteimitglieder bewiesen.
Dabei hielten sie sich gewissenhaft an die Direktive, stramm die
Linie des rechten Flügels der SPD zu vertreten und sich dort
Freunde zu machen.
Womit wir nicht gerechnet hatten, das war der enorme Fleiß
und Arbeitseinsatz der Guillaumes, mit dem sie sich in kurzer
Zeit in der Parteihierarchie hochdienten, höher, als uns recht
sein konnte, denn im Rampenlicht wollten wir unsere Agenten,
die wir für Führungsaufgaben vorgesehen hatten, nicht wissen.
Das Ehepaar führte ein Fotokopiergeschäft in Frankfurt;
Günter arbeitete nebenbei noch als freiberuflicher Fotograf.
Christel Guillaume war als erste erfolgreich: Sie wurde Anfang
der 60er Jahre Büroleiterin bei Willi Birkelbach. Er war eine
besonders einflußreiche Figur der Sozialdemokratie, Mitglied
des Parteivorstands, des Bundestags sowie wichtiger
Ausschüsse, Vorsitzender der sozialistischen Fraktion des
Europaparlaments und Staatssekretär der hessischen
Landesregierung. Auf seinen Schreibtisch gelangten geheime
Nato-Dokumente wie die Studie »Das Kriegsbild« und
Unterlagen zur Notstandsplanung.
Günter Guillaume wurde 1964 Geschäftsführer des SPD-
Unterbezirks Frankfurt und 1968 Geschäftsführer der Fraktion
und Stadtverordneter. Die Informationen ließ er uns per
Mikrofilm in leeren Zigarrenhülsen zukommen, die ein Kurier
im Laden seiner Schwiegermutter entgegennahm. Einseitigen
Funkkontakt zu den Guillaumes hielten wir zu festgelegten
Zeiten an bestimmten Monatstagen. Nachdem er und seine Frau
unerwartet Blitzkarrieren in der SPD machten, waren DDR-

-259-
Besuche der Familie nicht länger ratsam, und die Kontakte in
der Bundesrepublik mußten noch umsichtiger als zuvor
stattfinden.
Als nächstes gewann Guillaume das Vertrauen Georg Leibers,
was zur Folge hatte, daß dieser ihm zur Belohnung für den
Wahlsieg, den unser Mann ihm verschaffte, einen Posten in
Bonn versprach und auch besorgte. Und das stürzte uns in ein
Dilemma: Einerseits war es fast zu schön, um wahr zu sein,
andererseits würde Guillaume als DDR-Übersiedler von BND
und Verfassungsschutz peinlich genau unter die Lupe
genommen und möglicherweise verdächtigt und am Ende gar
enttarnt werden.
Wir empfahlen unserem Agentenehepaar, sich ruhig zu
verhalten und auf keinen Fall durch übertriebenen Ehrgeiz auf
sich aufmerksam zu machen. Die Sicherheitsüberprüfung
bestanden beide – Günter durch kluges Auftreten bei einer
kritischen Befragung durch Horst Ehmke. Jahre später bezeugte
Heribert Hellenbroich, der nachmalige Leiter des BND, daß man
ihre Vergangenheit und ihren Lebenswandel akribisch
durchleuchtet hatte, ohne daß sich die vagen
Verdachtsmomente, die bestanden, hätten erhärten lassen. Seine
einstige Mitarbeit im Verlag Volk und Welt in Ost-Berlin
konnte Guillaume zur Zufriedenheit der neuen Arbeitgeber als
politisch unbedenklich darstellen. Nur Egon Bahr blieb
mißtrauisch und erklärte Ehmke gegenüber, möglicherweise tue
er Guillaume Unrecht, aber dessen Vergangenheit lasse es als
äußerst riskant erscheinen, ihn ins Kanzleramt aufzunehmen.
Seine Warnung verhallte ungehört, wie es das Schicksal aller
Kassandren seit der Antike will.
Guillaume war nicht der einzige Zuzügler aus der DDR,
dessen Herkunft vom Verfassungsschutz argwöhnisch beäugt
wurde – man denke nur an Hans-Dietrich Genscher, der seine
ursprüngliche Sprachfärbung bis zuletzt nicht verleugnen
konnte. Es war daher nicht weiter verwunderlich, daß man auch

-260-
Guillaume vertraute, sobald die ursprünglichen
Verdächtigungen ausgeräumt waren.
Manche SPD-Mitglieder konnten sich nie so recht mit seiner
Beflissenheit und seiner ständigen Anwesenheit im Hintergrund
abfinden, wenn es um Themen ging, die ihn eigentlich nicht
interessieren konnten, andere waren grundsätzlich gegen
Aufsteiger eingestellt, die sich aus dem Nichts hochgearbeitet
hatten. Aber für ihn sprachen seine Klugheit und sein
unermüdlicher Fleiß, und er hatte gewichtige Förderer. So kam
es, daß unser Agent mit dem Decknamen Hansen in die
unmittelbare Nähe des Kanzlers Willy Brandt gelangte.
Oft hat man die Frage gestellt, ob mein Dienst allein durch
Guillaume in die Lage versetzt wurde, Brandts Politik zu
durchschauen, eine Politik, die sehr widersprüchlich beurteilt
wurde.
Von einer Quelle im Bundeskanzleramt, wie Guillaume es
war, erwarteten wir in erster Linie rechtzeitige Signale, falls die
internationale Situation sich bedrohlich zuspitzen sollte. Diese
Aufgabe besaß für Guillaume stets höchste Priorität.
Gleichzeitig hatte ich ihn darauf hingewiesen, daß von einer
Regierung unter Brandt zwar kein Ausscheren der
Bundesrepublik aus der Nato-Politik und der Hochrüstung zu
erwarten sei, möglicherweise aber Schritte hin zu einer
Entspannung in Europa vorstellbar seien, die äußerste
Aufmerksamkeit verdienten. Guillaume kam erst ab 1972 in die
unmittelbare Nähe des Kanzlers. Mit den Entscheidungen über
die Verhandlungen in Warschau und Moskau, die oft unter
Ausschaltung der Botschafter in sehr kleinem Kreis gefällt
wurden, war er niemals befaßt. Über diese Vorgänge waren wir
aus anderen Quellen gut informiert, als die Verhandlungen ein
Stadium erreichten, das seinen Niederschlag in Dokumenten
fand.
Guillaumes Informationen und Wertungen hatten eine ganz
andere Bedeutung als die Geheimdokumente, die uns über
-261-
unsere anderen Quellen erreichten. Noch vor seiner Tätigkeit als
Referent Willy Brandts gehörte Guillaume schon zu dessen
engerem Arbeitsstab. Kontaktfreudig und fleißig, wie er war,
verstand er es, seine vielfältigen Verbindungen aufs beste zu
nutzen. Im Vorfeld der Brandt-Stoph-Gespräche verhalf er uns
zusammen mit anderen Kanälen zu einem nahezu vollständigen
Bild der Wünsche und Vorstellungen der Bundesregierung. Die
Anregung zu dem ursprünglich nicht vorgesehenen Besuch
Brandts im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald soll
von ihm ausgegangen sein.
1970 wurde Guillaume damit betraut, in Saarbrücken ein
Regierungsbüro für den SPD-Parteitag einzurichten. Als Chef
dieser Dépendance des Kanzleramts war er auch für den Kontakt
zu den verantwortlichen Beamten des BND und für Empfang
und Weiterleitung der eingehenden Nachrichten und der per
Hubschrauber eintreffenden Kurierpost zuständig. Die BND-
Leute gewöhnten sich schnell daran, daß Guillaume
offensichtlich das Vertrauen der Regierungsspitze genoß. Mit
Zustimmung des Verfassungsschutzes erhielt er kurz darauf
auch die formelle Genehmigung zum Umgang mit
Verschlußsachen der höchsten Geheimhaltungsstufe.
Wichtiger als all das war für meinen Dienst aber immer noch,
daß Guillaumes Wahrnehmungsfähigkeit und seine politische
Intelligenz ihn zu Erkenntnissen und Schlußfolgerungen
befähigten, denen wir zweifelsfrei entnehmen konnten, daß es
sich bei Brandts neuer Ostpolitik um einen zwar
widersprüchlichen, aber dennoch echten Kurswechsel in der
bundesdeutschen Außenpolitik handelte. Seine Einschätzung der
Ostpolitik Willy Brandts erwies sich im nachhinein als völlig
zutreffend, und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß er
die Entspannung zwischen Bundesrepublik und DDR mitgeprägt
hat, indem er uns den Friedenswillen Willy Brandts
nachdrücklich vor Augen geführt hat.
Unterdessen schritt Guillaumes Karriere unaufhaltsam voran.

-262-
Peter Reuschenbach, der Wahlkampfleiter und Parteireferent im
Kanzleramt, kandidierte selbst für den Bundestag und schlug
deshalb unseren Mann als seinen Nachfolger vor. Der Vorschlag
wurde angenommen, und Guillaume organisierte den
Wahlkampf mit aller gewohnten Effizienz und Umsicht. Als
nimmermüder Helfer stand er Tag und Nacht hinter Willy
Brandt. Daß er auf diese Weise bald über Brandts menschliche
Schwächen im Bilde war, ist wohl kaum verwunderlich,
wenngleich er nicht beauftragt war, uns über diese Aspekte des
Privatlebens des Kanzlers zu berichten.
Die Wahlen von 1972, bescherten der Koalition aus SPD und
FDP einen unerwarteten Sieg. Diejenigen Mitarbeiter meines
Dienstes, die Guillaume kannten, konnten ihn bei dieser
Gelegenheit im Fernsehen bewundern, wo er als erschöpfter,
aber glücklicher Wahlhelfer Willy Brandts zu sehen war. Noch
am Tag des Wahlerfolgs fiel die Entscheidung, daß Guillaume
beim Kanzler bleiben sollte. Ab dem 1. Januar 1973 war er als
persönlicher Referent für Parteifragen dem Kanzlerbüro
zugeteilt, und seitdem nahm er an den Sitzungen des Partei- und
des Fraktionsvorstands der SPD ebenso teil wie an den
Besprechungen der Abteilungsleiter im Parteivorstand. Dadurch
gewann er tiefere Einblicke in politische Interna der
Regierungspartei, als er aus dem Inhalt des Kanzleraktenkoffers
gewinnen konnte, den er auf Reisen für seinen Chef in Obhut
hatte. Als kaum beachteter, stiller Zuhörer vieler Gespräche, die
Brandt gern im kleinsten Kreis führte, erfuhr er Wichtigeres, als
er aus irgendwelchen Papieren kopieren oder entnehmen konnte.
Sein genereller Auftrag lautete nach wie vor, jedes Anzeichen
einer möglichen Zuspitzung der internationalen Lage sofort zu
signalisieren, über die Vorbereitung der Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Haltung der
Bundesregierung zu den Abrüstungsverhandlungen zwischen
USA und UdSSR zu berichten und jede Möglichkeit zu nutzen,
mehr über die wahren Absichten der USA herauszufinden.

-263-
Diesen Auftrag erfüllte Guillaume nach Kräften, allerdings nicht
mehr sehr lange.
Im Herbst 1972 wurde Wilhelm Gronau vom Ostbüro des
DGB, eine unserer ältesten Quellen in West-Berlin, verhaftet,
als er sich mit seinem DDR-Instrukteur traf. Gronau und
Guillaume hatten dienstlich miteinander zu tun gehabt, ohne
vom nachrichtendienstlichen Hintergrund des jeweils anderen zu
wissen. Daß Gronau uns eines Tages den Vorschlag gemacht
hatte, Guillaume als eventuell lohnenden Kandidaten näher ins
Auge zu fassen, kann ich nur als Ironie des Schicksals sehen
oder als Bestätigung der Theorie, die zwar nicht
wissenschaftlich, aber rein empirisch bewiesen ist und die da
lautet, daß Leute, die man mit allen Mitteln voneinander
fernhält, es unweigerlich fertigbringen, in Kontakt zu kommen.
Nach Gronaus Verhaftung wurde auch Guillaume vom
Verfassungsschutz überprüft, was mir damals nur allzu
selbstverständlich vorkam. Was ich nicht wissen konnte, war,
daß ein Beamter der Verfassungsschutzbehörde sich den Kopf
über den Namen Guillaume zu zerbrechen begann und Fährten,
die bislang harmlos erschienen waren, miteinander in Beziehung
brachte. Es kann nicht später als März 1973 gewesen sein, daß
der Verfassungsschutz sich über Guillaumes Identität als Spion
der DDR endgültig im klaren war. Ende Mai wurde der
damalige Innenminister Genscher informiert, der daraufhin
Brandt informierte – aber wie und in welchem Umfang, das
bleibt bis heute ein Geheimnis.
Als wäre nichts gewesen, blieb Guillaume Brandts enger
Vertrauter und begleitete ihn Ende Juni 1973 auf dessen Urlaub
nach Norwegen, wo er für mehrere Wochen sämtliche Aufgaben
des persönlichen Referenten und Büroleiters erledigte. Aller
Schriftverkehr ging durch seine Hände; es gibt
Fernsehaufnahmen, wo man Guillaume am Chiffriergerät ein
eben eingegangenes Fernschreiben lesen sieht. Rut Brandt und
Christel Guillaume hatten sich angefreundet und unternahmen

-264-
mit ihren Kindern Ausflüge, wenn die Ehemänner durch die
Arbeit gebunden waren.
In dieser Zeit wurde die KSZE in Helsinki vorbereitet, und
aus dem, was unser Mann »Hansen« uns zukommen ließ,
konnten wir entnehmen, daß die USA infolge der
Entspannungspolitik Alleingänge ihrer europäischen Partner
befürchteten, die ein Abdriften aus der Verteidigungsallianz zur
Folge haben könnten. Deshalb drangen sie auf den Abschluß der
Atlantischen Charta, in der die Mitgliedstaaten die Vorreiterrolle
der USA bekräftigen sollten. Vertrauliche Verhandlungen
zwischen Nixon und Brandt, zwischen Außenminister Scheel
und Sicherheitsberater Kissinger erzürnten wiederum die
anderen Nato-Partner, insbesondere die Franzosen, die sich
übergangen fühlten.
Drei besonders wichtige Dokumente konnte Guillaume
kopieren. Das erste war ein Brief, den Richard Nixon am 3. Juli
an Willy Brandt sandte mit der Bitte, die Franzosen dazu zu
bewegen, die Charta zu unterzeichnen; dieser Brief war mit dem
Vermerk »privat« gekennzeichnet und mit einem
handschriftlichen Gruß Nixons versehen. Das zweite war ein
ausführlicher Bericht Walter Scheels aus Washington über seine
vertraulichen Gespräche mit Nixon und Kissinger, in denen er
sie davor gewarnt hatte, die europäischen Mitgliedstaaten zu
erpressen zu versuchen, und in denen die Amerikaner erklärt
hatten, die waffentechnischen Fortschritte der Sowjets seien so
gewaltig, daß ohne technologische Nachrüstung der Nato ein
nuklearer Erstschlag des Atlantischen Bündnisses nicht länger
im Bereich des Möglichen stehe. Und das dritte war eine
Mitteilung Egon Bahrs, der Brandt riet, sich nicht von den
Amerikanern unter Druck setzen zu lassen und die guten
Beziehungen zu Frankreich nicht aufs Spiel zu setzen.
Der Dissens innerhalb der Nato spitzte sich weiter zu; aus den
Dokumenten war zu erfahren, daß Großbritannien sich von den
USA nicht bevo rmunden lassen wollte und daß der französische

-265-
Außenminister Michel Jobert die Amerikaner mit
Feuerwehrleuten verglich, die Feuer legten, um es dann mit
großer Geste löschen zu können.

Willy Brandt und Günter Guillaume 1973

Brandt mußte reagieren und seinem Außenminister eine


Stellungnahme übermitteln, aber der Entwurf seines Beraters
Bahr entsprach seinen Vorstellungen so wenig, daß er Stunden
um Stunden mit grünem Filzstift daran herumredigierte. Als er
die umgeschriebene Fassung Guillaume übergab, damit dieser
sie nach Bonn zurückübermittelte, gab dieser vor, sie sei so
unleserlich, daß er sie erst abtippen müsse. Niemand kam auf
die Idee, nach dem Verbleib des Originals zu fragen.
In Günter Guillaumes Prozeß warf ihm die Anklagevertretung
vor, die Position der Nato gegenüber der Sowjetunion durch die

-266-
Weitergabe besagter Geheimdokumente stark gefährdet zu
haben – wörtlich: »Die Fernschreiben geben einen zuverlässigen
Einblick in die Meinungsverschiedenheiten, die während der
Verhandlungen über die Atla ntische Erklärung zwischen den
USA und ihren europäischen Nato-Partnern hervortraten. Sie
ließen erkennen, wie weitgehend und umfassend die Vorschläge
der USA waren und mit welchem Mißtrauen und welcher
Skepsis sie von Frankreich, Großbritannien und der
Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden. Sie zeigten,
wie wenig einig diese Staaten in ihren Vorstellungen über den
Inhalt und die Ziele einer solchen Erklärung und über das zu
ihrer Erörterung einzuschlagende Verfahren waren. (…)
Insgesamt gesehen vermittelten die Schreiben das Bild
zerstrittener und in grundsätzlichen Fragen uneiniger
Bündnispartner, deren gegenseitiges Vertrauen bis auf ein
Minimum geschwunden war. (…) Diese sich aus dem
Fernschreibverkehr ergebenden Erkenntnisse mußten vor der
Sowjetunion als Führungsmacht des Warschauer Paktes
geheimgehalten werden, um die Gefahr eines schweren
Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland abzuwenden. Ihre Kenntnis konnte in den Augen
der Sowjetunion die Abschreckungskraft der Nato mindern, die
unter der glaubhaften Entschlossenheit der Mitgliederstaaten zur
gemeinsamen Verteidigung eine echte Bündnissolidarität und
ein strategisches Gleichgewicht der militärischen Kräfte
voraussetzt. Das konnte die Sowjetunion bei ihren politischen
und strategischen Überlegungen veranlassen, gezielte
Maßnahmen zur Erosion des sicherlich nicht mehr festen
westlichen Bündnisses zu ergreifen und diese später in eine
politische Pression überzuleiten.« So ähnlich schilderte es auch
Guillaume in seinen Erinnerungen, wenn er dort schreibt, das
allerheiligste Sakrament der Bonner Regierung sei durch ihn in
den Besitz des Allerheiligsten in Ost-Berlin geraten – anders
ausgedrückt: Er sei fest davon überzeugt gewesen, daß die

-267-
Kopien, die er von den Dokumenten angefertigt hatte, durch
einen Kurier auch tatsächlich nach Ost-Berlin weiterbefördert
worden seien.
Bis heute ist diese Sichtweise verbreitet. Wie so oft sieht
jedoch auch in diesem Fall die Wahrheit ganz anders aus.
Den Inhalt der Norwegen-Dokumente erfuhren wir erst, als
sie Gegenstand des Prozesses gegen das Ehepaar Guillaume
wurden. Der Grund dafür ist, daß wir die Filmrollen mit den
Kopien der Papiere, die Christel Guillaume ihrem Kurier
»Anita« aushändigte, nie erhielten. Schon bald nach dem Urlaub
in Norwegen konnte Christel Guillaume den Eindruck, daß man
sie und »Anita« beschattete, nicht loswerden. Anfangs dachten
wir, sie sehe die berühmten weißen Mäuse, die eine häufige
Begleiterscheinung jeglicher geheimdienstlichen Tätigkeit sind,
doch wir mußten uns schnell eines Besseren belehren lassen. Als
Christel Guillaume sich mit »Anita« für die Übergabe der
Mikrofilme in einem Bonner Restaurant traf, nahmen zwei
Männer an einem Tisch ganz in der Nähe Platz, und plötzlich
sah Christel aus dem Augenwinkel ein Kameraobjektiv in der
halbgeöffneten Aktentasche des einen blinken. Zum Glück hatte
der Film bereits den Besitzer gewechselt; die beiden Frauen
plauderten noch ein wenig und verabschiedeten sich dann.
Unserem Kurier gelang es jedoch nicht, die Verfolger
abzuschüttel, weder in Bonn noch später in Köln. Zuletzt wählte
sie die geringere Gefahr und ließ das Päckchen von einer
Rheinbrücke ins Wasser fallen, wo es auf Nimmerwiedersehen
verschwand.
In Guillaumes Prozeß unterstellte man also, die Papiere seien
zu uns gelangt. Guillaume bestätigte diese Version, und ich
schwieg, da ich es einstweilen für geraten hielt, den Eindruck zu
vermeiden, daß es unterschiedliche Sichtweisen in dieser Sache
geben könne.
Eines der Berufsrisiken des Spionagechefs besteht darin, daß

-268-
einem für gewöhnlich nicht geglaubt wird, wenn man die
Wahrheit sagt. Selbst auf diese Gefahr hin kann ich nur
versichern, daß jede Suche in unseren Archiven nach den
Norwegen-Papieren vergebens wäre, nicht weil sie 1989
vernichtet worden wären, sondern weil sie nie in unsere Hände
gelangten.
Ich erwähnte bereits den folgenschweren Umstand, daß ein
Verfassungsschutzbeamter sich im Zusammenhang mit dem Fall
Gronau daran erinnert hatte, dem Namen Guillaume schon in
Verbindung mit anderen Spionagefällen begegnet zu sein.
Besonders verhängnisvoll war, daß der Instrukteur aus unserem
Dienst, der in West-Berlin zusammen mit Gronau verhaftet
worden war, entgegen den elementarsten Regeln aller
Geheimdiensttätigkeit einen Spickzettel mit sich geführt hatte,
auf dem er sich unter anderem den Namen Guillaume notiert
hatte, um nicht zu vergessen, daß er Gronau ans Herz legen
sollte, sich vor Guillaume in acht zu nehmen und seine
Annäherungsversuche für unseren Dienst diesem Mann
gegenüber einzustellen.
Vielleicht hätte all das noch nicht zur Katastrophe führen
müssen, wenn unser Agent einen xbeliebigen Namen wie Meier
oder Schulze gehabt hätte – vielleicht. Aber das Schicksal nahm
unerbittlich seinen Lauf, als der mißtrauisch gewordene Beamte
eines Tages in der Kantine mit einem Kollegen fachsimpelte,
der ungeklärte Fälle nichtidentifizierter Empfänger von
Funktelegrammen bearbeitete. Hierzu muß ich erläutern, daß
mein Dienst in den 50er Jahren ein sowjetisches Chiffriersystem
verwendet hatte, bis wir erfuhren, daß westliche Dienste es
mittels EDV geknackt hatten und die Telegramme nicht nur
dechiffrieren, sondern sogar nach Empfängern zuordnen
konnten. Daraufhin zogen wir das System aus dem Verkehr und
überprüften, wieweit unsere Leute in der Bundesrepublik durch
von uns versandte Telegramme gefährdet waren. Im Fall der
Guillaumes gelangten wir zu der Ansicht, die Telegramme an

-269-
sie aus der Anfangszeit ermöglichten keine Rückschlüsse auf
ihre Identität. Zweifellos hätten wir nicht so gedacht, wenn wir
geahnt hätten, an welche exponierte Stelle sie einmal geraten
würden. Was wir außerdem zu berücksichtigen vergaßen, waren
die Geburtstags- und Neujahrsglückwünsche, die unser Dienst
an seine Mitarbeiter zu schicken pflegte.
Beim Kantinengespräch der beiden Abwehrleute erinnerte
sich der Verfassungsschützer, der mit den ungeklärten
Funkvorgängen beschäftigt war, an einen dieser Vorgänge, der
einen Agenten betraf, dessen Name offenbar mit G. begann, der
gegen Ende der 50er Jahre aktiv geworden war, Zugang zur SPD
hatte und bedeutend genug sein mußte, um
Glückwunschtelegramme aus Ost-Berlin zu erhalten.
Der Beamte nahm sich die Akte mit den Telegrammen vor
und verglich die Daten der Glückwünsche mit den Geburtstagen
der Familie Guillaume. Von da an war alles klar. Es blieb nur
die Frage, wie man weiter vorgehen wollte, um zusätzlichen
Schaden zu verhindern und juristisch unangreifbares
Beweismaterial zu erlangen. Zwei Möglichkeiten standen zur
Diskussion: entweder sogleich das Ehepaar Guillaume
verhaften, um so schnell wie möglich zu Beweisen zu kommen,
oder Guillaume an seinem Posten zu belassen und das Ehepaar
zu observieren, um es auf diesem Weg seiner
nachrichtendienstlichen Verbindungen zu überführen. Man
entschied sich für das zweite Vorgehen. Zunächst observierte
man nur Christel Guillaume in der zutreffenden Annahme, daß
die Verbindung zum Kurier und somit zur Zentrale über sie lief,
und in der Hoffnung, sie bei der Übergabe von Material an ihren
Kurier zu erwischen und durch Zugriff in den Besitz der nötigen
Beweise zu gelangen.
Kompliziert wird die Geschichte dadurch, daß zu jener Zeit
keineswegs alle Regierungsmitglieder der Bundesrepublik in
erster Linie das Wohl des Kanzlers im Auge hatten. Anders läßt
sich nämlich nicht erklären, wieso zwischen dem mehr als

-270-
begründeten Verdacht, daß das Ehepaar Guillaume für die DDR
spionierte, und der Verhaftung der beiden ein Jahr lang nichts
getan wurde, um den Kanzler zu schützen.
Am 29. Mai 1973 informierte Günter Nollau als Präsident des
Bundesamts für Verfassungsschutz Innenminister Genscher über
den Fall Guillaume. Vor einem Untersuchungsausschuß
machten die beiden später widersprüchliche Angaben über das,
was sie gesagt haben wollen. Genscher und sein Bürochef Klaus
Kinkel beharrten auf der Behauptung, Nollau habe lediglich von
einem generellen Verdacht gesprochen und in keiner Weise die
Indizien erwähnt, die sein Amt bereits zusammengetragen hatte.
Als Genscher Brandt von dem Gespräch mit Nollau, von dem
Spionageverdacht und dem Vorschlag, Guillaume auf seinem
Posten zu belassen, Bericht erstattete, muß er sich so vage
ausgedrückt haben, daß Brandt die Informationen beiläufig zur
Kenntnis nahm, ohne sich weiter etwas dabei zu denken. In
seinen Erinnerungen schildert Brandt, daß er diesem Hinweis
nicht mehr Gewicht beigemessen habe als ähnlichen
Verdächtigungen, wie sie ihm seinerzeit als Regierendem
Bürgermeister West-Berlins beinahe täglich vorgetragen worden
waren und die sich letzten Endes fast immer als haltlos
erwiesen; daß die Abwehr während seines Urlaubs in Norwegen
nichts unternommen hatte, mußte er als Bestätigung seiner Sicht
der Dinge nehmen.
Nollau wiederum bestritt bis zu seinem Tod vehement
Genschers Darstellung und beharrte darauf, daß er mit aller
gebotenen Deutlichkeit vor Guillaume gewarnt habe; dennoch
wurde die Schuld bei ihm gesehen, und nach Abschluß der
Untersuchungen mußte er seinen Rücktritt einreichen.
Die Diskrepanzen in den Aussagen des Innenministers und
des obersten Verfassungsschützers ließen nicht nur in Bonn den
Verdacht aufkommen, Eingeweihte hätten Brandt bewußt ins
Unheil tappen lassen. Nach Abschluß der Untersuchungen
wurde Nollau zum Schuldigen erklärt. Da er und sein Protektor

-271-
Wehner mittlerweile verstorben sind, bleiben Genscher und
Kinkel die einzigen, die in dieser Sache Licht ins Dunkel
bringen könnten. Ihre diesbezüglichen Aussagen in meinem
Prozeß 1993 waren wenig erhellend und beschränkten sich im
wesentlichen darauf, daß sie von Nollau lediglich über einen
»vagen Verdacht« informiert worden seien.
Daß der ehrgeizige Politiker Genscher angesichts der
Regierungskrise in jenen Tagen bereits mit Helmut Kohl, dem
Oppositionsführer, Gespräche über eine CDU-FDP-Koalition
führte, ist ebensowenig ein Geheimnis wie der Umstand, daß
Kanzler Brandt weder vom Koalitionspartner noch aus den
eigenen Reihen prononciert unterstützt wurde, als der Spion an
seiner Seite enttarnt wurde.
Angenommen jedoch, Genscher und Nollau hätten aus durch
und durch ehrenwerten Gründen beschlossen, nichts zu
unternehmen und Guillaume lediglich zu beobachten, um so
Beweise gegen ihn zu sammeln, dann hätten sie dennoch auf
keinen Fall erlauben dürfen, daß unser Mann auch nur einen Tag
länger in so enger Nähe zum Bundeskanzler verweilte, und es
bleibt mir ein Rätsel, wie Genscher so etwas zulassen konnte.
Nicht zu rütteln ist an der Tatsache, daß der
Verfassungsschutz durch die Observation der Guillaumes bis
zum Tag ihrer Verhaftung nicht die Spur weiteren
Belastungsmaterials vorweisen konnte, ebenso wie an dem um
nichts weniger peinlichen Sachverhalt, daß die Eingeweihten es
ein Jahr lang für opportun hielten, in nächster Nähe des Kanzlers
und der Staatsgeheimnisse einen Spion ungehindert wirken zu
lassen. Wir hatten die Lunte gelegt, das ist zweifellos wahr,
doch andere hatten sie munter brennen lassen, statt das Feuer im
Keim zu ersticken.
Die zwielichtige Rolle, die Genschers Behörde dabei gespielt
hat, war diesem zweifellos bewußt, denn nach Guillaumes
Festnahme erklärte Genscher vor dem Bundestag, es sei ein
großer Agentenring aufgeflogen, da nur so das Jahr Observation
-272-
halbwegs plausibel gemacht werden konnte. Der einzige
Schönheitsfehler dieser Erklärung ist, daß sie von A bis Z
erfunden ist. Ein Bonner Ehepaar, mit dem die Guillaumes
privat befreundet waren, und ein West-Berliner Zahnarzt, den
sie im Urlaub kennenge lernt hatten, mußten als der ominöse
»Ring« herhalten und wurden ohne jede rechtliche Grundlage
verhaftet, bevor man sie heimlich, still und leise umgehend aus
der Haft entließ.
Nachdem Christel uns berichtet hatte, daß man sie
observierte, wiesen wir sie und ihren Mann an, jegliche
geheimdienstliche Betätigung einzustellen und alles
verräterische Material aus ihrem Haus zu entfernen. Warum
haben wir sie damals nicht zurückgerufen?
Wir debattierten eingehend mit ihnen, was zu tun ratsam
wäre. Einerseits sollten die Guillaumes keinem unnötigen Risiko
ausgesetzt werden, andererseits wiegte das tolpatschige
Vorgehen von Christel Guillaumes Überwachern uns in der
Illusion, die Observation sei Teil einer routinemäßigen
Sicherheitsüberprüfung. Georg Leber, inzwischen
Verteidigungsminister, hatte der Frau seines unvergessenen
Wahlhelfers die Stelle einer Vorzimmerdame in seinem
Ministerium angeboten, Christel hatte ihre
Bewerbungsunterlagen eingereicht, und das erklärte in unseren
Augen, warum sie – wie viele Bewerber um eine solche Stelle –
beobachtet worden war und warum die Beobachter sich keine
große Mühe bei ihrer Routineobservation gegeben hatten.
Dennoch hinterließ die Geschichte bei uns ein ungutes
Gefühl, und wir schlugen dem Ehepaar vor, den Rückzug in die
DDR anzutreten, sobald sie sich in Gefahr wähnen sollten.
Dafür aber sahen beide keinen Grund. Und so kam es zu dem
Kompromiß, daß wir beschlossen, die nachrichtendienstliche
Tätigkeit der Guillaumes bis auf weiteres einzufrieren, während
sie Augen und Ohren offenhalten sollten, was eine mögliche
Überwachung durch Bundesbehörden betraf. Zur Aufnahme

-273-
einer Verbindung vereinbarten wir mehrere sichere Varianten,
die nur im dringendsten Notfall genutzt werden sollten.
An diesem Punkt der Entwicklung informierte ich Minister
Mielke. Normalerweise traf ich meine Entscheidungen in
eigener Verantwortung, doch wenn die Intentionen der
politischen Führung von Aktivitäten meines Dienstes berührt
sein konnten, weihte ich den Minister ein. Im Fall Guillaume
ließ die politische Brisanz mir dies geraten scheinen. Mielke
schloß sich meiner Einschätzung an und stimmte meinem
Vorgehen zu. Daß er damals Honecker oder sonst jemanden
davon informiert haben sollte, halte ich für wenig
wahrscheinlich.
Dann geschah bis Februar 1974 nichts Auffallendes. Die
Guillaumes schlugen deshalb vor, ihre Tätigkeit
wiederaufzunehmen, was ich aus Vorsicht ablehnte, zumindest
bis zum Herbst des Jahres.
Im April machte Günter Guillaume in Südfrankreich Ferien,
und dort fiel ihm auf, daß er von ganzen Schwärmen
motorisierter deutscher und französischer Überwacher verfolgt
wurde. Als er nachts über Paris und durch Belgien nach Hause
fuhr, war seine Eskorte mit einemmal verschwunden. Hatte man
ihn aus den Augen verloren? Hatte man die Beobachtung
eingestellt? Warum nutzte er die Fluchtchance nicht, solange es
noch in seiner Hand lag? Entgegen dem, was wir mit ihm für
einen solchen Fall vereinbart hatten, entschied er sich dafür,
nach Bonn weiterzufahren, um seine Frau und den Sohn nicht
im ungewissen zurückzulassen. Das hätte er nicht tun dürfen.
Die Meldung, daß Christel und Günter Guillaume am 24.
April 1974 verhaftet worden waren, traf mich nicht weniger
unvorbereitet als Willy Brandt, der gerade von einem
Staatsbesuch im Nahen Osten zurückkehrte. Noch verstörender
war die Meldung, daß Guillaume sich überaus stilvoll ergeben
haben sollte, allerdings nicht in dem Stil, den man bei Agenten
für angemessen halten würde. Als die Polizei läutete, um ihm
-274-
den Haftbefehl vorzulesen, soll er gerufen haben: »Ich bin
Bürger der DDR und ihr Offizier – respektieren Sie das! «
Als mir das zu Ohren kam, traute ich meinen Sinnen nicht.
Guillaume hatte damit ein Schuldbekenntnis abgelegt, ohne
überhaupt beschuldigt gewesen zu sein. Mit diesem Bekenntnis
erlöste er die Bo nner Abwehr und die Strafverfolgungsbehörden
aus großer Beweisnot und ersparte ihnen das peinliche
Schauspiel, ohne stichhaltige Beweise einen Prozeß zu führen.
Anfang 1974 hatte der Verfassungsschutz die Erkenntnisse von
Anfang 1973 dem Generalbundesanwalt zur Eröffnung eines
Verfahrens angeboten, und dieser hatte abgewinkt; Wochen
später hielt sein Nachfolger Siegfried Buback dies für
möglicherweise doch aussichtsreich, sofern man noch ein wenig
länger ermittle und observiere – daher der Konvoi, der
Guillaume in Frankreich begleitet hatte.
Nach Guillaumes Rückkehr in die DDR sieben Jahre später
konnte ich nicht umhin, ihn zu fragen, was ihn dazu bewegt
hatte, einen so fatalen Schritt zu tun. Er sagte, er könne seine
Reaktion nur mit der frühen Morgenstunde und dem alles
beherrschenden Gedanken an seinen Sohn Pierre erklären, den
er über alles liebte. Er hatte immer darunter gelitten, daß sein
Sohn ihn nicht wirklich kannte, sondern nur die Fassade, die für
die Bundesrepublik bestimmt war. Pierre hielt seine n Vater für
einen Verräter an der Sache des Sozialismus und für einen
rechten SPDler wie Georg Leber. Vielleicht veranlaßte ihn der
unbewußte Wunsch, sich vor dem geliebten Sohn zu
rechtfertigen, zu seinen unbedachten Worten.
Das war ein unverzeihlicher Fehler. Als Spion muß man
jederzeit damit rechnen, daß man festgenommen wird. Unsere
Leute wurden deshalb in dieser Hinsicht stets besonders
sorgfältig geschult. Wir schärften ihnen ein, nichts als Name,
Anschrift und Geburtsdatum anzugeben, zu verlangen, daß man
die DDR-Vertretung in Bonn verständige, und sich ansonsten in
eisernes Schweigen zu hüllen. Auf diese Weise lag die

-275-
Beweislast ausschließlich bei den Organen der Bundesrepublik.

Tagebucheintrag vom 25. 4. 1974 (Transkription im Anhang)


Schon bei den ersten Vernehmungen wurde Guillaume nach
seinem Wissen um Brandts Intimsphäre befragt. Da er schwieg,

-276-
konzentrierte die Befragung sich auf Beamte der
Sicherungsgruppe Bonn, die den Kanzler stets auf seinen Reisen
begleitet hatte. Nicht durch Guillaume also, sondern durch die
Vernehmung westlicher Sicherheitsbeamter wurden Details über
Brandts Privatleben an die Öffentlichkeit gezerrt, die Horst
Herold, den Leiter des Bundeskriminalamts, veranlaßten,
Innenminister Genscher zu informieren, während Nollau Herbert
Wehner unterrichtete. Nollau notierte in diesem
Zusammenhang: »Wenn Guillaume diese pikanten Details in der
Hauptverhandlung auftischt, sind Bundesregierung und
Bundesrepublik blamiert bis auf die Knochen. Sagt er aber
nichts, dann hat die Regierung der DDR, der Guillaume
natürlich auch dies berichtet hat, ein Mittel, jedes Kabinett
Brandt und die SPD zu demütigen.«
Als Guillaume in der Haft von den Pressionen auf Brandt
erfuhr, gab er eine Erklärung zu Protokoll, daß von seiner Seite
keinerlei private Indiskretionen zu gewärtigen seien. Unter
Hinweis auf die bisherige Rolle der Untersuchungsbehörden
erklärte er zudem, daß er keine weiteren Aussagen machen
werde.
Guillaume büßte für seine Fehler schwer in seiner langen
Haft. Stolz schwieg er bis zuletzt und ließ sich nicht verlocken,
Informationen preiszugeben, um damit die Haftdauer zu
verkürzen. Aus dem Untersuchungsgefängnis schrieb er mir
damals: »Was… auf mein Fehlverhalten zurückzuführen ist, läßt
mich hier nicht zur Ruhe kommen. Wenn es überhaupt möglich
ist, so bitte ich die Partei und Sie als meinen Vorgesetzten um
Nachsicht für mein Verschulden. Sollten Sie fragen, warum ich
es unterließ, noch von Frankreich aus zu fliehen, so kann ich nur
antworten, daß die Chance sehr gering war und ich auch nicht
wie ein Feigling handeln wollte.«
Er hatte seine Fehler eingesehen, doch wie verhielt es sich mit
mir und meinem Dienst? Hatten wir die ersten Anzeichen einer
Observation auf die leichte Schulter genommen? Oft genug

-277-
fanden hysterische Überwachungsaktionen statt, bei denen
zahllose Unschuldige auf Herz und Nieren geprüft wurden.
In Guillaumes Fall hatten wir uns von der laienhaften
Durchführung der Observation ebenso täuschen lassen wie
davon, daß unser Mann nicht aus der unmittelbaren Nähe des
Kanzlers abgezogen worden war. Niemals hätten wir uns
vorstellen können, daß eine Sicherheitsbehörde die Nerven
besitzen könnte, einen Spion an so sensibler Stelle seelenruhig
zu belassen. Im übrigen sah Willy Brandt dies nicht viel anders
als ich, denn in seinen Memoiren schreibt er: »Wenn ein
gravierender Verdacht vorlag, hätte der Agent nicht in meiner
unmittelbaren Nähe belassen werden dürfen und man hätte ihn
in eine andere, gut zu observierende Stelle verschieben oder
sogar befördern müssen. Statt den Kanzle r zu schützen, machte
man ihn zum agent provocateur des Geheimdienstes seines
eigenen Landes.« Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der unverzeihliche Fehler, den ich mir und meinen
Mitarbeitern vorwerfen muß, war anderer Natur. Als wir die
potentiellen Gefahrenquellen für die Guillaumes untersuchten,
vergaßen wir dabei die Funksprüche aus den späten 50er Jahren,
obwohl wir wußten, daß sie entschlüsselt worden waren. Wir
maßen ihnen einfach keine Bedeutung zu und wurden aus
unserem Tiefschlaf erst durch Günter Guillaumes
Gerichtsverfahren geweckt, in dem sie ausführlich zur Sprache
kamen. Da fiel mir Winston Churchills prophetische Warnung
ein: »Es ist von großem Vorteil, die Fehler, aus denen man
lernen kann, recht früh zu machen.« Leider hatten wir unsere
Fehler in diesem Fall so früh gemacht, daß die Lehren daraus
der Vergessenheit anheimgefallen waren.
Nach monatelangen Verhandlungen verurteilte das
Oberlandesgericht in Düsseldorf Christel und Günter Guillaume
zu acht beziehungsweise dreizehn Jahren Gefängnisstrafe. Beide
Guillaumes nahmen die Urteilsverkündung gefaßt und mit
unbewegter Miene auf.

-278-
Für ihren Sohn Pierre kam eine schreckliche Zeit. Sein Vater
schrieb mir besorgte Briefe, in denen er mich inständig bat,
mich um den Halbwüchsigen zu kümmern und aus ihm einen
jungen Mann zu machen, auf den die DDR stolz sein konnte.
Das war aber nicht so einfach, wie man meinen könnte.
Manchmal hatte ich fast den Eindruck, als brauchten wir eine
eigene Abteilung, nur um Pierre zu betreuen. Schließlich war er
in einer Umgebung aufgewachsen, in der antiautoritäres und
individualistisches Denken herrschte. Mit einiger Mühe fanden
wir eine Schule, auf der Kinder von DDR-Funktionären erzogen
wurden, und dort brachten wir Pierre unter. Aber er konnte sich
nicht einpassen und fand keine Freunde. Bald darauf erklärte er
zu unserem Entsetzen, er wolle nach Bonn zurück, denn dort
hatte er eine Freundin. Bei jedem Gefängnisbesuch, den er
seinem Vater abstattete, sahen wir ihn im Geist für immer im
Westen bleiben.
In unserer Verzweiflung ließen wir nichts unversucht, um ihm
das Leben in der DDR schmackhaft zu machen: Wir bezahlten
ihm eine Fotografenausrüstung und besorgten ihm eine
Anstellung bei einer der besten Zeitschriften, die sich finden
ließen. Seine nächste Freundin war die Tochter eines Offiziers
aus meinem Dienst, und wir wollten schon erleichtert aufatmen,
als ich erfuhr, daß Pierre und seine neue Braut Ausreiseanträge
gestellt hatten. Uns blieb nur, ihre Ausreise zu genehmigen.
Günters Enttäuschung war sehr tief. Erst viele Jahre darauf
konnten Vater und Sohn wieder ein normales Gespräch
miteinander führen, aber da hatte Günter Guillaume bereits nicht
mehr lange zu leben.
Auf unsere Weisung hin schwiegen die Guillaumes in der
Haft, während wir uns den Kopf zerbrachen, welche Agenten
wir dem Westen zum Tausch anbieten konnten. Brandts
Rücktritt im Mai 1974 erschwerte unsere Position erheblich,
denn sein Nachfolger Helmut Schmidt verkündete wiederholt,
Guillaume müsse seine Strafe bis zum letzten Tag absitzen. Der

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Fall wurde zu einer heißen Kartoffel, an der sich nicht nur die
Deutschen die Finger zu verbrennen drohten, sondern auch ihre
großen Freunde in Ost und West. Alle unsere Hoffnungen, ihn
schon bald gegen Westspione einzutauschen, erwiesen sich als
trügerisch. Fidel Castro weigerte sich, im Tausch den CIA-
Agenten Hunt freizugeben, die Sowjetunion war nicht bereit,
den jüdischen Dissidenten Anatolij Schtscharanskij freizulassen,
den der KGB sogar noch dann als Agenten und gefährlichen
Staatsfeind bezeichnete, als jeder wußte, daß es nur noch eine
Frage des Geschicks war, wie das Land in dieser Sache sein
Gesicht retten wollte.
So scheiterte der Austausch Jahr um Jahr, und Günter
Guillaume litt zusehends unter den Folgen der Haft. Kurz vor
Weihnachten 1980 kam es zu einem Austausch, und ein Paket
mit Spionen beider Seiten wurde geschnürt. Ruth und Norbert
Moser, »Gerlinde« und »Hagen« kamen nach Ost-Berlin, doch
weder Christel noch Günter Guillaume gehörten zu den
Auserwählten.
Im März 1981 war es dann endlich soweit, daß Christel
Guillaume ausgetauscht wurde. Einer der gegen sie
ausgetauschten Westspione ließ nach seiner Heimkehr deutlich
verlauten, daß in der DDR seit langen Jahren inhaftierte
Westagenten es sehr begrüßen würden, wenn man etwas für sie
täte, und offenbar stieß dieser Hinweis nicht auf taube Ohren.
Kanzler Schmidt mochte noch so unwillig sein, nun mußte er
handeln. Und am 1. Oktober 1981 traf tatsächlich Günter
Guillaume in der DDR ein, die er fünfundzwanzig Jahre früher
verlassen hatte, um seinen Auftrag zu erfüllen. Die Zeit und die
Folgen der Haft waren nicht unbemerkt an ihm
vorübergegangen, doch ich spürte, daß der Mann, den ich in die
Arme schloß, innerlich noch derselbe war, von dem ich vor
einem Vierteljahrhundert Abschied genommen hatte.
Auch Christel war gekommen, um ihn zu begrüßen, und für
einen Augenblick war die schwere Krise, in die ihre Ehe schon

-280-
geraume Zeit vor beider Verhaftung geraten war, wie vergessen.
Die nächsten Tage würden für beide nicht leicht sein, denn ich
wußte, daß Christel Guillaume nicht zu ihrem Ehemann
zurückkehren wollte, während er sich noch immer an die
Hoffnung klammerte, sie umzustimmen.
Auch für mich würde die nächste Zeit nicht leicht sein, denn
ich konnte mir denken, daß Guillaume als Belohnung für alles,
was er durchgemacht hatte, gewiß eine besonders interessante
Stelle in der HVA erwartete, beispielsweise als leitender
Führungsoffizier für BRD-Agenten. Aber er war zu lange aus
dem Geschäft. Als ich mich mit seinem Arzt beriet und im
Scherz meinte, unter einem Posten im Politbüro werde Günter es
wohl kaum tun, erwiderte er trocken: »Auf einen mehr oder
weniger kommt es dort wirklich nicht an.«
Da Guillaumes Nieren- und Kreislaufleiden ständig
beobachtet werden mußten, kümmerte sich eine
Krankenschwester als Pflegerin um ihn. Die beiden kamen sich
menschlich näher, heirateten nach einiger Zeit und zogen in ein
Haus auf dem Land. Mitte 1995 starb Günter Guillaume nach
langer Krankheit. Ich war bei seiner Beerdigung auf dem
Friedhof von Marzahn zugegen. In letzter Minute, bevor die
kurze Totenfeier begann, öffnete sich die Tür, und eine
windzerzauste schlanke Gestalt schlüpfte herein. Ich hatte
gehofft, Christel oder Pierre wider besseres Wissen kommen zu
sehen, doch es war keiner der beiden, sondern Guillaumes
zweite Frau Elke, die Licht und Liebe in seine letzten
Lebensjahre gebracht hatte. Nach der Ansprache gingen wir auf
den Friedhof hinaus, wo der Sarg ins Grab gesenkt wurde, und
ich warf als letzten Gruß eine rote Rose ins offene Grab.

-281-
Von links nach rechts: Autor, Günter Guillaume, Christel Guillaume,
Erich Honecker, Erich Mielke (1981)
Noch heute glauben viele, Guillaumes Einzug ins
Bundeskanzleramt sei mein größter Erfolg gewesen. Viele
Anhänger Willy Brandts können mir Guillaumes Anteil am
Sturz dieses Kanzlers nicht verzeihen und sehen in mir den
Hauptschuldigen an Brandts Rücktritt. Ich wiederhole deshalb,
daß der Fall Guillaume für meinen Dienst die größte Niederlage
war, die wir bis dahin erlitten hatten. Brandts Rücktritt war
keineswegs von mir gewollt gewesen; selbst aus damaliger Sicht
konnte das nur ein politisches Eigentor für die DDR sein. Ich
war und bin fest davon überzeugt, daß die Guillaume-Affäre
nicht der Grund, sondern nur der Vorwand für den Rücktritt
Willy Brandts am 6. Mai 1974 war. In seinen Erinnerungen sagt
Brandt selbst, daß die Entdeckung eines Spions in seiner
unmittelbaren Umgebung kein Grund hätte sein dürfen, ihm den
Rücktritt nahezulegen.
Willy Brandt war das Opfer unüberbrückbarer Differenzen
innerhalb seiner Partei und einer Vertrauenskrise gegenüber der
Parteiführung, hervorgerufen durch das Ungleichgewicht des
Machtdreiecks, das aus ihm selbst, Herbert Wehner, dem

-282-
Einpeitscher der Parteidisziplin, und Helmut Schmidt, dem
Finanzminister, bestand. Aus Guillaumes Berichten wußte ich
seit langem, daß Brandts Feinde innerhalb der Regierung unter
Umständen gefährlicher sein konnten als Spione, die man auf
ihn ansetzte. Sein einflußreichster Opponent war zweifellos
Herbert Wehner, der dem Kanzler Unentschlossenheit und zu
große Kompromißbereitschaft vorwarf. Über Schmidt schrieb
Guillaume mir in einem Brief vom 11. Juni 1974: »Helmut
Schmidt wird versuchen, gegenüber dem Wählervolk als
Wirtschaftskanzler und auf die Sozialdemokraten als drohende
Kassandra zu wirken. (Er) wird das verjüngte Kabinett über den
Haushalt beherrschen und mit Hilfe Wirtschafts- und
währungspolitischer Maßnahmen auch auf die Außenpolitik
stark Einfluß nehmen (…).«
Brandt mißtraute Wehner und dessen Ostkontakten zutiefst.
Mit an Verfolgungswahn grenzendem Argwohn unterstellte er
ihm, hinter seinem Rücken mit uns Absprachen zu treffen. Daß
die Parteiführung der SPD seit den 50er Jahren von Wehners
vertraulichen Kontakten zu DDR-Politikern informiert war, steht
außer Frage, doch unklar muß bleiben, wie eingehend und in
welchem Umfang Willy Brandt darüber informiert wurde.
Brandts Abneigung gegen Wehner verleitete ihn sogar dazu, ein
Komplott zwischen Herbert Wehner und Erich Honecker mit
dem Ziel, ihn zu stürzen, zu unterstellen. Das beweist, wie
zerrüttet die Atmosphäre in der SPD-Führung damals war, wo
der Dolch im Gewände offenbar als die natürlichste Sache der
Welt erschien. Immer wieder ist aus Brandts Umgebung zu
hören, daß er sich Wehners unfreundliche Haltung bei seinem
Rücktritt später sogar mit der Vorstellung zu erklären versuchte,
Honecker habe von der HVA Tonbänder mit abfälligen
Bemerkungen aus seinem Mund über Wehner erhalten und diese
an Wehner weitergegeben.

-283-
Tagebucheintrag vom 6. 5. 1974 (Transkription im Anbang)

-284-
Tagebucheintrag vom 6. 5. 1974 (Transk ription im Anhang)
Wehner wiederum verübelte Brandt seine Frauengeschichten
und sein vertrauensseliges Verhalten ganz allgemein, das er für

-285-
einen Staatsmann unpassend fand. Als Guillaume enttarnt
wurde, war Wehner der erste, der die Situation ausnutzte. Er
erklärte Brandt, es werde zu einem Skandal kommen, falls
Guillaume das, was er über den Lebenswandel des Kanzlers
wußte, publik machen sollte. Außerdem versuchte er ihm
einzureden, die DDR-Regierung könne versuchen, ihn mit
diesem Wissen zu erpressen, obwohl ich mir nicht vorstellen
kann, daß Wehner auch nur entfernt einen solchen Unsinn
glaubte. Zum einen hätte es der DDR nichts genützt, zum
anderen kannte Wehner Honecker und seine prüde Art gut
genug, um zu wissen, daß es nie geschehen wäre. Zum dritten
war und bin ich der Ansicht, daß nur nervenschwache Menschen
sich mit ihrem Privatleben erpressen lassen, und in diese
Kategorie reihe ich Brandt nicht ein.
Helmut Schmidt, den es längst nach Brandts Position
gelüstete, verhielt sich nicht feindselig wie Wehner, setzte sich
jedoch auch nicht für den angeschlagenen Kanzler ein. So
überließen des Kanzlers engste Parteigenossen ihn der bitteren
Erkenntnis, daß er nicht nur einem Spion ausgesetzt gewesen,
sondern von den eigenen Parteigenossen mit Mißgunst und
Häme beäugt und nicht unterstützt worden war. In dieser
Situation tiefster Enttäuschung muß ihm als einzig möglicher
Weg erschienen sein, den Rücktritt anzubieten.
Weniger verständlich als Willy Brandts Enttäuschung war mir
das scheinheilige Getue mancher Politiker in Ost wie West, die
sich aufführten, als sei ein Agent in unmittelbarer Nähe eines
Regierungschefs ein unfaßbarer Verstoß gegen internationale
Sitten. Vielleicht werden die Zeiten noch einmal so reif und
zivilisiert, daß man daran denken kann, Sperrzonen um
Staatsoberhäupter und Regierungschefs zu errichten, aber bis
heute ist man auf beiden Seiten nicht so zartbesaitet.
Breschnew und Honecker sprachen selbstverständlich ihr
Bedauern über die Guillaume-Affäre aus. Doch wenn Honecker
– wie behauptet wird – zu Helmut Schmidt wirklich gesagt hat,

-286-
er hätte Guillaumes sofortigen Abzug angewiesen, wäre ihm
dessen Existenz bekannt gewesen, kann ich nur staunen, denn
eine derartige Order Honeckers ist mir nie zu Ohren gekommen.
Politiker wie Geheimdienstler – wissen, daß
nachrichtendienstliche Aktivitäten der Politik selbst nach
Möglichkeit nicht schaden sollen. In den Zeiten der
Entspannung war diese Prämisse wichtiger denn je. Dennoch
wurde der Druck auf die HVA gerade in dieser Zeit besonders
heftig. Verlangt wurde, daß wir die mit dem anhaltenden
Wettrüsten verbundenen Gefahren und alle Anzeichen einer
eventuellen Zuspitzung der internationalen Lage oder einer
Konfrontation der Machtblöcke zuverlässig kontrollierten, am
liebsten innerhalb der Regierungsspitzen und der Nato – was
nichts anderes heißt, als daß wir den Pelz des Bären waschen
sollten, ohne ihn naß zu machen.
Der Mann auf der Straße – Ost wie West – hatte Willy Brandt
als Friedenskanzler geliebt und äußerte seinen Unmut über
dessen erzwungenen Rücktritt ganz unverblümt. In Neustrelitz
wurde eine Straße mit einem Schild von Hand in Willy- Brandt-
Straße umgetauft, in Erfurt prangerte man den Verrat an ihm auf
zornigen Plakaten an, in Güstrow fing die Post ein
Beileidstelegramm ab, in dem drei junge Frauen Brandt Mut
zusprachen und die Hoffnung äußerten, daß sein Nachfolger sein
Werk weiterführen werde.
Bei Willy Brandt habe ich mich persönlich entschuldigt. Seine
menschliche Größe habe ich selbst erfahren, als er sich kurz vor
seinem Tod im Jahr 1993 gegen meine strafrechtliche
Verfolgung aussprach. Eine Begegnung mit ihm war mir nicht
vergönnt; er meinte, dies würde allzuviel Schmerzliches in ihm
aufrühren.

-287-
Tagebucheintrag vom 7. 5. 1974 (Transkription im Anhang)

-288-
Tagebucheintrag vom 8. 5. 1974 (Transkription im Anhang)

-289-
12 Das Gift des Verrats

Der Kampf der Geheimdienste gegeneinander, das Werben


und Überwerben von Agenten, das Anlocken von Überläufern
durch die eine und die anschließende Verfolgung durch die
andere Seite mag Außenstehenden als ein schmutziges und im
Grunde sinnloses Geschäft erscheinen. Für die Geheimdienste
gehört die Auseinandersetzung mit der Gegenseite zu den
Höhepunkten und das Eindringen in den gegnerischen Dienst
zur Krönung ihrer Tätigkeit und das Erlebnis ohnmächtiger
Schwäche, wenn der eigene Dienst vom Gegner unterwandert
wird, zu den demoralisierendsten Niederlagen.
Psychologisch läßt sich die Struktur eines Geheimdienstes mit
der eines Stammes oder eines Clans vergleichen: Die einzelnen
Individuen verbindet das gemeinsame Ziel und ein Gefühl
gemeinsamer Identität. Bei Geheimdiensten sozialistischer
Staaten verstärkte dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der
gemeinsame Glaube an die Sache des Kommunismus, der
Glaube daran, daß man für eine bessere Welt arbeitete. Aus
diesem Grund waren unsere Dienste, wie ich meine, stets
effektiver als die des Westens, die ihre Mitarbeiter meist auf rein
pekuniärer Basis zu gewinnen pflegten.
Einer meiner ehemaligen Gegenspieler hat behauptet, die
Überlegenheit der HVA gegenüber den Diensten der
Bundesrepublik – die er nicht in Abrede stellte – resultiere in
erster Linie aus dem »Vorteil der Diktatur« gegenüber dem
freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat, weil die Strafen, mit
denen gegnerische Agenten in unserem Land zu rechnen hatten,
derart drakonisch gewesen seien, daß das Risiko den
bundesdeutschen Diensten zu hoch gewesen sei. Dieser
Behauptung muß ich widersprechen: Die bedenkenlose
Leichtfertigkeit, mit der westdeutsche Dienste ganze
Heerscharen von Agenten zur Beobachtung und zum

-290-
Fotografieren von Kasernen und militärischen Übungen in
Bewegung setzten, konnte ich oft nur schwer begreifen. Es war
wohl kaum anzunehmen, daß uns diese Agenten quasi auf dem
Tablett serviert wurden, damit wir sie später zum Austausch
gegen unsere im Westen enttarnten Leute anbieten konnten. Im
übrigen zeigte sich auch nach dem Zusammenbruch der DDR,
daß die überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiter meines Dienstes
von den Idealen des Sozialismus überzeugt war. Bis auf einige
Ausnahmen waren sie politisch motiviert und fühlten sich
moralisch auf der richtigen Seite in der weltweiten
Auseinandersetzung zweier konträrer Systeme, ohne daß sie
deshalb die Fähigkeit zu selbständigem, logischem Denken
eingebüßt hatten. Sie waren keineswegs blind für die Mängel
des eigenen Systems. Doch neben ihrem fachlichen Können und
ihren intellektuellen Vorzügen spielte ihre politische
Überzeugung stets eine herausragende Rolle, und oft genug
übertrug sich diese ihre geistige und ideologische Haltung auf
die Quellen, die sie betreuten. Das Geheimnis unseres Erfolgs ist
meiner Meinung nach darin zu suchen, daß wir uns mit der Idee
und dem Ideal einer gerechteren Gesellschaftsordnung
identifizierten.
Was hatten westliche Dienste dem entgegenzusetzen? Sicher
hatten auch sie von den Vo rzügen ihrer Gesellschaft überzeugte
Frauen und Männer. Doch für viele ihrer Mitarbeiter mußte die
Tätigkeit hauptsächlich ein mehr oder weniger gut bezahlter Job
sein, der ermöglichte, daß man einen gewissen Lebensstandard
erreichte oder absicherte. Geld und Prestige, vielleicht auch hin
und wieder der Kitzel, ein abenteuerliches Leben zu führen,
waren in der westlichen Leistungsgesellschaft häufig gewiß
stärkere Anreize als die Identifizierung mit dem Staatswesen. So
erkläre ich mir den Umstand, daß es für meinen Dienst in
manchen Fällen nicht sonderlich schwer war, Mitarbeiter aus
den gegnerischen Diensten zu rekrutieren.
Auch in den westlichen Diensten wurde immer versucht, eine

-291-
Basis gemeinsamer Überzeugungen und Identifikationsmuster
für die Mitarbeiter zu schaffen. Deshalb fanden und finden sich
in den britischen Diensten so auffallend viele Cambridge und
Oxford-Absolventen und in der CIA ehemalige Studenten der
Eliteuniversitäten an der Ostküste. Ihnen unterstellte man einen
ausgeprägteren Gemeinschaftssinn.
In dem Augenblick aber, in dem dieses Gemeinschaftsgefühl
durch Verrat verletzt wird, breiten sich alles zersetzender
Argwohn und Mißtrauen aus, sogar bei Agenten, die weit vom
Ort des Geschehens entfernt operieren. Verrat ist Gift für jeden
Nachrichtendienst. Jeder Fall erschüttert das Vertrauen aller für
den Dienst Tätigen nachhaltig und erschwert es oft auf lange
Zeit, neue Agenten zu gewinnen. Das ohnehin ständig
vorhandene Gefühl des Risikos und der Gefahr verschärft sich
akut. Apparat und Leitung können wochen-, ja monatelang so
von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt, wenn nicht
geradezu paralysiert werden. Und wenn das Unglück es will,
daß ein solcher Fall von den Medien hochgeputscht wird und
das wiederum die Aufmerksamkeit der politischen Führung
weckt, können sich personelle Konsequenzen höchst
unerwünschter Art für den betroffenen Dienst ergeben.
Nur zu gut erinnere ich mich an die Welle der
Spionagehysterie, die sich ergab, als der KGB-Offizier Oleg
Ljalin sich 1971 in England absetzte. Neunzig Angehörige
sowjetischer Vertretungen wurden ohne viel Federlesens des
Landes verwiesen, andere, die sich in Urlaub befanden, durften
nicht wieder einreisen. Die Sowjetunion protestierte und rächte
sich mit Gegenschikanen, aber innerhalb des KGB wurden
natürlich Schuldige gesucht und auch gefunden. Erst geraume
Zeit später erzählte mir mein Moskauer Kollege ganz nebenbei,
daß Ljalin wegen einer Liebesaffäre zum Verräter an seinem
Dienst geworden sei – selbstverständlich ohne den Namen des
Betreffend en zu nennen.
Ein nicht zu unterschätzendes Problem in diesem

-292-
Zusammenhang ist die Schwierigkeit, bei einem Verdacht
zwischen erforderlicher Vorsicht und der Empfindlichkeit
möglicher Betroffener geschickt abzuwägen. Anders
ausgedrückt: Es besteht fast immer die Gefahr, daß zu viele
Personen eingeweiht werden, bis man am Ende mit leeren
Händen dasteht, weil der gesuchte Verräter von einem der vielen
Mitwisser gewarnt wurde – ob absichtlich oder versehentlich, tut
dann wenig zur Sache.
Als Beispiel fällt mir der Fall ein, als ein Mitarbeiter des
Warschauer Innenministeriums sich beim Chiffreur der dortigen
BRD-Vertretung anerboten hatte, für den BND tätig zu werden.
Was er an Vorschlägen und Bedingungen nannte, ließ einen
hohen Grad an Professionalität und Insiderwissen vermuten, so
daß man kein Hellseher sein mußte, um in dem anonymen
Bewerber ein Mitglied der polnischen Spionageabwehr,
zuständig für die Bundesrepublik, zu argwöhnen. Über den
BND und dort für uns tätige Quellen gelangte das Angebot auch
zu meiner Kenntnis, und so rief ich den polnischen
stellvertretenden Innenminister Francisek Szlachcic an und
schlug ihm einen gemeinsamen Jagdausflug für das kommende
Wochenende vor.
Die Liebe zur Jagd, die wir teilten, hatte unsere Beziehung
sehr offen und unkonventionell werden lassen. Ich besuchte ihn
wie vereinbart, gewissermaßen ganz privat, und wir besprachen
den wahren Grund meines Kommens auf dem Hochsitz, wo uns
niemand belauschen konnte. Genau wie ich war auch Szlachcic
der Ansicht, daß wir alle erforderlichen Schritte nur mit dem
Leiter der polnischen Spionageabwehr in Warschau besprechen
sollten.
Mein Unbehagen, als ich mich beim vereinbarten Termin am
nächsten Tag keineswegs wie abgemacht in vertraulichem Kreis,
sondern mit einem wahren Aufgebot von Gesprächsteilnehmern
konfrontiert vorfand, grenzte an Verärgerung. Zu meinem
Bedauern blieb mir nichts anderes übrig, als den Sachverhalt

-293-
darzulegen und zu erläutern, welche Gegenmaßnahmen ich für
empfehlenswert hielt.
Mein Gefühl hatte mich nicht getroge n: Der Verräter tappte
nicht in die Falle, die wir ihm stellten, da ihn entweder ein
Informant gewarnt hatte oder einer der vielen
Gesprächsteilnehmer unabsichtlich sein Wissen hatte
durchsickern lassen. Im übrigen haben wir nicht erfahren, um
wen es sich bei diesem potentiellen Maulwurf gehandelt haben
könnte.
Nie habe ich mich in der Illusion gewiegt, mein eigener
Dienst wäre der latenten Gefahr des jederzeit möglichen Verrats
eines Mitarbeiters nicht ausgesetzt, obwohl ich aus eigener
Anschauung weiß, daß andere Geheimdienstchefs des Ostblocks
sich sehr wohl mit dem Gedanken schmeichelten, bei ihnen sei
dergleichen undenkbar. So naiv war ich nie; die schmerzlichen
Lektionen aus unseren frühen Niederlagen hatten mich gelehrt,
nicht allzu unbedingt auf die moralische Zuverlässigkeit unserer
Leute zu bauen, auch wenn deren Motivation noch so ehrenwert
war.
Jeder einzelne Fall von Verrat hat seine Geschichte, und aus
jedem läßt sich eine Lehre ziehen. Nach dem ersten Verrat, der
seinerzeitigen Vulkan-Affäre, waren die empfindlicheren
Niederlagen meinem Dienst in den 50er Jahren durch die
Überläufer Max Heim, eine zentrale Figur in unserem Bemühen,
die CDU zu infiltrieren, die dem westdeutschen Dienst fast ein
Dutzend unserer Agenten enttarnen half, und Walter Glassei,
den wir auf amerikanische Institutionen in der Bundesrepublik
angesetzt hatten, beigebracht worden, doch seither war es zu
keinen spektakulären Verratsfällen mehr gekommen.
Am 19. Januar 1979, meinem 56. Geburtstag, befand ich mich
auf einer Konferenz in Karl-Marx-Stadt, dem Ort, der heute
wieder Chemnitz heißt, als ich ans Telefon gerufen wurde: In
der Abteilung XIII unseres Sektors für
wissenschaftlichtechnische Aufklärung (SWT) war im
-294-
Sekretariat der Schrank aufgebrochen worden; neben wichtigen
Unterlagen hatte der unbekannte Täter den Sonderausweis
mitgenommen, der zum Passieren der Grenzkontrollen am
Bahnhof Friedrichstraße berechtigte. Einen solchen Ausweis gab
es in jeder Abteilung nur einmal, und der Abteilungsleiter hatte
ihn ständig unter Verschluß zu halten. In diesem Fall hatte er ihn
– vorschriftswidrig – der Sekretärin überlassen, um ihn nicht
ständig an Mitarbeiter ausleihen zu müssen. Mit dieser Praxis
war der Täter ganz offensichtlich vertraut. Wie wir
herausfanden, war der Ausweis am Abend des 18. Januar gegen
21.30 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße benutzt worden.
Ohne Zweifel hatte ein Mitarbeiter meines Dienstes sich in
den Westen abgesetzt. Aber wer? Es war seit Jahren der erste
Fall dieser Art. Der Verdacht fiel auf Oberleutnant Werner
Stiller, einen Mitarbeiter des Referats 1 für Atomphysik,
Chemie und Bakteriologie. Sein konkretes Wissen – als
Oberleutnant gehörte er zu den niedrigsten Chargen im
operativen Dienst – konnte nur begrenzten Schaden anrichten,
unüberschaubar waren jedoch die Folgen seines Einbruchs in
das Sekretariat der Abteilung. In den verschwundenen Ordnern
befanden sich Listen, die nebst kurzen Inhaltsangaben der
Informationen die Decknamen der betreffenden Quellen
aufführten. Außerdem waren Ordner mit Befehlen, mit
Dienstanweisungen und mit Referaten Minister Mielkes
verschwunden, die als geheime oder vertrauliche
Verschlußsachen klassifiziert waren. Das war zwar nicht für
mich, aber für Mielke der weitaus schwerste Schlag. Meine
sofortige Meldung gab ihm genug Zeit, sich seelisch darauf
vorzubereiten, daß seine Reden demnächst im Westen
veröffentlicht werden würden.
Zwei Tage nach Stillers Flucht wußten wir, daß der Maulwurf
des Bundesnachrichtendienstes, dessen Enttarnung und
Festnahme durch unsere Spionageabwehr unmittelbar
bevorgestanden hatte, niemand anders als er gewesen war.

-295-
Offenbar hatte er die letzte Fluchtchance genutzt. Seine
konspirative Wohnung, wo er die Rundsprüche des BND
empfangen hatte und in deren Umgebung er die mit
Geheimschreibmittel geschriebenen Briefe aufgegeben hatte,
war bereits eingekreist gewesen. Daß die Flucht ihm überhaupt
gelang, verdankte er dem eigenen Handeln, nicht dem BND,
denn der hatte ihm so unbrauchbare falsche Papiere besorgt, daß
er auf sie verzichten und die Flucht improvisieren mußte.
Natürlich stilisierten die westlichen Dienste Stillers Flucht in
den Westen zum empfindlichsten Schlag hoch, den sie meinem
Dienst je versetzt hatten. Unterdessen waren wir damit
beschäftigt, all jene zu warnen, die mit Stiller zu tun gehabt
hatten, und den Schaden, den er angerichtet haben mochte,
realistisch abzuschätzen.
Einem Hamburger Ehepaar, das in der Reaktorforschung
gearbeitet und Stiller mit Informationen versorgt hatte, gelang
die Flucht buchstäblich in letzter Minute. Als die Kripobeamten
an der Tür läuteten und nach dem Wohnungsbesitzer fragten,
sagte unser Mann mit seltener Geistesgegenwart, dieser wohne
zwei Stockwerke höher, und verließ mit seiner Frau die
Wohnung, sobald die Beamten die Treppe hochpolterten.
Einen Mitarbeiter am Kernforschungszentrum in Karlsruhe
erreichte unsere telefonische Warnung erst dann, als die
Polizeibeamten sich bereits Zutritt zu seiner Wohnung
verschafft hatten, doch auf dem Weg zum Haftrichter konnte er
aus dem Auto springen und fliehen, während sein Begleiter auf
dem Glatteis ausrutschte und stürzte. Er gelangte unbehelligt in
die DDR, konnte dort jedoch nicht Fuß fassen und kehrte mit
unserer stillschweigenden Duldung zwei Jahre darauf wieder in
die Bundesrepublik zurück.
Aber nicht alle Mitarbeiter Stillers konnten gerettet werden.
Ein Professor der Universität Göttingen wurde ebenso verhaftet
wie ein Atomphysiker, der in Frankreich tätig war und in den
wir große Hoffnungen gesetzt hatten.
-296-
Alles in allem bestand der weitaus größere Schaden in diesem
Fall nicht im tatsächlichen Wissen des Defektors, sondern in den
Vorsichtsmaßnahmen, die wir nach seiner Flucht wohl oder übel
ergreifen mußten, in den unzähligen Rückrufen und Rückzügen,
die uns in unserer Arbeit schmerzlich zurückwarfen.
SWT, der Sektor für wissenschaftlichtechnische Aufklärung,
war in den 50er Jahren eingerichtet worden. Zunächst war es
eine Miniabteilung, die dafür zuständig war, uns über die
Entwicklung der Kernenergienutzung und andere Forschungen
von militärischer Bedeutung im Westen auf dem laufenden zu
halten. Physiker und Biologen der Bundesrepublik
unterrichteten uns über die Aufrüstung in der Bundesrepublik,
die vielen Westbürgern ernsthaft Sorgen machte. Zur
Aufrüstung gehörte der Bau von Kernenergieanlagen, die nicht
allein zu friedlichen Zwecken genutzt werden konnten.
Die Kernenergie war für uns in zweifacher Hinsicht
problematisch, denn wir sahen uns nicht nur der Konkurrenz der
Bundesrepublik ausgesetzt, sondern auch der Bevormundung
durch die Sowjetunion, die bis in die 90er Jahre den Abbau der
Uranvorhaben in der DDR kontrollierte. Die Wismut-AG war
nur dem Etikett nach ein deutschsowjetisches Unternehmen, in
Wirklichkeit unterstand es dem sowjetischen Militärapparat.
Deswegen kam es in der DDR nie zu einer eigenständigen
Nutzung der Kernenergie.
Seit Mitte der 60er Jahre konnte man nicht länger die Augen
davor verschließen, daß die DDR im weltweiten Wettrennen um
technologischen Fortschritt nicht nur auf dem Gebiet der
Nutzung der Kernenergie immer mehr hinterherhinkte. Während
in der Bundesrepublik die Geldquellen für Forschung und
Weiterentwicklung sprudelten, beschränkten sich der
Enthusiasmus unserer politischen Führung und die realen
Möglichkeiten der DDR, auf wenige Vorzeigeunternehmungen,
beispielsweise in der Mikroelektronik. Vornehmlich in diesem
Zweig der High- Tec, aber auch in der Feinmechanik und Optik

-297-
oder der modernen Chemie brauchte sich unsere
wissenschaftlichtechnische Aufklärung mit ihren Leistungen
nicht zu verstecken. Es war ihr gelungen, die Blockade der
Embargobestimmungen zu durchbrechen und bei den Managern
der DDR-Wirtschaft – aber auch bei unseren Verbündeten,
besonders in Moskau – hohes Ansehen zu gewinnen.
Technisches Wissen jedoch war von unseren Freunden meist nur
gegen klingende Münze zu haben. Deshalb sonderten wir mit
der Zeit besonders lukrative Ergebnisse aus dem ansonsten unter
Freunden kostenfreien Strom unserer für Moskau bestimmten
Informationen aus, um sie der DDR-Wirtschaft als Äquivalent
für sowjetische Leistungen zur Verfügung zu stellen. So kam es
zwangsläufig zu manch delikater Situation in den
freundschaftlichen Beziehungen zu den wißbegierigen
Verbindungsoffizieren des sowjetischen Partners.
Kaum war der Fall Stiller aus den Schlagzeilen
verschwunden, erschien als nächste Sensation ein unscharfes
Foto von mir auf den Titelseiten mehrerer Magazine. Es
handelte sich um einen heimlich aufgenommenen Schnappschuß
aus dem Jahr 1978, aber trotz Unscharfe und dunkler Brille war
der Mann auf dem Bild eindeutig ich, daran gab es nichts zu
rütteln. Bis dahin hatte ich im Westen immer als »Mann ohne
Gesicht« gegolten, denn niemand dort hatte gewußt, wie ich
aussehe.
Im Sommer 1978 hatte ich mich in Schweden mit dem SPD-
Politiker Dr. Friedrich Cremer zu einem Meinungsaustausch
getroffen. Creme r war einer meiner interessanten und politisch
aufgeschlossenen Gesprächspartner in der Bundesrepublik. Im
Verlauf dieses Treffens waren wir ganz offensichtlich vom
schwedischen Geheimdienst oder dessen westdeutschem
Partnerdienst heimlich fotografiert worden. Diese Fotos hatte
der BND Stiller routinemäßig zusammen mit anderen
Aufnahmen unidentifizierter Personen, in denen man Mitarbeiter
meines Dienstes vermutete, vorgelegt, und Stiller hatte mich

-298-
identifiziert – was seine Befrager ihm anfangs nicht glauben
wollten, wie ich später erfuhr.

Spiegel-Titelblatt der Ausgabe vom 5. 3. 1979

Leider hatte meine Identifizierung durch den Überläufer


-299-
Stiller zur Folge, daß Friedrich Cremer als DDR-Agent vor
Gericht gestellt wurde, ohne ein solcher gewesen zu sein. Alle
Unschuldsbeteuerungen halfen ihm so wenig wie die mehr als
wackelige Beweislage, und man verurteilte ihn.
Für mich selbst war es wenig erheblich, ob man in Pullach
wußte, wie ich aussah, da die Bundesrepublik in jenen Jahren
nicht zu meinen bevorzugten Reisezielen zählte, aber für die
Boulevardpresse war das Foto natürlich ein wahres Geschenk,
das weidlich ausgeschlachtet wurde.
Hätte ich mich nicht von unserem Residenten in Schweden so
vorbildlich betreuen und in einer Dienstwohnung der Botschaft
unterbringen lassen, sondern wie jeder xbeliebige
Geschäftsreisende im Hotel gewohnt, dann wäre der Argwohn
des schwedischen Geheimdienstes möglicherweise nie geweckt
worden, man hätte den Gast nicht zur Kenntnis genommen und
folglich nicht observiert…
Während ehrenwerte westdeutsche Politiker, die ernsthaft an
einem konstruktiven politischen Dialog interessiert waren,
immer wieder den Argwohn von Bundesnachrichtendienst und
Bundesamt für Verfassungsschutz erregten, verhielt es sich
dabei wie so oft, wenn man mit dem Fernrohr die Gegend
absucht und ganz übersieht, was vor der eigenen Nase vor sich
geht – wie dies eines der aufregendsten und packendsten Kapitel
deutschdeutscher Geheimdienstgeschichte beweist. Es begann
mit dem Fall unseres Agenten »Wieland« und kulminierte darin,
daß sich die bundesrepublikanischen Verfassungsschützer Klaus
Kuron und Hansjoachim Tiedge in den Dienst der DDR stellten.
Joachim Moitzheim, besagter »Wieland«, war als
Neunzehnjähriger in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten
und hatte dort eine antifaschistische Schule besucht. Nach dem
Krieg hatte ein ehemaliger Mitgefangener ihn für unseren Dienst
angeworben. Über seine Motive waren wir uns nie ganz im
klaren, und wir schrieben es dem Jesuitenschüler in ihm zu, daß
er einerseits auf eigenen Wunsch in die SED eintrat und sich im
-300-
Scherz sogar eine Stelle für sein Grab nicht weit von unserem
konspirativen Häuschen in Rauchfangswerder aussuchte,
andererseits zwischen seiner Tätigkeit für uns und seinem
Privatleben streng trennte und sic h, was letzteres betraf, stets
mehr als zugeknöpft gab.
Nachdem er von uns beauftragt worden war, Kontakt zu
Mitarbeitern des Bundesamts für Verfassungsschutz
herzustellen, gelangte er durch seine Aktivitäten ins Visier
dieser Organisation. Der Verfassungsschützer, den er zu
bestechen und anzuwerben versucht hatte, war offenbar eine
Weile unschlüssig gewesen, hatte es dann aber für klüger
gehalten, seine Vorgesetzten von »Wielands«
Annäherungsversuchen zu informieren.
Daraufhin sprachen unseren Agenten eine s Abends auf der
Straße zwei Herren an, wiesen sich als Verfassungsschutz-
Beamte aus und forderten ihn auf, sie zu begleiten. Die Fahrt
endete vor einem Hotel in Köln, wo die beiden sich unter den
Namen »Kluge« beziehungsweise »Tabbert« vorstellten. Ohne
irgendwelche Pointen vorwegzunehmen, darf ich verraten, daß
»Kluge« Klaus Kurons, »Tabbert« Hansjoachim Tiedges
Deckname war und daß ein hochkompliziertes Geflecht aus
Doppel- und Dreifachspionage von nun an seinen Verlauf nahm.
Die beiden hochkarätigen Verfassungsschützer verlangten von
»Wieland«, dem sie mit einer langjährigen Haftstrafe drohten,
Doppelagent zu werden und für den Verfassungsschutz zu
arbeiten. Aus Furcht sagte er zu; sie gingen mit ihm in seine
Wohnung, wo sie seine Chiffrierunterlagen kopierten, so daß sie
von da an die Funksprüche der HVA an ihn mithören konnten.
Was sie nicht bedachten, war jedoch, daß »Wieland« bei der
nächsten Fahrt nach Berlin, die er als Doppelagent für das
Bundesamt für Verfassungsschutz unter seinem neuen
Decknamen Keil antrat, nichts Eiligeres zu tun hatte, als sich
seinem Führungsoffizier bei der HVA anzuvertrauen. Die
Überwerbung war nicht von langer Dauer gewesen; »Wieland«
-301-
alias »Keil« war nun ein Tripelagent.
Dem Verfassungsschutz war es offenbar so wichtig, die neue
Innenverbindung zur HVA zu besitzen, daß man, um kein
Mißtrauen bei uns zu wecken, »Wieland« in mehr als tausend
Fällen aus den geheiligten Beständen des NADIS-Computers
echte Daten und Namen von BRD-Bürgern anvertraute
einschließlich der Angaben, unter denen ihre Dossiers im
Bundesamt für Verfassungsschutz geführt wurden. Darunter
befanden sich Beamte in Ministerien, leitende Angestellte von
Rüstungsunternehmen und sogar Personen, die unter dem
Verdacht der Spionage für die DDR oder andere östliche
Dienste standen abgesehen davon, daß wir über sämtliche
Mitarbeiter des BfV informiert wurden, die sich mit der
Überwachung von Telefonen oder Postsendungen beschäftigten.
Dieses Vorgehen überschritt alle Grenzen des Zulässigen.
»Wieland« wurde 1990 verha ftet und verurteilt. Ich sah ihn
1993 bei meinem Prozeß wieder, als er als Zeuge aus der Haft
vorgeführt wurde.
So war es um die überaus harmonische, wenn auch ohne
Wissen des Kölner Dienstes bestehende Zusammenarbeit
zwischen HVA und BfV bestellt, als eines Tages im Sommer
1981 ein Unbekannter im Briefkasten unserer Bonner Ständigen
Vertretung einen umfangreichen Briefumschlag deponierte. Im
Umschlag befanden sich ein Schreiben an den Leiter der
Abteilung IX der HVA, der Äußeren Abwehr, zuständig für die
westlichen Dienste, und ein Zwanzigmarkschein, dessen
Nummer offenbar für künftige Code-Schlüssel benutzt werden
sollte.
Der Schreiber stellte sich als Geheimdienstmann mit
speziellen Kenntnissen vor und erklärte sich bereit, für eine
einmalige Zahlung von 150000 DM sowie eine monatliche
Entlohnung in doppelter Höhe seines Gehalts beim
Verfassungsschutz als Maulwurf für uns aktiv zu werden. Der
Brief war handschriftlich mit Großbuchstaben geschrieben. Als

-302-
Köder nannte der Unbekannte uns eine in Wien geplante Aktion
gegen einen leitenden Offizier unseres Sektors SWT.
Wir verglichen die Schrift mit der auf einem Zettel, den
»Wieland« uns nach einem Treffen mit seinem
Westvorgesetzten »Kluge« übergeben hatte. Es bestand kein
Zweifel, daß die Schrift die gleiche war. Klaus Kuron, der den
Vorgang »Keil« beim Verfassungsschutz führte, hatte sich aus
freien Stücken unserem Dienst angeboten. Bis er sich bei einem
ersten Treffen in Wien demaskierte, sollte nochmals fast ein
Jahr vergehen, denn sowohl wir als auch Kuron ließen keine
Vorsichtsmaßnahme außer acht, um nicht am Ende als Düpierte
dazustehen. Allein die Entscheidung, leitende Offiziere unseres
Dienstes nach Wien zu schicken, wo es von Agenten aller nur
möglichen Geheimdienste nur so wimmelte, fällten wir nicht
gerade leichten Herzens. Was, wenn wir uns am Ende nicht etwa
mit einem neuen, sondern ohne einige der alten Mitarbeiter
wiedergefunden hätten?
Der Mann, der sich im Schönbrunner Park mit Karl-Christoph
Großmann und Günther Nehls, leitenden Offizieren unserer
Abteilung IX, verabredet hatte, stellte sich ohne Umschweife als
Klaus Kuron vor und schilderte seine Stellung, seine Aufgaben
und den Grund für seinen Verrat am BfV offen und
ungeschminkt. Seine Karriere war an einem toten Punkt
angelangt, seine Ambitionen wurden frustriert, sein
Beamtengehalt ermöglichte zwar ein halbwegs sorgenfreies
Leben, doch das Studium seiner Söhne war damit nicht zu
finanzieren. Verbittert sprach er von der gesellschaftlichen
Realität eines Landes, das seinen Bürgern gleiche Rechte nur
auf dem Papier garantierte, in Wirklichkeit aber allen, die sich
aus kleinen Verhältnissen hocharbeiteten, Stolpersteine in den
Weg legte, während die faulen Söhne der Reichen unverhüllt
begünstigt und protegiert wurden.
Schnell erkannten meine Mitarbeiter, daß Kuron es ernst
meinte. Er erzählte die Geschichte des Doppelagenten

-303-
»Wieland« in aller Ausführlichkeit – schließlich konnte er nicht
wissen, daß wir darüber längst im Bilde waren. Unsere Leute
verabredeten mit ihm ein Treffen in der DDR, wo alle
Einzelheiten unserer Vereinbarung festgehalten werden sollten
und er sich selbst ein Bild von uns machen konnte. Um seine
Bedenken auszuräumen, stellte man ihm ein Gespräch mit mir in
Aussicht. Die Neugier überwog die Vorsicht, und im Herbst
1982 lernte ich ihn in der Dresdner Villa unseres Dienstes
kennen, die nicht nur einen zauberhaften Blick über das Elbtal
erlaubte, sondern auch in sicherer Entfernung zu Ost-Berlin
gelegen war.
Klaus Kuron gab sich frei von aller Wichtigtuerei oder
Anbiederung. Das Gespräch mit ihm verlief locker und
unkonventionell. Wie bereits in Wien erklärte er seinen Schritt
und seine Geldforderungen mit seiner sozialen Situation.
Letzten Endes, so sagte er, bestimmte immer nur das Geld die
Lebensqualität. Seine Position inne rhalb der
Verfassungsschutzbehörde empfand er als Ungerechtigkeit, ja
als Demütigung. Seinen unmittelbaren Vorgesetzten, die seiner
Ansicht nach allein durch Protektion seitens der CSU an ihre
Ämter gelangt waren, fühlte er sich weit überlegen. Tiedge,
seinem Gruppenleiter, gestand er zwar eine abgeschlossene
Juristenausbildung und Professionalität zu, doch stufte er ihn
wegen seines Lebenswandels als längst nicht mehr tragbar für
die Spionageabwehr ein.
In keinem Moment der Unterhaltung hatte ich den Eindruck,
es mit einem habgierigen oder skrupellosen Menschen zu tun zu
haben. Das große Risiko dessen, was er zu tun im Begriff stand,
war ihm eindeutig bewußt. Seinen Entschluß hatte er lange und
gründlich überlegt, und nun handelte er mit äußerster
Konsequenz. Im Grunde befolgte er die Maximen seiner
Gesellschaft: Er handelte mit dem Pfund, das er besaß, seinem
fachlichen Können, das er dem Meistbietenden verkaufte.

-304-
Klaus Eduard Kuron 1992

Noch heute schmeichle ich mir mit dem Gedanken, daß


Kuron den Weg zur HVA nicht zuletzt deshalb einschlug, weil
er als Profi die Professionalität, mit der bei uns gearbeitet
wurde, zu erkennen und zu schätzen wußte. Für das Treffen mit
mir hatte er mit Hilfe eines seiner nichtsahnenden Söhne einen
Taschencomputer so programmiert, daß er Informationen
schnell und relativ einfach verschlüsseln konnte. Später
perfektionierten wir diese Technik dahingehend, daß die
Informationen über das Telefon, den sogenannten heißen Draht,
im Schnellgebeverfahren übermittelt werden konnten. Eine
wichtige Bedingung, die er stellte, war die, daß wir gegen
Agenten oder Doppelagenten, auf die er uns aufmerksam
machte, strafrechtlich nichts unternehmen durften, da sonst der
Verfassungsschutz auf seine Fährte hätte kommen können. Da er
wirklich etwas ganz Besonderes war, ein Star, erhielt er statt des
zuerst gewählten Decknamens Berger den viel treffenderen

-305-
Namen Stern.
Bei einem späteren DDR-Besuch Kurons lernte ich auch seine
Ehefrau kennen, die im Unterschied zu den Söhnen in seine
Überlegungen einbezogen war. Ich erkannte schnell, daß sie sich
mit eigenen Augen vergewissern wollte, ob ihr Mann bei uns in
besseren Händen war als bei der Kölner Behörde, vor allem, ob
er bei uns die gebührende Anerkennung fand oder wie ein
xbeliebiger kleiner Agent behandelt wurde. Erleichtert sah ich,
daß ihr anfängliches Mißtrauen einem Ausdruck von Zutrauen
und Zufriedenheit wich, als sie feststellte, daß der Umgang
zwischen uns freundschaftlich war.
Klaus Kuron war der bei weitem größte, aber beileibe nicht
der einzige Fisch, den es aus freien Stücken in unsere Netze
verschlug. Ein Verfassungsschutzbeamter, den wir unter dem
Decknamen Gräber führten, suchte den Kontakt zu uns, weil
auch er sich unterbewertet und zugunsten weniger tauglicher,
aber besser protegierter Konkurrenten übergangen fühlte.
Politisch war er in der CDU beheimatet, beruflich war er
Observationsleiter im Rang eines Kriminalhauptkommissars im
niedersächsischen Innenministerium, der eng mit dem
Militärischen Abschirmdienst kooperierte. Dank seiner Zuarbeit
waren wir über alle Aktivitäten des niedersächsischen
Landesamts für Verfassungsschutz bestens auf dem laufenden
und konnten die Abwehrtätigkeit in Niedersachsen jahrelang
erfolgreich lahmlegen – sei es in Grenzfragen oder im
Transitverkehr. Trotz der guten Zusammenarbeit brach
»Gräber« den Kontakt zu uns noch vor dem Jahr 1989 ab.
Als letzten Tip hatte »Gräber« uns auf jemanden im
Verfassungsschutz hingewiesen, der dort den Ruf einer grauen
Eminenz genoß. Dieser Mann – wir nannten ihn »Maurer« –
hatte sich bereits Ende der 70er Jahre von sich aus bei uns
gemeldet und war seither durch exzentrisches Verhalten
aufgefallen, wann immer unser Dienst mit ihm zu tun hatte.
Seinen Klarnamen nannte er nie; Treffen durften nur bei tiefster

-306-
Dunkelheit stattfinden, und zwar stets in irgendwelchen Parks,
egal, welches Wetter herrschte; die Zahl seiner Verkleidungen
überstieg jedes Vorstellungsvermögen; unser Chiffriersystem
lehnte er ab und benutzte lieber ein schlichtes Codesystem, das
auf dem Telefonbuch oder dem Duden basierte, kurzum:
»Maurer« war der Geheimagent wie aus dem Bilderbuch. Aber
er leistete uns wichtige Dienste; von ihm erfuhren wir, welche
unserer Mitarbeiter von der westdeutschen Abwehr verdächtigt
oder gar schon observiert wurden, von ihm wurden wir über die
Methoden aufgeklärt, mittels derer der Verfassungsschutz
unsere Kuriere aus den unzähligen Reisenden herauszufiltern
gedachte, und durch ihn wurden wir auch auf Fehler
aufmerksam gemacht, die wir beim Fälschen westdeutscher
Ausweispapiere begangen hatten.
Eines Tages behauptete ein Mitarbeiter der Abteilung IX,
»Maurer« könne uns den Überläufer Stiller ausliefern,
vorausgesetzt, wir zahlten ihm dafür eine Million Mark. Er sei
bereit, Stiller notfalls zu entführen. Wir verzichteten auf das
Angebot. Es gelang uns nie, seine Identität zu klären. Jedesmal,
wenn wir Vermutungen äußerten, versuchte er, sie ins
Lächerliche zu ziehen. So albern sein ewiges Versteckspiel uns
damals erschien, so recht scheint er im nachhinein behalten zu
haben. Lange haben sich Verfassungsschutz und Staatsanwälte
bemüht, ihn zu identifizieren. Anfang 1996 wurde »Maurer«
von einem Gericht zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe
verurteilt.
Mitte 1985, als ich eine Kur in Ungarn antreten wollte, erhielt
ich über eine Sonderleitung einen Telefonanruf aus Magdeburg:
Am Grenzübergang sollte sich jemand namens Tabbert im Zug
gemeldet und verlangt haben, daß man ihn unversehens zur
Abteilung IX der HVA bringe. Ich wollte meinen Ohren nicht
trauen; ganz offensichtlich hatte der Gruppenleiter des
westdeutschen Verfassungsschutzes, der für Doppelagenten
zuständig war, beschlossen, die Seiten zu wechseln.

-307-
Keine zwei Stunden später holten ihn Karl-Christoph
Großmann und ein Begleiter ab und beförderten ihn nach Berlin.
Tiedge wies sich mit Personal- und Dienstpapieren aus, nannte
seinen Klar- und seinen Tarnnamen. Nachdem wir ihn zu seiner
Zufriedenheit in einem besonders gesicherten Gebäude
einquartiert hatten, erstattete ich Mielke Bericht, was den Effekt
hatte, daß der Magdeburger Chef ein Donnerwetter über sich
ergehen lassen mußte, weil er Tiedges Erscheinen mir und nicht
Mielke gemeldet hatte. »Fundsachen« seien künftig bei ihm
persönlich abzugeben, ließ Mielke später verlauten.
Für die Boulevardzeitungen war Tiedge ein gefundenes
Fressen – Alkoholprobleme, zerrüttete Familienverhältnisse,
Schwierigkeiten in der Behörde, doch nicht nur die
Regenbogenpresse, auch mein Dienst und ganz gewiß das BfV
zerbrachen sich lange genug den Kopf mit der Frage, was ihn
letztlich dazu bewogen haben mochte, sich abzusetzen. Daß er
kein Kommunist war, stand außer Frage. Für die HVA hatte er
sich zuvor in keinerlei Weise betätigt. Eine Kurzschlußreaktion
konnte sein Handeln andererseits nicht gewesen sein, denn sein
Übertritt war wohlüberlegt. Zuletzt gelangte ich zu der
Schlußfolgerung, daß der Weggang seines Gönners
Hellenbroich ihn wohl hatte erkennen lassen, daß seine Tage
beim Verfassungsschutz gezählt sein mußten, daß er für seine
Behörde nur noch ein Sicherheitsrisiko und sonst nichts
darstellte.
Tiedge war selbstverständlich der Meinung, uns geheimste
Dinge zu verraten, denn er konnte ja nicht ahnen, daß Kuron
bereits für uns arbeitete. Und ich muß einräumen, daß viele
seiner Informationen tatsächlich sehr wertvoll waren, obwohl sie
keinen großen Neuigkeitswert besaßen. Tiedges beinahe
computergleich arbeitendes Gedächtnis ermöglichte in den
kommenden Monaten eine annähernd systematische
Aufarbeitung seines gesamten Wissens – etwas, was bei der
zeitlichen Knappheit konspirativer Treffen oder der räumlichen

-308-
Begrenztheit von Berichten nicht einmal erträumbar ist.

Hansjoachim Tiedge
Da Tiedge als körperliches und seelisches Wrack zu uns
gekommen war, bemühten wir uns als erstes, ihn wieder auf die
Beine zu bekommen. Er mußte abnehmen und Sport treiben; die
ungewohnte Ertüchtigung gefiel ihm und trug schneller Früchte,
als wir gedacht hätten. Der gesunde Geist in seinem gesundeten
Körper verlangte nach neuer Nahrung. Er las nicht nur alle
Zeitungen und Zeitschriften in seiner Reichweite, sondern
Bücher über Geschichte, Geologie und Kunst, und es dauerte
nicht allzu lange, bis er an einer juristischen Dissertation saß,
die er an der Humboldt-Universität einreichte. Ansonsten
bekannte er sich weiterhin zur parlamentarischen Demokratie
und rümpfte die Nase über das politische System der DDR.
Dennoch verstand er es, sich den Lebensumständen anzupassen.
Nach einiger Zeit lernte er eine Frau kennen, die er heiratete.

-309-
Seine drei Töchter konnten ihn jederzeit besuchen – solche
Dinge waren für meinen Dienst selbstverständlich –, und er
kümmerte sich von der DDR aus darum, daß das Grab seiner
ersten Frau gepflegt wurde.
Als 1989 mit der Maueröffnung sensationslustige Journalisten
vor seinem Häuschen Posten bezogen, war für ihn die Zeit in
diesem Land abgelaufen. Ohne die Vereinigung abzuwarten,
flüchtete Tiedge mit seiner Frau in die Sowjetunion, die es noch
gab und die ihm damals wohl sicherer erschien.
Ein Nebeneffekt des Seitenwechsels von
Geheimdienstmitarbeitern ist das Offenbaren bis dahin
unverdächtiger Doppelagenten. So erfuhren wir von Kuron, daß
zwei unserer Mitarbeiter, der eine unter dem Decknamen
Wolfgang in der Bundesrepublik eingesetzt, der andere als
»Günter« Verbindungsmann zu ebenjenem »Wolfgang«, seit
längerem umgedreht waren und als Doppelagenten für den
Verfassungsschutz arbeiteten. Eingedenk der Zusage, die wir
Kuron gemacht hatten, warteten wir ab, bis die
Überwachungsmaßnahmen unabhängig von Kuron erkennen
ließen, daß »Günter« beabsichtigte, sich samt Ehefrau in Kürze
in die Bundesrepublik davonzumachen. Diese Flucht konnten
wir nicht zulassen, und so kam es, daß das Ehepaar
festgenommen wurde. Zum Glück fiel ihre Enttarnung mit
Tiedges Übertritt zusammen. Menschlich endete dieser Fall
tragisch; obgleich die Ehefrau nach wenigen Monaten aus der
Haft entlassen wurde, ließ die DDR ihrem Mann gegenüber
keinerlei Milde walten, und die Bundesrepublik traf keine
Anstalten, ihn gegen einen unser Spione auszutauschen. Als
nach drei Jahren kein Silberstreif am Horizont zu erkennen war,
erhängte der sensible und durch die Haft depressiv gewordene
Mann sich in seiner Zelle.
Nicht weniger tragisch ist der Ausgang des Falles Teske. An
Werner Teske wurde im Jahr 1981 letztmals die Todesstrafe in
der DDR vollzogen. Er hatte die unglückselige Idee gehabt, in

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die Fußstapfen des Überläufers Stiller zu treten, der im selben
Bereich wie er gearbeitet hatte. Doch als bei einer Überprüfung
wichtige Akten vermißt wurden, fand eine gründliche
Untersuchung statt, und es stellte sich heraus, daß Teske die
verschwundenen Unterlagen zu Hause in der Waschmaschine
versteckt hatte, um sie zum geeigneten Zeitpunkt einem
westlichen Dienst als Eintrittsgeschenk zu überreichen. Daß
Teske vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt
wurde, war juristisch nicht zu rechtfertigen, denn es war nicht
zum Verrat gekommen. Unverständlich war dieses Urteil, das
keine abschreckende Wirkung haben konnte, denn es wurde
nicht bekanntgegeben. Aus diesem Grund kann ich auch nicht
verstehen, warum es nicht qua Gnadenerlaß außer Kraft gesetzt,
sondern tatsächlich vollstreckt wurde.
Im Herbst 1990 erfuhr ich in Österreich aus der Presse, daß
meine einstigen Spitzenquellen Gabriele Gast, Klaus Kuron und
Alfred Spuhler verhaftet worden waren. Wer der Denunziant
war, daran zweifelte ich keine Sekunde: Es konnte nur Karl-
Christoph Großmann sein, der einstige stellvertretende Leiter
der Abteilung IX.
Bei uns hatte er immer als erfolgreicher Praktiker, wenn auch
gleichzeitig als leichtsinniger Hasardeur gegolten. Lange Zeit
hatte er es verstanden, mit seiner dienstfertigen Betriebsamkeit
charakterliche Schwächen zu übertünchen. Als
Unregelmäßigkeiten an den Tag kamen, die eindeutig in die
Kategorie Amtsmißbrauch fielen, kam es zum Eklat. Wie oft in
derartigen Fällen versuchten wir den Schaden zu minimieren,
indem wir Großmann nicht vor Gericht brachten, sondern uns
damit begnügten, ihn von seiner Funktion zu entbinden und mit
einer Sonderaufgabe abzufinden.
Kuron hatte nie verhehlt, daß er befürchtete, ein zu großer
Personenkreis wisse über Vorgänge wie den seinen Bescheid,
und er hatte Großmann nie ganz über den Weg getraut. Im
nachhinein erwies sich, wie recht er damit gehabt hatte. Die

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volle Identität von Gabriele Gast war Großmann nicht bekannt
gewesen; er hatte allein mit den Hinweisen, über die er verfügte,
dem Wissen, daß es sich um eine Frau mit einem
pflegebedürftigen Kind handelte, die als Spitzenquelle im
Bundesnachrichtendienst saß, ihre Enttarnung und Verhaftung
ermöglicht.
Die bundesdeutsche Justiz benötigte immerhin noch
eineinhalb Jahre, bis sie Klaus Kuron 1992 zu zwölf Jahren
Haftstrafe verurteilte. Kuron nahm das Urteil stoisch auf. Ein
letztesmal bin ich ihm im September 1993 begegnet, als er als
Zeuge im Prozeß gegen mich aussagte. Auf die Frage nach
seinen Motiven sagte er unumwunden, ihn habe »ein Gefühl der
Ohnmacht und Wut« erfüllt, er habe sich vom Sozialstaat
Bundesrepublik im Stich gelassen gefühlt, und auf die Frage,
wie es ihm möglich gewesen sei, zwei Herren zugleich zu
dienen, antwortete er kühl: »Mein Dienstherr war nach meiner
Entscheidung die HVA; mit dem Bundesamt habe ich
gebrochen.« Über das Bundesamt sprach er nur mit Sarkasmus
und Verachtung. Die Vergleiche, die er zwischen diesem Amt
und der HVA anstellte, müssen für die Vertreter der
Verfassungsschutzbehörde wenig vergnüglich anzuhören
gewesen sein.
Ich bin mir dessen bewußt, daß die Haltung zu Verrat und
Verrätern vom jeweiligen Standort des Betrachters abhängt, und
ich kann mir gut vorstellen, wie Kurons ehemalige Kollegen
über seinen Seitenwechsel gedacht haben müssen. In meinen
Augen ist und bleibt jedoch der wirklich verächtliche Verräter
derjenige, der Menschen ausnutzt, solange es seiner Karriere
dient, und sie, wenn der Wind sich gedreht hat, wie Grossmann
kaltschnäuzig für die bekannten Silberlinge ve rkauft.
Manche Verräter kassieren ihren Preis, manche zahlen einen
zu hohen Preis, und manchmal sieht es in der Realität tatsächlich
nicht viel anders aus als im Spionagethriller, wo die
Geheimdienste ihre Verräter ohne viel Federlesens aus dem

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Weg räumen oder dies auch gegenüber unliebsamen Politikern
versuchen. Hieb- und stichfeste Beweise lassen sich in solchen
Fällen allerdings so gut wie nie festmachen, und wenn es sie
doch einmal gibt, werden sie in der Regel von den
Untersuchungsbehörden vertuscht.
An Beispielen herrscht kein Mangel: Man denke nur an die
Attentate mit vergifteten Regenschirmspitzen, die als Spezialität
des bulgarischen Geheimdienstes galten, oder an den Versuch
der CIA, Castro mittels eines speziellen Gifts zum Kahlkopf zu
machen. Von John S. Paisley, dem Vizedirektor des CIA-Büros
für strategische Forschung, blieb nichts übrig als ein verlassenes
Segelboot. Frank Olsen, Experte für biologische Kriegführung,
stürzte nach dem Genuß eines Glases Cointreau, das offenbar
nicht nur Likör enthielt, aus dem 10. Stock eines New Yorker
Hotels.
Ein beliebter Schauplatz für Morde und Entführungen in
Geheimdienstkreisen war lange Zeit die bayerische
Landeshauptstadt. Dort verschwand auf Nimmerwiedersehen
Oberst Argoud, der ehemalige Stabschef der französischen
OAS, dort fand man die Leichen Stefan Banderas und Lew
Rebets, zweier Führer ukrainischer nationalistischer
Organisationen, bei denen die Ärzte Herzversagen feststellten,
was wenige Jahre später vom Täter Bogdan Staschinskij
korrigiert wurde, als er aussagte, daß er die Exilpolitiker im
Auftrag des KGB ermordet habe. Ebenfalls in München stürzte
Robert Wood, Angestellter des US-Konsulats und hochrangiger
CIA-Agent, aus dem 14. Stock des Arabella-Hochhauses.
Bis zur Schließung der Staatsgrenzen der DDR im Jahr 1961
hatte Berlin als Eldorado der Geheimdienste jeglicher
Provenienz München bei weitem übertroffen.
Hätte sich mein Dienst jemals solcher Methoden bedient,
dann wäre der Verräter Karl-Christoph Großmann nicht
ungeschoren mit einer Strafversetzung davongekommen,
sondern wegen seines gefährlichen Wissens aus dem Verkehr
-313-
gezogen worden, als wir merkten, daß er einen
Unsicherheitsfaktor darstellte. Wenn ich im Geist die Namen der
Überläufer durchgehe, die meinem Dienst schwersten Schaden
zugefügt haben, kann ich nur sagen, daß sie alle noch leben,
sofern sie nicht eines natürlichen Todes gestorben sind. Ihre
Adressen und Lebensumstände waren uns bekannt, ohne daß es
ernste Versuche gegeben hätte, auf Wildwest- oder James-Bond-
Manier mit ihnen »abzurechnen«.
Beispiele wie die Fälle Kurons und Tiedges könnten fast den
Eindruck erwecken, als sei meinem Dienst der Erfolg in den
Schoß gefallen. Doch ein Angebot garantiert noch keinen
Erfolg; gerade die Arbeit mit Selbstanbietern erfordert ein
Höchstmaß an Analyse, Fingerspitzengefühl und
Einfühlungsvermögen.
Neben dem finanziellen Motiv und dem der gekränkten Ehre
oder frustrierter Ambitionen gab es auch immer wieder das der
Überzeugung – sei es durch Herkunft und Erziehung oder als
Frucht langer Diskussionen und Gespräche. Die Brüder Alfred
und Ludwig Spuhler beispielsweise hatten meinem Dienst
Informationen von unschätzbarem Wert aus dem BND
zukommen lassen, weil sie die Nato-Politik als
friedensgefährdend einstuften und ihre moralische Aufgabe
darin sahen, einen Dritten Weltkrieg verhindern zu helfen.
Im Umgang mit unseren Quellen bemühten wir uns, auf den
einzelnen einzugehen, seinen Vorstellungen soweit wie möglich
entgegenzukommen und ihm so viel Sicherheit zu bieten, wie
wir konnten. Sie alle wuß ten, daß wir sie nicht im Stich lassen
würden, wenn sie in die Hände der Spionageabwehr fielen,
sondern uns um einen Austausch bemühen würden. Daraus
entstand eine Atmosphäre des Vertrauens, die erklärt, warum
wir mit vielen Quellen jahrelang oder jahrzehntelang
zusammenarbeiten konnten. Aus der Bundesrepublik ist mir für
die entsprechenden Dienste kein einziger vergleichbarer Fall
bekannt.

-314-
In diesen Zusammenhang gehört auch die personelle
Kontinuität, auf die bei uns großer Wert gelegt wurde. Als
Tiedge sich in die DDR absetzte, wurde Heribert Hellenbroich,
der gerade zum Präsidenten des BND avanciert war, zum
Rücktritt gezwungen. Solche Erfahrungen blieben mir erspart,
obwohl die Guillaume-Affäre oder der Fall Stiller einen Anlaß
zu meiner Ablösung geboten hätten. Mochte Mielke intern noch
so aggressiv auftreten, gegen überzogene Forderungen der
politischen Führung hat er seinen »Apparat« – und somit auch
meinen Dienst – stets abgeschirmt.

-315-
13 Ein neues 1914?

Wer an die Entspannungspolitik Willy Brandts Illusionen


geknüpft hatte, der wurde in der Ära Helmut Schmidt schnell
ernüchtert. Die SED-Führung hatte der Kanzlerwechsel in Bonn
nicht beunruhigt. Der Pragmatiker Schmidt schien
berechenbarer als der Visionär Brandt. Außerdem stellten wir
uns bald darauf ein, daß die Jahre der Regierung Schmidt
gezählt waren.
Wenige Monate nach den Wahlen von 1976 mit ihrem für die
SPD enttäuschenden Ergebnis ließ Herbert Wehner seinem
Freund Erich Honecker über Vogel mitteilen, Schmidt befinde
sich in einer politischen, gesundheitlichen und persönlichen
Krise »von bisher nicht gekanntem Ausmaß«. Wehner rechnete
»mit dem Schlimmsten«, wenn sich die Kluft zwischen Schmidt
und der Partei vergrößere. Jedenfalls werde die Koalition das
Jahr 1980 kaum überleben, vertraute er seinem Kontaktmann
Wolfgang Vogel an.
Die Berichte von Vogel und Schalck wurden zur
Lieblingslektüre Mielkes. Mit dem exklusiven Wissen aus ihren
Kontakten glaubte er, einen Vorteil in den internen politischen
Spannungen der SED-Führung zu haben. Gelegentlich meinte
er, auch mir Berichte über die Gespräche mit Wehner und
anderen hochkarätigen Kontakten Vogels oder Schalcks
vorenthalten zu müssen oder sich auf mündliche Andeutungen
beschränken zu können. Bei diesem »Tartuffe-Spiel« übersah er,
daß auch mein Diens t unmittelbaren Zugang zu diesen
Politikern hatte, zum Beispiel über Karl Wienand. Diese Quelle
bestätigte die düstere Voraussage Wehners über die Zukunft der
sozialliberalen Koalition. Im Herbst 1979 berichtete Wienand
über ein vertrauliches Gespräch zwischen Schmidt und Strauß,
in dem die Möglichkeit einer großen Koalition nach der Wahl
des kommenden Jahres erörtert worden war. In diesem Fall hätte

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Strauß Vizekanzler werden sollen. Honecker schrieb an den
Rand dieses Berichts: »Strauß wird auch nicht schlechter sein
als die SPD-FDP-Koalition.«
Erich Honecker versuchte inzwischen, die Drähte zwischen
DDR und BRD auf offizieller und vertraulicher Ebene zu
nutzen. Doch das konstante Mißtrauen Moskaus gegenüber einer
zu weit gehenden Annäherung beider deutsche r Staaten bremste
den SED-Chef immer wieder. Honecker wiederum sah, ähnlich
wie sein Vorgänger Ulbricht, mit Besorgnis die engen Kontakte
einiger Sozialdemokraten nach Moskau. Er mußte befürchten,
daß sich Bundesrepublik und Sowjetunion hinter dem Rücken
der DDR über die deutsche Frage einigten.
Geschürt wurde dieses Mißtrauen durch Informationen
Herbert Wehners. Wiederholt warnte der SPD-
Fraktionsvorsitzende vor Moskauer und Bonner Intrigen gegen
die DDR. Er nannte in diesem Zusammenhang die Namen des
Botschafters Valentin Falin, seines Stellvertreters Kwizinskij
und seines politischen Vertrauten Portugalow. Auf
westdeutscher Seite machte Wehner seinen Parteifreund Egon
Bahr als denjenigen aus, der mit Billigung Moskaus gegen die
DDR intrigiere. Informationen, die das Verhältnis zwischen
DDR und BRD belasteten, so Wehner, würden häufig von Bahr
aus Moskau mitgebracht und seien seiner Kenntnis nach
ausdrücklich von Breschnew autorisiert.
Vor diesem Hintergrund begann ein schwer durchschaubares
Tauziehen um ein Treffen zwischen Honecker und Schmidt.
Honecker wollte es, weil er sich davon Prestige und eine
Konsolidierung in der DDR versprach. Moskau bremste,
Schmidt zögerte.
Auch Mielke vermutete eine Intrige, die das
Zustandekommen des deutschdeutschen Gipfeltreffens
verhinderte. Als Drahtzieher sah er ebenfalls Egon Bahr. Der auf
Wehner fixierte Minister wollte offenkundige Tatsachen nicht
zur Kenntnis nehmen, die er in unseren Informationen hätte
-317-
nachlesen können. Er ignorierte sie selbst noch, als Wehner ihm
über Vogel eine Niederschrift des Bundeskanzlers Schmidt mit
höchster Geheimhaltungsstufe vom 10. April 1977 zukommen
ließ. Dieses Papier wies Schmidt als konzeptionell denkenden
Strategen aus, der Prioritäten setzte, in denen die DDR weit
hinten rangierte.
Ich schrieb damals in mein Tagebuch: »Wenn unsere
Dilettanten dieses Dokument wirklich gelesen und verstanden
hätten, wären sie ohne Illusionen. Für den realistisch denkenden
Bundeskanzler hat nach den Beziehungen zu den USA das
Verhältnis zur Sowjetunio n absolut vorderen Rang. Dann
kommt noch sehr viel anderes und erst dann, weil äußerst
kompliziert, kommen die Beziehungen zur DDR, wenn für ihn
etwas herausspringt… Wir sollten in unserem Land die
Wirtschaft und die anderen Ursachen der existierenden
Unzufriedenheit in Ordnung bringen und die Nase nicht so weit
hinausstrecken. Es kann möglicherweise bald unangenehmer
Wind blasen.«
Leider behielt ich recht. Während nach dem Abschluß der
Ostverträge das Wort Entspannung Konjunktur gehabt hatte,
wehte 1979 der politische Wind merklich kühler. Wieder
verhärteten sich die Fronten, und die Rüstungsspirale drehte sich
schneller als je zuvor. Zum erstenmal sollten Atomraketen mit
strategischer Reichweite auf deutschem Boden stationiert
werden, also in unmittelbarer Nähe der Trennungslinie zwischen
den Machtblöcken.
Unter diesen Umständen des sich wieder verschärfenden
kalten Krieges reagierte Moskau auf den Plan eines Treffens
zwisehen Honecker und Schmidt geradezu allergisch. Honecker
hatte sich nach sowjetischem Vorbild 1976 zum Vorsitzenden
des Staatsrats wählen lassen. Wie bei Breschnew nahm auch der
Kult um seine Person sehr schnell groteske und unerträgliche
Züge an. Das trug vermutlich dazu bei, daß er mehr und mehr
den Sinn für Realitäten einbüßte.

-318-
Erich Honecker hegte die Illusion, die deutschdeutschen
Probleme im Interesse der DDR auf eigene Faust lösen zu
können. Die sich wiederholenden Hinweise Wehners auf
Kontakte zwischen Moskau und Bonn, die an der DDR
vorbeiliefen, kommentierte er gelassen: »Die entscheiden nichts
ohne uns.« Das war sein Denkfehler, aber von dieser Illusion
war auch ich nicht ganz frei. Die Konsequenzen der totalen
Abhängigkeit, in der sich die DDR gegenüber der Sowjetunion
befand, dachte ich nicht zu Ende. Die Verbundenheit mit dem
Land meiner Kindheit und Jugend, die Anerkennung meines
Dienstes und seiner Leistungen wiegten mich im trügerischen
Gefühl partnerschaftlicher Gleichwertigkeit.
Die DDR war zu Stalins Zeiten Objekt sowjetischer
Interessen gewesen, und sie blieb es unter Chrus chtschow,
Breschnew, Andropow, Tschernjenko, bis Gorbatschow sie der
Nato überließ.
Im Februar 1980 flog ich mit einer Delegation des MfS unter
Leitung Mielkes nach Moskau. Anlaß war der 30. Jahrestag des
MfS, zu dem wir an leitende Offiziere des KGB Orden und
Medaillen verliehen. Der Vorsitzende des KGB, Jurij
Andropow, war bei dem Festakt nicht anwesend. Es hieß, er
befinde sich zu einer Routineuntersuchung im Krankenhaus.
So fuhren Mielke und ich zum Kreml-Klinikum in Kunzewo
am Stadtrand Moskaus. Ich kannte Kunzewo aus der
Emigrationsszeit als Datschenvorort, in dem sich die Führung
der Kommunistischen Internationale erholte. Nicht weit von der
Siedlung hatte Stalin in einem streng bewachten Wäldchen sein
Sommerdomizil gehabt. Inzwischen war die Hauptstadt mit
ihren Neubauten bis hierher vorgedrungen. In dem Krankenhaus
für die obere Nomenklatura gab es einen abgeschirmten Bereich,
wo nur Mitglieder des Politbüros stationär behandelt wurden. Zu
den Krankenzimmern gehörten jeweils Wohnraum und
Arbeitszimmer.

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Juri Andropow 1983
Andropow begrüßte uns im Anzug. Er wirkte bleich und
abgespannt. Er hatte nie den Eindruck gemacht, als verbringe er
viel Zeit an der frischen Luft. Mielke und Andropow zogen sich
protokollgemäß zu einem kurzen Gespräch unter vier Augen
zurück. Unterdessen vertraute mir der Leiter des
Aufklärungsdienstes, Wladimir A. Krjutschkow, der uns
begleitete, ein Staatsgeheimnis an: Die Erkrankung seines Chefs
sei ernst. Auch der Rat eines kompetenten deutschen Urologen
sei gefragt.
Das war eine schlechte Nachricht. Ich hatte großen Respekt
vor den politischen und analytischen Fähigkeiten Andropows.
Unter Eingeweihten galt er als designierter Nachfolger des
kranken Breschnew. Die Sowjetunion, ihre Verbündeten und vor
allem die immer bedrohlicher werdende internationale Lage
brauchten im Kreml einen gesunden Mann vom Format
Andropows. Ich setzte große Hoffnung auf ihn.

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Andropow ließ in seiner nüchternen Art die Zeremonie der
Auszeichnung ohne große Worte schnell über sich ergehen.
Dann begannen wir ein Gespräch über die Situation im Ost-
West-Konflikt. Ich hatte Andropow nie zuvor so ernst und
bedrückt erlebt. Er zeichnete ein düsteres Szenarium, in dem ein
atomarer Krieg eine reale Bedrohung war. Seine nüchterne
Analyse kam zu dem Schluß, daß die US-Regierung mit allen
Mitteln die atomare Dominanz über die Sowjetunion anstrebe.
Er zitierte Äußerungen des amerikanischen Präsidenten Carter,
seines Beraters Zbigniew Brzezinski und von Sprechern des
Pentagons, die alle die Aussage enthielten, daß unter gewissen
Umständen ein atomarer Erstschlag gegen die Sowjetunion und
ihre Verbündeten gerechtfertigt sei.
Wenig optimistisch hörte sich auch Andropows Bericht über
die Lage in Afghanistan an. Ich versuchte vorsichtig zu erfragen,
ob es Überlegungen gab, das sowjetische Afghanistan-
Abenteuer zu beenden. Andropow verstand sofort, und es klang
eher resigniert, als er sagte: »Wir können jetzt nicht mehr
zurück.« Der Mann, der nach meiner Einschätzung mehr als
jeder andere in der sowjetischen Führung für Vernunft, Reform
und Entspannung stand, schien nur noch in einer Politik der
Stärke die Antwort auf das westliche Streben nach Vormacht zu
finden. Das Fazit seiner Analyse lautete: »Es ist nicht die Zeit,
Schwäche zu zeigen.«
Das war auch eine unmißverständliche Warnung an die DDR-
Führung. Andropow ließ durchblicken, daß die sowjetische
Führung die geheimen Verhandlungen auf verschiedenen
Ebenen zwischen den beiden deutschen Staaten mit großem
Mißtrauen verfolgte. Über wichtige Gespräche unserer Führung
mit Bonn waren die Genossen im Kreml nicht oder nur
unvollständig informiert worden, insbesondere über die
Vorbereitung des Treffens zwischen Helmut Schmidt und Erich
Honecker. Andropow warnte vor einer Fehleinschätzung des
westdeutschen Kanzlers. Auf meinen Einwand, daß unsere

-321-
Informationen doch ein differenziertes Bild des Außenpolitikers
Schmidt ergäben, meinte er: »Ja, der Mann hat zwei Gesichter.
Aber tatsächlich steht er auf Seiten der Amerikaner. Mit diesem
Mann sollte man keine Gespräche auf höchster Ebene führen.«
Die Charakterisierung Helmut Schmidts als Mann mit zwei
Gesichtern widersprach unserer Einschätzung nicht. Der
Bundeskanzler gehörte zu den geistigen Vätern des Nato-
Doppelbeschlusses, der nun die Entwicklung des Ost-West-
Konflikts gefährlich unberechenbar machte. Schmidt war es
gewesen, der nach der Vereinbarung zwischen Washington und
Moskau über die Beschränkung der Zahl der
Interkontinentalraketen gefragt hatte, wie denn nun die
Verteidigung Westeuropas aussehen solle?
Die Antwort gab die Nato Ende 1979 mit dem Beschluß,
Nuklearraketen in vier westeuropäischen Ländern, darunter der
Bundesrepublik, zu stationieren, wenn die Sowjetunion nicht
ihre SS-20-Raketen aus der DDR und Westrußland abziehe.
Zwar gab es in den Berichten unserer Quellen Anzeichen dafür,
daß sich der Bundeskanzler vor den Raketen, die er gerufen
hatte, nun selber zu fürchten begann. Aber in der Öffentlichkeit
gab sich Schmidt im Gegensatz zu großen Teilen seiner Partei
als kompromißloser Befürworter des Nato-Doppelbeschlusses
und als Gegner der Friedensbewegung.
Von Herbert Wehner erreichten uns immer dramatischere
Warnungen vor wachsender Kriegsgefahr. Über unsere
Verbindung zu Wehner erhielten wir ein streng vertrauliches
Papier des SPD-Fraktionsvorsitzenden. Darin mutmaßte er:
»Der CIA hat den Bazillus eines möglichen Krieges zwischen
den beiden deutschen Staaten verstreut. Das ist keine Erfindung.
Die Neutronenbomben sind maßgeschneidert für die Ruhr und
für Berlin. Ich teile Schmidts Skepsis Carter gegenüber. Nicht,
weil er dunkle Absichten hat, sondern weil er fähig ist, jede
mögliche Variante auszuprobieren. Diese Haltung kann sehr
leicht danebengehen.«

-322-
Wehner zeichnete gegenüber Wolfgang Vogel aber auch ein
zunehmend negatives Bild von Schmidt. Er meinte, daß der
Mann, dem er zur Kanzlerschaft verholfen hatte, im Sog einer
»abenteuerlichen« US-Politik treibe. Diese Befürchtung
jedenfalls ließ er dem »Jugendfreund« Erich Honecker
übermitteln.
Nachträglich mag die Kriegsfurcht, die Anfang der 80er Jahre
herrschte, übertrieben scheinen. Die Informierten und
Nachdenklicheren in Bonn und Ostberlin aber waren damals
ernsthaft besorgt. Diese Besorgnis teilten auch viele Bürger in
beiden deutschen Staaten. Der Spiegel erschien 1980 mit einer
Titelgeschichte »Wie im August 1914? Angst vor dem großen
Krieg«. Der Vergleich mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in
der die Großmächte unaufhaltsam dem bewaffneten Konflikt
zutrieben, ohne ihn wirklich zu wollen, wurde unseren Quellen
zufolge auch von verantwortlichen Bonner Politikern diskutiert.
Doch trotz vernünftiger Einsicht schienen die Mächtigen in Ost
und West fatalen Zwängen zu unterliegen. Moskau und
Washington verlangten auch von ihren jeweiligen deutschen
Verbündeten, sich ihrer Konfrontationslogik unterzuordnen.
DDR-Außenminister Fischer kam von einem Besuch bei
seinem sowjetischen Kollegen Gromyko mit ähnlichen
Eindrücken zurück, wie ich sie bei Andropow gewonnen hatte.
Die Vorschläge unserer Führung zur Entwicklung der
Beziehungen mit der BRD wurden in Moskau praktisch
ignoriert. Daß Gromyko sie überhaupt zur Kenntnis genommen
hatte, gab er nur durch mißtrauischen Fragen zu erkennen.
Erich Honecker hatte Moskau den blinden Gehorsam längst
aufgekündigt. Unbeirrt folgte er seinem Kurs, die Kontakte der
DDR zu Bonn auch auf höchster Ebene auszubauen. Er arbeitete
weiter beharrlich an der Verwirklichung seines Traums, in Bonn
auf rotem Teppich zu den Klängen der DDR-Hymne empfangen
zu werden. Ebenso bedeutsam war für ihn eine Rückkehr in sein
heimatliches Saarland, wo er unter Herbert Wehner den

-323-
Widerstand gegen die Nationalsozialisten organisiert hatte.
Wichtigstes Element der Politik intensiver politischer
Kontakte zwischen Bonn und Ost-Berlin war allerdings auf
beiden Seiten der Versuch, in einer Atmosphäre der Irrationalität
zwischen den Großmächten so etwas wie eine gesamtdeutsche
Achse der Vernunft zu schaffen.
Honecker und seine Umgebung versuchten, die
deutschdeutschen Gespräche auf verschiedenen Ebenen so gut
wie möglich vor der mißtrauischen Neugier der sowjetischen
Botschaft in Ost-Berlin abzuschirmen. Soweit die Kontakte
nicht über Mitarbeiter oder Quellen meines Dienstes liefen,
erfuhr auch ich Einzelheiten eher aus Bonn als von
Eingeweihten in Berlin.
Der geplante Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in
der DDR war nach dem unmißverständlichen Veto Moskaus für
Honecker nicht mehr durchführbar. Schmidt stand unter
ähnlichem Druck aus Washington, das Treffen abzusagen. Der
Kanzler tat es und ersparte damit dem Staatsratsvorsitzenden die
Peinlichkeit, ihn ausladen zu müssen.
Unsere Quellen im Umfeld des Bundeskanzleramts, die uns
auch nach dem Ausfall Guillaumes noch ausreichend
informierten, ließen uns wissen, daß Helmut Schmidt nur
widerwillig und oft wider bessere Einsicht dem Druck aus
Washington nachgab. Andererseits bestätigte sich die
Einschätzung Andropows, daß dem Kanzler letztendlich die
Loyalität gegenüber Washington über alle Bedenken ging. Als
die USA von der BRD den Boykott der Olympischen Spiele im
Sommer 1980 in Moskau verlangten, kam es zum Eklat
innerhalb der SPD-Führungsriege. Während einer Krisensitzung
beim Bundeskanzler im April 1980 soll nach unseren
Informationen Schmidt mit dem Rücktritt gedroht haben, bevor
er die Zustimmung für den Olympia-Boykott bekam. Die
Forderung der USA nach Wirtschaftssanktionen gegen die
Sowjetunion soll bei dieser Sitzung von der Mehrheit der
-324-
versammelten Sozialdemokraten abgelehnt worden sein –
Brandt, Wehner, Bahr und Apel sprachen sich entschieden
gegen Sanktionen aus, nur Hans-Jürgen Wischnewski
befürwortete sie.
Der erste, der uns über diese Sitzung im Bundeskanzleramt
informierte, war Herbert Wehner. Er ließ noch am selben Tag
Rechtsanwalt Vogel zu sich kommen und formulierte eine
Nachricht für Erich Honecker: »Wir ziehen ja an einem Strang.
Ich habe ihm (Honecker) versprochen, vor einer möglichen
Kriegsgefahr zu warnen. Seit heute weiß ich, daß sie sich
anbahnt, ja vielleicht schon brodelt.« Wehner sah eine Lage
»wie 1914«. Er hatte das Vertrauen in den Bundeskanzler
verloren und beschwor Vogel: »Sagen Sie meinem
Jugendfreund, Schmidt befindet sich in einem Dickicht von
Wahnvorstellungen. Ob und wie er sich da rauswindet, da ist
alles drin.«
Honecker versuchte im Krisenjahr 1980 gegenüber Moskau
als gleichberechtigter Partner aufzutreten. Wiederholt hatte er
sich besorgt über die Konzentration von Waffen, Soldaten und
nuklearen Raketen auf dem Boden der DDR geäußert, aber er
überschätzte seinen Einfluß. Auch Mielke glaubte noch, der
atomare Aufrüstungswettlauf an der deutschdeutschen Grenze
sei zu stoppen, die Stationierung von sowjetischen SS-20-
Raketen zu verhindern.
Mir war immer klar gewesen, wie verletzbar die Sowjetunion
angesichts einer amerikanischen Politik der Stärke und
Hochrüstung war. Carters Präsidentschaft hatte im Kreml große
Besorgnis ausgelöst, denn der fü r uns unberechenbare Mann
präsentierte ein Rekordverteidigungsbudget von über 157
Milliarden Dollar, die er in MX- und Trident-Raketen
investierte, in Cruise Missiles und Atom- U-Boote. Einer der
führenden sowjetischen Nuklearstrategen vertraute mir an, daß
die Ressourcen unseres Bündnisses nicht ausreichten, um da
mitzuhalten.

-325-
Als dann der eher schwache Carter von dem säbelrasselnden
Antikommunisten Ronald Reagan ersetzt wurde, sah die
Sowjetführung den atomaren Erstschlag der Nato als reale
Gefahr. Die Stationierung der atomaren Trägerwaffen an der
deutschdeutschen Grenze bedeutete eine dramatische
Verkürzung der Vorwarnzeiten im Falle eines
Kernwaffenangriffs der Nato.
Von Moskau wurde als Antwort auf die neue Situation ein
Plan entwickelt, der alle Staaten des Warschauer Pakts
einbezog. Er bekam den Tarnnamen Rjan, die Abkürzung für
»Raketno jadernoje napadenije«, zu deutsch Raketen-
Kernwaffen-Angriff. Dieser Plan sollte es ermöglichen, alle
Anzeichen für einen bevorstehenden atomaren Angriff der Nato
auf schnellstem Weg zu einer Zentrale und von dort nach
Moskau zu übermitteln. Es wurde ein Katalog von Merkmalen
erarbeitet, die Hinweise auf Angriffsvorbereitungen sein
konnten. Unsere Quellen in den Nato-Stäben, in der BRD und
den USA wurden entsprechend instruiert. Höchste Priorität hatte
die Observation der Basen von Pressing 2 und Cruise Missiles,
deren Standorte wir bereits erkundet und nach Moskau gemeldet
hatten.
Für diese Aufgaben wurde der Stab der HVA ausgebaut. Er
erhielt ein eigenes Lagezentrum, das mit einer
Sonderverbindung zum Partner in Moskau ausgestattet werden
sollte. Der Minister befahl allen Dienstbereichen der
Staatssicherheit, Hinweise auf Angriffsvorbereitungen
unverzüglich an die HVA weiterzuleiten. Eine spezielle
Arbeitsgruppe des Ministers war damit beauftragt, den Bau
dezentraler Kommandobunker für den Kriegsfall zu forcieren.
Für die Leitung der HVA wurde ein atomsicherer Bunker in die
Gosener Berge südöstlich von Berlin gegraben. Vom Nutzen
solcher Anlagen war ich wenig überzeugt. Die darüberliegenden
Tarnobjekte eigneten sich allerdings hervorragend für gesellige
Veranstaltungen und die Unterbringung von Gästen.

-326-
Die Durchführung der Maßnahmen im Rahmen des Plans
Rjan beanspruchte viel Zeit und Kraft. Mitte der 80er Jahre ließ
der von Moskau forcierte Tempodruck allmählich nach. Die
Analysen, zu denen auch unsere Quelle in der Nato, Rainer
Rupp, wichtige Informationen lieferte, ermöglichten uns die
Einschätzung, daß eine unmittelbare Bedrohung durch einen
nuklearen Raketenangriff nicht gegeben war.
Moskau konnte zufrieden sein mit den militärischen und
militärpolitischen Informationen, die wir lieferten. Daneben
waren die Gegengaben unserer sowjetischen Kollegen eher
bescheiden. Trotz dieser Disproportion hatten wir uns nie als
reine Erfüllungsgehilfen Moskaus gesehen. Auf militärischem
und strategischem Gebiet erkannten wir die Führungsrolle der
Sowjetunion aus Überzeugung an. Dennoch war es frustrierend
zu erleben, wie die sowjetischen Bundesgenossen bei der
Stationierung der atomaren Raketen in der DDR wie eine
Besatzungsmacht auftraten. Wir wußten zwar, wo die Nato-
Raketen stehen sollten, wo und wann aber die SS-20-Raketen in
unseren Wäldern versteckt werden würden, das teilten die
Freunde selbst Honecker und Mielke nicht mit. Nur so ist
verständlich, daß Mielke mir wenige Wochen vor dem
Eintreffen der sowjetischen Raketen erklärte: »Es kommt
überhaupt nicht in Frage, daß wir Milliarden ausgeben und
unsere Bäume abhacken, um Platz für die Startrampen zu
schaffen. Du wirst sehen, die verhandeln weiter.« Weder er noch
jemand anders aus der Staatsführung konnte verhindern, daß
Schneisen und Lichtungen in die Wälder geschlagen wurden
und daß die SS-20-Lafetten im Schutz der Dunkelheit, als
Holztransporter getarnt, anrollten.
Im Grunde haben wir Deutschen als Statisten an den
Kriegsspielen der Supermächte teilgenommen. Ob es Pläne gab,
einem vorausgesagten Angriff des Gegners mit einem Erstschlag
von unserer Seite zuvorzukommen, habe ich nie erfahren. Die
Kreml-Führung hätte uns wohl auch nicht in solche Pläne

-327-
eingeweiht. Die Nuklearstrategen auf beiden Seiten wußten
natürlich, daß von Deutschland auch bei einem begrenzten
atomaren Krieg nur ein radioaktiv verseuchtes Trümmerfeld
übrig bleiben würde.
In jenem Sommer von 1980, als das Gespens t des Jahres 1914
in Europa umhergeisterte und mein Dienst sämtliche
Möglichkeiten im Westen mobilisieren mußte, um eventuelle
Gefahren rechtzeitig zu erfassen, begann sich hinter unserem
Rücken in Polen ein neues Unwetter zusammenzubrauen. Die
eskalierenden Streiks, die im Juli und August in die Gründung
der unabhängigen Dachgewerkschaft Solidarnosc einmündeten,
hatten unübersehbar wirtschaftliche Ursachen: Die willkürlichen
Preiserhöhungen der Lebensmittel wurden von den Arbeitern
nicht länger hingenommen.
Am 21. August 1980, dem 12. Jahrestag des Einmarschs der
Staaten des Warschauer Vertrags in die CSSR, bestellte Mielke
mich zur Beratung über die Lage in Polen. Zu 1968 bestand ein
grundlegender Unterschied: Damals war die Intervention eine
Reaktion auf die Politik der Führung in Prag unter Alexander
Dubcek gewesen, in Polen jedoch zeichnete sich eine Erhebung
ab, die von unten ausging.
Die Führung in Warschau war bestrebt, ihre Verbündeten zu
beschwichtigen. In der Ministerinformation aus Warschau hieß
es, die regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP)
mobilisiere ihre Mitglieder und sei Herr der Lage. Mielke
bezweifelte, daß die politische Führung die »Konterrevolution«
niederhalten könne. Nach einer Unterredung mit Honecker Ende
August schlug er mir vor, ob ich nicht meine guten Beziehungen
nutzen und mir selbst vor Ort einen Eindruck verschaffen wolle.
Ich vereinbarte Termine mit meinem alten Bekannten
Frantisek Szlachcic, der unter Gierek zum zweiten Mann in der
Parteiführung der PVAP aufgestiegen war, mit Miroslaw
Milewski, dem Stellvertreter des Innenministers, und mit
meinem Kollegen Jan Slowikowski, dem Leiter des polnischen
-328-
Nachrichtendienstes. Im Flugzeug ging ich nochmals eine kurze
Zusammenfassung der Polen-Informationen des BND und des
Auswärtigen Amtes durch. Nach Mitteilungen einer unserer
Bonner Spitzenquellen wollte die SPD-Führung in Erfahrung
gebracht haben, daß vom BND und Kreisen um Franz Josef
Strauß Bemühungen ausgegangen seien, Verhandlungen des
Streikkomitees mit der polnischen Regierung zu vereiteln; zu
diesem Zweck seien den Streikenden 400 000 DM zugeflossen.
Es lohnt nicht, aus den Notizen über meine Gespräche mit den
polnischen Bekannten ausführlich zu berichten. Sie spiegeln
nichts als eine Mischung aus Ratlosigkeit,
Beschwichtigungsversuchen, Kritik an der eigenen Führung und
überheblicher Geringschätzung der intellektuellen Führer der
Opposition wider. Lech Walesa wurde als ferngesteuerte, nicht
sehr ernst zu nehmende Gestalt betrachtet, fast eine Witzfigur.
An dieser von der Realität weit entfernten Sicht meiner
Gesprächspartner änderte sich wenig bis in den Dezember des
Folgejahres hinein, als in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde.
Schon bei meiner Reise Ende August 1980 zeigte sich diese
Realitätsferne darin, daß die Lagebeurteilung des
Innenministeriums innerhalb von vierundzwanzig Stunden
völlig umgekrempelt wurde. Man hatte mir erklärt, von den
einundzwanzig Danziger Forderungen könnten zwanzig
akzeptiert werden, keinesfalls jedoch die nach freien,
unabhängigen Gewerkschaften; eine Legalisierung der
Opposition komme auf keinen Fall in Frage. Kaum war ich
wieder in Berlin und faßte gerade meinen Bericht ab, erhielt ich
aus Warschau die Nachricht, das Zentralkomitee der PVAP habe
sämtliche Forderungen des Streikkomitees akzeptiert. Die Reise
hätte ich mir also sparen können.
Bei dieser Kraftprobe hatte sich Solidarnósc gegen den
Machtapparat von Staat und Partei durchgesetzt. Die Grenzen
der Gewalt waren deutlich erkennbar geworden. Der Westen
schwankte zwischen Frohlocken über die ersten Erfolge auf dem

-329-
Weg der Liberalisierung und der Befürchtung, daß der polnische
Staat Aufweichungserscheinungen zeigen könnte, die die
Mitglieder des Warschauer Pakts zur Intervention veranlassen
würden. Der Prager Frühling mit all seinen Folgen war noch in
frischer Erinnerung.
Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, wurden
innerhalb des MfS, auch in meinem Dienst, besondere
Arbeitsgruppen mit dem Schwerpunkt Polen gebildet. Für die
HVA stand das Beschaffen von Informationen über die
Absichten westlicher Dienste, Regierungsstellen, Parteien und
Organisationen hinsichtlich des Nachbarlandes im Vordergrund.
Unser polnischer Partnerdienst hatte uns insbesondere um
Auskünfte zu polnischen Emigrantenzirkeln und deren
Aktivitäten gebeten; in München wirkte Radio Free Europe, in
Paris die Emigrantenzeitschrift Kultura. Zugleich hatten wir den
Auftrag, uns in Polen selbst um eine eigene Beurteilung der
Lage zu bemühen.
Bei meiner zweiten Reise nach Warschau im Oktober 1980
war Milewski bereits Innenminister. Der für das große
Arbeitszimmer etwas zu klein geratene Minister nahm sich viel
Zeit für unser Gespräch und sparte nicht mit Kritik am neuen
Generalsekretär der Partei, Kania, und an Ministerpräsident
Jaruzelski. Bei Milewski konnte ich mich nie des Eindrucks
erwehren, daß unsere Präsenz und mein Ausfragen seinem
polnischen Nationalstolz widerstrebten.
Sämtliche Quellen aus westlichen Regierungskreisen, aus der
SPD-Spitze und dem BND ließen uns erkennen, daß man im
Westen ein Eingreifen der UdSSR und ihrer Verbündeten für
unausweichlich hielt. Westeuropäische Politiker bemühten sich
darum, eine direkte Intervention zu verhindern. Vom Papst und
Kardinal Wyszynski bis zu Ratgebern aus westeuropäischen
Gewerkschaften wurde bremsend auf die radikalen Führer der
polnischen Gewerkschaftsbewegung eingewirkt.
Oft genug kam ich mir selbst in jenen Tagen wie gelähmt vor.
-330-
Das Prager Szenarium von 1968 noch vor Augen, trieb Polen in
unserer unmittelbaren Nachbarschaft möglicherweise noch
katastrophaleren Ereignissen entgegen. In Moskau und Ost-
Berlin saßen alte Männer an den Hebeln der Macht, kaum fähig,
mit Blick nach vorn weitsichtig und klug Entscheidungen zu
treffen.
Bis in den Sommer 1981 hielten die Wechselbäder aus
Streikdrohungen und trügerischer Ruhe an. Als Woijciech
Jaruzelski die Führung übernahm und Kiszczak, den Mann
seines Vertrauens, an Milewskis Statt zum Innenminister
ernannte, riß meine wichtigste persönliche Verbindung nach
Warschau ab. Als Jaruzelski Mitte Oktober zum Generalsekretär
der PVAP gewählt wurde, hieß es, die polnische Führung werde
nun alles tun, um die Lage aus eigenen Kräften zu
normalisieren.
Die Nachricht in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember,
daß in Polen das Kriegsrecht verhängt worden war, überraschte
mich genauso wie Honecker und Schmidt, die am Werbellinsee
bei Berlin konferierten. Jaruzelski erklärte später, durch diesen
Schritt habe er einem Einmarsch sowjetischer Truppen
vorgebeugt. Es scheint mir undenkbar, daß er sein Vorhaben
nicht mit Moskau abgestimmt hatte.
Aus meinen Gesprächen mit Andropow und mit Krjutschkow
war ich zu der Überzeugung gelangt, daß für die UdSSR nach
den Erfahrungen von 1968, nach der Verstrickung in den
afghanischen Bürgerkrieg und angesichts der Spannungen mit
China und der demonstrativen Politik der Stärke der USA ein
bewaffnetes Vorgehen in Polen nicht mehr in Frage kam. Unter
diesem Aspekt war Jaruzelskis Eingreifen das kleinere Übel, das
half, vorerst Luft zu gewinnen. Doch einem analytisch
denkenden Mann wie Andropow mußte klar sein, daß dies keine
Lösung auf Dauer sein konnte.
Je heftiger der kalte Krieg zwischen den Weltmächten geführt
wurde, desto intensiver wurden die geheimen Kontakte
-331-
zwischen Schmidt und Honecker, die inzwischen regelmäßig
miteinander telefonierten. Mielke zeigte mir Niederschriften
dieser Telefonate. In ihnen offenbarte sich ein Helmut Schmidt,
der sehr viel nachdenklicher und beunruhigter schien, als er sich
der Öffentlichkeit und selbst den eigenen Parteifreunden
gegenüber präsentierte. Nach der Wende haben es westdeutsche
Politiker konsequent verschwiegen oder herabgespielt, wie
vertraut und vertraulich oft ihre Kontakte zu den Repräsentanten
der SED waren.
Statt des abgesagten Treffens zwischen Schmidt und
Honecker wurde ein Besuch des Politbüromitglieds Günter
Mittag beim Bundeskanzler arrangiert. Herbert Wehner bereitete
über Vogel unsere Seite auf das Gespräch vor. Wie Mittag
hinterher berichtete, traf er am 17. April 1980 einen realistisch
analysierenden Schmidt, dem es ganz offensichtlich ernst war
mit der wiederholten Beschwörung: »Von deutschem Boden
darf nie wieder ein Krieg ausgehen.« Schmidt – so Mittag sah in
der Verschlechterung der internationalen Lage eine ernste
Gefahr und soll wörtlich gesagt haben: »Alles läuft aus dem
Ruder.« Er fürchte einen möglichen Zusammenstoß der
Großmächte. Der amerikanische Präsident erliege dem starken
innenpolitischen Druck, der auf ihm laste, und die Weltmächte
gerieten dadurch langsam, aber stetig in eine Konfrontation, die
sehr schnell zu panischen Reaktionen eskalieren könne. Mittag
zufolge beklagte der Bundeskanzler sehr offen den Druck, den
Washington auf Bonn ausübte, und bat um Verständnis für die
Beteiligung der BRD am Olympia-Boykott.
In Teheran war zu dieser Zeit die US-Botschaft von
»Gotteskämpfern« besetzt. Mittag berichtete, daß Schmidt
befürchte, der US-Präsident könne auf diese Situation irrational
reagieren. In dieser bedrohlichen Lage – so Schmidt laut Mittag
müßten die Kontakte zwischen den beiden Staaten unbedingt
erhalten bleiben; beide Seiten müßten versuchen, auf ihre
»großen Freunde« mäßigend einzuwirken. Erich Honecker solle

-332-
wissen, daß er, Helmut Schmidt, berechenbar sei. Seitens der
Bundesrepublik werde »nichts Verrücktes« passieren.
Mittag wiederum erklärte im Namen Honeckers, die
Aufhebung des Beschlusses über die Raketenstationierung in der
BRD sei die wichtigste friedenssichernde Maßnahme. Die
formelhaften Erklärungen über das Treffen für die Öffentlichkeit
ließen kaum ahnen, wie eng die Regierenden der beiden
deutschen Staaten in dieser Krisensituation zusammengerückt
waren. Soweit mir bekannt, soll Schmidt nach dem Gespräch
mit Mittag Honecker angerufen haben; in diesem Telefonat
sollen beide nochmals ihre Bereitschaft versichert haben, alles
zu tun, »daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg
ausgeht«.
Die Menschen in beiden deutschen Staaten hatten nicht die
detaillierten Informationen der politisch Handelnden, aber ein
Gespür für das Bedrohliche der internationalen Lage. Beinahe
zeitgleich entwickelte sich in Ost und West eine
Friedensbewegung, in der sich das große Unbehagen über die
herrschenden Verhältnisse bündelte. In der Bundesrepublik war
die neue Massenbewegung zunächst deutlicher sichtbar. Sie
protestierte gegen die Raketenstationierung und die militante
Außenpolitik der USA. Konservative Politiker und Medien
behaupteten sofort, die Friedensbewegung sei »vom Osten
gesteuert«. Selbst Helmut Schmidt warf den Demonstranten vor,
das Geschäft Moskaus und Ost-Berlins zu betreiben.
Tatsächlich schien die Bewegung für die außenpolitischen
Ziele unserer Seite nützlich zu sein, und es bestand ein starkes
Interesse unserer Führung, sie zu unterstützen, wenn möglich
sogar zu beeinflussen. Als im Herbst 1981 die große
Friedensdemonstration in Bonn organisiert wurde, gehörte die
uns nahestehende Deutsche Friedensunion zu den Initiatoren.
Dennoch waren die Gruppen und Personen, auf die wir
einwirken konnten, in der Minderheit. Vor den
Dreihunderttausend, die nach Bonn kamen, sprach unter anderen

-333-
der Schriftsteller Heinrich Böll, der sich engagiert für
Dissidenten aus sozialistischen Staaten einsetzte. Unser einziger
Mann auf der Rednerbühne war der FDP-Politiker William
Borm, doch auch er wäre nicht bereit gewesen, sich nach
unseren taktischen Anweisungen zu verhalten.
Dem außenpolitischen Nut zen der westdeutschen
Friedensbewegung für die DDR standen aus der Perspektive
unserer Führung bald die innenpolitischen Auswirkungen
entgegen. In der DDR organisierte sich eine eigene
Friedensbewegung, die sich nicht nur gegen die Hochrüstung
aussprach, sondern auch gegen die Verletzung von
Menschenrechten und die vormilitärische Ausbildung an
unseren Schulen. Die Staatsmacht reagierte mit Repression statt
mit Dialog auf diese Erscheinung, die sie nicht unter Kontrolle
bekam. So verspielte sie die Gelegenheit, mit den kirchlich
beeinflußten Friedenskräften der DDR ins Gespräch zu
kommen, und ging statt dessen mit administrativen Maßnahmen
gegen sie vor. Die Engstirnigkeit dieser Politik war für viele
unbegreifbar. Ich wandte mich dagegen, die Auseinandersetzung
mit den Friedensgruppen der Staatssicherheit zu überlassen.
Meine Meinungsäußerungen blieben aber auf einen sehr kleinen
Kreis beschränkt.
Der Widerspruch zwischen der Friedenspolitik nach außen
und der restriktiven Haltung bis hin zur Repression gege n
Engagierte der Friedensbewegung im Innern wurde immer
auffallender. Die dadurch erzeugte Konfusion wirkte bis in den
Partei- und Staatsapparat hinein. Auf der einen Seite wurde
schärferes Vorgehen gegen »ideologische Diversion« verlangt,
wodurch die Schwerter- zu-Flugscharen-Gruppierungen in die
Opposition gedrängt wurden, auf der anderen Seite sollte die
Friedensbewegung im Westen im Einklang mit unserer
Außenpolitik unterstützt werden. Dabei entwickelten sich immer
engere Beziehungen zwischen den Protestierenden in Ost und
West, deren Forderungen schließlich weitgehend identisch

-334-
waren.
Diese Entwicklung wirkte sich auf viele Bereiche der
Staatssicherheit aus. Die in der Abwehr für oppositionelle
Gruppierungen, Jugend und Kirche Verantwortlichen konnten
den Widerspruch nicht lösen. Sie sollten gegen die
»feindlichnegativen Kräfte« vorgehen und durften zugleich der
Außenpolitik nicht schaden. Diese unvereinbaren
Anforderungen führten zu Unsicherheit unter den Mitarbeitern
bis hin zum Minister. Das zeigte sich unter anderem im
Verhältnis zu den Grünen in der BRD. Ihren Vertretern –
darunter so prominenten Repräsentanten der Friedensbewegung
wie Petra Kelly und Gert Bastian – wurde wiederholt die
Einreise in die DDR verweigert, weil sie hier Mitglieder von
Friedensgruppen besuchen wollten.

Gert Bastian und Petra Kelly 1983


Für den auf die Außenpolitik orientierten Nachrichtendienst
war die Haltung zur Friedensbewegung einfacher. Aus unserer
Sicht richtete sich die Bewegung objektiv gegen den Kurs der
US-Politik und der von ihr abhängigen Regierungen. Sie hatte
qualitativ und quantitativ ein ganz anderes Gewicht als ihre

-335-
Vorgänger, die Kampagne »Kampf dem Atomtod« in den 50er
und die Ostermärsche in den 60er Jahren. Unsere Analysen
zeigten, daß gerade bei jungen Menschen aus bürgerlichen
Familien ein grundlegender Wertewandel stattgefunden hatte.
Aufstieg und materieller Wohlstand waren ihnen weniger
wichtig als Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühl und
Selbstverwirklichung. Die moderne Technologie wurde mit
Kriegsbedrohung und Zukunftslosigkeit, der kapitalistische
Staat mit Entmündigung und Entfremdung gleichgesetzt. Das
waren wichtige Aspekte für unsere Arbeit. Wir konnten bei
Sympathisanten der Friedensbewegung neue Mitarbeiter
rekrutieren. Voraussetzung war, daß sie ein Studienfach hatten,
das eine Perspektive als Quelle versprach, und daß sie sich nicht
auffällig politisch engagiert hatten. Denn wir wußten, daß die
Aktivisten der Bewegung vom Verfassungsschutz und anderen
westlichen Diensten ähnlich intensiv überwacht wurden wie die
Oppositionellen in der DDR von der Abwehr.
Ein anderes Ziel unserer Arbeit war es, der Parteiführung
objektivierende Informationen über die Grünen und andere
Gruppierungen zu liefern, um Vorurteile abzubauen. Ich hoffte,
damit auch innenpolitische Wirkung zu erzielen, die zu einem
toleranteren Umgang mit der Friedensbewegung in der DDR
führen könnte.
Schließlich hatte die Aufklärung auch Anteil an der
Propagandaschlacht, die zwischen den Blöcken tobte. Eine
kleine Friedensgruppe war für uns dabei besonders interessant.
Sie nannte sich »Generale für den Frieden«. 1981 hatten sich
neun ehemals hohe Militärs aus verschiedenen Nato-Ländern
zusammengefunden, weil sie fürchteten, daß die atomare
Hochrüstung vor allem des Westens zum nuklearen Inferno
führen könne. Unter ihnen war der pensionierte General Graf
Baudissin, einer der Väter der Bundeswehr und ihr
demokratisches Gewissen. Aus England kam General Michael
Harbottle, aus den USA Admiral John Marshall Lee, aus

-336-
Frankreich Admiral Antoine Sanguinetti, aus den Niederlanden
Admiral von Meyenfeldt, aus Italien General Nino Pasti und aus
Portugal General Fransisco da Costa Gomes. Einige Monate
nach der Gründung stieß Exgeneral Gert Bastian zu der Gruppe.
Bastian, zuletzt Kommandeur einer Panzerdivision, hatte seinen
Dienst bei der Bundeswehr quittiert, weil er die Raketenrüstung
nicht mitverantworten wollte und zunehmend reaktionäre
Tendenzen bei seinen Kameraden registrierte. Bastians
Lebensgefährtin wurde die populärste und eindrucksvollste
Repräsentantin der westdeutschen Friedensbewegung, Petra
Kelly.
Die neun Militärs gewannen, so paradox es klingen mag,
schnell einen herausragenden Status in der Friedensbewegung.
Ihre Wirkung ging noch weit über den Kreis der Engagierten
hinaus. Sie alle waren schon im Zweiten Weltkrieg Offiziere
gewesen und waren in ihren Ländern hoch angesehen. Viele
hatten an der strategischen Planung der Nato und damit an den
Konzepten der atomaren Abschreckung mitgearbeitet. Niemand
konnte ihnen, wie den jungen Aktivisten, vorwerfen, sie wüßten
nicht, wovon sie redeten. Sie konnten den amerikanischen
Propagandaslogan von der »sowjetischen Bedrohung« aus
militärischer Sicht überzeugend widerlegen.
Kopf und Motor, vergleichbar einem Geschäftsführer der
Gruppe, war der ehemalige Offizier der Bundesmarine Gerhard
Kade. Er hatte den Dienst schon Jahre zuvor quittiert, war
Historiker an der Universität Hamburg und Publizist geworden.
Sein Hauptforschungsgebiet war die Verbindung hoher Militärs
zur Rüstungsindustrie in der Bundesrepublik und den USA.
Seine Erkenntnisse hatten ihn zu einer sehr kritischen
Einstellung gegenüber dem militärischindustriellen Komplex in
der Marktwirtschaft gebracht.
Ein großes Problem der »Generale für den Frieden« war die
Finanzierung ihrer Aktivitäten. Sie mußten ihre Reisen zu den
gemeinsamen Treffen, zu Vorträgen und Diskussionen

-337-
weitgehend selber finanzieren. Sie hatten keine Mittel, ihre
Analysen und Forderungen zu publizieren. Das war unsere
Chance.
Ich mußte meinen Mitarbeitern keine spezielle Order geben,
Kontakt zu der Gruppe zu suchen. Kurz nach ihrer Gründung
meldete mir ein Mitarbeiter, daß es seiner Abteilung gelungen
sei, über eine Quelle in Hamburg an den Organisator der
Friedensgenerale, Gerhard Kade, heranzukommen. Der
ehemalige Marineoffizier schien bereit zu Gesprächen mit
Abgesandten der DDR.
Ich schickte zwei Leute, die vorgaben, im Auftrag des
Ministerrats der DDR zu reisen, wie wir es häufig bei Kontakten
zu potentiellen Quellen in Westdeutschland taten. Wir waren
nicht so naiv anzunehmen, daß diese Behauptung wirklich
geglaubt wurde. Wer ein wenig Ahnung von den Strukturen der
DDR hatte, dem mußte schnell klar sein, daß er sich mit dem
Nachrichtendienst einließ. Aber der Deckmantel wirkte
beruhigend auf die Gesprächspartner und gab ihnen einen
gewissen Schutz, und ganz Naive beließ er im Glauben, sich mit
Vertretern aus Politik und Wissenschaft zu unterhalten. In
solchen delikaten Dingen traten wir meist anders auf als die US-
Geheimdienste, die selten ein Hehl aus ihrer Ident ität machten
und gern von Anfang an Begriffe wie Anwerbung und
Bezahlung im Munde führten.
Nach einigen Begegnungen und Gesprächen bekam Kade den
Decknamen Super, der auch seine Bedeutung für uns
ausdrückte. Kade war in den Gesprächen sehr schnell auf das
Problem der »Generale für den Frieden« gekommen, die
mangelnden finanziellen Ressourcen. Er meinte, ein jährlicher
Zuschuß von 100000 DM würde der Gruppe die
Öffentlichkeitsarbeit entscheidend erleichtern. Ich bewilligte die
Summe, die selbstverständlich nicht von der HVA, sondern vom
Institut für Politik und Wirtschaft als Spende ausgezahlt wurde.
Als sich herauskristallisierte, daß die Aktion zu einem großen
-338-
Erfolg wurde, behaupteten alle möglichen Stellen in der DDR,
das sei ihr Verdienst. Am ärgerlichsten war dabei die Rolle von
Honeckers Schwager Manfred Feist, bis 1989 Leiter der
Abteilung Auslandsinformation im Zentralkomitee. Feist
erzählte Honecker, daß er der Initiator der Unterstützung für die
Generäle gewesen sei.
Ich weiß nicht, ob alle Mitglieder der »Generale für den
Frieden« über die Finanzierungsquelle informiert waren, besser
gesagt, was sie sich unter diesem Institut vorstellten. Sie müssen
sich gefragt haben, wieso in der Vereinskasse plötzlich Geld
war, aber wahrscheinlich genügte ihnen Kades Erklärung, daß
sich ein Sponsor eingefunden hatte.
Unsere jährliche Spende war nicht die einzige Unterstützung
aus dem Osten. Gleichzeitig mit uns bemühte sich auch der
KGB um eine Verbindung zu Kade und informierte mich
darüber. Offenbar gelang es Kade daraufhin, den KGB zu
bewegen, einen sowjetischen General dazu abzukommandieren,
daß er sich um Aufnahme in die »Generale für den Frieden«
bewarb, denn das war tatsächlich der Fall.
Dies bedeutete allerdings keineswegs, daß die Gruppe nun das
Sprachrohr Moskaus gewesen wäre. Kade mußte die von ihm
eingebrachten Vorstellungen mit der ganzen Gruppe diskutieren,
und die eigenwilligen Persönlichkeiten waren kaum
manipulierbar. Dennoch erkannte man in Erklärungen der
Generale den Einfluß wieder, den wir über Kade ausübten.
So hatte beispielsweise Expanzergeneral Bastian ursprünglich
Ost und West gleichermaßen für die Hochrüstung verantwortlich
gemacht und zur Umkehr aufgefordert, während er später immer
eindeutiger für Positionen des Warschauer Pakts Partei ergriff.
Als er 1987 in einem Interview mit dem DDR-Radio gefragt
wurde, ob die jüngste Rede des sowjetischen Außenministers
Gromyko nicht der Stärkung des Friedens diene, antwortete
Bastian: »Das denke ich. Ich glaube, daß die Vorschläge, die in
letzter Zeit aus Moskau kommen, sehr konstruktiv sind, und ich
-339-
hoffe, daß sie im Westen ein positives Echo finden.« Bastians
Parteinahme für Moskauer Positionen führte innerhalb der
westdeutschen Friedensbewegung zu kontroversen Diskussionen
und stand nicht immer in Einklang mit den Erklärungen seiner
Lebensgefährtin Petra Kelly.
Ich habe keine Belege dafür, ob Bastian von Kade in dessen
Kontakte eingeweiht war. Die beiden haben jedoch so eng
miteinander gearbeitet, daß Bastian zumindest etwas geahnt
haben muß. Die Gesinnung dieses integeren Mannes war
dadurch nicht zu kaufen. Für unsere Abwehr jedenfalls blieb er
ein verdächtiger Kunde, dem man die Einreise in die DDR lange
Zeit verwehrte.
Gerhard Kade starb 1995. Seine Verbindungen zu unserem
Dienst und zum KGB wurden nie aufgedeckt. Gert Bastian
nahm sich 1992 das Leben, nachdem er seine Lebensgefährtin
Petra Kelly erschossen hatte.
Wenn man mich fragt, ob ich es bereue, eine so idealistische
und integere Gruppe infiltriert zu haben, um sie möglicherweise
zu manipulieren, kann ich das mit einem klaren Nein
beantworten. Ich hatte bei dieser Aktion – im Unterschied zu
einigen anderen Operationen – nie Bedenken. Wir waren
schließlich weder Initiatoren der Gruppe noch ideologische
Einflüsterer. Wir haben durch unsere Hilfe nur dazu
beigetragen, daß ihre Stimme gehört werden konnte. Daß sich
einige ihrer Mitglieder vielleicht unter unserem Einfluß
außenpolitisch unseren Positionen näherten, hat der Sache nicht
geschadet. Wie kaum eine andere Gruppierung haben die
»Generale für den Frieden« durch ihre Kompetenz und ihren
Mut einer breiten Öffentlichkeit die Kriegsgefahr in den 80er
Jahren bewußtgemacht und haben dadurch die Regierenden auf
einen vernünftigeren politischen Kurs gezwungen. Ich empfinde
heute wie gestern größten Respekt vor diesen Männern.

-340-
14 Aktive Massnahmen

In Bertolt Brechts ernüchterndem Stück Die Maßnahme heißt


es an einer Stelle:
Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um
Die Niedrigkeit auszutilgen?
Könntest du die Welt endlich verändern, wofür
Wärest du dir zu gut?
Wer bist du?
Versinke in Schmutz, Umarme den Schlächter, aber
Ändere die Welt: sie braucht es!

Diese Worte könnten das Motto für jenen Aspekt der


Geheimdienstarbeit sein, den man klassisch als Desinformation
bezeichnet, während er bei der Abteilung X meines Dienstes
Aktive Maßnahmen genannt wurde. Viele denken beim Wort
Desinformation sofort unweigerlich an Lügen und bewußte
Irreführung, doch die Methode an sich ist so alt und so
vielgestaltig wie die Nachrichtendienste selbst, nicht
verwerflicher und nicht unmoralischer als alle
nachrichtendienstlichen Aktivitäten. Wegen der negativen
Assoziationen des Begriffs Desinformation heißt sie auch
schwarze Propaganda oder psychologische Kriegführung.
Unsere Abteilung X entstand aus einer ursprünglich sehr
kleinen Arbeitsgruppe, die wir auf eine Anregung Iwan
Agajanz', eines der intelligentesten Veteranen des KGB, in den
50er Jahren eingerichtet hatten. Sie hatte die Aufgabe, mit
nachrichtendienstlichen Mitteln auf die öffentliche Meinung in
der Bundesrepublik Einfluß zu nehmen. Obwohl sie zu einer
eigenen Abteilung wurde, erreichte sie nie die Größe und
Bedeutung anderer Abteilungen, da ich mir über das begrenzte
Potential und die geringe Wirksamkeit solcher »ideologischer
-341-
Kriegführung« keine großen Illusionen machte.
Diese Art von Propaganda hatte ich bereits aus erster Hand
kennengelernt, als ich im Sommer 1943 in Moskau am
Deutschen Volkssender eingesetzt worden war, wo wir nach
dem Vorbild von Sefton Delmers berühmtem Soldatensender
Calais eine Mischung aus echten Nachrichten und erfundenen
Meldungen ausstrahlten, um die Deutschen zum Widerstand zu
motivieren und ihre Führung zu diskreditieren. Damals hatte ich
gelernt, daß solche Sendungen der Wahrheit möglichst nahe
kommen müssen, um zu wirken.
Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg wurden im
kalten Krieg von beiden Seiten weiterentwickelt. Das
Territorium Deutschlands bot sich als Forum für die
verschiedensten Formen der Propagandaschlacht geradezu an.
Im Bonner Verteidigungsministerium wurde bald nach dessen
Gründung eine Abteilung »Psychologische Kampfführung«
eingerichtet, deren Tätigkeit naturgemäß offensiven und nicht
defensiven Charakter hatte. Von den diversen Ballon- und
Flugblattaktionen des Ostbüros der SPD und anderer
Organisationen, die von US-Geheimdiensten gesteuert wurden,
war schon die Rede. Die USA geizten nicht mit Geldern für
Aufbau und Ausbau von Zeitungen und Radiosendern; in Berlin
war das der RIAS, der vor und während des 17. Juni 1953 seine
Bewährungsprobe bestand, in München kamen später Radio
Liberty und Radio Free Europe dazu, die Sendungen in den
Sprachen der anderen Staaten des Warschauer Pakts
ausstrahlten.
Daß wir schon frühzeitig alles Wissenswerte über die
Abteilung »Psychologische Kampfführung«, das Bonner
Gegenstück zu unserer Abteilung X, erfuhren, verdankten wir
einem unserer Offiziere, der Anfang der 60er Jahre einen
hochrangigen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums als
Informanten anzuwerben vermochte, indem er ihm erfolgreich
vorgaukelte, er arbeite für einen US-amerikanischen Dienst.

-342-
Nach seiner Pensionierung wurde der vermeintlich für die USA
tätige Spion Kreisvorsitzender des Wehrpolitischen
Arbeitskreises der CSU in München und Regionalbeauftragter
des Bonner Arbeitskreises für Landesverteidigung, und es
gelang ihm sogar, einen einstmaligen leitenden Mitarbeiter des
SPD-Ostbüros anzuwerben, einen Mann, der zum ultrarechten
Flügel der CDU gewechselt war, weil er Brandts
Entspannungspolitik nicht verkraften konnte. So kassierten
eingefleischte Gegner unseres Systems unser Geld und
beschafften uns Informationen, ohne sich etwas Böses dabei zu
denken. Für den Kreisvorsitzenden des Wehrpolitischen
Arbeitskreises kam es allerdings 1984 zu einem unschönen
Erwachen, als er verhaftet und angeklagt wurde, weil er
vierzehn Jahre lang für die DDR spioniert hatte. Wir hatten zwar
erfahren, daß seine Enttarnung bevorstand, doch wir hatten ihn
nicht warnen können, denn wir konnten ihm ja nicht gut die
Übersiedlung in die DDR anbieten, während er sich im Glauben
wiegte, CIA-Agent zu sein.
Die Hauptaufgaben unserer Abteilung für Aktive Maßnahmen
bestanden darin, die subversiven Aktivitäten der gegnerischen
Seite publik zu machen und gleichzeitig durch den gezielten
Einsatz von Fakten und Dokumenten, angereichert mit
selbstfabriziertem Material, Personen und Institutionen der
Bundesrepublik in Mißkredit zu bringen, die der DDR feindlich
gesonnen waren.
In diesem Zusammenhang war die Tätigkeit unserer
Abteilung X in meinen Augen tatsächlich da wichtig, wo es ihr
gelang, ehemalige Nazis zu entlarven und an den Pranger zu
stellen und politisch ewiggestrige Scharfmacher im kalten Krieg
der Unglaubwürdigkeit zu überführen. Den naiven Glauben, wir
könnten mit den Nadelstichen unserer Aktiven Maßnahmen das
politische System oder die Wirtschaft der Bundesrepublik
merklich beeinflussen, ja sogar ernsthaft destabilisieren, habe
ich hingegen nie gehegt. Wenn heute selbsternannte

-343-
Moralwächter sich in echter oder geheuchelter Empörung
darüber ereifern, daß Telefongespräche westdeutscher Politiker
von uns abgehört wurden, dann kann ich dazu nur wiederholen,
was ich bereits in einem Interview des Spiegel sagte, daß
Politiker selbst wissen müssen, welche Gespräche man am
Autotelefon führen kann und welche nicht, und daß man mehr
als blauäugig sein muß, um über die Abhörpraktiken der
Geheimdienste staunen zu können. Im übrigen möchte ich dazu
anmerken, daß unsere Abhörvorrichtungen denen der
amerikanischen NSA auf deutschem Boden, die heute noch
existieren, nie das Wasser reichen konnten.
Unsere frühen Versuche, in der Bundesrepublik eigene
Publikationsorgane einzurichten, mußten wir bald aufgeben,
weil so etwas unsere Möglichkeiten überstieg. Statt dessen
konzentrierten wir uns darauf, Kontakte zu Journalisten zu
finden, doch damit gerieten wir in Kollision mit anderen
Bereichen des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Mitarbeiter
der Abwehr hatten die Aufgabe, die Tätigkeit von
Westjournalisten nach Möglichkeit einzuschränken, während die
Mitarbeiter unserer Abteilung X im Gegenteil bereit waren,
ihnen sogar bei ihren Recherchen zu helfen, um sich vielfältige
Kontakte zu erhalten.
Da wir natürlich nicht steuern konnten, was von dem
Material, das wir an Westjournalisten weitergaben,
veröffentlicht wurde, gründeten wir fiktive CDU- und SPD-
Pressedienste, Die Mitte und SPD-Intern betitelt, deren
Mitteilungen Spezialisten der Abteilung X verfaßten, die sich
meisterhaft darauf verstanden, Stil und Diktion einzelner
Bundespolitiker nachzuahmen. Für die FDP brauchten wir
keinen fiktiven Pressedienst zu erfinden, weil dort mit unserer
Mithilfe ein echter Dienst namens X-Informationen entstanden
war. Dem Ideenreichtum unserer Mitarbeiter waren
selbstverständlich dort Grenzen gesetzt, wo die
Wahrscheinlichkeit ihrer Meldungen nicht mehr gewährleistet

-344-
gewesen wäre. Doch oft genug entwickelte ihr Tun eine kaum
zu bremsende Eigendynamik, und es wurden Dinge in die Welt
gesetzt, die das Maß dessen überschritten, was bei einem
Geheimdienst noch als erlaubt gelten kann. So muß ich es für
eine bittere Ironie der Geschichte halten, daß ausgerechnet jener
Mitarbeiter der Abteilung X, der Aussagen Hanns-Martin
Schleyers erfunden und verbreitet hatte, die dieser während
seiner Entführung getan haben soll, einer der ersten war, die
nach 1989 mit ihrem Wissen bei der Boule vardpresse hausieren
gingen.
Im Kampf gegen den Einfluß der DDR stand die Abteilung
für »Psychologische Kampfführung« des Bonner
Verteidigungsministeriums keineswegs allein, sondern sie genoß
Schützenhilfe seitens politischer Vereinigungen und
prominenter Politiker des rechten Spektrums sowie ihnen
verbundener Medien. Neben Gerhard Löwenthal mit seiner
Fernsehsendung und allen Blättern des Zeitungskönigs Axel
Springer, die bis weit in die 80er Jahre die Bezeichnung DDR in
Gänsefüßchen schreiben mußten, hatte sich vor allem die
Illustrierte Quick auf das sozialistische Deutschland
eingeschossen. Nun war ihr Chefredakteur für uns kein
Unbekannter, handelte es sich doch um ebenjenen van Nouhuys,
der von 1954 bis Anfang der 60er Jahre unter dem Decknamen
Nante als Agent für uns gearbeitet hatte und obendrein für den
BND Doppelagent gewesen war. Trotz des ungeschriebenen
Gesetzes, niemals einen Agenten preiszugeben – auch wenn er
seit ewigen Zeiten nicht mehr aktiv war -, ließ ich mir
schließlich das Einverständnis abringen, daß dem Stern eine
Quittung mit van Nouhuys' Unterschrift ausgehändigt wurde,
anhand deren das Hamburger Magazin ihn beweiskräftig
bezichtigen konnte. So problematisch ich es noch heute finde,
einen solchen Schritt zu tun, der an Vertrauensbruc h grenzt, so
unumgänglich erschien es mir damals zu handeln, um van
Nouhuys mundtot zu machen. In seinem Blatt hetzte er

-345-
unermüdlich gegen die Ostverträge, so daß wir zu fürchten
begonnen hatten, die Verträge könnten torpediert werden.
Interessanterweise mußte der Stern nach seinen Enthüllungen
über Jahre hinweg einen Rechtsstreit gegen van Nouhuys und
dessen Verlag führen, den er am Ende nur deshalb gewann, weil
van Nouhuys nicht beweisen konnte, daß er kein Spion gewesen
war. Die Wahrheit allein nützt in juristischer Hinsicht eben
herzlich wenig. Daß van Nouhuys nach der Wiedervereinigung
in den eigens für die neuen Bundesländer erfundenen
Boulevardpostillen als Experte über die Stasi und die HVA das
große Wort führte, kann man nur als Witz am Rande dieses
finsteren Gewerbes auffassen…

Heinz van Nouhuys 1981


Weniger erfolgreich als die Bloßstellung van Nouhuys' waren
unsere Bemühungen, Politikern wie Franz Josef Strauß, Alfred
Dregger oder Werner Marx durch gezielt ausgestreute
Mischungen aus Fakten und Gerüchten zu schaden. Strauß war
für solche Fallstricke schlicht eine Nummer zu groß; mit dem

-346-
Vorwurf der Bestechlichkeit gegen ihn konnten wir niemanden
hinter dem Ofen hervorlocken. Und in anderen Fällen war der
Aufwand das Ergebnis nicht wert, denn trotz kurzfristiger
Empörung waren die Folgen unserer Enthüllungen gleich Null.
Wir mußten daraus die Lehre ziehen, daß Skandale und
Skandälchen um Politiker genau wie das Privatleben von
Fußballspielern oder Schauspielern zum Alltagsgeschehen der
westlichen Bo ulevardpresse gehörten – heute in aller Munde,
morgen vergessen.
Anders jedoch sah es mit unseren Aktivitäten gegen
ehemalige Nazis in der Bundesrepublik aus und mit unseren
Bemühungen, die Friedensbewegung zu unterstützen. Wie ich
bereits sagte, versuchten wir, in vorsichtiger Dosierung der
West-Friedensbewegung unter die Arme zu greifen, ohne dabei
in zu offene Konflikte mit der eigenen politischen Führung zu
geraten. Bei unseren Maßnahmen gegen Altnazis in der
Bundesrepublik hatten wir dergleichen nicht zu befürchten.
Schon in den ersten Nachkriegsjahren waren in der
Bundesrepublik zahlreiche Amtsträger des Hitlerreichs in der
Regierung Adenauer wieder in Amt und Würden gelangt, und
das auf allen Ebenen in Parteien, Armee, Justiz, Staatsapparat
und auch im Geheimdienst. Dabei handelte es sich in der
Mehrzahl keineswegs um sogenannte kleine Mitläufer.
Adenauers Staatssekretär Globke darf man getrost als
Symbolfigur dieses Personenkreises betrachten.
Unter der Leitung Professor Albert Nordens, eines jüdische n
Kommunisten, der das Dritte Reich in den USA überlebt hatte,
veranstalteten wir in den 50er Jahren Pressekonferenzen in der
DDR, auf denen die NS-Vergangenheit von Politikern und
Staatsbeamten der Bundesrepublik aufgedeckt wurde. Damals
wie später erbrachten solche Aktionen häufig den gewünschten
Effekt: Minister Theodor Oberländer und Ministerpräsident
Hans Filbinger mußten zurücktreten, Georg Kiesinger und
Heinrich Lübke mußten zugeben, daß sie ihre Biographien

-347-
geschönt hatten. Es gelang uns sogar, 1972. den seinerzeitigen
Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hubert
Schrubbers, durch die Konfrontation mit seiner Vergangenheit
im Dritten Reich in den vorzeitigen Ruhestand zu befördern
einen Mann, der wie Reinhard Gehlen zu den Ziehvätern
mehrerer Generationen leitender Bundesbeamter zählte und der
wie Gehlen selbst im NS-Staat geprägt worden war.
Unsere Unterstützung für das Ehepaar Klarsfeld brachte uns
wiederum mit der Abwehr im Ministerium für Staatssicherheit
in Konflikte, denn die Klarsfelds standen lange Zeit auf der
Liste unerwünschter Personen, weil sie auch in sozialistischen
Staaten gegen den Antisemitismus protestiert hatten. Meinem
Dienst gelang es, die Einreiseerlaubnis für sie zu erwirken und
ihnen Zugang zu den Archiven zu verschaffen, die sie
konsultieren wollten. Dadurch wurde ihnen wie jedermann, der
in Kontakt zu unserem Dienst geriet, in der Abteilung X eine
Akte und Decknamen zugeteilt, ohne daß sie die geringste
Ahnung davon gehabt hätten. Jeder, der mit den
Gepflogenheiten der Staatssicherheit und meines Dienstes auch
nur entfernt vertraut ist, wird mir darin zustimmen, daß es nur
lachhaft sein kann, die Klarsfelds aufgrund dessen als
Parteigänger der DDR oder gar der Stasi diffamieren zu wollen.
Nicht weniger peinlich als der Versuch, aufrechte
Gerechtigkeitskämpfer wie das Ehepaar Klarsfeld zu Stasi-
Handlangern abzustempeln, ist das immer wieder bemerkbare
Bemühen, meinem Dienst die besorgniserregenden Umtriebe
neonazistischer Natur in die Schuhe zu schieben, die in den alten
wie den neuen Bundesländern unkontrollierbar aufflackern.
Es ist eine Sache, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf
den Hort braunen Gedankengutes und die Auswüchse solchen
Tuns zu lenken, und eine andere, dergleichen gezielt zu
unterstützen und zu fördern. Ich überlasse es dem
Urteilsvermögen des Lesers zu entscheiden, ob gerade ich als
Sohn eines jüdischen Vaters der Richtige gewesen wäre, die

-348-
Schändung jüdischer Friedhöfe oder andere neonazistische
Schandtaten zuzulassen oder zu initiieren. Um die vierzig Jahre
DDR-Staat restlos »abzuwickeln«, wird der Antifaschismus der
DDR als verordneter Antifaschismus diffamiert. Mit
Enthüllungen über Nazis in der DDR will man die
Vergangenheit der beiden deutschen Staaten relativieren. Von
da ist es dann nicht mehr weit zur Gleichsetzung der NS-
Greueltaten und solchen Unrechts, wie es in der DDR geschah.
Dazu muß ich sagen, daß sich die Geschichte der DDR nicht
durch verordneten Antifaschismus und Kadavergehorsam
erklären läßt. Solche Denkmodelle lassen den tatsächlichen
Enthusiasmus für eine neue und möglicherweise bessere und
gerechtere Gesellschaftsordnung, wie sie uns damals
vorschwebte, völlig außer acht. Mag unsere politische Führung
die Staatsbürger ihres Landes damals noch so vorschnell
pauschal von der Mitschuld am Dritten Reich freigesprochen
und die Hinterlassenschaft der braunen Zeit einseitig der
Bundesrepublik zugeschoben haben – wahr bleibt doch, daß in
der DDR ein echter und ungeheuchelter Glaube an einen
wirklichen Neuanfang bestand.
Deutlich erinnere ich mich an die Besorgnis meines Vaters
angesichts der Gefahr, zur Tagesordnung überzugehen und die
Frage der Mitschuld des deutschen Volkes unter den Teppich zu
kehren. Aus diesem Grund schrieb er sein Drama Was der
Mensch säet und ebenso das Drehb uch zu dem DEFA-Film Rat
der Götter, in dem es um die unheilige Allianz aus
Kriegsverbrechern und der modernen Großindustrie geht.
Selbst in den letzten Jahren der DDR, als antifaschistische
Bekenntnisse oft nur mehr bloße Worthülsen bildeten, war der
Antifaschismus doch in der Kunst, an den Hochschulen und
Universitäten und nicht zuletzt in den Dissidentenzirkeln noch
immer lebendig. Diese Menschen waren auch damals noch
davon überzeugt, es sei möglich, in der DDR die bessere
deutsche Alternative zu schaffen. Ihre Tragik war, daß sie sich

-349-
dabei an dem immer sichtbarer werdenden Widerspruch
zwischen ihren sozialistischen Idealen und der
realsozialistischen Wirklichkeit aufrieben.
Ende der 70er Jahre war das Vertrauen des Ministeriums zu
meinem Dienst nicht zuletzt wegen Aktivitäten der Abteilung X
auf einem Gefrierpunkt angelangt. Eine Veröffentlichung des
Spiegel trug dazu bei, diese Lage zuzuspitzen. Es handelte sich
um ein sogenanntes Manifest eines sogenannten Bundes
Demokratischer Kommunisten Deutschland s, in dem eine
scharfe Abgrenzung zwischen Reformkommunismus und
Stalinismus vorgenommen wurde. Als erste Reaktion verfügte
unsere Führung umgehend die Schließung des Ost-Berliner
Spiegel-Büros, und dem schloß sich in allen
Parteiorganisationen der SED eine massive Kampagne gegen
»Aufweichung« an.
Kaum war das »Manifest« erschienen, wurde ich zu Mielke
bestellt. Mit ernster Miene eröffnete er mir, es sei erwiesen, daß
Hermann von Berg, schließlich ein Mitarbeiter der HVA, dafür
verantwortlich sei und daß bereits gegen ihn ermittelt werde.
Aber ich kannte nicht nur von Berg, sondern auch Mielkes Art
zu bluffen. Recht hatte Mielke insofern, als von Berg tatsächlich
seit längerem mit unserer Abteilung X in Verbindung stand,
weil er als stellvertretender Leiter des Presseamtes beim
Ministerrat der DDR gute Beziehungen zu Politikern der
Bundesrepublik und West-Berlins ebenso wie zu gut
informierten Journalisten, darunter des Spiegel, unterhielt. Auf
meine Frage, wie die Autorenschaft von Bergs an dem ominösen
Manifest bewiesen worden sei, schwieg Mielke genauso eisern
wie sein anwesender Stellvertreter Bruno Beater.
Später erst konnte ich mir allmählich zusammenreimen, was
geschehen war: Von Berg war von seinem ehemaligen
Vorgesetzten, dem Leiter des Presseamtes, einem Vertrauten
Beaters, schon immer argwöhnisch beäugt worden und deshalb
als mutmaßlicher Verfasser des Manifests in Verdacht geraten.

-350-
Die mit dem Fall beauftragte Abwehrabteilung hatte ihn an
einen geheimen Ort verbracht, wo sie ihn isoliert gehalten und
Verhören unterworfen hatte. Einiges davon war durchgesickert,
und der Spiegel und andere Medien hatten mit ihrer Meinung
nicht hinterm Berg gehalten.
Immerhin konnte ich Mielke mit Hinweis auf die politischen
Missionen von Bergs gegenüber Willy Brandt die Zusage
abringen, daß ihm kein Prozeß gemacht werden würde. Das
brachte Mielke auf die Idee, daß es Aufgabe meines Dienstes
sei, von Berg nach dessen Entlassung aus dem Hausarrest milde
zu stimmen, damit er nicht etwa in den Westen ging und dort die
Behandlung, die ihm zuteil geworden war, an die große Glocke
hängte. Letzten Endes ließ sich das nicht verhindern, obwohl es
uns gelang, von Berg relativ lange zum Bleiben zu überreden.
Als er schließlich nicht mehr davon abzuhalten war, den
Ausreiseantrag zu stellen, trennte er sich von meinen
Mitarbeitern im Einvernehmen, Diskretion über die
Zusammenarbeit zu wahren. Daran hielt er sich auch dann noch,
als er von der Bundesrepublik aus die Politik der DDR-Führung
scharf angriff.
Wie das ominöse Manifest in die Welt gesetzt worden war,
das allerdings bleibt vorläufig noch das zwischen von Berg und
dem Spiegel gehütete Geheimnis.
Im Frühjahr 1979 hatte Mielke eine unabhängige Kommission
eingesetzt, die sich mit einem Phänomen in der Hauptabteilung
IX seines Ministeriums befassen mußte, der Hauptabteilung
Untersuchung, die Mielke direkt unterstand und von ihm stets
allen anderen als Vorbild präsentiert wurde. Obwohl alles streng
geheim ablief, sickerte doch das eine und andere durch, und so
hörte ich zum erstenmal von dem Begriff ASA – Agent mit
spezieller Auftragsstruktur. Worum handelte es sich dabei? Hin
und wieder kam es vor, daß in den Westen desertierte
Angehörige der Nationalen Volksarmee zurückkehrten, weil ihre
Illusionen vom goldenen Westen der nüchternen Realität nicht

-351-
standgehalten hatten. Ihre Lage war mißlich; einerseits ließ ihre
Rückkehr sich propagandistisch gut ausschlachten, andererseits
mißtraute man ihrer Loyalität und ihrer politischen
Zuverlässigkeit. Nach ihrem Eintreffen wurden sie in Haft
genommen und auf Herz und Nieren überprüft. Besonders
wichtig war es herauszufinden, ob westliche Geheimdienste sie
in der Bundesrepublik anzuwerben versucht hatten, und wenn ja,
mit welcher Aufgabenstellung.
Im südlichen Grenzbezirk der DDR, in Suhl, wo die
Ergebnisse dieser Befragungen meist dürftig ausfielen, kamen
findige Vernehmer auf die Idee, die Untersuchungshäftlinge mit
Hafterleichterungen und Versprechungen dazu anzustiften, mit
ihnen zusammen wahre Räuberpistolen zu ersinnen. So entstand
das Lügengespinst um die »Agenten mit spezieller
Auftragsstruktur«, die angeblich vom amerikanischen
Geheimdienst in den Auffanglagern für Flüchtlinge ausgebildet
worden waren. Der jahrelang geführte Propagandakrieg
zwischen DDR und BRD und die ständige Furcht vor einem
»kleinen« oder »verdeckten« Krieg hatten eine Atmosphäre
entstehen lassen, in der solche Lügenmärchen anstandslos
geschluckt wurden, obwohl allein schon die Bezeichnung ASA
verdächtig nach DDR-Sprachgebrauch und kein bißchen
amerikanisch klang.
Die Lawine war losgetreten und bald nicht mehr zu bremsen.
Ein Häftling nach dem anderen entpuppte sich als ASA. Zu
meiner nicht geringen Verblüffung erwähnte Mielke in meinem
Beisein Andropow gegenüber bedeutungsvolle Informationen
und überreichte ihm mysteriö se Unterlagen über ein feindliches
Mini-U-Boot, das seine Abwehr – wohlgemerkt, nicht etwa die
Aufklärung – entdeckt haben wollte. Erst viel später erfuhr ich,
daß dieses ominöse U-Boot dem Hirn eines besonders
phantasiebegabten ASA-Untersuchungshäftlings entstammte
und von dort über die gesamte Dienststufenleiter bis auf den
Tisch des Ministers gelangt war. Daß Gutachter und

-352-
Marineexperten über die Angaben in den U-Boot-Dokumenten
nur den Kopf geschüttelt hatten, war dabei unter den Tisch
gekehrt worden. Wahrscheinlich hatten die Verantwortlichen in
der Hauptabteilung IX zu jenem Zeitpunkt bereits erkannt, daß
sie frei erfundenen Geschichten aufgesessen waren, aber nicht
den Mut gefunden, der Sache Einhalt zu gebieten. Inzwischen
hatten die ASA jedoch ihre Eigendynamik voll entwickelt;
»wissenschaftliche« Arbeiten wurden über sie verfaßt, und
Schulungsmaterialien über sie waren in Umlauf.
Rechtsanwalt Wolfgang Vogel machte dem Spuk ein Ende.
Ihm waren bei der Verteidigung eines Mandanten sonderbare
Dinge aufgefallen, und er hatte aus ihm herausbekommen, wie
die ASA zustande gekommen waren. Da Vogel über Oberst
Heinz Volpert eine Sonderbeziehung zum Minister hatte, war er
in der Lage, Mielke dazu zu bewegen, ihm Gehör zu leihen.
Das war der Grund für die hochgeheimen Untersuchungen in
der Hauptabteilung IX. Ihr Ergebnis war eine Dienstkonferenz,
bei der auch ich zugegen sein durfte und auf der Mielke auch
wenn es ihm sichtlich schwerfiel, zum Thema zu kommen – die
ungeheuerlichen Vorgänge und Manipulationen beim Namen
nannte, die Hauptabteilung IX streng verurteilte und Selbstkritik
übte. Explizit wandte er sich gegen Amtsmißbrauch und
Willkürhandlungen gegenüber Häftlingen und vertrat den
Standpunkt, im Zweifelsfall sei zugunsten des Beschuldigten zu
entscheiden. Solche Töne war man von ihm sonst nicht
gewohnt, und nur sein Standardcredo »Feinde müssen wie
Feinde behandelt werden«, mit dem er schloß, bewies, daß er
noch der alte war.
Die personellen Konsequenzen aus dem Skandal beschränkten
sich auf ein paar Versetzungen, mit denen die unmittelbar
Verantwortlichen in anderen Dienstbereichen »versteckt«
wurden. Dennoch schien die Konferenz und der Umstand, daß
Mielke die Beschwerden des Anwalts nicht vom Tisch gewischt
hatte, deutlich zu machen, daß die Tätigkeit des MfS künftig

-353-
stärker vom Einhalten der Rechtsnormen geprägt sein würde.

Mit Erich Mielke 1983

-354-
Tatsächlich zeugten in der Folgezeit manche Entscheidungen
gegenüber Intellektuellen und Ausreisegenehmigungen in
Fällen, wo vordem mit Festnahmen zu rechnen gewesen wäre,
von einer Unsicherheit, die neu war. Die DDR mußte zeitweilig
ihre Repressionen lockern, wollte sie nach innen wie nach außen
politisch glaubwürdig sein, und das wiederum nährte bei mir
wie bei vielen anderen die noch immer nicht ganz erloschene
Hoffnung darauf, daß politische Vernunft und Sinn für
Realitäten sich in unserem Land doch noch durchsetzen würden.

-355-
15 Die Entdeckung der dritten Welt

Am 12. Januar 1964 wurde die Volksrepublik Sansibar


ausgerufen. Ein besonderes Ereignis? Sämtliche Kolonialreiche
befanden sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in
Auflösung, eine Kolonie nach der anderen proklamierte ihre
Unabhängigkeit. Was sollte das Besondere an Sansibar sein, von
dessen Existenz höchstens die Briefmarkensammler in Europa
wußten? Aus meiner Kindheit erinnerte ich die Marken des
Sultanats mit den hohen Hüten auf fremdländischen Köpfen.
Aber ausgerechnet diese neue Republik, die aus zwei kleinen
Nelkeninseln bestand, hatte als erstes nichtsozialistisches Land
beschlossen, die Deutsche Demokratische Republik
diplomatisch anzuerkennen und der Hallstein-Doktrin zu
trotzen, die den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik
formulierte.
Vielleicht waren Präsident Scheich Obeid Amani Karume, der
den Vorschlag junger Mitglieder seines Revolutionsrates
aufgriff und der DDR die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen anbot, die internationalen Weiterungen seines
Tuns auch gar nicht klar. Wie dem auch sei, mit dem Angebot
ging eine Reihe von Hilfsersuchen einher, unter anderem in
Fragen der Sicherheit und des Grenzschutzes. Sansibar benötigte
einen Sicherheitsberater. Das Ministerium für Staatssicherheit
mußte einen kompetenten Mann mit Wissen und Autorität in ein
völlig unbekanntes Land entsenden, und auserwählt wurde
General Rolf Markert, der im Konzentrationslager Buchenwald
interniert gewesen war und nach dem Krieg zuerst in die Polizei
eingetreten und von dort in die Staatssicherheit gewechselt war.
Da Mielke fand, zumindest für den Anfang solle jemand
mitreisen, der außenpolitische Erfahrung besaß, schlug ich
kurzerhand mich selbst vor, und zu meinem nicht geringen
Staunen stimmte er nach längerem Zögern tatsächlich zu.

-356-
Damals war es eine waghalsige Idee, als Chef eines
sozialistischen Nachrichtendienstes durch Länder zu reisen, die
gute Beziehungen zu Nato-Mitgliedstaaten unterhielten. Aber
Mielke beschränkte sich darauf, uns ausführlich zu belehren und
zu absoluter Verschwiegenheit jedermann, auch meinem ersten
Stellvertreter gegenüber, zu verpflichten. Er kümmerte sich
persönlich um Sicherheitsmaßnahmen und ließ sogar für den
Fall der Fälle einen Fluchtplan ausarbeiten. Dann erhielten wir
DDR- und BRD-Pässe und mußten uns bei einem
Maskenbildner interessanten Veränderungen unterziehen, die
uns offenbar zu Experten der Erwachsenenbildung machten,
denn so lautete unsere neue Berufsbezeichnung. Als wir uns
gegenseitig betrachteten, brachen wir in schallendes Gelächter
aus.
Zuerst ging es mit einer Linienmaschine nach Kairo. Markert
flog zusammen mit dem stellvertretenden Außenminister
Wolfgang Kiesewetter, dem Leiter unserer Delegation, in der
Ersten Klasse, während ich in der Touristenklasse saß, um nicht
aufzufallen. Ein Sandsturm über Kairo zwang den Piloten
umzukehren und in Athen zu landen. Mielkes Befürchtungen
hatten zu Recht bestanden: Unsere Delegation wurde
auseinandergerissen und auf verschiedene Hotels verteilt, unsere
Papiere waren von einem Beamten in einem Schuhkarton
davongetragen worden. Wir wußten, daß ein DDR-
Diplomatenpaß in einem Nato-Staat keinerlei Schutz gewährte.
Am nächsten Morgen konnten wir unsere Reise fortsetzen,
nachdem ich eine geschlagene halbe Stunde damit verbracht
hatte, meinen falschen Bart wieder so anzukleben, daß eine
gewisse Ähnlichkeit zum Paßfoto gewährleistet war. In Kairo,
Addis Abeba und Mogadischu mußten wir wieder warten, und
in Nairobi nahm man uns die Papiere weg und verweigerte uns
den Anschlußflug. Zweifellos hielt man uns seit Athen im Auge,
und in Kairo hatten wir beim britischen Konsulat Visa für
unsere Reise in die Ostafrikanische Union beantragen müssen.

-357-
Da saßen wir nun mit mulmigen Gefühlen, doch als Retter in der
Not erschien Oginga Odinga, der kenianische Außenminister
und spätere Vizepräsident, der mit Kiesewetter bekannt war und
dessen Sohn in der DDR studierte. Dank seiner Intervention ließ
man uns weiterfliegen. Nachdem wir den Äquator überquert
hatten, überflogen wir ganz dicht den schneebedeckten Krater
des Kilimandscharo und schlingerten mit unserer Maschine von
einem kleinen Flughafen zum nächsten. Markert bekam diese
Art des Fliege ns überhaupt nicht, und ich machte mir ernste
Sorgen um sein Herz.

In Sansibar 1964
Unsere Landung aus Sansibar wird mir unvergeßlich bleiben.
Die Ankunft unserer Delegation war ein Großereignis für das
kleine Land. Der gesamte Revolutionsrat und sämtliche
Honoratioren mit Präsident Karume an der Spitze hatten sich vor
dem Flughafengebäude eingefunden. In angemessener
Entfernung hatten eine uniformierte Ehrenkompanie und eine
Kapelle Aufstellung genommen. Kiesewetter mußte nun zu den
Klängen eines Strauß-Walzers die Ehrenkompanie abschreiten,

-358-
denn die Noten der DDR-Nationalhymne befanden sich noch in
unserem Gepäck.
Sansibar erfüllte alle Klischees, die man von Afrika kennt -
üppige Natur, herrliche Strande, einmalige Sonnenuntergänge.
Die Armut zeigte sich nicht so brutal wie in anderen Ländern.
Es gab keine bettelnden Kinder, und allerorts war die politische
Aufbruchstimmung zu spüren. Als Vertreter der DDR waren wir
überall willkommen; die DDR hatte Sansibar geholfen, und man
erwartete viel von uns. Später, bei meinem letzten Besuch, war
von diesem Optimismus nichts mehr zu spüren.
Es fiel uns, die wir gewohnt waren, Aufgaben nach festen
Schemata zu lösen, anfangs nicht leicht, die völlig
andersgeartete Denk- und Verhaltensweise zu verstehen und uns
ihr anzupassen. Dennoch glaube ich auch im Rückblick, daß es
uns alles in allem besser als den einstigen Kolonialherren und
auch besser als unseren sowjetischen Freunden gelungen ist.
Anfangs kostete es viel Geduld, tagelang auf Gesprächstermine
zu warten und mit ständig neuen Ansprechpartnern immer
wieder von vorn zu beginnen. Besonders mühsam war es, mit
Ibrahim Makungu, dem designierten Leiter des
Sicherheitsdienstes, ins Gespräch zu kommen. Bei unserer
ersten Begegnung saß er mir eisern schweigend gegenüber.
Allem Anschein nach hatte der Präsident ihn instruiert, sich von
uns alles Wichtige erzählen zu lassen und selbst nichts zu
verraten. Das nahm er so wörtlich, daß er uns nicht einmal
seinen Namen sagte. Erst durch unseren Koch erfuhr ich, wie er
hieß, und unser Koch erzählte mir auch, daß Ibrahim Makungu
vor der Revolution bei der britisch geleiteten Special Branch –
unserer Kriminalpolizei vergleichbar – gearbeitet hatte. Jahre
später war das Vertrauensverhältnis zwischen uns so weit
gediehen, daß er bei einem Berlin- Besuch sogar seine Frau
mitbrachte.
Die Ansprüche unserer Partner wuchsen schnell, und wenn
wir ihre Wünsche nicht erwartungsgemäß erfüllten, ließen sie

-359-
sich die Unzufriedenheit anmerken. Immer wieder wurden wir
nachdrücklich auf den desolaten Zustand der Geräte und Schiffe
des Dienstes und auf die jämmerliche Infrastruktur hingewiesen.
Es war schwierig, sich in den widerstreitenden Interessen und
Zielen zurechtzufinden: Manche unserer Partner bezeichneten
sich als Sozialisten, andere waren strenggläubige Moslems,
denen unsere Weltanschauung ein Greuel sein mußte.
Die Regierung war ein getreuer Spiegel des Landes: Während
Präsident Karume, vormals Führer der Seemannsgewerkschaft
und Chef der Afro-Shirazi-Partei, dem englischen Trade-
Unionismus zuneigte, vertraten seine Vizepräsidenten Abdallah
Kassim Hanga und Abdulrahman Mohammed Babu die
widerstreitenden Modelle des sowjetischen und des chinesischen
Sozialismus. Hanga hatte in der Sowjetunion studiert und dort
promoviert, und Nbabu demonstrierte seine Nähe zum
Maoismus dadurch, daß er bei Staatsempfängen auf einem
altersschwachen Grammophon immer wieder die Internationale
abspielte.
Diese Widersprüche erklären auch, warum die DDR von
Sansibar auserkoren wurde. Es war ein simples politisches
Kalkül und nicht Naivität, Anschluß an ein Land zu suchen, das
wirtschaftlich interessant genug war, um Sansibar unter die
Arme greifen zu können, und das klein und weltpolitisch
unbedeutend genug war, daß Sansibar es sich nicht mit den
Handelspartnern verdarb – vor allem seiner ehemaligen
Kolonialmacht England –, die ihm eine enge Bindung an eine
sozialistische Großmacht vielleicht verübelt hätten.
Drei Monate nach unserer Ankunft beunruhigten uns
Gerüchte über eine mögliche Vereinigung Sansibars mit dem
Festla ndsstaat Tanganyika. In einem solchen Fall mußten wir
den Abbruch der eben erst begonnen Beziehungen befürchten,
denn Julius Nyerere, der Präsident Tanganyikas, unterhielt enge
Beziehungen zu Großbritannien. Ende April befand ich mich auf
einem Inspektionsbesuch auf der Insel Pemba, nachdem meine
-360-
Partner mir kategorisch versichert hatten, an eine Vereinigung
der beiden Länder sei in absehbarer Zeit nicht zu denken, was
der Provinzgouverneur Pembas nur bestätigen konnte. Kurz vor
Mitternacht des 24. April überbrachte man uns die Nachricht,
daß die Vereinigung stattgefunden habe und das vereinigte Land
nun Tansania heiße. Wir brachen unseren Besuch sofort ab und
flogen am nächsten Morgen nach Sansibar zurück. Berlin
drängte auf meine Rückkehr, das DDR-Handelsschiff
Halberstadt verzögerte seine Rückfahrt eigens, um mich
mitnehmen zu können. Schließlich lichtete es seinen Anker ohne
mich. Zum einen schien mir die Aufgabe vor Ort zu wichtig,
zum anderen wäre ich mir schäbig vorgekommen, den anderen
einfach davonzufahren.
Entgegen unseren Befürchtungen bewahrheitete sich das, was
unsere sansibarischen Freunde vorausgesagt hatten; Sansibar
bewahrte sich einen hohen Grad an Selbständigkeit, auch was
seinen Sicherheitsdienst betraf. Das Bild Staatspräsident
Nyereres hing in den Amtszimmern immer etwas unterhalb dem
des Vizepräsidenten Karume, und bei Revolutionsfeiern war
Nyerere einer unter vielen Ehrengästen. Der Revolutionsrat
Sansibars wurde bis zu Karumes Ermordung im Jahr 1972 nicht
in seinen Rechten beschnitten.
Sansibar war unser erster Schritt in das Neuland der dritten
Welt. Wir waren überzeugt, durch das, was wir leisteten, das
Freiheitsstreben der afrikanischen Völker zu unterstützen. Das
war vielleicht eine etwas naive Vorstellung, doch die meisten
unserer Leute, die in jenen Jahren in der dritten Welt tätig
waren, empfanden sich nicht so sehr als Geheimdienstler,
sondern als Mitakteure in einem revolutionären Prozeß.
Eine negative Folge unserer Unterstützung wurde uns bald
bewußt, doch ändern konnten wir sie nicht mehr: Der
Sicherheitsapparat Sansibars nahm eine für das kleine Land
unverhältnismäßige Größe an. Wir hatten es zu gut gemeint und
unsere Partner zu gründlich so ausgebildet, wie es unseren

-361-
eigenen Strukturen entsprach.
Von heute aus mag man unser ganzes Engagement in den
Ländern der dritten Welt als gescheitert betrachten.
Sozialistische Ökonomen wie kapitalistische Fachleute warnen
seit langem davor, ethnische Traditionen und die sehr
unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen in Wirtschaft,
Kultur und Bildung zu ignorieren. Die von erster und zweiter
Welt oktroyierte forcierte Industrialisierung hat sich weder als
sozial verträglich noch als effektiv erwiesen.
Ähnliche Erkenntnisse machten wir in der Zusammenarbeit
mit den Sicherheitsdiensten der Drittweltstaaten. Unser Einfluß
blieb stets minimal, verglichen mit dem des Regimes, dem die
Dienste jeweils zuarbeiteten. So war es in Sansibar, so im
Sudan, im Südjemen, in Äthiopien und Mosambik, all jenen
Ländern, zu deren Sicherheitsorganen mein Dienst engere und
langfristige Beziehungen unterhielt.
In den 60er und frühen 70er Jahren sahen wir das noch nicht
so. Vor allem sahen wir unsere Aufgabe nicht nur im Vermitteln
unseres spezifischen Wissens, sondern darin, der DDR
politische Anerkennung in der nichtsozialistischen Welt zu
verschaffen. Im April 1969 folgten sieben weitere Länder dem
Beispiel Sansibars und erkannten die DDR an. Syrien und
Ägypten scherten sich trotz massiver Interventionen der
Bundesrepublik nicht länger um die Haustein-Doktrin, der
Sudan, beide Jemen, Kongo (das spätere Zaire), Kampuchea und
die rhodesische Freiheitsbewegung ZAPU suchten den Kontakt.
Ich zweifelte nicht an der politischen Bedeutung solcher
Beziehungen, sehr wohl aber an der Notwendigkeit, daß sie gar
so sehr ausuferten, denn sie hielten uns von der eigentlichen
Arbeit ab. So sehr ich mich gegen die Aufnahme neuer
Beziehungen sträubte, so gering war mein Einfluß auf die
Entscheidungen der politischen Führung. Wir mußten uns wohl
oder übel beugen, und wichtige Mitarbeiter für Jahre in ferne
Gefilde der dritten Welt abkommandieren.
-362-
Eine Zeitlang hatten die Beziehungen zu Ägypten besonderen
Stellenwert. Nach dem Sechs-Tage-Krieg entwickelte sich auf
Initiative des Innenministers General Sharawi Goma'a ein enger
Kontakt. Mein Stellvertreter wurde in Kairo mit allen
Ehrenbeizeigungen empfangen und nach intensiven Gesprächen
mit persönlichen Grüßen Präsident Nassers verabschiedet. Der
Schock über den verlorenen Krieg saß so tief, daß man sich in
Ägypten einredete, Israel habe nur durch Spionage und Sabotage
den Sieg errungen. Meine Leute sollten den Ägyptern nun
helfen, die israelischen Spione in der Regierung und im Militär
Ägyptens zu lokalisieren. Als wir Nasser erklärten, daß wir
keine Agenten in Israel unterhielten, war die Enttäuschung groß.
Uns wiederum gelang es nicht, von Nassers Geheimdienstchef
irgend etwas Substantielles über die Aktivitäten der Nato-
Länder in Nahost in Erfahrung zu bringen. So kamen wir schnell
zu der Überzeugung, daß der Informationsaustausch mit
Ägypten wertlos und reine Zeitverschwendung war. Er wurde
von beiden Seiten eingestellt, gewiß nicht ohne beiderseitige
Erleichterung. Die Beziehungen zu Goma'a blieben jedoch
bestehen, bis dieser zusammen mit anderen Nasser-Anhängern
1970 von Nassers Nachfolger Anwar Sadat als Hochverräter vor
Gericht gestellt wurde. Von da an beschränkte die
Zusammenarbeit sich auf den Kontakt des Verbindungsoffiziers,
der in unserer Botschaft als sogenannter legaler Resident – das
heißt, als Botschaftsangehöriger – etabliert war. Besonders
aussichtsreich ließ sich für uns die Zusammenarbeit mit dem
Sudan an, in dem am 25. Mai 1969 eine Gruppe progressiver
Offiziere die Macht ergriffen hatte, angeführt von Ga'afar
Mohammed el Numeiri. Bis auf ihn, den vormaligen Leiter der
sudanesischen Militärakademie, war keiner der Revolutionäre
älter als Anfang Dreißig. Ihnen schwebte ein arabischer
Sozialismus vor, und wenige Tage nach ihrer Machtergreifung
informierten sie uns über diplomatische Kanäle von ihrem
Wunsch, daß wir die Neuformierung und Ausbildung ihrer

-363-
Sicherheitsorgane durch Berater unterstützen.
Im August begab sich eine Gruppe von Mitarbeitern des MfS
und des Innenministeriums in den Sudan, und im Dezember flog
ich selbst nach Khartoum, um mich mit eigenen Augen und
Ohren vor Ort kundig zu machen.
Vor meiner Reise hatte ich über den Sudan herzlich wenig
gewußt. Der islamische Norden besaß eine lange Tradition im
Kampf gegen die Unterdrückung durch die britischen
Kolonialisten. Ausgeprägt war die Feindseligkeit der Sudanesen
gegenüber Ägypten, das Sachwalter Großbritanniens gewesen
war. Um so erstaunlicher fand ich es, daß der gestürzte
Premierminister Awadallah ebenso wie später Numeiri selbst
dort Zuflucht suchten. Die Moslems des Nordens unterdrückten
wiederum den »schwarzen« oder »christlichanimistischen«
Süden, dessen Bewohner immer wieder in Massen in die
südlichen Nachbarländer flüchteten, während aus Kongos
beziehungsweise Zaires Ostprovinzen und aus Äthiopien
Flüchtlinge in den Südsudan gelangten. So war dieser La ndesteil
ein ideales Feld für Geheimdienste und Söldnertruppen, vor
allem solche, die nach dem Umsturz im Mai 1969 das neue
Regime zu destabilisieren versuchten. Aktivitäten des britischen
und des israelischen Geheimdienstes waren uns nicht verborgen
geblieben.
Bei meinem ersten Besuch im Dezember 1969 begriff ich, daß
die jungen Leute nur sehr nebulöse Vorstellungen von dem
hatten, was sie als arabischen Sozialismus bezeichneten. Für sie
erschöpfte sich der Charakter ihrer neuen Gesellschaft in der
Betonung nationalistischer Eigenständigkeit, in militärischem
Kameradschaftsgeist und der Proklamation der Gleichheit, die in
Wahrheit nichts anderes war als das islamische Gebot der
Nächstenliebe. Einer von ihnen erklärte mir, Sozialismus
bestehe darin, daß er als sozial Bessergestellter jeden Freitag die
Armen beköstige. Die meisten von ihnen konnten sich ihren
neuen Funktionen zum Trotz nicht einmal annäherungsweise

-364-
gegen den übernommenen Beamtenapparat durchsetzen.
Meine Gespräche mit Numeiri waren sachlich und distanziert.
Wie so oft in arabischen Staaten verliefen Numeiris Auftritte in
der Öffentlichkeit so ab, daß er im Wagen ankam, heraussprang,
eine Rede hielt, die gellende Pfiffe der Zuhörer, Gekreische und
Sprechchöre unterbrachen, und dann davonbrauste.
Anders sahen meine Begegnungen mit Faruq Othman
Hamadallah aus, dem Innenminister und somit Leiter des
Sicherheitsapparates. Seine Beamten hatten zu großen Teilen
schon unter den Briten und Ägyptern gedient, und sie wirkten
britisch bis zur Karikatur. Ich erinnere mich gut daran, wie
Hamadallah mir aus der nachtdunklen Tiefe seines Gartens
entgegenkam: groß, wuchtig, sehr schwarz, durchtrainiert und in
eine schneeweiße Dschallbiyah statt in Uniform gekleidet. Mit
der linken Hand streichelte er seinen Schäferhund, mit der
rechten lud er mich ein, Platz zu nehmen. Auch seine Augen
lächelten.

Mit Faruq Othman Hamadallah 1970 in Ost-Berlin


Eine andere Erinnerung an Hamadallah hat sich mir
eingeprägt: Er geht mit ausladenden Schritten über einen
-365-
steinübersäten Platz auf eine Moschee zu. Er trägt eine Uniform
mit breitem Ledergürtel. Von einer Waffe ist nichts zu sehen. In
der Moschee haben sich Mitglieder der reaktionären Ansar-
Sekte verschanzt und feuern nach draußen. Hamadallah gelingt
es, durch Überredung zu erwirken, daß die Waffen niedergelegt
werden.
Er war ein Politiker, der mir nahestand. Bei Gesprächen in
Berlin analysierte er mit überraschender Tiefe und Prägnanz die
komplizierte Lage seines Landes, die Verhältnisse zwischen
Schwarzafrika und der arabischen Welt. Seine Vorstellungen
von einem eigenständigen Weg zum Sozialismus überzeugten
mich; dabei war er sich über die Grenzen völlig im klaren, die
seinem Land gesetzt waren. Er vertraute mir seine
Befürchtungen an, daß Numeiri mit seinem Doppelspiel den
Revolutionären Kommandorat immer mehr ausschaltete und
Westkontakte verstärkte. »Diese Probleme müssen wir selbst
lösen, da könnt ihr uns nicht helfen«, sagte er düster.
Im Verlauf des Jahres 1970 wurde Numeiris neuer Kurs
immer offenbarer; Hamadallah und andere Revolutionäre ließ er
aus dem Kommandorat entfernen. Mitte 1971 benutzte Numeiri
dann einen Staatsstreich als Vorwand, nicht nur mit den
Putschisten abzurechnen, sondern sich aller nicht genehmen
Personen zu entledigen. Entgegen unserem Rat flog
Hamadallah, der sich zu jener Zeit in London aufhielt, nach
Kairo zurück. Auf Befehl Gaddafis wurde sein Flugzeug über
Libyen zur Landung gezwungen, und Hamadallah und ein
mitreisender sudanesischer Politiker wurden an Numeiri
ausgeliefert. Auf die Frage Numeiris, ob er sich am Putsch
beteiligt hätte, wenn er im Lande gewesen wäre, soll er mit »Ja«
geantwortet haben.
Nie werde ich die Bilder im westdeutschen Fernsehen
vergessen: Hamadallah tritt nach der Verhandlung vor dem
Militärgericht aus der Baracke, in der das Urteil beraten wird. Er
zündet sich eine Zigarette an und spricht ruhig mit seinen

-366-
Bewachern. Seine Stimme ist nicht zu hören, nur die Mitteilung
des Kommentars, daß er kurz nach diesen Aufnahmen
erschossen wurde. Bei dieser Erinnerung krampft sich mir heute
wie damals das Herz zusammen. Er war ein Freund gewesen
und für seine Überzeugung in den Tod gegangen. Noch heute,
so viele Jahre nach seinem Tod, glaube ich, daß der Sudan mit
Hamadallah einen seiner besten Männer verloren hat, einen
Menschen, der seiner Zeit und seinem Land um einiges voraus
war. Das, wofür Hamadallah gelebt, woran er geglaubt hatte,
überlebte ihn selbst nicht lange. Wir verließen den Sudan bald
nach diesen Ereignissen auf Nimmerwiedersehen.
Während unserer Tätigkeit im Sudan stießen wir auf die Spur
des deutschen Söldners Rolf Steiner, den wir gefangennehmen
helfen konnten. Steiners Lebenslauf liest sich wie die
exemplarische Biographie eines Söldners. Er war 1933 in
München geboren, mit achtzehn Jahren in die französische
Fremdenlegion eingetreten und hatte den Antiguerillakrieg in
Indochina fünf Jahre lang geübt. Die Kapitulation der
eingeschlossenen Festung Dien Bien Phu erlebte er 1954 mit.
Die Lehre, die er daraus zog, war, daß er die verdeckte
Kriegführung lernte. Dreihundert Fallschirmabsprünge, Einsätze
beim Suezkanalkonflikt und im Algerienkrieg machten ihn zum
Profi aller völkerrechtswidrigen Kampfformen. In seiner Zeit in
Algerien heiratete er eine Schönheitskönigin dieses Landes.
Seinen ersten großen eigenen Auftrag erhielt er im
nigerianischen Bürgerkrieg, der 1967 in dem gerade in die
Unabhängigkeit entlassenen Land ausbrach. In der ölreichsten
Ostregion Nigerias, die sich unter dem Namen Biafra
unabhängig erklärte, wurde Steiner zum faktischen Armeechef
gemacht, und so geriet er in Kontakt mit Geheimdiensten. Mit
Hilfe diverser Tarnorganisationen betrieb er einen
schwunghaften Waffenhandel und machte Biafra zum
waffenreichsten Gebiet Afrikas. Unter dem Totenkopfbanner
folgt ihm eine Truppe, die zeitweise an die 20 000 Mann zählte.

-367-
Als das blutige Abenteuer zu Ende ging, verwandelte der
Biafraner Steiner sich unter Mithilfe der Vertretung der
Bundesrepublik in Gabun in den Bundesbürger Steiner zurück.
Als nächstes sprach ihn Pater Franz Glypken, ein ehemaliger
Missionar, an, der in der Bundesrepublik eine Organisation
namens Förderungsgesellschaft Afrika leitete, um zu sondieren,
ob Steiner sich dafür eigne, die Aufständischen im Südsudan zu
unterstützen. Er schickte ihn nach Köln zu einem
Geheimdienstunternehmen, das sich Welt-Informations-
Korrespondenz nannte, wo man ihn genauer instruieren würde.
Anlaufstelle für Steiner in Uganda war das dortige Lufthansa-
Büro (interessanterweise war der damalige Afrika-Chef der
Lufthansa Gehlens ehemaliger Stellvertreter General a. D. von
Mellenthin, der sich 1990 brieflich mit mir in Verbindung
gesetzt hat. Leider sind wir uns noch nicht begegnet und
konnten uns daher nicht über alle Facetten des Falles Steiner
austauschen).
Als Rebellenführer im Südsudan wurde Steiner auch für den
britischen Geheimdienst und die CIA interessant. Der frühere
britische Militärattache Beverly Barnard versorgte ihn mit
Karten und Funkgeräten. Über den Secret Service gelangte
Steiner in Kontakt mit einem Mr. Norman von der CIA, der ihn
an einen Mr. Preston weitervermittelte, der – vermutlich als
legaler Resident – an der ugandischen US-Botschaft in Kampala
die Waffenbeschaffung für Steiner organisierte. Die CIA hoffte,
so einen Umsturz in dem ihrer Meinung nach
prokommunistischen Sudan zu befördern. Offiziell reiste Steiner
unter dem Deckmantel der Förderungsgesellschaft des Pater
Glypken und zwar als deren »Beauftragter für humanitäre Hilfe
im Südsudan«. Selbstverständlich sah die humanitäre Hilfe in
Wahrheit so aus, daß bewaffnete Rebellenbanden von Steiner
ausgerüstet und ausgebildet wurden, deren Einsätze nicht gegen
Armee und Polizei des Sudan stattfanden, sondern in der
Hauptsache in Terrorakten gegen die Zivilbevölkerung des

-368-
Landes bestanden.
Daß es uns gelang, Steiner einzukreisen und seine
Gefangennahme zu ermöglichen, beruhte zum einen auf unseren
Ermittlungen, zum anderen auf dem abrupten Umschlagen der
politischen Situation in Uganda, das dem Druck der OAU, der
Organisation Afrikanischer Staaten, nachgeben und den Söldner
fallenlassen mußte. Auf Bitte der sudanesischen Regierung
beteiligten sich Leute des MfS an Steiners Verhören, und ihnen
gegenüber zeigte er sich erstaunlich kooperativ. Offenbar war es
eine Erleichterung für ihn, Landsleute vor sich zu haben, selbst
wenn sie aus dem »falschen« Deutschland kamen; ihnen
vertraute er eher als den einheimischen Behördenvertretern.
Zudem hatten unsere tüchtigen Rechercheure es fertiggebracht,
ein Fotoalbum mit Hochzeitsbildern und einen Gruß seiner
Angehörigen den Weg in seine Zelle finden zu lassen. Alles in
allem wurde er so gesprächig, daß wir uns allmählich ein Bild
vom Zusammenwirken der verschiedenen Interessengruppen,
Organisationen und Geheimdienste bei ihren
Unterwanderungsversuchen in den Ländern der dritten Welt
machen konnten.
Es stand außer Zweifel, daß Steiner im Sudan die Todesstrafe
drohte, doch während unsere Leute sich noch dafür einsetzten,
das Todesurteil zu verhindern, wurden auf westdeutscher Seite
bereits ganz andere Fäden gezogen. Hans-Jürgen Wischnewski,
der Nahostexperte der damaligen Bundesregierung – »Ben
Wisch« –, erreichte, daß Rolf Steiner in die Bundesrepublik
abgeschoben wurde.
Die Vorgänge um Steiner im Sudan machen deutlich, wo die
Einflußnahme auf Länder der dritten Welt an ihre Grenzen trifft.
Wirtschaftliche und militärpolitische Interessen spielten beim
Engagement der Großmächte in den einzelnen Ländern
zweifellos stets eine ausschlaggebende Rolle, doch der kalte
Krieg wies ihrer Konfrontation gerade in diesen Ländern eine
zunehmende Bedeutung zu. Da die USA sich weltweit vom

-369-
Gespenst des vorrückenden Kommunismus bedroht sahen,
ergriffen sie beinahe zwangsläufig fast immer für die »falsche
Seite« Partei, für die Seite der Unterdrücker und Diktatoren. Die
Bundesrepublik und ihr Geheimdienst operierten zwar
vorsichtiger, doch in der Regel in Übereinstimmung mit den
USA und ihren Partnern.
Sicherlich fiel es den westlichen Diensten schwerer, geheime
Operationen auf lange Sicht vor der Öffentlichkeit zu verbergen,
während es in den Ländern des »real existierenden Sozialismus«
weder die ohnedies äußerst bescheidene parlamentarische
Kontrolle gab, die in den USA oder der BRD existierte, noch
irgendwelche Medien, die allein schon aus Sensationsgier über
derartige Aktionen berichtet hätten. Im übrigen tat sich die DDR
durch Waffenlieferungen erst im letzten Jahrzehnt ihres
Bestehens hervor; Regierungsabkommen regelten die
Lieferungen, die entweder über die Armee oder über eine
regierungseigene Außenhandelsfirma des Bereichs
Kommerzielle Koordination erfolgten.
Das Beispiel unseres Engagements in Afrika zeigt, daß die
Politiker der unabhängig gewordenen Staaten oder nach
Unabhängigkeit strebenden Bewegungen letztlich ihre eigenen
Ziele konsequent verfolgten, und das waren betont afrikanische
Ziele – ganz gleich, ob ihre Verfechter sich als Anhänger
marxistischer Ideen, eines afrikanischen Sozialismus eigener
Prägung oder westlicher Gesellschaftsmodelle bezeichneten.
Einige spielten recht virtuos mit den Interessengegensätzen der
Großmächte und zogen zeitweilig ihren Nutzen daraus, und so
verhielt es sich auch in der Zusammenarbeit mit den
Geheimdiensten.
Ausgesprochen mühevoll war es, im Südjemen auf Bitte der
Revolutionsregierung einen Sicherheitsapparat aufzubauen. Bei
unserer Entscheidung ließen wir uns von der weltstrategische n
Lage Adens leiten. Anders als in vielen Nahostländern wurden
wir in Aden mit offenen Armen willkommen geheißen. Das

-370-
Land war in einen unerbittlichen nachrichtendienstlichen Krieg
mit dem Nordjemen verstrickt, hinter dem Saudi-Arabien stand.
Da meine Leute ebenfalls aus einem geteilten Land kamen,
dessen zwei Staaten sich geheimdienstlich befehdeten, war man
in Aden wohl der Meinung, daß wir die Probleme des Südjemen
am besten verstehen konnten.
Als Angola für Ende 1975 die Unabhängigkeit zugesagt
wurde, brach die Rivalität zwischen den
Befreiungsorganisationen MPLA unter Agostinho Neto, der
UNITA unter Jonas Savimbi und der FNLA unter Holden
Roberto sofort aus. Netos Volksbewegung war marxistisch
orientiert, UNITA und FNLA waren prowestlich eingestellt. Es
war also nicht überraschend, daß die an die Regierung gelangte
MPLA mit Präsident Neto Rückhalt bei Kuba, der UdSSR und
der DDR suchte, während die USA von Kinshasa, der
Hauptstadt Zaires, aus die FNLA mit Geld und Waffen im
mittlerweile geschürten Bürgerkrieg unterstützten. Die Frage, ob
der Kampf um politische Unabhängigkeit in Angola ohne
Einmischung von außen nicht weniger blutig verlaufen wäre,
richtet sich in erster Linie an die Adresse der USA. Auch im
nachhinein kann ich den bescheidenen Beitrag me ines
Nachrichtendienstes in Angola nicht kritikwürdig finden.
In Mosambik unterstützten wir gemeinsam mit kubanischen
und sowjetischen Beratern die Regierungspartei Frelimo gegen
die Renamo-Rebellen, die von den Apartheidregimes
Rhodesiens und Südafrikas finanziert wurden. Sechs Jahre lang
investierte das Ministerium für Staatssicherheit beträchtliche
Mittel in Ausbildung und Ausrüstung eines Sicherheitsdienstes,
doch der Bürgerkrieg wurde unentwirrbar. Machtkämpfe
innerhalb der Regierung von Mosambik erschwerten uns eine
effiziente Unterstützung im gleichen Maße wie die Uneinigkeit
zwischen KGB und dem sowjetischen Militär über den richtigen
Weg, die Konflikte zu reduzieren, und deshalb beschränkten wir
uns zuletzt auf Lieferungen technischer Hilfsgeräte und

-371-
ausgemusterter NVA-Waffen.
Dennoch mußten wir uns des öfteren fragen und fragen
lassen, ob unsere Hilfe immer der richtigen Seite zugute kam. In
Äthiopien beispielsweise hatte unser Land sich besonders stark
engagiert. All mein Sträuben gegen die zusätzliche Belastung
für meinen Dienst hatte nichts gefruchtet; es war eine politische
Entscheidung, die den Wünschen der kubanischen und
sowjetischen Verbündeten Folge leistete. Mit der Eritrea-Politik
und dem späteren Krieg gegen Somalia waren wir weder
glücklich noch einverstanden. Zu manchen eritreischen
Organisationen unterhielten wir engere und bessere
Beziehungen als zur äthiopischen Regierung in Addis Abeba,
die sich strikt weigerte, Eritreas Autonomie zu respektieren, und
diese Forderung mit einem mörderischen Feldzug beantwortete.
Die Zusammenarbeit mit dem äthiopischen Sicherheitsdienst
bedeutete viel Arbeit und hohe Kosten für uns bei minimalem
Einfluß und so gut wie keinem Einblick in das Tun der dortigen
Sicherheitsorgane. Ähnlich erging es offenbar den Vertretern
des KGB, wenngleich ihr weit größeres wirtschaftliches und
militärisches Engagement ihnen größere Autorität sicherte. Wie
in den meisten Ländern Afrikas waren es einzig die Vertreter
Kubas, die wirklich akzeptiert wurden, was nicht zuletzt an
ihrem unmittelbaren Kampfeinsatz gelegen haben dürfte.
Unser glückloses Engagement wird in meiner Erinnerung
immer vom tragischen Unfalltod Paul Markowskis und Werner
Lamberz' begleitet sein. Lamberz, Mitglied des Politbüros der
SED, und Markowski, Leiter der außenpolitischen Abteilung des
Zentralkomitees, waren 1973 nach Libyen geflogen, um Gaddafi
als Vermittler in der Eritrea-Problematik zu gewinnen. Auf dem
Rückflug stürzte der Hubschrauber ab. Ich hörte die Nachricht
beim Winterurlaub in den Bergen. Es war nicht nur deshalb ein
schwerer Schlag, weil ich den beiden freundschaftlich
verbunden war, sondern weil sie zu den wenigen im
Führungskern der DDR gezählt hatten, von denen man sich

-372-
Bereitschaft zu Reformen erhoffen konnte. Da Lamberz
verschiedentlich als potentieller Nachfolger Honeckers im
Gespräch gewesen war, begannen schnell Gerüchte um seinen
Tod zu sprießen. Ich habe mir deshalb Untersuchungsprotokolle
über den Absturz verschafft. Alle Berichte gelangen zu dem
Schluß, daß der Pilot für Nachtflüge nicht qualifiziert war und
den Rückflug in der Dunkelheit nicht hätte antreten dürfen; dies
aber hatte Werner Lamberz ausdrücklich verlangt.
Direkte nachrichtendienstliche Beziehungen zu Libyen haben
wir zu keinem Zeitpunkt unterhalten. Die libysche Seite hat sich
in Einzelfällen um bestimmte technische Ausrüstungsartikel
bemüht, und wie in solchen Fällen üblich, wurde die HVA bei
den Verhandlungen als Vermittler eingesetzt. Gewiß wäre mein
Dienst aktiv geworden, wenn sich interessante Perspektiven
ergeben hätten, aber Libyen war durch seine westdeutschen
Partner bereits bestens versorgt und zufrieden. In der
Bundesrepublik wurden die libyschen Nachrichtendienstler
ausgebildet, und dort wurden sie mit einer Ausrüstung versehen,
die sie anderswo nicht kaufen konnten. Deshalb beschränkte der
Kontakt sich auf den begrenzten Verkauf der gewünschten
Technik, die Ausrüstung eines Ausbildungszentrums und die
Durchführung eines Lehrgangs für Personenschutz durch die
entsprechende Hauptabteilung des MfS, der Gaddafis
Leibwächtern zugute kam.
Anders als im Fall unseres erfolglosen Wirkens in Äthiopien
konnte ich mich mit meiner Ablehnung durchsetzen, als die
KGB-Führung 1979 versuchte, uns dazu zu bringen, mehr
Mitarbeiter meines Dienstes nach Afghanistan zu entsenden.
Nachdrücklich führte ich Mielke vor Augen, daß wir dort nichts
zu gewinnen hatten. Mit aller gebotenen Diplomatie gelang es
uns, die Hilfe, die wir leisteten, darauf zu beschränken, ein
Krankenhaus auszustatten und in Ost-Berlin Treffen zwischen
Vertretern der Mudschaheddin und Nadschibullah zu
ermöglichen.

-373-
Das Engagement der DDR und meines Dienstes für
Befreiungsbewegungen wie die SWAPO in Namibia oder den
ANC in Südafrika wird im nachhinein gewiß von niemandem
beanstandet, doch damals, als diese Bewegungen den
bewaffneten Kampf führten, galten sie in den Augen vieler als
terroristische Vereinigungen – so wie es der PLO heute noch
oftmals widerfährt.
Wir unterstützten den ANC in seinem Kampf gegen die
Apartheid, wenngleich wir dabei diskret bemüht waren, seinen
linken Flügel zu stärken, ohne die Gefahr einer Spaltung
innerhalb der Bewegung heraufzubeschwören. Ende der 70er
Jahre richtete Joe Slovo, der Führer der südafrikanischen KP, an
das Zentralkomitee der SED die Bitte, daß wir eine kleine
Gruppe von ANC-Mitarbeitern für die Spionageabwehr
ausbildeten; er befürchtete, daß Spitzel der südafrikanischen
Regierung in den ANC eindringen könnten, ohne daß man sie
entdeckte. Honecker stimmte zu, und von da an bildeten wir
zwei- bis dreimal im Jahr ein knappes Dutzend Südafrikaner
darin aus, wie man Doppelagenten auf die Schliche kommt, die
Gegenseite desinformiert, ohne das eigene Wissen zu verraten,
und sie infiltriert.
Die Kontakte zu arabischen Staaten und zu palästinensischen
Organisationen, besonders zu Jassir Arafats PLO, versuchen
westliche Medien bis heute fast unisono meinem Dienst und mir
als Unterstüzung des internationalen Terrorismus anzulasten.
So, wie die Beziehungen zu den Sicherheits- und
Nachrichtendiensten afrikanischer und arabischer Staaten auf
der Grundlage politischer Entscheidungen, staatlicher Verträge
und Vereinbarungen zustande kamen, geschah es auch mit
unserem Kontakt zur PLO. Wie unsere politische Führung
waren auch wir in der HVA der Ansicht, daß die Palästinenser
für ihre rechtmäßigen Interessen eintraten. Unter den nach dem
Zweiten Weltkrieg vom Kolonialismus befreiten Völkern waren
sie als einzige von einer eigenständigen nationalen Entwicklung

-374-
ausgeschlossen worden. Widerstreitende Interessen hatten die
Entstehung eines Staates Palästina zu verhindern gewußt.
1969 hatte der Resident unseres Dienstes in Kairo inoffizielle
Kontakte zu Arafat aufgenommen und zu Georges Habasch,
dem Leiter der radikaleren Volksfront für die Befreiung
Palästinas, doch der erste offizielle Kontakt ergab sich Ende
1972 oder Anfang 1973. Arafat hatte während eines Besuchs in
Ost-Berlin im Gespräch mit Honecker den Wunsch danach
geäußert, und mein Vertreter traf sich daraufhin mit ihm in
Moskau. Das war zu jener Zeit, als die PLO gerade von der
Arabischen Liga als einziger Repräsentant des palästinensischen
Volkes anerkannt worden war und in der Uno-Vollversammlung
den Beobachterstatus zuerkannt bekommen hatte. Kurz darauf
nahm die DDR diplomatische Beziehungen zur PLO auf.
Wenige Monate zuvor, im August 1972, hatte ein Kommando
der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September bei
den Olympischen Spielen in München das Quartier der
israelischen Olympiamannschaft überfallen, zwei Sportler
getötet und neun weitere als Geiseln genommen. Unter der
Leitung des damaligen Innenministers Genscher wurde die
Befreiungsaktion auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck so
dilettantisch geplant und durchgeführt, daß fünf Geiselnehmer,
ein Polizist und alle neun Geiseln getötet wurden. Eine spätere
Analyse des Blutbads brachte den deutschen Behörden scharfe
Kritik ein. Der Überfall im olympischen Dorf machte erstmals
der Bundesrepublik, aber auch uns mit aller Deutlichkeit
bewußt, wie schnell Terrorkommandos die Gewalt in jedes
xbeliebige Land transportieren können.
Bei den Gesprächen mit Arafat in Moskau verurteilte unser
Vertreter den Anschlag in München und machte einen Kontakt
unseres Dienstes zum Sicherheitsdienst der PLO von der
Bedingung abhängig, daß solche Aktionen künftig unterlassen
würden. Arafat war dazu bereit und benannte Abu Ayad als
seinen Beauftragten für Sicherheitsfragen. Bei allen weiteren

-375-
Kontakten stellten wir immer die Bedingung, daß die PLO auf
Terroraktionen in Europa verzichtete, und Abu Ayad und andere
Gesprächspartner sagten dies zu.
Die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit der PLO war
von unterschiedlichen Interessen bestimmt; jede Seite suchte
ihren Vorteil. Nach Aufnahme direkter Beziehungen zur PLO-
Sicherheit wurde bald sichtbar, daß die Übereinstimmung in
politischen Grundfragen deutliche Grenzen hatte. In allen
Gesprächen ließen unsere Leute keinen Zweifel daran, daß die
DDR zwar für den Rückzug der Israelis aus den seit 1967
besetzten Gebieten und für das Recht der Palästinenser auf
Selbstbestimmung eintrat, daß sie aber zugleich ebenso die
gesicherte Existenz und Entwicklung des Staates Israel bei
internationalen Garantien für eine Friedensregelung
befürwortete. Die Anerkennung der staatlichen Existenz Israels
aber war Anfang der 70er Jahre für die meisten
Palästinenserführer ein rotes Tuch. Den Umgang erschwerte
zudem der manifeste oder latente Antikommunismus vieler
Mitarbeiter im Sicherheitsapparat der PLO.
Da den Palästinensern sehr bald klar wurde, daß von uns
keine Beteiligung an Anschlägen gegen Israel und keine
Geheiminformationen über Israel zu erwarten waren,
konzentrierte sich ihr Interesse auf die Ausbildung ihrer
Mitarbeiter und darauf, Ausrüstungen für den bewaffneten
Kampf zu bestellen. Wir wiederum waren bemüht,
Informationen über die USA und ihre Verbündeten zu erhalten,
über ihre strategischen Pläne, ihre Waffensysteme und
geheimdienstlichen Aktivitäten. Abu Ayad und andere deuteten
häufig an, daß sie Verbindungen bis in höchste US-
Regierungskreise, in die militärischen Stäbe der Nato und in die
Zentren von Rüstungsforschung und -produktion besäßen, und
aufgrund ihrer weltweiten Beziehungen erschien uns das nicht
unwahrscheinlich. Tatsächlich erhielten wir nützliche
Informationen über Interna, so über die Vorbereitung und den

-376-
Inhalt des Camp-David-Vertrags zwischen Israel und Ägypten,
doch insgesamt wurden unsere Erwartungen ebensowenig erfüllt
wie die der PLO.
Wertvoll für uns waren die Kenntnisse der Palästinenser in
allem, was mit dem Krisenherd Nahost zusammenhing. Über
unsere Residenten in arabischen Staaten unterhielten wir einen
regelmäßigen Nachrichtenaustausch mit Abu Ayads Dienst. Auf
diesem Weg bekamen wir einen guten Einblick in die
Geheimdienstaktivitäten von CIA, BND und anderen westlichen
Diensten in diesem Raum, die unsere eigenen Bemühungen weit
in den Schatten stellten.
Eine unerwartete Bedeutung erhielt unsere bescheidene
Präsenz im Vorderen Orient während der dramatischen
Ereignisse 1982 im Libanon. Als Beirut von den israelischen
Truppen bereits in Schutt und Trümmer gebombt war, hatte
Moskau zeitweilig keine Verbindung zu seiner Botschaft und
den KGB-Mitarbeitern, während unsere Offiziere als einzige
über funktionierende Funkgeräte und eine offene Verbindung
zur PLO verfügten. Sie trafen sich unter Beschuß und
Bombardements mit ihren Partnern. Als ich unsere Offiziere
später für ihren Einsatz auszeichnete, schilderten sie mir, zu
welcher Feuerhölle der Dauerbeschuß der Israelis Beirut in
jenen Tagen gemacht hatte. Angesichts der grausam
ausgetragenen Bürgerkriege an allen Ecken und Enden der Welt
sind die Bilder des Grauens jener Tage im Libanon längst
vergessen, doch damals standen sogar israelische Soldaten
angesichts der Massaker in den Lagern Sabra und Schatila unter
Schock; manche weigerten sich, gegen die Zivilbevölkerung
einzuschreiten, und viele engagierten sich danach in der
israelischen Friedensbewegung.
Amerikanische und israelische Publikationen reduzieren die
Kontakte nicht nur meines Dienstes, sondern auch anderer
Abteilungen der Staatssicherheit zur PLO ausschließlich auf
eine Unterstützung des palästinensischen Terrorismus, weil sie

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die PLO ausschließlich als terroristische Vereinigung
betrachten. Nicht nur ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß
ich Terrorakte verurteile und einen großen Unterschied
zwischen solchen Aktionen und einem gerechten
Befreiungskampf sehe. Ein Dokument vom 8. Mai 1979 aus der
Abteilung XXII des MfS, der Antiterrorabteilung, die im
übrigen nicht mir unterstand, sondern einem anderen
Stellvertreter Mielkes, beschäftigt sich mit möglichen
Gewaltakten palästinensischer Extremisten und anderer
Terroristen und deren Bedeutung für die DDR. Dieses
Dokument wird immer wieder als Beweis für unsere
Verstrickung in terroristische Aktivitäten zitiert, doch die
Prämisse des Dokuments wird dabei verschwiegen, denn sie
lautet: »Derartige Aktivitäten vom Territorium der DDR aus
schaffen politische Gefahren und beeinträchtigen unsere
staatlichen Sicherheitsinteressen.«
Die spätere Hauptabteilung XXII des MfS war eine Abwehr
im kleinen. Bis Ende der 70er Jahre hatte sie ein Schattendasein
geführt, doch dann wuchs sie innerhalb weniger Jahre
beträchtlich. Aus den Unterlagen der Abteilung weiß man heute,
daß sie Kontakte zur ETA, zur IRA, zu den radikaleren
Palästinenserflügeln wie Habaschs Volksfront oder Abu Nidais
Gruppe und zu dem international gefürchteten Terroristen
Carlos unterhielt – Kontakte, über die nicht einmal zwei
Dutzend Mitarbeiter der Abteilung selbst informiert waren.
Diese Kontakte bestanden meist darin, daß die Abteilung XXII
einzelnen Personen den Aufenthalt in der DDR unter falscher
Identität zu Ausbildungszwecken oder zum Untertauchen
ermöglichte.
Carlos, mit bürgerlichem Namen Ramirez Illich Sanchez, hielt
sich unter falschem Namen mit einem Diplomatenpaß der VDRJ
als Gast der Botschaft des Südjemen zwischen 1979 und 1982.
mehrmals in Ost-Berlin auf. Abu Daud, Führungsmitglied der
Fatah, der 1977 in Frankreich festgenommen und abgeschoben

-378-
worden war, tauchte ebenfalls kurzzeitig in der DDR unter.
Das Papier vom 8. Mai 1979 mit dem Titel »Aktivitäten von
Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung in
Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung
der DDR bei der Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern
Westeuropas« enthielt eine deutliche Warnung. Aktiven
Terroristen Unterschlupf zu gewähren, das war nicht weniger
gefährlich als mit offenem Feuer in der Nähe von Benzin zu
hantieren. Doch entweder unterschätzte die Abteilung XXII
mitsamt Minister Mielke die Gefahr, oder die beargwöhnten
Gäste waren aus dem Ruder gelaufen und entzogen sich immer
mehr der Überwachung.
Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten: Am 25. August
1983 detonierte eine Sprengstoffladung im West-Berliner
französischen Konsulat Maison de France; es gab ein
Todesopfer und dreiundzwanzig Verletzte. Die Organisation um
»Carlos« hatte auf diesem Weg versucht, in Frankreich
inhaftierte Mitglieder freizupressen. Beim Sprengstoffanschlag
auf die West-Berliner Diskothek La Belle am 5. April 1986 kam
es zu drei Toten und mehr als zweihundert Verletzten. Libysche
Täter wurden verdächtigt, die den Sprengstoff von Ost-Berlin
aus eingeschmuggelt haben sollten. Unsere schlimmsten
Befürchtungen waren übertroffen worden.
Eine der wenigen Möglichkeiten für das MfS, das Treiben
verdächtiger Staatsgäste mit Diplomatenpaß zu kontrollieren,
bestand darin, ihr Gepäck genauestens zu untersuchen.
Üblicherweise reisten Gäste aus dem Nahen Osten
schwerbewaffnet. Im Fall des La-Belle-Attentats stellte sich
heraus, daß libysche Diplomaten, die der Abteilung XXII keine
Unbekannten waren, Sprengstoff in ihrem Gepäck mitgeführt
hatten. Die Grenzposten hatten das sofort dem MfS gemeldet,
doch dort hatte man sich offenbar zu keinem Vorgehen
entschließen können, obwohl Hinweise auf geplante Attentate
libyscher Gruppen vorlagen.

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Interessant ist die Frage, wie früh die Amerikaner über die
libyschen Pläne informiert waren und ob sie den Anschlag
hätten verhindern können. Nur einen Tag nach dem Attentat auf
die Diskothek verkündete Präsident Reagan, die USA seien im
Besitz eindeutiger Beweise für die Täterschaft. Jassir Chraidi,
einer der Haupttäter, damals Angestellter der Botschaft Libyens
in Ost-Berlin, hatte ungehindert mehrfach zwischen Ost- und
West-Berlin hin und her reisen können, obwohl strengste
Sicherheitsvorkehrungen vorgeschrieben waren. PLO-Quellen
wiederum haben durchsickern lassen, Chraidi habe sich im
Geheimauftrag der USA in die libysche Terroristengruppe
eingeschlichen.
Auf jeden Fall ließ Reagan zwei Tage nach seiner Ansprache
die US-Luftwaffe massive Vergeltungsangriffe gegen Ziele in
Tripolis und Bengasi fliegen. Einhundertsechzig Bomber warfen
über sechzig Tonnen Sprengstoff ab. Dutzende von Todesopfern
und Hunderte Verletzte waren das Ergebnis, nur Gaddafi blieb
unverletzt. Angesichts solcher Vergeltungsschläge fragt man
sich, ob der Begriff Staatsterrorismus nur auf das zutreffen soll,
was vom Nahen Osten ausgeht.
Wenn ich im Rückblick unser Engagement in der dritten Welt
und unsere Kontakte zu kämpferischen Freiheitsbewegungen
wie der PLO, dem ANC oder der SWAPO betrachte, dann ist
mein Eindruck zwiespältig. Gewiß war manches Opfer zu
schwer, mancher oft nur vermeintliche Fortschritt zu teuer
erkauft – doch ebenso wurde der Boden für manches bereitet,
was vor nicht allzu langer Zeit schier unmöglich schien. Patrice
Lumumba, Che Guevara, Salvador Allende und zuletzt Yitzhak
Rabin haben ihr Leben gegeben, weil sie davon überzeugt
waren, daß eine bessere und gerechtere Welt möglich ist, und es
für ihre Pflicht hielten, am Entstehen dieser Welt mitzuwirken.
Doch nicht nur Bilder der Trauer erinnern uns an sie, sondern
auch Bilder jener historischen Augenblicke, die sie mitgestaltet
haben: das Bild des Händedrucks zwischen Arafat, Peres und

-380-
Rabin vor dem Weißen Haus, mit dem der Frieden im Nahen
Osten plötzlich greifbar wurde, und das Bild eines strahlenden
Nelson Mandela, der zum ersten schwarzen Präsidenten der
Republik Südafrika gewählt wurde.

-381-
16. Der ferne Kontinent

Während meiner gesamten Dienstzeit blieb der amerikanische


Kontinent für mich in weiter Ferne, sowohl rein geographisch
als auch im übertragenen Sinn. Für Kuba, Nicaragua und die
Sowjetunion waren die USA der »Hauptgegner« – ein Terminus,
der auf Konferenzen sozialistischer Nachrichtendienste offiziell
verwendet wurde. Für meinen Dienst aber war und blieb die
Bundesrepublik das wichtigste Operationsgebiet. Dennoch
wollte es der Zufall, daß ich den Boden des amerikanischen
Kontinents zum erstenmal ausgerechnet in New York betrat.
Es war im Januar 1965, und das Ziel meiner Reise war Kuba.
Fünf Jahre waren seit dem Sturz der Diktatur Batistas und dem
Sieg der Revolutionäre vergangen, als ich mit zwei Begleitern
nach Havanna flog, um Fidel Castros Regierung dabei zu
beraten, einen effizienten Sicherheitsdienst aufzubauen. In
späteren Zeiten galt der kubanische Geheimdienst zu Recht als
hochgradig professionell, doch Mitte der 60er Jahre waren die
Kubaner so blutige Anfänger wie mein eigener Dienst zehn
Jahre zuvor. Die normale Route von Berlin über Prag mit
Zwischenlandungen in Schottland und Kanada verwarf Mielke;
wir sollten nicht in Nato-Staaten landen. Also ging es nach
Moskau, wo der Nonstop-Weiterflug nach Havanna angetreten
werden sollte.
In Moskau landeten wir bei klirrender Kälte; das
Thermometer war unter dreißig Grad gefallen. Wir nutzten den
Zwischenaufenthalt, um uns mit dem KGB-Vorsitzenden
Wladimir Semitschastny und Alexander Sacharowskij, dem
Leiter der Auslandsaufklärung, zu treffen und uns über den
Stand ihrer Beziehungen zum kubanischen Innenministerium
und über Anzahl und Wirken ihrer auf Kuba tätigen
Verbindungsoffiziere zu informieren.
Am Abend starteten wir mit einer viermotorigen Turboprop-

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Maschine vom Typ AN-124, dem leistungsstärksten Flugzeug
der Aeroflot. Eine Stewardeß, vermutlich KGB-Mitarbeiterin,
kümmerte sich vorrangig um uns. Die meisten Insassen des
vorderen Salons waren sowjetische Seeleute oder Experten mit
Ehefrauen, manche auch mit Kindern. Die einzigen Ausländer
außer uns, zwei Chinesen, offenbar diplomatische Kuriere,
saßen direkt vor uns. Einer hatte eine Tasche an sein
Handgelenk gekettet, und beide bewachten mit Argusaugen ihr
übriges Gepäck, das um sie herum gestapelt war. Der hintere
Teil des Flugzeugs war völlig leer, die Sitzreihen waren
abmontiert, um Gewicht zu sparen, damit der Treibstoff auch
wirklich bis Havanna reichte.
Als wir das Schauspiel des Übergangs der Nacht in den
herannahenden Tag erlebten, kam die kanadische Küste in Sicht.
Weitere Stunden vergingen. Nach meiner Berechnung mußten
wir uns kurz vor Kuba befinden, als unser Flugzeug an Höhe
verlor. Ich rasierte mich gerade, als ich bemerkte, daß die Sonne
auf der »falschen« Seite aufging. Die von Turbulenzen
geschüttelte Maschine sank immer tiefer. Plötzlich tauchte vor
dem Bordfenster die Silhouette Manhattans auf. Wir tauchten
steil nach unten; deutlich war die Gischt hoher Wellen zu
erkennen. Gleich mußten wir ins Meer stürzen, doch schon
setzte der Pilot die Maschine vorbildlich auf die unmittelbar am
Wasser gelegene Landebahn des John-F.-Kennedy-Flughafens
auf.
Was war geschehen? Den Mitreisenden war anzusehen, daß
alle die gleiche stumme Frage beschäftigte. War uns etwa doch
der Treibstoff ausgegangen? Hatte das Flugzeug einen Defekt?
Hatte ein Teil der Crew spontan beschlossen, sein Heil im freien
Westen zu suchen? Ein Lotsenfahrzeug dirigierte die Maschine
zu einer abgelegenen Stelle des Flughafens. Als die Triebwerke
verstummten, brausten Polizeifahrzeuge mit blinkendem
Rotlicht und heulenden Sirenen heran und gingen rund um uns
in Stellung. Weiter geschah zunächst nichts.

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Stunden ungewissen Wartens vergingen. Wir besaßen
Diplomatenpässe, doch die nützten uns wenig, da die DDR von
den USA nicht anerkannt war. Vorsorglich schob ich die
schmale Tasche mit den Unterlagen, die unsere tatsächliche
Identität verraten konnten, unter die Matratze eines
Kinderwagens, der im Gang neben uns stand.
Inzwischen war eine ganze Kohorte Journalisten aufgetaucht;
einige hatten sogar wie im Film den Presseausweis am Hut
stecken. Wild gestikulierend, versuchten sie die Polizisten dazu
zu bringen, sie durchzulassen. Mit Gesten forderten sie uns auf,
wenigstens in die amerikanische Freiheit zu winken. Wie ich
später erfuhr, hatte seit der Kubakrise 1962 kein sowjetisches
Schiff oder Flugzeug einen amerikanischen Hafen aufgesucht,
und deshalb lieferte unsere AN-124 eine kleine Sensation.
Mit dem Auftritt der Presse kehrte unser Humor zurück – in
solchen Situationen ein unverzichtbarer Begleiter. Wir malten
uns Mielkes Mimik und seine Reaktionen aus, wenn er erfuhr,
daß sein Geheimdienstchef samt Geheimnisträgern auf dem
Boden des »Erzfeindes« gelandet waren. Sicher würde er zum
Hörer eines seiner unzähligen Sondertelefone greifen und in
Moskau anrufen, um den KGB-Partnern mit Fragen und
Vorschlägen den Nerv zu rauben.
Hinter den Hangars sah ich den am Flughafen
vorbeiführenden Highway mit seinem allmählich
anschwellenden Strom von Fahrzeugen. Für einen Augenblick
überließ ich mich dem Träumen: Was wäre, wenn ich als ganz
normaler Passagier gekommen wäre? Was würde ich jetzt
unternehmen? Könnte ich den Jugendfreund George Fischer
ausfindig machen oder Leonhard Mins, den Freund der Eltern
aus der Moskauer Vorkriegszeit? Über Mins hatte mein Vater zu
uns Verbindung gehalten, als er in Frankreich in Le Vernet
interniert gewesen war. Auch mein Halbbruder Lukas mußte
irgendwo in der Nähe von New York wohnen.
Aber die Realität meldete sich bald genug zurück. Ich ging im
-384-
Kopf einige nachrichtendienstliche Aktivitäten durch, die mir
zur Last gelegt werden konnten, sollte es gelingen, mich hier zu
identifizieren. Zu jener Zeit waren wir damit beschäftigt, die
ersten Agenten mit fa lschen Papieren für die Übersiedlung in die
USA vorzubereiten. Eingeschleust hatten wir noch niemanden,
weil vor wenigen Jahren ein Mitarbeiter unserer Zentrale, der
Kenntnis über amerikanische Objekte besaß, übergewechselt
war. Mein Sitznachbar unterbrach diese Grübeleien. Er stieß
mich mit dem Ellbogen in die Seite und deutete auf die Sitzreihe
vor uns. Die beiden Chinesen hatten ihre Kuriertasche geöffnet
und mühten sich damit ab, den Inhalt wahrscheinlich wichtige
Papiere – möglichst unauffällig zu verzehren. Kauen und
Schlucken waren ihnen als einzige Waffen im Kampf gegen die
vom Klassenfeind drohende Gefahr geblieben. Sollten wir ihnen
als Geste des proletarischen Internationalismus Hilfe anbieten?
Wir warteten lieber ab.
Inzwischen wurde es im Flugzeug ausgesprochen
ungemütlich. Die Heizung war abgeschaltet. Um zu lüften, blies
der Pilot Winterluft in die Kabine. Das Thermometer sank auf
minus fünfzehn Grad, und die Passagiere zitterten in ihrer
Tropenkleidung bald wie Espenlaub. Stunden waren vergangen,
als der sowjetische Konsul mit einem Campingbeutel voller
Thermosflaschen auftauchte. Außer beruhigenden Worten
konnte er uns nur die Nachricht bieten, daß Moskau mit
Washington verhandle. Er behauptete, wegen ungewöhnlich
starkem Gegenwind sei uns der Treibstoff ausgegangen, und
erklärte, er bemühe sich um eine Sondergenehmigung, unser
Flugzeug auftanken zu lassen. Seit der Kubakrise hatten die
Amerikaner die Sanktion erlassen, daß keine Flugzeuge der
UdSSR oder ihrer Verbündeten mit Destination Kuba in den
USA landen oder tanken durften. Der Hauch des kalten Krieges
war noch um einige Grade frostiger als die New Yorker
Winterluft.
Achtzehn Stunden waren seit unserem Abflug vergangen, als

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die Stewardeß mir zuflüsterte, Washington habe den Weiterflug
genehmigt, allerdings unter der Bedingung, daß zwei Offiziere
der Air Force als Lotsen an Bord kämen. Leider konnte ich die
gute Nachricht den beiden Chinesen nicht vermitteln. Die
Aufnahmekapazität ihrer Mägen war inzwischen erschöpft.
Abwechselnd suchten sie die Toilette auf, um sich der Post auf
andere Weise zu entledigen. Als die Tür für einen Augenblick
offenstand, konnte ich einen der beiden beim Hantieren am
Waschbecken beobachten. Es sah aus, als rücke er den auf
weiße Seide geschriebenen Nachrichten mit Seife zu Leibe.
Vielleicht waren sie für Guerillagruppen in Lateinamerika
bestimmt gewesen, von denen sich einige am großen
Vorsitzenden Mao orientierten. Nun, diesmal mußten sie ihre
Instruktionen verbal entgegennehmen.
Am frühen Abend startete unsere AN-124. Das war mein
erster Aufenthalt auf dem amerikanischen Kontinent. Viel hatte
ich nicht gesehen: ein Stück New York aus der Luft und den
Highway neben dem Flughafen.
Es war schon dunkel, als wir auf dem Flughafen Jose Marti in
Havanna landeten. Wieder durften wir nicht aussteigen. Den
Kubanern waren die beiden US-Offiziere nicht avisiert worden,
und jetzt ging es darum, ob Passagiere und Besatzung überhaupt
das Flugzeug verlassen durften oder nach Moskau zurückfliegen
mußten. Meine Begleiter und ich wurden jedoch umgehend zu
einem Empfangskomitee gebeten, das uns mit Blumen und
wortreicher Freundlichkeit begrüßte. Die anderen mußten weiter
warten, darunter die beiden Märtyrer der rotchinesischen Sache.
In wilder Fahrt ging es durch das abendliche Havanna, dessen
Kern und Villenviertel die imponierende Ausstrahlung einer
modernen Metropole hatten. Wir wurden in einer Villa
einquartiert, die vor der Revolution einem Millionär gehört
haben mußte; dort machten unsere Betreuer uns mit dem
Programm für die nächsten Tage bekannt. Unser ständiger
Begleiter und Dolmetscher, der uns schon durch seinen

-386-
korrekten Anzug mit weißem Hemd und Krawatte aufgefallen
war, stellte sich als Umberto vor und erklärte, daß er auf
Weisung des Ministers für die Erfüllung all unserer Wünsche
zuständig sei. Er präsentierte uns den Fahrer Enrico mit der
Bemerkung, dieser sei der beste pistolero ganz Kubas. Um
unsere Sicherheit brauchten wir uns wirklich keine Sorgen zu
machen, sagte er ganz ernsthaft, für die sei unablässig und
zuverlässig gesorgt.
Obwohl wir vor Müdigkeit fast umfielen, machten wir nach
dem Essen noch einen kleinen Gang durch den Garten. Die
betörende Luft, die üppige Vegetation und die nur durch das
Zirpen der Grillen unterbrochene Stille ließen den Berliner
Winter und die klirrende Kälte Moskaus fast vergessen.
Wir waren nicht als Touristen gekommen, doch dem Zauber
der Natur auf dieser wunderschönen Insel konnten wir uns nicht
verschließen: den wechselnden Farben des Himmels vom zarten
Gelb und Rosa am Morgen über das strahlende Blau des Tages
bis zum samtenen Schwarz der Nacht, den unvorstellbaren
Farbschattierungen des Meeres, in dessen Wellen wir uns bei
jeder Gelegenheit stürzten, bestaunt von den Kubanern, denen
Wassertemperaturen von siebenundzwanzig Grad Celsius viel
zu niedrig waren.
Alle Schönheit Kubas aber konnte uns nicht vergessen
machen, wo wir uns befanden: keine neunzig Meilen von der
Küste des mächtigsten Staates der »anderen Welt« entfernt. Am
Tag nach unserer Ankunft standen wir auf der
Aussichtsplattform des monumentalen Denkmals für Jose Marti,
von wo aus man mit bloßem Auge die Kriegsschiffe der US-
Marine erkennen konnte.
Die Erhebung gegen das Batista-Regime war noch nicht lange
her. In den Mauern waren noch die Einschläge der Kugeln zu
sehen. Vo r nicht einmal zehn Jahren war Fidel Castro mit seinen
zweiundachtzig Kampfgefährten vom Motorkutter Granma am
Strand von Las Colorados in der Provinz Oriente gelandet, den
-387-
wir nun besichtigten. Auch nach Playa Girón fuhr man uns. Auf
der Fahrt durch die Zapata-Sümpfe und entlang der
Schweinebucht erinnerten alle paar Kilometer schlichte Zeichen
an die erbitterten Kämpfe gegen die Contras, die Exilkubaner,
an einer Stelle sogar das Wrack eines abgeschossenen B-26-
Bombers.
Einzelheiten über die Operation Zapata und Kennedys
Bedenken, Bomber einzusetzen, weil er ein »zweites Ungarn«
vermeiden wollte, erfuhr ich erst später, als ein
Untersuchungsausschuß des amerikanischen Senats die CIA
zwang, das ganze Ausmaß dieser monströsen Geheimaktion
gegen Kuba zu enthü llen.
Der große Irrtum der CIA, die das Unternehmen
Schweinebucht im Jahr 1961 zu verantworten hatte, bestand in
der Illusion, sie könne die Mechanismen ihrer erfolgreichen
Blitzoperation PB Success, die sie 1954 gegen Guatemala
durchgeführt hatte, nachdem sie etwas ähnliches ein Jahr zuvor
im Iran unter der Bezeichnung AJAX erprobt hatte, ohne
weiteres auf Kuba übertragen. Allen Dulles und seine Leute
hatten einfach nicht zur Kenntnis genommen, daß Fidel Castros
Befreiungsbewegung von der überwältigenden Mehrheit der
Kubaner unterstützt wurde, und sie konnten sich offensichtlich
auch nicht vorstellen, daß die Kubaner aus den früheren CIA-
Aktionen ihre Lehren gezogen hatten. Obwohl beim
Bekanntwerden der CIA-Invasionspläne Machenschaften wie
der Mord an Patrice Lumumba und die amerikanische
Intervention gegen die rechtmäßige Regierung Guatemalas noch
in frischer Erinnerung waren, fiel es der Öffentlichkeit schwer,
das Invasionsvorhaben gegen Kuba zu glauben, so irrwitzig
waren die Einzelheiten. Selbst nach dem Desaster in der
Schweinebucht hielt die CIA an ihren Kontakten zu führenden
Mafiabossen wie Sam Giancana aus Chicago fest, die Castro
beseitigen sollten, und Kennedy verlangte vom seinerzeitigen
CIA-Direktor Richard Helms höchste Priorität für den

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Mordplan. Das Projekt wurde von Beratern des Präsidenten,
vom State Department und der CIA gemeinsam beaufsichtigt,
und Robert Kennedy scheint die Oberleitung innegehabt zu
haben. Castros Tod oder zumindest sein Sturz war verbindlich
für Oktober 1962 vorgesehen.
Meine Gesprächspartner gehörten zu den barbudos, den
Bärtigen, die den Marsch in die Sierra Maestra und die Kämpfe
in den Bergen überlebt hatten. Fidel Castros Bruder Raul,
Ramiro Valdez, der damalige Innenminister, und Manuel
Pineiro, der Chef des Aufklärungsdienstes, waren auf
verschiedene Weise eigenwillige und faszinierende
Persönlichkeiten.
Ramiro Valdez wirkte wenig staatsmännisch und eher wie ein
leichtfertiger Draufgänger. Ich erinnere mich einer waghalsigen
Autofahrt in einem riesigen Cadillac, bei der er am Steuer locker
mit mir plauderte, während er bei Rot über die Kreuzungen
raste. Er interessierte sich für unsere Erfahrungen, vor allem
aber für unsere Möglichkeiten, seinen Dienst technisch zu
unterstützen. Seinen Schreibtisch übersäten Kataloge und
Fachzeitschriften, die über den neuesten Stand der Abhörtechnik
berichteten, über Fernsteuerungen und leistungsstarke
Mikrofone, Miniatursender und dergleichen mehr. Sein Glaube
an die Technik und an die unerschöpflichen Geldquellen der
DDR war grenzenlos, und groß war seine Enttäuschung, als ich
ihm behutsam klarmachen mußte, daß die Sowjetunion der
Ansprechpartner für seine extravaganten Wünsche war. Unsere
Gespräche drehten sich bald im Kreis.
Die Anwesenheit sowjetischer Berater erwähnte Valdez mit
keiner Silbe – fast so, als ob sie nicht existierten. Ich bekam sie
auch bei keiner geselligen Zusammenkunft zu sehen. Wollte ich
mich mit einem der sowjetischen Vertreter treffen, die man mir
in Moskau genannt hatte, dann mußte ich zuerst meine
kubanischen Betreuer nach allen Regeln der Konspiration
abschütteln. Erst in späteren Jahren änderte sich das.

-389-
Die Kommunistische Partei war damals noch im Aufbau, und
vielerorts stießen wir auf ihre sehr unterschiedlichen Vorläufer.
Bei Fahrten ins Land versuchte ich stets, das Bild zu
vervollständigen, das man in Havanna gezeichnet hatte.
Widersprüche und Kritik waren nicht zu überhören. Wenn ich
mich dann mit Raul Castro oder Ramiro Valdez unterhielt,
merkte ich schnell, daß unser ständiger Begleiter ihnen jedes
Wort, das wir mit Dritten gewechselt hatten, kolportiert hatte.
Meist sprachen sie die Meinungsäußerungen so direkt und
ungeniert an, daß man ihnen nicht ernstlich böse sein konnte.
Comandante Pineiro, wegen seines roten Bartes barba roja
genannt, war mit einer Amerikanerin verheiratet, sprach aber
nicht besser Englisch als ich; dennoch verständigten wir uns
glänzend. Nie war er um einen Scherz verlegen, und mit seinen
listigen Fragen erfuhr er fast immer, was er wissen wollte.
Neben seinem Humor und seiner Lässigkeit hatte er eine
erfrischend respektlose Art, über den zur Legende stilisierten
Befreiungskampf und über Fidel Castro zu sprechen.
Jahre später erfuhr ich von ihm, warum Che Guevara 1966 als
Guerillakämpfer nach Bolivien gegangen war. Für meinen
Bruder Konrad und mich war Che wie für so viele in Ost und
West seit seiner Ermordung 1967 ein Idol gewesen. Offenbar
hatte das Einlenken der Sowjets, als sie ihre Raketenbasen
abbauten, um die Kubakrise zu beenden, ihn tief enttäuscht, und
zur Enttäuschung hatte sich wohl die Illusion gesellt, er könne
mit einer Handvoll verwegener Kämpfer in Bolivien
wiederholen, was in Kuba gelungen war. Doch dabei hatte er
den Unterschied zwischen der Entschlossenheit der Kubaner,
sich zu befreien, und der leidgewohnten Lethargie und
Zerrissenheit der bolivianischen Bevölkerung außer acht
gelassen. Da wurde mir erstmals bewußt, daß ich bei meinem
ersten Besuch im Januar 1965 Che nicht zu Gesicht bekommen
hatte und sein Name kein einziges Mal gefallen war. Ich
erinnerte mich, Tamara Bunke in jenen Tagen auf Kuba gesehen

-390-
zu haben, eine junge Frau aus der DDR, die später mit Che
Guevara in Bolivien den Tod fand. Mein Bruder Konrad trug
sich lange mit den Gedanken, einen Film über Tamara Bunke zu
machen.
Neben Valdez und Pine iro wirkte Raul Castro überlegener,
gebildeter und staatsmännischer. Bei jedem meiner Besuche
konnte ich mich von seiner Autorität und seinen
Führungsqualitäten überzeugen. Von den anderen Comandantes
unterschied er sich nicht nur durch den schmalen Lippenbart,
sondern am auffälligsten dadurch, daß man sich bei ihm darauf
verlassen konnte, daß er verabredete Termine einhielt. Seine
Landsleute zogen ihn mit seiner Pünktlichkeit auf, und Fidel
nannte ihn den Preußen unter den Kubanern. Im mexikanischen
Asyl hatte er sich am gründlichsten mit marxistischer Theorie,
Militärtheorie und den Erfahrungen anderer revolutionärer
Bewegungen befaßt. Anders als seine emotionaleren Kollegen,
ließ er sich keine betonte Distanz zur Sowjetunion oder
Enttäuschung über sie anmerken. Obwohl der Nachrichtendienst
nicht unter seine Zuständigkeit fiel, nahm er sich bei jedem
meiner Besuche Zeit für ein Gespräch mit mir, so auch bei
meinem Aufenthalt im Jahr 1985, als ich gerade aus Nicaragua
zurückkehrte.
Nicaraguas Innenminister Tomás Borge hatte mich zum
sechsten Jahrestag der Sandinistischen Revolution nach
Managua eingeladen. Die gewaltige Volksversammlung im
Zentrum dieser Stadt, die durch ein Erdbeben nahezu vollständig
zerstört war, beeindruckte mich außerordentlich. Viele der
Teilnehmer hatten stundenlange Fußmärsche hinter sich, weil es
kaum Benzin gab, doch alle waren voller Begeisterung
gekommen, um ihre Comandantes hochleben zu lassen.
Wie im Kuba der 60er Jahre hatte man in Nicaragua den
Eindruck, daß das Volk fast einhe llig die Revolution
unterstützte. Die Sandinisten hatten es in den Jahren seit dem
Sturz Somozas verstanden, sich mit ihrer ganz eigenen

-391-
Mischung aus sozialdemokratischem, sozialistischem,
christlichem, bürgerlichhumanistischem und marxistischem
Gedankengut zu behaupten. Charakteristisch für die Sandinisten
war auch, daß fast jeder von ihnen Schriftsteller war, wenn nicht
gar Dichter. Tomás Borge machte da keine Ausnahme. Er hatte
eine faszinierende Ausstrahlung in der intellektuellen Debatte,
war aber auch unschlagbar beim Wettschwimmen in der
malerischen Lagune Jiloa.

Mit Tomás Borge (1. von links) 1985 bei Managua


Borge zeigte mir eine Analyse seines Ministeriums und ein
Konzept für den Fall einer militärischen Intervention der USA,
mit der jederzeit gerechnet werden mußte. Die Stellen an der
Pazifikküste, die sich für eine Landung eigneten, wurden Tag
und Nacht überwacht, alle lebenswichtigen Objekte waren
permanent abgesichert. Wie auf Kuba war auch hier überall die
Bereitschaft zu spüren, das eigene Leben einzusetzen. Jammern
und Klagen habe ich in Nicaragua nie zu hören bekommen.
Jedermann wußte, daß es nicht zu einer zweiten Machtprobe
zwischen UdSSR und USA auf lateinamerikanischem Boden

-392-
kommen würde. Andererseits konnten die USA Nicaragua zwar
ökonomisch, politisch und militärisch unter Druck setzen, aber
sie konnten es nicht international isolieren, wie es mit Kuba
möglich gewesen war. Die Sandinisten nutzten ihre
Zugehörigkeit zur Sozialistischen Internationale und ihre guten
Beziehungen zur deutschen Sozialdemokratie mit großem
Geschick. Mit ihrem eklektizistischen Sozialismus à la
Sandinista liefen sie keine Gefahr, als moskauhörig
abgestempelt zu werden. Außerdem hatte Nicaragua trotz aller
Grenzzwischenfälle, die meist durch die Söldnertruppen der
Contras provoziert wurden, ein gutes Verhältnis zu den
Nachbarstaaten Guatemala im Norden und Costa Rica im Süden.
Das unablässige Hin und Her von Landarbeitern, Händlern,
Gewerbetreibenden und Kleinindustriellen hatte in
Mittelamerika eine ganz eigene familiäre Verflechtung erzeugt,
und auf diese Verbindungen konnten die Sandinisten sich in
Notfällen verlassen.
Eine gewisse Sorglosigkeit der Nicaraguaner in
Sicherheitsfragen wurde vor allem von den Kubanern getadelt.
Lange Zeit galt in Nicaragua jeder als zuverlässig, der am
bewaffneten Kampf teilgenommen hatte. Aus eigener Erfahrung
kann ich nur sagen, daß im Umgang mit mir die Regeln der
Konspiration so unerbittlich gewahrt wurden, daß Gespräche
grundsätzlich im Freien geführt wurden.
Unser bescheidener Beitrag bestand darin, daß wir in der
DDR Nicaraguaner für den Personenschutz ausbildeten und
technisches Zubehör lieferten. Die Ausrüstung des
nicaraguanischen Sicherheitsdienstes war völlig ungenügend,
und man sah ihr an, daß sie aus Spenden sozialistischer Länder
zusammengeflickt war. Doch anders als bei den meisten
afrikanischen Diensten führte man uns stolz die tadellos
gepflegten und gewarteten Geräte vor.
Mehr als die Contras, mehr sogar als das Schreckgespenst
einer Invasion amerikanischer Truppen fürchtete die

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sandinistische Regierung die Folge der zerrütteten Wirtschaft.
Dankbar erkannte man in Managua die Hilfe der sozialistischen
Länder an, doch ein Blick in die leeren Geschäfte genügte, um
zu erkennen, daß diese Art von Wirtschaftshilfe nicht einmal
den berühmten Tropfen auf den heißen Stein gewährleistete. Die
Wirtschaftsblockade, die die USA mit Erfolg durchführten, hatte
das Überleben der Nicaraguaner bis zur Schmerzgrenze
erschwert.

Mit Raúl Castro 1985 auf Kuba


Bei unserem Gespräch nach meinem Besuch in Managua
fragte mich Raul Castro, ob mir nicht aufgefallen sei, wie sehr
das Vorgehen der USA gegenüber Nicaragua dem chilenischen
Szenarium von 1973 ähnelte. Er hatte recht. Die finanzielle US-
Hilfe für Violeta Chamorros Oppositionsblatt La Prensa
erinnerte überdeutlich an die seinerzeit mit El Mercurio, der
größten Tageszeitung Chiles, praktizierte Methode. Neben der
großzügigen Finanzierung der Opposition hatte die CIA auch in
Chile auf die Verschärfung der ohnedies schon gravierenden

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Wirtschafts- und Versorgungsprobleme gesetzt, um Salvador
Allende zu stürzen, dessen Wahl sie zu ihrem großen Verdruß
nicht hatte verhindern können. Multinationale Unternehmen
wurden unter Druck gesetzt, und im Hintergrund zog John
McCone, ehemaliger CIA-Direktor, der im Aufsichtsrat von ITT
saß, die Fäden, denn die staatliche Telefongesellschaft Chiles
war eine Tochtergesellschaft von ITT.
Als dieser ganze Druck noch immer nicht das gewünschte
Ergebnis zeitigte, sah die CIA sich genötigt, als letztes Mittel
den Putsch der Generale einzuleiten. Da der
Oberkommandierende, General René Schneider, allen
Umsturzplänen eine unmißverständliche Absage erteilt hatte,
mußte er im September 1973 als erster beseitigt werden.
Allendes tragischer Irrtum war es, zu lange darauf zu vertrauen,
daß die chilenische Armee, verwurzelt in einem
demokratischstaatsbürgerlichen Traditionsverständnis, sich
niemals gegen ein demokratisches Parlament und eine
demokratisch gewählte Regierung erheben würde. Vor einem
drohenden Militärputsch hatte mein Dienst Allende und Luis
Corvalán, den Führer der chilenischen KP, bereits im Frühjahr
1973 gewarnt. Unsere Informationen stammten vom BND und
sprachen eine deutliche Sprache, denn der BND war in Chile
stark vertreten und war über die Absichten der Putschisten voll
im Bilde. Wie mir Castro erzählte, hatte auch der kubanische
Nachrichtendienst Allende rechtzeitig dringend gewarnt.
Mein Dienst hatte in Santiago keinen einzigen Mitarbeiter
postiert. Nach dem Putsch und dem Mord an Allende suchten
Anhänger der Unidad Populär, der Regierungskoalition, in
Todesangst Zuflucht in der Botschaft der DDR. Prominentester
Schutzsuchender war Carlos Altamirano, der Generalsekretär
der Sozialistischen Partei. Da die DDR die diplomatischen
Beziehungen zu Santiago abgebrochen hatte, waren ihr offiziell
die Hände gebunden. In aller Eile entsandten wir Offiziere von
Ost-Berlin aus, die erkundeten, wie durchlässig die Kontrollen

-395-
auf chilenischen Flughäfen, im Hafen von Valparaiso und an
den Straßenübergängen nach Argentinien waren. Wir überlegten
Möglichkeiten, Handelsschiffe umzudirigieren, und installierten
Verstecke in Fahrzeugen, die wir nach Chile einschleusten.
Endlich konnten wir das Wissen nutzbringend anwenden, das
wir in jahrelangen Grenzkontrollen an den Wagen westdeutscher
Fluchthelfer gewonnen hatten. Von Argentinien aus
improvisierten wir eine vorbildliche nachrichtendienstliche
Aktion. Die Flüchtlinge wurden in Autoverstecken und auf
Schiffen in Jutesäcken zusammen mit Früchten und
Fischkonserven aus dem Land geschmuggelt. In manchen Fällen
dauerte es Wochen, bis wir sie in Sicherheit hatten. Altamirano
traf erst zwei Monate nach dem Putsch in Ost-Berlin ein. Erich
Honecker nahm an dieser Rettungsaktion großen persönlichen
Anteil; seine Tochter war mit einem chilenischen Sozialisten
verheiratet.
Unsere Aktion konnte nicht alle retten. Über amerikanische
Verbindungskanäle Rechtsanwalt Vogels wurde uns
vorgeschlagen, Luis Corvalán, den das Pinochet-Regime auf
einer Insel gefangenhielt, gegen den sowjetischen Dissidenten
Wladimir Bukowksi auszutauschen, der in der Sowjetunion
inhaftiert war. Bei meinen Kollegen vom KGB setzte ich mich
für diesen Austausch ein, und die Kubaner sekundierten mir.
Raul Castro schilderte mir auch die praktischen Folgen der
Lehren, die Kuba aus dem Fiasko in Chile gezogen hatte. Alle
zivilen Strukturen waren seither in die Verteidigung des Landes
einbezogen. Seit neue Morddrohungen laut geworden waren,
reisten die Brüder Castro nicht mehr gemeinsam, und auf
öffentlichen Veranstaltungen traten sie nicht mehr gemeinsam
auf.
Auf dem ganzen Hinflug hatten mich bei meinem Besuch in
Mittelamerika 1985 düstere Gedanken beschäftigt. Unser
gesellschaftliches System schien mir in seinen Grundfesten
erschüttert. Die Praxis entfernte sich immer weiter von den

-396-
Prinzipien, für die wir nach 1945 eingetreten waren. Die Kluft
zwischen dem Wunschdenken der Politiker und der Realität
verbreiterte sich zusehends, doch im neuen Generalsekretär der
KPdSU, der eine Reihe alter und kranker Männer ablöste, schien
sich ein Hoffnungsstreif am Horizont abzuzeichnen. Ich glaubte,
dieser neue Aufbruch könne auch Kuba und Nicaragua helfen.
Damals ahnte ich nicht, daß sich gerade durch Gorbatschow,
durch Perestroika und »neues Denken« in der Außenpolitik die
Probleme Kubas ins Unermeßliche steigern würden.
Heute kann ich nur schweren Herzens an Kuba denken. Mein
letzter Besuch auf der Insel im Jahr 1989 war von den
Problemen der DDR überschattet gewesen, doch Kubas
Schwierigkeiten waren nicht zu übersehen. Der Sozialismus
hatte nicht gehalten, was man dem Volk versprochen hatte, und
der Anblick der Menschenschlangen vor den meist leeren
Geschäften und den ausländischen Botschaften verhieß nichts
Gutes. Oberflächlich betrachtet steckten beide Länder in der
gleichen Zwickmühle: Beide lehnten Gorbatschows Kurs ab.
Bei Honecker hielt ich das für verhängnisvoll, während ich für
Castro mehr Verständnis hatte, denn in Lateinamerika bedeutete
jede Preisgabe errungener Positionen die Gefahr, wieder unter
die Vorherrschaft der USA zu geraten. Die DDR hörte wenige
Monate später auf zu existieren, und Erich Honecker, der einst
chilenische Flüchtlinge aufgenommen hatte, starb im Exil in
Chile, nachdem die Sowjetunion sich geweigert hatte, ihm
Dauerasyl zu gewähren.
Warum hatten Castro und seine Männer sich so stark dem
sowjetischen Modell angenähert? Anfangs hatte es ausgesehen,
als schlügen sie einen eigenen Weg ein, wie später Nicaragua.
Doch die USA hatten ihnen keine Chance gelassen, ihre eigenen
Vorstellungen zu verwirklichen, sondern sie praktisch
gezwungen, sich an die Sowjetunion anzuschließen. Bei wem
sonst hätte Castro Hilfe gegen den übermächtigen Boykott und
die ständige Bedrohung suchen sollen?

-397-
Häufig sagten mir politisch erfahrene Gesprächspartner im
Westen – darunter auch ein Kollege des Mossad –, die USA
hätten gegenüber Kuba einen ihrer schwersten Fehler begangen.
Hätte Washington keine Wirtschaftsblockade durchgeführt,
sondern den Ausbau der Beziehungen forciert, wäre Kuba
vielleicht ein Land mit sozialen Reformen geworden, aber kein
durch und durch kommunistischer Staat. Ursprünglich stand
Fidel Castro dem Denken Jose Martís wesentlich näher als dem
Lenins. Aber den Falken in Washington war jede Form von
Sozialismus, sogar die Sozialdemokratie, ein Greuel, den sie im
»Hinterhof« von god's own country nicht dulden konnten,
sondern mit Stumpf und Stiel ausrotten mußten.
Was wird aus Kuba werden? Welche Chancen haben
Befreiungsbewegungen in Lateinamerika heute überhaupt noch?
Falls Kuba nicht zu einer lebensnotwendigen inne ren
Erneuerung findet, dann wird Lateinamerika bald um eine
Hoffnung ärmer sein. Günter Grass hat dazu etwas gesagt, dem
ich nur beipflichten kann: »Ich bin immer ein Gegner des
doktrinären Systems in Kuba gewesen. Aber wenn ich heute
erlebe, daß es dort zu Ende geht, ohne eine Alternative
anzubieten, jedenfalls keine andere als Batista, dann bin ich für
Kuba.«
Waren die Vereinigten Staaten für meine Freunde auf Kuba
und in Nicaragua zweifellos ein bedrohlicher Hauptgegner, so
war mein Bild von diesem Land zwar diffus, aber nicht
eindimensional. Allein schon meine internationalistische
Erziehung in der Familie und in der Komintern-Schule hatte
mich vor stupidem Antiamerikanismus bewahrt. Hinzu kamen
Freunde, die in den USA lebten, und nicht zuletzt Amerikaner,
die sich zu einer Zeit für meinen Dienst einsetzten, als dieses
Land für uns noch in unerreichbarer Ferne zu liegen schien und
wir bei unserer Beschäftigung mit amerikanischen Objekten in
der Bundesrepublik nur dürftige Anfangsergebnisse vorweisen
konnten.

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Meine eigenen USA-Kenntnisse beschränkten sich auf das,
was ich in Büchern gelesen hatte, darunter Hemingway, Dreiser
und Steinbeck, und auf spärliche persönliche Kontakte mit
Amerikanern während meiner Rundfunktätigkeit und beim
Nürnberger Prozeß. Als außenpolitischer Kommentator hatte ich
regelmäßig die New York Times, die New York Herald Tribune,
Time und Newsweek gelesen. Bei meinen wenigen Kontakten
mit dem amerikanischen Mann von der Straße war ich auf eine
mir eher fremde Mentalität gestoßen. Das unkomplizierte und
naive Wesen amerikanischer Soldaten erinnerte mich zwar an
das russischer Soldaten, doch mit denen verbanden mich
Sprache und Denkweise. Alles, was ich über die USA erfuhr,
durchlief in meinem Kopf einen ideologischen Abwehrfilter, so
daß ich beinahe reflexartig im Geist stets die entgegengesetzte
Position einnahm und vertrat. Das wirkte sich auch auf die
Freundschaft zu George Fischer aus, der in Moskau mit mir zur
Schule gegangen war und als Captain im Stab Eisenhowers 1945
häufig nach Berlin kam. Die ideologische Barriere, die ich
zwischen uns errichtete, trübte die Freude über das Wiedersehen
und machte uns beide gehemmt.
Meine Arbeit an der Spitze des Nachrichtendienstes
veränderte zwar die ideologische Frontstellung nicht, erhöhte
aber die Neugier und Offenheit für alle Aspekte des Lebens der
»anderen Seite«. Westdeutschland lag vor mir wie ein offenes
Buch. Das amerikanische Buch hingegen war mit sieben Siegeln
verschlossen.
Viel von meinem Wissen über die USA, über das politische
Denken, die Hoffnungen und Ängste dort, verdanke ich zwei
Männern, mit denen mich über die gemeinsamen
nachrichtendienstlichen Interessen hinaus politische
Überzeugungen und Sympathien verbanden. Sie waren meine
ersten Agenten in Amerika und wurden nie enttarnt. Beide
waren in Deutschland geboren, beide waren Juden, hatten in
ihrer Jugend kommunistischen Bewegungen nahegestanden und

-399-
mußten vor dem NS-Terror fliehen. Beide fanden in den USA
Asyl, wo sie ihr Studium beendeten – der eine als Ökonom, der
andere als Jurist –, und beide wurden vom OSS, dem Vorläufer
der CIA, angeworben. Zur Zeit der Hexenjagd McCarthys
wurde das OSS als Sammelbecken linkslastiger Intellektueller
denunziert, was seine paradoxe Umkehr darin fand, daß zur
selben Zeit Stalin und Berija Noël Fields OSS-Verbindung als
Vorwand benutzten, eine blutige Verfolgungsorgie gegen »nicht
linientreue« Kommunisten zu veranstalten.
Den Kontakt zu »Maler«, dem Ökonomen, fanden wir über
einen Studienfreund. Beide hatten zur Widerstandsgruppe um
Herbert Baum gehört, die 1942 eine Nazi-Ausstellung durch
Spreng- und Brandsätze zu zerstören versuchte. Fünfunddreißig
Mitglieder der Gruppe wurden hingerichtet. »Maler« war schon
vor Kriegsausbruch emigriert, sein Freund überlebte Haft und
Konzentrationslager. Als die beiden sich nach dem Krieg
wiedersahen, bekleidete der Freund eine leitende Position im
Finanzwesen der DDR. Er stellte die Verbindung zwischen
»Maler« und meinem Dienst her.
In seinem Denken war »Maler« ungebunden und dennoch
überzeugter Kommunist geblieben. Auf seinem ureigensten
Wissensgebiet, der Wirtschaft, ging er mit der Realität des in der
Sowjetunion und in der DDR praktizierten Systems
schonungslos ins Gericht und wies nach, daß die Praxis des
»real existierenden Sozialismus« nicht im entferntesten eine
Anwendung oder gar Weiterentwicklung der Marxschen Lehre
darstellte.
Er besaß einflußreiche Freunde in Washington und knüpfte in
unserem Interesse Beziehungen zum US-Botschafter in Bonn
und dem Gesandten in West-Berlin. Eine seiner Quellen war
Ernst Lemmer, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen, von
dem »Maler« sich bei jedem Besuch in der Bundesrepublik
ausführlich unterrichten ließ. »Maler« klärte mich über
Lemmers Beziehungen zu verschiedenen Geheimdiensten mit

-400-
Sitz in der Schweiz auf – westliche Dienste, aber auch der KGB.
Technische Mittel und Kurierverbindungen lehnte »Maler«
kategorisch ab. Seine Berichte und Analysen diktierte er auf
Tonband. Für seine Mühen hat er nie Geld genommen und ließ
sich nur die Reisekosten erstatten. Er war umsichtig, aber nie
ängstlich. Als wir vorschlugen, seine erwachsenen Kinder in die
Arbeit für uns einzubeziehen, lehnte er das entschieden ab.
Während »Maler« vor allem seine Kontakte in der
Bundesrepublik nutzte, war »Clivia« – so der Deckname des
Emigranten, der Jurist geworden war – ein intimer Kenner der
innenpolitischen US-Szene. Er war nervöser als der ruhige
»Maler« und im Unterschied zu dessen Kaltblütigkeit fast
ängstlich um die eigene Sicherheit besorgt. Das mag eine Folge
seiner Erlebnisse bei den Verhören der Kommission für
unamerikanische Aktivitäten gewesen sein, die zu seiner
Entlassung aus dem Staatsdienst geführt hatten.
»Clivia« hatte ein umfangreiches Archiv angelegt, das Akten
des Wilhelmstraßen-Prozesses, des Krupp- und Roechling-
Prozesses sowie des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, dem er
beigewohnt hatte, enthielt. Bei den Nürnberger Prozessen hatte
er zur Staatsanwaltschaft gehört, und seither war es eines der
großen Ziele seines Lebens, eine schleichende Renazifizierung
in der Bundesrepublik zu verhindern.
Obwohl er Atheist war, betonte »Clivia« sein Judentum und
sah in meiner jüdischen Abstammung etwas, was uns verband.
Von ihm hörte ich zum erstenmal die Ansicht, der Weg meines
Vaters vom Humanisten aus jüdischem Elternhaus zum
kommunistischen Schriftsteller gehe nicht zuletzt auf die
Verwurzelung im Judentum zurück. Die Repression und die
Symptome eines uneingestandenen Antisemitismus in der
Sowjetunion konnte und wollte er weder verstehen noch
verzeihen. Der DDR machte er keine derartigen Vorwürfe, denn
sonst hätte er sich nicht bereit gefunden, für meinen Dienst zu
arbeiten.
-401-
Die Zusammenarbeit mit »Clivia« war für uns wesentlich
mühsamer als die mit »Maler«. Da er in Deutschland lebte und
mit einer Deutschen verheiratet war, die seiner Ansicht nach
nicht erfahren durfte, daß er für uns spionierte, war jede Reise,
die er unternahm, Gegenstand ausführlicher Beratungen. Da galt
es, Alibis seiner Frau gegenüber zu ersinnen, Gründe für
Besuche jedes einzelnen Gesprächspartners in und außerhalb
von Washington, und dann mußte die finanzielle Seite geklärt
werden, denn im Unterschied zu »Maler« konnte »Clivia« das
Geld, das wir zahlten, durchaus brauchen. Kurzum, in seiner
Brust tobte der unablässige Widerstreit zwischen seinen
Motiven und seinen Gefühlen. Dennoch waren seine
Informationen für unsere Beurteilung der amerikanischen
Politik, vor allem in den krisenträchtigen Jahren 1961 und 1962,
von großem Wert.
Bis Anfang der 70er Jahre war die Hallstein-Doktrin in Kraft,
die diplomatische Vertretungen der DDR in Washington und bei
der Uno in New York verhinderte, und unsere offiziellen
Kontakte waren entsprechend mager. Die für die USA
zuständige Abteilung meines Dienstes bemühte sich gemeinsam
mit dem Sektor für Wissenschaft und Technik, ihre Aktivitäten
auf das Territorium der Vereinigten Staaten auszudehnen. Doch
unsere bevorzugte Methode, Agenten einzuschleusen, indem
man sie mit den Papieren lebender oder verstorbener
Zeitgenossen versah, war langwierig und umständlich. Mit
halbwegs stimmigen Lebensgeschichten mußten die Kandidaten
als sogenannte Doppelgänger zuerst nach Südafrika,
Lateinamerika oder Australien auswandern, wo sie eine Weile
lebten, bevor das Ziel USA angepeilt werden konnte. Und wenn
sie dann glücklich in die Vereinigten Staaten eingewandert
waren, verging nochmals beträchtliche Zeit, bis sie ihre
eigentliche Tätigkeit aufnehmen konnten. Unter glücklichen
Umständen waren sie in der Lage, uns zwischenzeitlich mit
interessanten Informationen aus ihrem beruflichen Umfeld zu

-402-
versorgen.
Leider barg diese Methode des Einschleusens jene Risiken,
die es dem bundesdeutschen Verfassungsschutz Ende der 70er
Jahre ermöglichten, viele unserer Agenten aufzuspüren. Die
enge Kooperation zwischen Verfassungsschutz und FBI führte
dazu, daß die Aktion Anmeldung sich auch auf unsere Agenten
jenseits des Atlantiks auswirkte. Der schwerste Schlag war die
Enttarnung und Verhaftung Eberhard Lüttichs, Deckname Brest,
der nach der Festnahme sein gesamtes Wissen verriet.
Lüttich war einer der wenigen ha uptamtlichen Offiziere des
MfS, die wir für den illegalen Einsatz ausgewählt und
vorbereitet hatten. Unter Pseudonym und mit entsprechend
frisierter Vita schleusten wir ihn 1972 in die Bundesrepublik
ein. In Hamburg bewarb er sich bei einer internationalen
Spedition, und binnen kurzem brachte er es zu einer leitenden
Stellung in deren New Yorker Niederlassung. Sein berufliches
Umfeld ermöglichte es ihm, uns brauchbare Informationen über
den Transport von Rüstungsgütern und über
Umzugsbewegungen im Bereich der US-Armee zu verschaffen,
während er sich darauf vorbereitete, zu gegebenem Zeitpunkt
Quellen aufzutun und zu betreuen.
Daß es dazu nicht mehr kam, war eine direkte Folge der
Aktion Anmeldung. Die Schwächen unserer
Einschleusungsmethodik waren nicht länger zu leugnen, und wir
mußten – auch als Folge des Verrats von Lüttich – in den sauren
Apfel beißen und unsere gesamten legalisierten »Illegalen« nach
und nach aus den Vereinigten Staaten zurückziehen, darunter
einen weiteren Offizier und ein Wissenschaftlerehepaar. Alles
andere als erfreulich war auch, daß Lüttich der Hamburger
Polizei nach seiner Festnahme Ende 1979 nicht nur haarklein
unsere Methoden schilderte, sondern auch berichtete, daß unsere
Zentrale in Ost-Berlin unsere Agenten in den USA mit
einseitigen Funksprüchen erreichte, die von einem Sender auf
Kuba ausgestrahlt wurden. Es hatte Jahre gedauert, diesen

-403-
Sender zu bauen. Lüttich verriet außerdem seinen
Verbindungsmann, der sofort verhaftet wurde und den wir erst
zwei Jahre später im Austausch gegen westliche Agenten
freibekamen.
Seit dieser Schlappe haben wir in den USA nicht mehr recht
Fuß gefaßt. Unsere Bemühungen, die Verluste zu ersetzen,
blieben in den Anfängen stecken. Ehepaare einzuschleusen war
meist zu mühsam, und alleinstehende Herren, die durch
Einheiraten an die begehrten Ausweispapiere gelangen wollten,
taten sich viel schwerer als in der Bundesrepublik. Wir konnten
die Augen nicht vor der betrüblichen Erkenntnis verschließen,
daß die Rasterfahndungsmethoden des FBI so gut griffen, daß
unsere eingeschleusten Mitarbeiter in den USA ein hohes Risiko
eingingen.
Unsere legalen Residenturen in Washington und am Sitz der
Uno in New York zeichneten sich hauptsächlich dadurch aus,
daß sie personell und materiell überaus aufwendig und nicht
sonderlich effektiv waren. Wir hatten nie bezweifelt, daß sie
unter pausenloser FBI-Überwachung stehen würden. Die Praxis
bestätigte, daß unsere Residenturen keinen Deut weniger
intensiv durchleuchtet wurden als die der UdSSR. Gelegentlich
erlangten wir dur ch unauffällige und meist zufällige Kontakte an
Äußerungen, die Reagan oder Bush im Kreis von Senatoren,
Abgeordneten oder Managern getan hatten, aber fast immer
konnte man die vermeintlichen Interna wenige Tage darauf in
der Zeitung lesen. Echte nachrichtendienstliche Quellen außer
den genannten gab es in der Zeit, die ich übersehen kann, in den
USA nicht.
Es kam vor, daß echte oder von der amerikanischen Abwehr
gesteuerte Geheimnisträger als Selbstanbieter in der DDR-
Botschaft vorstellig wurden. Anfang der 80er Jahre erschien
eines Tages ein Mann, der geheime Informationen über Atom-
U-Boote verkaufen wollte. Auf den ersten Blick war an seinem
Material nichts auszusetzen, und der Mann wurde von unseren

-404-
Leuten zu einem Treffen nach Mexiko bestellt, dem neben
unserem Mitarbeiter als Experte Professor Zehe von der
Technischen Hochschule Dresden beiwohnen sollte. Der ganze
Vorgang wurde mit größter Vorsicht behandelt. Professor Zehe
aber nutzte die unverhoffte Reise, um auf dem Rückweg aus
Mexiko Anfang November 1983 eine wissenschaftliche Tagung
in Boston zu besuchen, auf der er prompt festgenommen wurde.
Meine Mitarbeiter schworen Stein und Bein, daß sie Zehe
ausdrücklich verboten hatten, in die USA zu reisen. Ob er nun
aus Zerstreutheit oder Weltfremdheit die Warnungen in den
Wind geschlagen hatte – was wir als vorsichtig anzugehenden
Test gegenüber einem Selbstanbieter geplant hatten, der sich als
Doppelagent entpuppte, war unter der Hand zu einer
spektakulären Aktion gegen uns geworden. Das FBI
triumphierte, die amerikanischen Medien konnten sich lautstark
darüber empören, daß die DDR zu einem Zeitpunkt
kaltschnäuzig der Spionage nachging, zu dem ihr Außenminister
um bessere Beziehungen bemüht war und ihr
Staatsratsvorsitzender eingeladen zu werden versuchte.
Rechtsanwalt Vogel zog Erkundigungen ein, wie man den
universitären Unglücksraben aus der Patsche holen konnte, und
wir bekamen eine deutliche Vorstellung davon, in welchen
Dimensionen sich Anwaltskosten im Land der unbegrenzten
Möglichkeiten bewegten. Nach einem halben Jahr erfuhren wir,
daß Zehe gegen eine Kaution von einer Million Dollar auf freien
Fuß gelangen könne. Als alles geregelt schien und die
Austauschkandidaten – dreiundzwanzig Westspione und der
Dissident Schtscharanskij gegen einen Bulgaren, einen jungen
polnischen Aufklärer, eine DDR-Bürgerin im Sold eines
sowjetischen Dienstes und unseren Professor – feststanden, hieß
es plötzlich, Zehe habe es sich anders überlegt und wolle in den
USA bleiben. Zwei Wochen später hatte er es sich dann wieder
anders überlegt und wollte nun doch ausgetauscht werden. Die
Austauschaktion auf der Glienicker Brücke fand natürlich wie

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immer große Beachtung in Presse und im Fernsehen. Mein
Dienst war dabei mit einem zerstreuten Professor vertreten, der
aus reiner Tolpatschigkeit in eine Falle der amerikanischen
Abwehr getappt war – nicht gerade der Stoff, aus dem
Agententhriller gemacht werden.
So unergiebig unsere Situation in den USA war, so wenig
kompliziert war sie vor der eigenen Haustür. Auch wenn man
nicht bloß den Mund aufzumachen brauchte, damit einem die
gebratenen Tauben von selbst hineinflogen, erleichterten uns
viele Faktoren das Vorgehen. Die Atmosphäre der 68er-
Bewegung, der Protest gegen den Vietnamkrieg, das kritische
Verhältnis zu Obrigkeit und Autorität waren ein Phänomen der
ganzen westlichen Welt und prägten auch die jungen
Amerikaner, die in der Bundesrepublik und in West-Berlin
lebten. Die geballte Präsenz des US-Militärs und der
dazugehörigen Zivilisten in West-Berlin und in Heidelberg, wo
sich das Hauptquartier der US-Streitkräfte in der BRD befand,
machte es uns relativ leicht, Kontakte anzuknüpfen und
auszubauen. Anders als Engländer und Franzosen integrierten
die Amerikaner sich in das gesellschaftliche Leben. Auch in
Ost-Berlin bewegten sie sich freier.
Was die Kontakte besonders förderte, war der sprichwörtliche
amerikanische Sinn für unkonventionelle Gelegenheitsgeschäfte.
Im nachhinein muß ich gestehen, daß mein Dienst diese
Vorliebe der Amerikaner für schnellverdientes Geld viel zu
zaghaft genutzt hat. Wir wußten zwar, daß amerikanische
Dienste meist ganz unverblümt den finanziellen Faktor
ansprachen, wenn sie DDR-Bürger anzuwerben versuchten, aber
wir selbst taten uns im umgekehrten Fall mit diesem
Pragmatismus ohne jede weltanschauliche Verbrämung schwer.
Welche Ergebnisse es zeitigen konnte, wenn man das Geld
sprechen ließ, demonstrierte uns ein türkischer Mittelsmann.
Hussein Yildrim arbeitete als Kfz-Mechaniker am US-
Militärstützpunkt in West-Berlin und belieferte uns mehr als

-406-
sechs Jahre lang mit hochkarätigen Informationen, die er dem
Unteroffizier James Hall – Deckname Blitz – abkaufte, der in
der elektronischen Spionage der National Security Agency tätig
war. Neben Informationen erfuhren wir durch Yildrim auch die
wahre Bedeutung des Kürzels NSA: Laut den Mitarbeitern der
Agentur hieß das no such agency, weil die Geheimhaltung um
diesen Dienst so abstruse Blüten trieb, daß jedermann im US-
Nachrichtengewerbe angehalten war, die Existenz der NSA zu
leugnen.
Zu den wichtigsten Unterlagen, die Hall alias »Blitz« uns
lieferte, gehörte das, was er uns über Amerikas »großes Ohr«
zur Kenntnis brachte, den riesigen, weltumspannenden Komplex
von Abhöranlagen, zu dem die Anlage auf dem Teufelsberg im
Grunewald und Horchposten unweit der Grenze zwischen BRD
und DDR gehörten und dem kein Räuspern entging, das in den
Äther drang. Dreizehnhundert hochspezialisierte Techniker
fingen allein in Berlin Radio- und Telefonbotschaften ab,
analysierten und klassifizierten sie und leiteten die
Informationen weiter, die sie aus ihnen herausfilterten. Früher
hatten wir uns aus unterschiedlichen Quellen umständlich ein
Mosaik an Informationen zusammensetzen müssen. So hatten
wir herausbekommen, daß vom Teufelsberg aus unsere
Telefonleitungen und Radiosendungen abgehört wurden, und
wir hatten – leider zu spät – in Erfahrung gebracht, daß es den
Technikern gelungen war, die Codes zu knacken, mit denen die
täglichen innen- und außenpolitischen Lageberichte chiffriert
waren, die das Zentralkomitee erhielt. Günter Mittag, der
Wirtschaftsminister, präsentierte auf diesem Weg den
Amerikanern jeden Tag das neueste Bulletin unserer
wirtschaftlichen Situation, ohne es zu ahnen. Später erfuhr ich,
daß die bundesdeutschen Dienste immer wieder vergebens
versucht haben, diese Informationen von den Amerikanern zu
erhalten, und daß die Amerikaner nicht damit herausrückten,
weil sie klug genug waren zu argwöhnen, daß mein Dienst dies

-407-
sehr bald in Erfahrung bringen würde.
Seit es »Blitz« gab, mußten wir uns nicht mehr abmühen;
geheime und geheimste Informationen flössen unaufhaltsam.
Beide, Hall und sein Mittelsmann, waren alles andere als billig,
aber die Informationen waren es wert. Umfang und Inhalt der
Dokumente überforderten unsere Auswerter bald, und deshalb
schlug ich vor, daß wir sie an den KGB weitergaben, da sie vor
allem von strategischer Bedeutung waren. Bevor wir das taten,
ließen wir sie vom Leiter der Funkaufklärung und -abwehr (HA
III) im MfS beurteilen. Er äußerte sich sehr begeistert und
eröffnete uns, daß laut diesen Unterlagen das elektronische
Kampfführungssystem der USA und ihrer Nato-Partner –
ELOKA – diesen exakte Kenntnisse über die entscheidenden
Kommandozentralen der Staaten des Warschauer Pakts und über
sämtliche Truppenbewegungen des Ostblocks von der DDR bis
weit in die Sowjetunion hinein ermöglichte.
»Blitz« verschaffte uns auch einen Bericht mit der
Bezeichnung Canopy Wing, der auflistete, welche
elektronischen Mittel vorgesehen waren, um im Ernstfall die
Kommandozentralen der UdSSR und der Warschauer-Pakt-
Staaten auszuschalten. Dieser Plan führte detailliert aus, wie die
Hochfrequenzsender des sowjetischen Oberkommandos, über
die die Befehle an die Streitkräfte geleitet wurden, unbrauchbar
gemacht werden konnten. Eine andere Lieferung unseres
Informanten umfaßte dreizehn Dokumente, Direktiven und
Arbeitsdokumente der NSA und des Intelligence and Security
Command (INSCOM), deren Inhalt die Pläne der USA auf dem
Gebiet der Funkaufklärung bis ins nächste Jahrzehnt detailliert
auflistete.
Auch nach der Versetzung Halls in die Zentrale der NSA in
den Vereinigten Staaten riß der Kontakt nicht ab. Er besorgte
uns weiterhin so brisantes Material, daß wir ihm rieten, etwas zu
bremsen, damit er sich nicht verdächtig machte. Seine
allzugroße Geschäftstüchtigkeit wurde ihm zum Verhängnis.

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Offenbar versuchte er, mit dem KGB in Verbindung zu treten,
um eine lukrative Zweitverwertung seines Wissens zu tätigen,
indem er es zusätzlich an die Sowjetunion verkaufte. Das ließ
ihn ins Blickfeld des FBI geraten, und von da an waren seine
Tage gezählt. Im Dezember 1988 wurde er zusammen mit
Yildrim bei einem Rendezvous mit einem FBI-Agenten, der sich
als KGB-Agent ausgab, verhaftet. Die amerikanische Abwehr
schätzte, daß die Unterlagen, die er uns beschafft hatte, meinem
Dienst dazu verholfen hatten, die elektronische Überwachung
Osteuropas durch die Amerikaner für mindestens sechs Jahre
hinfällig zu machen. Hall wurde zu vierzig Jahren Gefängnis
verurteilt.
Ebenfalls von hohem Wert waren die Informationen, die uns
Jeffrey Carney – Deckname Kid –, ein Sergeant der Air Force,
der als Linguist und Kommunikationsfachmann eingesetzt war,
über die amerikanische elektronische Spionage lieferte. Vom
Hauptquartier der NSA in Fort Meade in Maryland liefen
Direktverbindungen zur Europavertretung in Frankfurt am Main
und zum West-Berliner Teufelsberg. Carneys Material bewies
uns anschaulich, wie dieses Kommunikationssystem innerhalb
von Minuten nach Kriegsausbruch Dutzende sensibler Ziele im
Warschauer Pakt anzuzeigen vermochte. Wir konnten nicht
daran zweifeln, daß den georteten Hauptquartieren im Ernstfall
die unmittelbare Zerstörung drohte.
Manche Dinge kamen mir so phantastisch vor, daß ich sie mir
von Experten erklären lassen mußte, um sie glauben zu können.
So befaßte sich beispielsweise ein in West-Berlin stationiertes
Team mit dem sowjetischen Militärflugplatz Eberswalde etwa
fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich Berlins. Ein Dokument,
das Carney uns besorgt hatte, beschrieb, wie es den
Amerikanern gelungen war, in die Luft-Boden-Kommunikation
dieses Flugplatzes einzudringen. Inzwischen waren sie damit
beschäftigt herauszufinden, wie sie die Bodenleitzentrale
ausschalten und von West-Berlin aus simulieren konnten. Wenn

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ihnen das gelungen wäre, dann hätten die sowjetischen Piloten
ihre Befehle von einer amerikanischen Kommandostelle
erhalten. Es las sich wie Sciencefiction, aber angesichts des
enormen Einsatzes wissenschaftlicher und technischer Potenzen
erschien es weniger abwegig, als man meinen könnte.
Im April 1984 wurde Carney nach Texas versetzt, wo seine
Bedeutung für uns noch größer war. Ein Jahr später jedoch
ersuchte er um Asyl in unserem Land. Er schilderte den Fall
eines engen Freundes, der als Spion verdächtigt und eines Tages
mit einer Plastiktüte über dem Kopf erstickt in der Badewanne
aufgefunden worden sei. Ganz offensichtlich fürchtete er ein
ähnliches Schicksal. Ob seine Ängste einen realen Hintergrund
hatten oder ob er jener Paranoia erlegen war, denen Spione
infolge ihrer nervlichen Anspannung leicht zum Opfer fallen
können, änderte nichts an unserer Befürchtung, daß er in seinem
nervlich angegriffenen Zustand Gefahr lief, beim geringsten
Anlaß alles zu gestehen. Wir griffen auf eine Methode zurück,
die für Notfälle reserviert war, und besorgten Carney kubanische
Papiere, mit denen er nach Havanna flog; von dort ging es über
Moskau nach Ost-Berlin. Damit er sich nicht langweilte, setzten
wir ihn bei der Überwachung englischsprachiger Funksprüche in
der Hauptabteilung III ein. Als der Zusammenbruch unseres
Staates sich abzeichnete, wurden ihm Papiere angeboten, mit
denen er nach Südafrika auswandern konnte, doch das lehnte er
ab und tauchte lieber im Süden der DDR unter. Noch vor dem
endgültigen Aus für die DDR entführte ihn von dort der
amerikanische Geheimdienst – mit Hilfe westdeutscher Dienste,
wie ich vermuten darf. In den USA wurde er dann zu
achtunddreißig Jahren Gefängnis verurteilt.
Wie aber sah es mit den Versuchen der USA aus, meinen
Dienst zu infiltrieren oder zumindest Agenten in die DDR
einzuschleusen? Im Verlauf eine r intensiven Analyse der CIA-
Aktivitäten in der Bundesrepublik, die wir 1973 durchführten,
stellten wir fest, daß die CIA DDR-Bürger in der

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Bundesrepublik anzusprechen versuchte. Indem wir die Leute
etwas genauer unter die Lupe nahmen, die bei geselligen
Anlässen das Gespräch mit unseren Landsleuten suchten,
gelangten wir schnell zu einer Bestandsaufnahme der CIA-
Anwerber, und auf diesem Weg kamen wir dem CIA-Agenten
mit Codenamen Thielemann auf die Spur, der beauftragt war,
Kontakte zu ostdeutschen Diplomaten, Geschäftsleuten und
Akademikern herzustellen. »Thielemann« operierte von Bonn
aus. Nachdem wir ihm auf die Schliche gekommen waren,
versorgten wir ihn mit Selbstanbietern, die ihm gezielte
Desinformationen übermittelten. Wir waren tatsächlich in der
beneidenswerten Lage zu wissen, daß alle vermeintlichen CIA-
Spione in der DDR in Wirklichkeit inoffizielle Mitarbeiter des
MfS oder umgedrehte Doppelagenten waren. Nach der
Wiedervereinigung wurde mir das von CIA-Mitarbeitern
bestätigt.
Ich möchte dieses Kapitel nicht beschließen, ohne die
Geschichte eines Mannes zu erwähnen, den ich stets bewundert
habe und dem ich – ähnlich wie »Maler« und »Clivia« – viel
von meinem Wissen über die Vereinigten Staaten verdanke. Es
handelt sich um Klaus Fuchs, den berühmten Physiker, der oft
als größter Atomspion bezeichnet wurde, den Mann, der die
Entwicklung der Atombombe in Los Alamos begleitet und die
Sowjetunion auf allen Etappen über die dabei beschrittenen
Lösungswege informiert hat. Er war Zeuge der gewaltigen
Detona tion am 16. Juli 1945, als sich der Atompilz als
drohendes Vernichtungsmal über der Wüste von Arizona erhob.
Die bevorstehende Zündung der Bombe hatte Fuchs so
rechtzeitig nach Moskau signalisiert, daß Stalin keine
Überraschung zeigte, als Präsident Truman nach Erhalt des
Telegramms über die »Geburt des Babys« die Nachricht am
Verhandlungstisch der Siegermächte bekanntgab, die in
Potsdam konferierten.
Seit langem beschäftigte es mich, daß Fuchs als anerkannter

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Wissenschaftler und Mitglied des Zentralkomitees der SED in
Dresden lebte, seit er 1959 aus britischer Haft entlassen worden
war, sich aber rundheraus weigerte, Fragen zu seiner
nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu beantworten. Ich konnte
und wollte mich nicht damit abfinden, daß ein Mann mit einem
so außergewöhnlichen Leben sein Wissen mit ins Grab nehmen
sollte. Wenige Jahre bevor er starb, konnte ich ihn schließlich
dazu bewegen, sein Schweigen zu brechen – und auch das erst,
als Erich Honecker sich persönlich an ihn wandte und ihn bat,
sich mit mir zu unterhalten.

Klaus Fuchs 1950


In seiner Art zu reden, in seinem ganzen Auftreten entsprach
Klaus Fuchs nicht den landläufigen Vorstellungen von einem
erfolgreichen Spion. Die hohe Stirn, die aufmerksamen, nach
jeder Frage hinter der randlosen Brille nachdenklich blickenden
Augen vertieften den Eindruck des typischen Wissenschaftlers,
den er vom ersten Moment an machte. Diese Augen wurden
lebendig, wenn Fuchs auf die Grundlagen der theoretischen

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Physik, auf die Quantentheorie oder die mathematische
Berechnung von Schwankungen bei der Implosion in der
Plutoniumbombe zu sprechen kam. Er war Forscher mit Leib
und Seele.

Mit Klaus und Margarete Fuchs 1983


Fuchs war aus dem Stoff, aus dem Männer wie Richard
Sorge, Harro Schulze-Boysen, Kim Philby und viele andere
waren, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in den Dienst der
Sowjetunion gestellt hatten, weil sie darin eine Möglichkeit
sahen, das Dritte Reich zu bekämpfen und den Zweiten
Weltkrieg entscheiden zu helfen. In unserem Sprachgebrauch
wurden solche Menschen, die aus Idealismus und tiefer
politischer Überzeugung für den Nachrichtendienst tätig
geworden waren, nicht Spione, sondern Kundschafter genannt.
Fuchs war für mich ein Kundschafter, auch wenn er keinerlei
nachrichtendienstliche Ausbildung, kaum Erfahrung und gewiß
nicht die notwendige Härte für diese schwierige Tätigkeit
mitgebracht hatte.

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Als Student hatte Fuchs sich der kommunistischen Bewegung
angeschlossen und war nach 1933 auf Beschluß der Partei ins
Ausland gegangen. In Edinburgh promovierte er bei Max Born,
seinem verehrten Lehrer, doch bei Kriegsausbruch trennten sich
ihre Wege. Born lehnte als überzeugter Pazifist entschieden die
Mitarbeit an dem »kriegswichtigen« Geheimprojekt der
Atombombe ab, die er hellsichtig für eine »teuflische
Erfindung« hielt.
In Birmingham stellte Fuchs seine wissenschaftliche
Begabung bei der Berechnung der Energieausschüttung der
Bombe und bei der Lösung von Problemen bei der
Isotopentrennung zur Reingewinnung von Uran 235 unter
Beweis. 1941 fand er durch seinen Freund, den
Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski, Verbindung zum
sowjetischen militärischen Nachrichtendienst GRU. Als
britischer Staatsbürger wurde er in die Delegation
aufgenommen, die von 1943 bis 1946 in den USA am geheimen
Manhattan-Projekt unter der Leitung Robert Oppenheimers
beteiligt war. Schon damals wurden auch in den USA Stimmen
laut, die von einer kollektiven Gewissenlosigkeit sprachen.
Während die Väter der Bombe von der Öffentlichkeit als Helden
gefeiert wurden, erkannte Fuchs, daß diese Waffe schon vor
dem Abwurf über Japan zu einem Faustpfand in der Hand
militanter Antikommunisten geworden war, die in der
Sowjetunion nur mehr den potentiellen Gegner und nicht mehr
den Alliierten sahen. Damit bekamen die Informationen des
Wissenschaft lers ein neues Gewicht, denn nun war der atomare
Ausgleich das einzige, was die Zukunft der Welt vor
leichtsinnigen Hasardeuren schützen konnte.
»Ich habe mich nie als Spion gesehen«, sagte Fuchs zu mir.
»Ich konnte nur nicht verstehen, warum der Westen nicht bereit
war, die Atombombe mit Moskau zu teilen. Ich war der Ansicht,
daß etwas mit einem so ungeheuren Vernichtungspotential den
Großmächten in gleichem Maße zugänglich sein mußte. Die

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Vorstellung, daß eine Seite in der Lage sein sollte, die andere
mit einer solchen Waffe zu bedrohen, fand ich einfach
entsetzlich. Das wäre so gewesen, als würde ein Riese auf
Liliputanern herumtrampeln. Ich hatte nie das Gefühl, mir etwas
zuschulden kommen zu lassen, als ich Moskau mein
Geheimwissen zur Verfügung stellte. Es wäre mir wie ein
sträfliches Versäumnis erschienen, das nicht zu tun.«
Über seinen persönlichen Beitrag zur Entwicklung der
russischen Atombombe äußerte Fuchs sich sehr zurückhaltend.
Moskau hatte ihm den Wert seiner Informationen nie bestätigt,
sondern jahrzehntelang so getan, als hätte der sowjetische
Nachrichtendienst neben Fuchs noch andere Atomspione gehabt.
Erst nach dem Tod Fuchs' wurde in der UdSSR publik, daß Igor
Kurtschatow, der Vater der sowjetischen Bombe, dank Fuchs
auf langwierige Versuc he verzichten und sich auf das
konzentrieren konnte, was in Los Alamos bereits erfolgreich
probiert worden war. Vierzig Jahre nach der Explosion der
ersten russischen Atombombe über der kasachischen Steppe am
29. August 1949 räumten sowjetische Wissenschaftler erstmals
ein, daß ohne die Informationen von Klaus Fuchs das US-
Kernwaffenmonopol niemals so früh durch die Sowjetunion
hätte gebrochen werden können.
Fast unglaublich war die einfache Art, wie Fuchs seine
Informationen weitergab. Er traf sich mit seinen
Kontaktpartnern nach Vereinbarung, so wie er das aus seiner
illegalen Arbeit als Student in Deutschland kannte. Die meisten
seiner Verbindungsleute waren ihm persönlich nicht bekannt. Er
erinnerte sich, daß die russischen Profis sich am auffälligsten
benahmen – einer von ihnen schaute sich ständig nach
Verfolgern um. Solange er in England arbeitete, war ihm Jürgen
Kuczynskis Schwester, Ruth Werner, von allen
Kontaktpersonen die sympathischste. In der Regel fuhren Fuchs
und Ruth Werner mit dem Fahrrad in den Wald, und dort
übergab der Physiker der Informantin schriftlich von Hand zu

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Hand. Dabei handelte es sich um Kopien seiner eigenen
Arbeiten oder um mit seinem nahezu fotografischen Gedächtnis
gespeicherte und danach niedergeschriebene Erkenntnisse über
das gesamte Projekt. Ruth Werner erzählte mir später, daß sie
aus Neugier zwar einen Blick auf die Formeln geworfen hatte,
als Laie jedoch den Hieroglyphen in Fuchs' unendlich kleiner
Schrift nicht das Geringste entnehmen konnte.
Nach der Rückkehr aus den USA arbeitete Fuchs am
britischen Atomforschungsinstitut in Harwell als Leiter auf dem
Gebiet der theoretischen Physik, bis er 1950 verhaftet wurde.
Die fatale Kette von Verhaftungen, hinter denen das Odium des
Verrats stand, zog sich vom Seitenwechsel eines Chiffreurs an
der kanadischen Residentur des GRU im Herbst 1945 über die
Verhaftung des britischen Atomwissenschaftlers Allan Nunn-
May im Jahr darauf bis zur Festnahme von Ethel und Julius
Rosenberg im Sommer 1949 und ihre Hinrichtung auf dem
elektrischen Stuhl am 20. Juli 1953, nachdem Präsident
Eisenhower zweimal abgelehnt hatte, sie zu begnadigen.
Zwischen diesen Daten lagen die Verhaftung von Klaus Fuchs
Anfang 1950 und im Frühjahr 1950 die von Harry Gold, der in
konspirativer Verbindung zu ihm und zu Ethel Rosenbergs
Bruder David Greenglass gestanden hatte; David Greenglass
war in Los Alamos beschäftigt gewesen.
Die britischen Sicherheitsbeamten hatten Fuchs bei ihren
Befragungen nicht aufs Glatteis führen können, und man wollte
bereits jeden Verdacht gegen ihn als ausgeräumt abtun, als der
stellvertretende Direktor des Instituts in Harwell, mit dem er
privat befreundet war, ihn unter vier Augen fragte, ob an den
Verdächtigungen etwas Wahres sei oder nicht. Wenn nicht, dann
könne Fuchs sich darauf verlassen, daß alle Kollegen wie ein
Mann zu ihm stehen würden. Einen Freund anzulügen, das
brachte Fuchs nicht über sich, und sein Zögern und die
Unfähigkeit, eine Antwort zu geben, verrieten ihn.
Ich nehme an, daß das ein besonders raffinierter Schachzug

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der britischen Sicherheitsbeamten war, die gemerkt hatten, daß
sie mit konventionellen Mitteln bei Fuchs nichts ausrichten
konnten. Mit seinem Ehrenkodex in Freundschaften handelte er
sich vierzehn Jahre Haft ein, aus der er nach neun Jahren
entlassen wurde. Daß die Sowjets ihm kein Wort der
Anerkennung zuteil werden ließen, kann ich mir nur damit
erklären, daß sie ihn anfangs verdächtigten, nicht dichtgehalten
oder die Kette des Verrats in Gang gesetzt zu haben. Als sie es
besser wußten, war es ihnen einfach zu peinlich, dieses
Fehlurteil einzugestehen und sich bei Fuchs zu entschuldigen.
Klaus Fuchs, »Maler« und »Clivia« sind nicht mehr unter den
Lebenden. Inzwischen habe ich die Beziehung zu meinen
amerikanischen Freunden aus Kindheits- und Jugendtagen
wieder aufgenommen und habe viele neue Freunde
dazugewonnen, die mich eingeladen haben und mir ihre Heimat
zeigen wollen. Mehr als dreißig Jahre sind seit meiner
unfreiwilligen Stippvisite in New York vergangen, meinem
bisher einzigen Besuch in diesem fernen Land, das ich nur aus
Erzählungen, Filmen und Büchern kenne. Ich wünsche mir,
meine Freunde und Bekannten zu besuchen, und ich hoffe, daß
dieser Wunsch kein Wunschtraum bleibt.

-417-
17 Der Ausstieg

Seit 1981 wurde der Gedanke, den Dienst zu quittieren,


stärker in mir. Beruflich hatte ich alles erreicht, was ich mir
wünschen konnte; unser Nachrichtendienst war innerhalb von
dreißig Jahren zu einem der weltweit effizienten und
erfolgreichen Dienste geworden. Ich wußte, daß man mit dem
Gedanken spielte, mich ins Ze ntralkomitee zu berufen, aber das
war es nicht, was mir vorschwebte, auch wenn Mielke es
glaubte und tat, was in seiner Macht stand, um dies zu
verhindern. Meine Zukunftspläne waren anderer Art.
Je weniger ich mein Unbehagen an der Politik unserer
Führung, an den Gebrechen der Gesellschaft vor mir selbst
verhehlen konnte, um so mehr hatte ich den Eindruck, daß ich
mir über den eigenen Standpunkt nur Klarheit verschaffen
konnte, indem ich schreibend darüber nachdachte. Wenn ich
auch noch nicht mit letzter Konsequenz erkannte, daß die
Krankheitssymptome in der Sowjetunion und in der DDR die
gleichen waren und daß das gesamte System des »real
existierenden Sozialismus« wenig Überlebenschancen hatte,
weil es eben das gerade nicht war, ließen meine Zweifel sich
doch nicht länger unterdrücken. Ich mußte sie artikulieren.
Vielen DDR-Bürgern, die in nicht geringer Zahl in wichtigen
Positionen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ihr
Bestes gaben, schien die Überwindung der Abwirtschaftung
unserer Gesellschaft noch immer möglich, Eingeweihten jedoch
war die politische und ökonomische Krise des Systems bewußt.
Die geradezu hysterische Empfindlichkeit gegenüber jeglicher
Kritik, die unwürdige Überwachung und Gängelung
systemkritischer Schriftsteller und Wissenschaftler wie Robert
Havemann, die Ausbürgerung unbequemer Bürger wie Wolf
Biermann, in der unsere innenpolitische Führung inzwischen
eine Ultima ratio zu sehen schien – das waren deutliche

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Anzeichen nicht nur der Hilflosigkeit, sondern der sich
abzeichne nden Zukunftslosigkeit.
Außenpolitisch war diese Zeit von einer Stagnation der
deutschdeutschen Beziehungen gekennzeichnet, die keine zehn
Jahre zuvor so hoffnungsvoll begonnen hatten. Zugleich wurde
sie von immer häufigeren und heftigeren
Meinungsverschiedenheiten mit der Sowjetunion überschattet,
die in herben Worten die deutschdeutsche Annäherung ebenso
wie Honeckers eigenen Kurs in der China-Politik kritisierte und
bedingungslose Solidarität in dem von ihr für notwendig
gehaltenen Konfrontationskurs gegenüber den USA forderte. Im
Mai 1982 mußte ich mir in Moskau von Andropow am Tag
seiner Ernennung zum Sekretär des Zentralkomitees der
KPdSU, anläßlich einer Beratung des Chefs aller
Nachrichtendienste der sozialistischen Länder, eine
Gardinenpredigt zu diesen Themen anhören.

Mit Konrad Wolf 1981

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Im nachhinein habe ich mich oft gefragt, ob Honecker mit
seinen Alleingängen in der deutschdeutschen Politik und auch
mit den nach Peking ausgestreckten Fühlern nicht größere
Weitsicht gezeigt hat und vielleicht klüger war als wir anderen,
die wir vor allem einen möglichen Konflikt mit der Sowjetunion
zu vermeiden trachteten. Nein, seine Führungsschwächen sind
nicht zu beschönigen: Seine eigenwillige Haltung in den letzten
Jahren an der Spitze der DDR entsprang dogmatischem Denken
und Subjektivismus, Selbstüberschätzung und Loslösung von
jeglicher Realität. Das Beharren auf liebgewordenen politischen
Vorstellungen hat zweifellos nicht wenig zum beschleunigten
Untergang der DDR beigetragen. Honeckers persönliche
Schwächen waren ein getreuer Spiegel der Schwächen des
Systems.
In dieser Zeit diskutierte ich viel mit meinem Bruder Koni,
der seit Mitte der 70er Jahre mit seinem Troika-Filmprojekt
beschäftigt war, einem Projekt, das ihm sehr am Herzen lag,
weil es autobio graphische Wurzeln hatte. Es war die Geschichte
unserer Kinder- und Jugendfreundschaft mit George und Victor
Fischer und Lothar Wloch im Moskau der 30er Jahre, die
Beschreibung der unterschiedlichen Wege, die die Freunde im
Leben einschlugen, während sie über Grenzen und Jahrzehnte
hinweg ihre Freundschaft lebendig erhielten, bis hin zu ihrem
gemeinsamen Wiedersehen vierzig Jahre später in den
Vereinigten Staaten. Bei diesen Gesprächen über das Troika-
Projekt ahnten wir nicht, daß Koni bereits an seiner
Krebserkrankung litt, die ihm keine Zeit mehr lassen sollte, den
Film noch zu drehen. Unsere letzten Gespräche fanden im März
1982 an seinem Sterbebett im Krankenhaus statt. Seine letzten
Gedanken waren von den Moskauer Kindheitseindrücken erfüllt.
Von da an war mir, als hätte mir mein Bruder sein Troika-
Projekt als Vermächtnis hinterlassen.
Unter dem Eindruck all dieser Veränderungen – innerer wie
äußerer, gewollter wie schmerzlicher – nutzte ich eine Flugreise

-420-
nach Moskau mit Minister Mielke Anfang 1983, um die mir
schon länger am Herzen liegende Frage meines vorzeitigen
Ausscheidens aus dem Dienst anzusprechen. Flugreisen zählten
zu den wenigen Gelegenheiten, wo man sich seiner
Aufmerksamkeit ungeteilt versichern konnte. Mielke war
diesem Thema immer wieder ausgewichen, wenn ich es zur
Sprache zu bringen versucht hatte, doch hier konnte er mir nicht
entwischen. Er war fünfundsiebzig geworden, ich sechzig, und
die Zahl Sechzig war für mich der Rubikon, an dem ich die seit
langem gereifte Entscheidung in die Ta t umgesetzt sehen wollte.
Mielke war bereit, mich in die Pensionierung zu entlassen, aber
den Zeitpunkt wollte er selbst bestimmen; außerdem mußte ich
äußerste Diskretion versprechen – nach außen durfte nicht die
geringste Andeutung dringen.
Er ließ sich von mir Vorschläge zur Übergabe der Geschäfte
machen, und wenige Wochen darauf bestätigte er einen Plan, in
dem ich eine kontinuierliche Übergabe der Leitung an meinen
Nachfolger Werner Großmann skizziert hatte. Damit schien
meinem Ausscheiden nichts weiter im Wege zu stehen.
Anfang Juli 1984 erzählte mir unser Außenminister, wie
frustrierend der Moskau-Besuch Honeckers im Juni verlaufen
war. Konstantin Tschernjenko, Andropows Nachfolger, hatte
Honecker massive Vorhaltungen gemacht, die Bundesrepublik
als Hauptverbündeten der »Abenteuerpolitik« der USA in
Europa bezeichnet und Honecker beschuldigt, Kontakte der
BRD in die DDR hinein zuzulassen, die den Sozialismus
untergrüben und einer nationalistischen Stimmung Vorschub
leisteten; dies gefährde die Existenz der DDR ganz
außerordentlich. Diese Indolenz, sagte er, sei der UdSSR
unverständlich, und er betonte, daß die Sicherheit der
Sowjetunion und der ganzen sozialistischen
Staatengemeinschaft in engem Zusammenhang mit der
Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen
Staaten stehe. Das war mehr als deutlich. Bei solchen Worten

-421-
wäre jeder DDR-Funktionär früher merklich zusammengezuckt,
doch diesmal verfehlte die Drohung ihre Wirkung. Tschernjenko
ließ durchblicken, daß Honeckers geplanter BRD-Besuch der
UdSSR nicht opportun erscheine, und bezeichnete die Haltung
der DDR zu China als überaus gefährlich. Frostig nahm man
Abschied voneinander, und Honecker machte aus seiner
Verärgerung kein Hehl.
Etwa um die gleiche Zeit erhielt ich von unserer Spitzenquelle
im Brüsseler Nato-Hauptquartier eine Kopie der Ost-West-
Studie der Nato übermittelt. Ich hatte sie vor den
Außenministern der Mitgliedstaaten der Nato in Händen. Wegen
verschiedener Pannen, die in den letzten Jahren aufgetreten
waren, blieb die Identität dieser Quelle nur den wenigen
Mitarbeitern meines Dienstes bekannt, die von Anfang an mit
ihr zu tun gehabt hatten. Die Verbindung verlief fast nur noch
unpersönlich, Treffen fanden nur in großen Zeitabständen und
unter gewissenhaftesten Sicherheitsvorkehrungen statt.
Die Nato-Studie behandelte ausführlich die innere Lage der
Sowjetunion, ihre wirtschaftlichen Probleme und die
zunehmenden Belastungen durch die Intervention in
Afghanistan, ihre Differenzen mit China und die immer
sichtbarere Instabilität und Erosion des Warschauer Pakts.
Ausdrücklich wies die Studie auf die Bemühungen der DDR-
Führung hin, die internen Probleme der DDR durch größere
Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion zu lösen. Sie
beschrieb die zentrifugalen Tendenzen innerhalb des
Warschauer Pakts zutreffend und deutlicher, als wir selbst es
hätten darstellen können. Vieles in diesem Dokument entsprach
meinen eigenen Gedanken und Erkenntnissen der letzten
Monate, und ich sah in diesem Papier eine Möglichkeit, unserer
politischen Führung das Fatale unserer Lage vor Augen zu
führen.
Gab es wirklich eine Chance, mit den spezifischen Mitteln der
HVA, mit unter Gefahren und hohem Risiko beschafften

-422-
Informationen und Dokumenten, die nur an höchster Stelle
zugänglich waren, bei unseren politisch Verantwortlichen etwas
in Richtung Vernunft zu bewirken? Vieles sprach gegen eine
solche Vorstellung. Dennoch mußte ich es zumindest versuchen.
Ich baute auf Mielkes Neigung, mit spektakulären
Ergebnissen die Erfolge des Ministeriums zu demonstrieren. Der
besondere Charakter des Dokuments ließ es mir geraten
scheinen, die gewöhnlich nach der Politbürositzung
stattfindende Aussprache zwischen Mielke und dem
Generalsekretär zu nutzen, um es vorzulegen, vielleicht sogar
gleich meine Interpretation und Argumente beizusteuern. Ich
konnte sicher sein, daß das Dokument sofort an den
Vorsitzenden des KGB und von diesem an den Generalsekretär
der KPdSU weitergeleitet werden würde.
Der geeignete Zeitpunkt, um das Dossier zu überreichen, kam,
als Mielke mich in »einer wichtigen Angelegenheit« zu sich
beorderte. Die Telefone und Tasten für Direktverbindungen am
Pult links von seinem Schreibtisch, seiner Kommadozentrale,
waren noch mehr geworden. Rechts vor ihm auf dem
Schreibtisch stand das Sondertelefon, über das er mit Honecker
und anderen Mitgliedern des Politbüros sprach; auf diesem
Apparat erwartete er gerade einen Anruf aus Moskau, und
deshalb hatte er mich kommen lassen.
Trotz der Unmutsbekundungen Tschernjenkos war die
deutschdeutsche Annäherung weitergelaufen, als sei nichts
geschehen. Der inzwischen zur grauen Eminenz aufgestiegene
Schalck-Golodkowski und Bundeskanzler Helmut Kohls
Emissär Philipp Jenninger waren schon fast unzertrennlich. Die
Dreierrunde Honecker-Mielke-Mittag plante Honeckers BRD-
Besuch und Gegenleistungen für einen weiteren
Milliardenkredit – alles, ohne das ZK der KPdSU ins Vertrauen
zu ziehen. Die Sowjetunion erfuhr davon, weil die
Bundesrepublik die Verhandlungen publik machte. Daraufhin
steuerte der schwelende Dissens zwischen DDR und UdSSR

-423-
einem offenen Schlagabtausch entgegen.
Mielke erklärte mir nun, daß er es für das beste gehalten habe,
Viktor Tschebrikow, den KGB-Vorsitzenden, im Auftrag
Honeckers anzurufen und um Vermittlung zu bitten. Mich habe
er hergebeten, damit ich Honeckers Text an Tschebrikow
durchgäbe. Als das Telefon klingelte, gab Mielke mir den Hörer.
Tschebrikows Stimme war mir vertraut aus der Zeit, als er
Andropows Stellvertreter gewesen war. Honeckers Mitteilung
verlangte von der Sowjetunion, daß sie ihre öffentliche Polemik
einstelle, und beharrte auf der Notwendigkeit eines Dialogs mit
der BRD. Darauf erwiderte Tschebrikow, er vermisse eine
Antwort auf die sowjetische Frage nach Honeckers geplantem
BRD-Besuch. Sollte inzwischen eine Entscheidung gefallen
sein, seien für einen Meinungsaustausch die Parteikanäle
zuständig und nicht Staatssicherheit und KGB.
Während die Sekretärin meine Gesprächsnotiz tippte,
versuchte ich, Mielke die Ost-West-Studie mit einem
entsprechenden Kommentar zur Kenntnis zu bringen, doch er
war schon wieder nervös und im Geist mit anderen Dingen
beschäftigt. Zumindest nahm er die Studie entgegen. Wenige
Tage darauf führte ich ein weiteres Telefonat für Mielke, in dem
die sowjetische Seite ihren Standpunkt bekräftigte. Er
verpflichtete mich zu absolutem Stillschweigen und fuhr in die
Schorfheide, Honeckers Jagdgefilde, um dort zusammen mit
Mittag auf den Generalsekretär einzuwirken.
Tatsächlich gelang es ihnen offenbar, Honecker das
Zugeständnis abzuringen, daß er seinen BRD-Besuch mit dem
sowjetischen Partner abstimmte, bevor er ihn antrat. Am 17.
August traf Honecker sich zu diesem Zweck mit Tschernjenko,
doch wenn ich angenommen hatte, sie würden einen
Kompromiß finden, dann hatte ich mich getäuscht. Die
sowjetische Ablehnung der Reisepläne unseres Generalsekretärs
war eindeutig und unmißverständlich, und die Mitglieder der
sowjetischen Delegation äußerten sich durchgehend auf wenig

-424-
freundliche Weise. Willi Stoph sagte später, er sei selten so
enttäuscht gewesen wie angesichts dieses massiven Mißtrauens
gegenüber der DDR und ihm persönlich.
Honecker steckte nun in der Zwickmühle: Er wollte an seinem
Besuch festhalten, wußte aber nicht, wie er es anstellen sollte. Er
zog Mielke zu Rat, der ihm entschieden abriet, die
Konfrontation mit der Sowjetunion noch mehr zu verschärfen.
Zu guter Letzt lenkte Honecker ein und legte seine Reisepläne
auf Eis.
Jetzt galt es nur, alles so zu arrangieren, daß das Verschieben
des BRD-Besuchs nicht so aussah, als sei der Rückzieher
Honeckers auf Weisung Moskaus geschehen. Deshalb erging an
den Leiter der Bonner DDR-Vertretung die Weisung, umgehend
die Verhandlungen mit Jenninger so wenig kooperativ wie
möglich zu gestalten und das Kommunique zum Besuch so
abzufassen, daß es für die Bundesrepublik unannehmbar sein
mußte. Aber nun schaltete Helmut Kohl sich persönlich ein und
war mit allen Bedingungen einverstanden; ganz offenkundig lag
ihm an der Reise nicht weniger als dem DDR-Staatsoberhaupt.
Er wird nicht schlecht gestaunt haben, als der Leiter unserer
Bonner Vertretung weisungsgemäß vor der Presse erklärte, der
angekündigte Besuchstermin scheine nicht mehr realistisch.
Honecker hatte sich – wenn auch widerstrebend den Wünschen
der Sowjetunion gebeugt. Aber aufgeschoben war nicht
aufgehoben.
Auf dem Rückflug von einem Staatsbesuch in Algier Ende
1984 bekamen Honeckers Mitreisende zu hören, wie wenig er
den Verzicht auf den Besuch in der Bundesrepublik verwunden
hatte. Er beklagte, daß es ihm wohl nicht mehr vergönnt sein
werde, seine saarländische Heimat noch einmal wiederzusehen,
und beschwerte sich über die Sowjetunion, von der er sich
persönlich gekränkt und im Stich gelassen fühlte. Sein Fazit
war, daß die DDR sich auf die eigene Kraft verlassen müsse.
Mir scheint das einen Wendepunkt im Denken und Handeln
-425-
Honeckers zu kennzeichnen. Die sentimentale Enttäuschung,
daß er, der Dachdecker aus Wibbelskirchen, nun doch nicht als
anerkanntes Staatsoberhaupt den anderen deutschen Staat
besuchen würde, war eine Sache; eine ganz andere war die
Vorstellung des Politikers, in der DDR einen anderen Kurs als
den Moskaus zu steuern und die wirtschaftlichen Probleme aus
eigener Kraft, aber auch mit Finanzspritzen aus dem Westen zu
lösen.
Es wäre ungerecht, Honecker nachträglich zum
Provinzpolitiker zu degradieren und verletzte Eitelkeit zur
einzigen Triebkraft seines Handelns zu erklären. Dem
Sozialismus, wie er ihn sich vorstellte, blieb er immer treu.
Keinen Augenblick dachte er daran, sich dem Westen in die
Arme zu werfen oder die DDR der Bundesrepublik auszuliefern.
Sein unlösbares Dilemma war, daß die Interessen der
verbündeten Großmacht mit den dringend notwendigen
Stabilisierungsmaßnahmen im eigenen Land nicht zur Deckung
zu bringen waren. Das wahre Ausmaß der wirtschaftlichen
Misere wurde zwar vor ihm geheimgehalten, aber trotz
Potemkinscher Dörfer erkannte er sehr wohl, daß das
Sozialprogramm, in das er so große Hoffnungen gesetzt hatte
und an dem er beinahe sklavisch festhielt, die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit des Landes bis an die Grenze strapazierte.
Die Einigkeit und Geschlossenheit, die Honecker und Andrej
Gromyko bei den Feiern zum 35. Jahrestag der DDR
demonstrierten, kaschierte nur notdürftig die verhärteten
Fronten. Ihren unnachgiebigen Kurs sah die Sowjetunion
bestätigt, als Präsident Reagan trotz aller Proteste in Europa die
Pershing-Raketen stationierte und mit der Verkündung des SDI-
Programms seine Entschlossenheit zeigte, den
Rüstungswettkampf unerbittlich zu führen.
Kurz nach dem 35. Jahrestag der DDR lernte ich Hans
Modrow näher kennen. Er beurteilte die Probleme ähnlich wie
ich und sah die düstere Zukunftsperspektive am Horizont. Da er

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seine Meinung ehrlich vertrat, kam er schon lange nicht mehr
für eine Funktion im Politbüro der SED in Frage. Das
Unterlassen von Liebedienerei allein ersetzt aber noch nicht
klare Analysen und radikale Reformvorschläge. Es bedeutet nur,
daß man die Lage erkennt, nicht aber, daß man zumindest den
Versuch macht, sie zu ändern. Leute wie Hans Modrow und ich
warteten weitgehend passiv auf einen »Erlöser«, der uns dazu
bringen sollte, das System zu ändern, in das wir eingebunden
waren. Wir begriffen nicht, daß der Anstoß von uns selbst hätte
kommen müssen.
Äußerungen und Weisungen Mielkes widersprachen sich
inzwischen von einem Tag zum anderen. Eben noch sollte die
Staatssicherheit dafür sorgen, daß Ausreisewillige ihre Anträge
zurücknahmen, damit im nächsten Augenblick fünfundzwanzig-
bis dreißigtausend Ausreisewillige im Paket als Gegenleistung
für den Milliardenkredit kurzfristig sollten ausreisen können.
Kaum war gegen Flüchtlinge, die in der amerikanischen
Botschaft oder der Vertretung der Bundesrepublik Zuflucht
gesucht hatten, strenges Vorgehen angekündigt, wurden sie
postwendend mit Kind und Kegel in den Westen abgeschoben.
Mehr denn je war mir klar, daß ich genug hatte.
Die Trennung vom Gewohnten wäre mir weniger
schwergefallen, wenn da nicht die Menschen gewesen wären,
mit denen mich so viel verband. Das Professionelle war in guten
Händen: Werner Großmann war ein Nachfolger, dem ich den
Dienst beruhigt anvertrauen konnte. Der Acker, den ich
hinterlassen würde, war gut bestellt. Aber mit vielen der
Menschen, die für meinen Dienst arbeiteten, verbanden mich
Jahre, oft Jahrzehnte gemeinsamer Arbeit, gemeinsamer
Erlebnisse in einer nicht gerade alltäglichen Tätigkeit. Was
würden sie, die sie weiter ihre Freiheit aufs Spiel setzten, zu
meinem plötzlichen Ausscheiden sagen?
Doch meine Entscheidung stand fest. Im Schreiben über die
eigenen Erfahrungen sah ich immer zwingender meine

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Lebensaufgabe. Das allerdings setzte meinen Abschied voraus.
Zum Jahreswechsel 1985 notierte ich in meinem Tagebuch:
»Will ich das in mir Gärende bewältigen, muß dieser Schritt
bald getan werden.« In diesem Jahr stand der sechzigste
Geburtstag meines verstorbenen Bruders bevor. Sein Troika-
Projekt war mir zum Vermächtnis geworden, das nicht in der
Schublade verschwinden durfte. An einem Dokumentarfilm über
sein Leben mit dem Titel Die Zeit, die bleibt hatte ich
zwischenzeitlich mitgewirkt.
Die auslaufende Phase meiner Arbeit im Nachrichtendienst
dauerte knapp zwei Jahre. Mielke zögerte trotz seines generellen
Einverständnisses die einzelnen Schritte, die zu tun waren,
damit ich ausscheiden konnte, immer wieder hinaus. Er glaubte
offenbar, wieder einmal besonders geschickt taktieren zu
müssen, um bei den sowjetischen Freunden und in der eigenen
Führung ja nicht in ein schiefes Licht zu geraten. Altersgründe
anzugeben, das war angesichts seines eigenen und des
Lebensalters der meisten Politbüromitglieder kaum ratsam. Die
laufenden Geschäfte hatte ich zum Großteil bereits Werner
Großmann übergeben. Er trug nun die Last der Arbeit, während
ich am Schreibtisch saß und den Chef mehr oder weniger mimte.
Dieser Zustand war der Kontinuität der Arbeit nicht zuträglich.
Um diese Situation zu beenden, drängte ich auf eine klare
Entscheidung, die besonders in Hinsicht auf den im Frühjahr
1986 bevorstehenden XI. Parteitag der SED getroffen werden
mußte. Ahnungslose Mitarbeiter des Zentralkomitees hatten
bereits bei Mielke angefragt, ob mit meiner Kandidatur bei der
Neuwahl der Mitglieder gerechnet werden könne. Mielke mußte
ihnen umgehend reinen Wein einschenken und ihnen die
Begründung nennen, auf die er und ich uns geeinigt hatten: daß
ich mich nach dem Ausscheiden aus dem Dienst, das bereits
beantragt war, voll und ganz der Pflege des Erbes meiner
Familie widmen wolle.
Im Frühjahr 1985 war Michail Gorbatschow zum

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Generalsekretär der KPdSU gewählt worden. Der Perestroika-
Kurs, den er schnell einschlug, weckte in unserem Land große
Erwartungen auf eine mögliche Genesung des gesamten
sozialistischen Systems und der an der Selbstgefälligkeit ihrer
Führung krankenden und zerrissenen Gesellschaft der DDR. Ich
war mir sicher, daß Glasnost, also Offenheit, auch an unserem
Land nicht vorbeigehen würde.
Plötzlich begannen deutsche Freunde und die über meine
Absichten informierten KGB-Vertreter in Berlin, an mein
Gewissen zu appellieren, die Flinte nicht ausgerechnet jetzt ins
Korn zu werfen. Angesichts der wachsenden Differenzen
zwischen den Führungen unserer Länder komme es, so meinten
sie, auf jeden einzelnen an, mit dem man vernünftig reden
könne. Die Moskauer Freunde erwarteten sich von mir Hinweise
zur Lage innerhalb unserer Führung und eine Einflußnahme in
ihrem Sinn.
Zwischen den Führungen ging der alte Hickhack um die
DDR-BRD-Beziehungen und Honeckers Reisewünsche weiter,
bis nach Gorbatschows Auftreten auf dem XI. Parteitag der SED
im April 1986. Aber die DDR hatte inzwischen gravierendere
Probleme. Die Lage im Land spitzte sich zusehends zu, und ein
gefährliches Konfliktpotential braute sich zusammen. Die
Flüchtlinge, die an den Toren der amerikanischen Botschaft und
bundesdeutschen Vertretung in Ost-Berlin und Prag Einlaß
begehrten, waren Vorboten einer Lawine, die in Bewegung
geraten war.
In einer solchen Situation sah ich kaum noch eine Chance,
durch die Informationen der HVA auf die wahren Probleme des
Landes einzuwirken, auch wenn Moskau daran noch immer
glaubte. Von Gorbatschow wurde mir bei seinem Besuch eine
hohe Anerkennung ausgesprochen, doch gerade dieser Besuch
führte mir meine Ohnmacht drastisch vor Augen.
Honeckers BRD-Besuch war für Ende Mai mit dem
Bundeskanzleramt fest vereinbart worden – wieder ohne Wissen
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der Sowjets und diesmal auch des Politbüros und der
zuständigen politischen DDR-Gremien. Nur Außenminister
Fischer war eingeweiht worden. Alle Kontakte wurden über
Schalck und Mittag abgewickelt. Es war also kaum
verwunderlich, daß die sowjetischen Vertreter in Berlin und
Mitreisende in Gorbatschows Delegation sich an mich hefteten,
um an Informationen zu gelangen.
Wie so viele versprach auch ich mir von Gorbatschows
Anwesenheit auf dem XI. Parteitag im April nicht nur die
Beilegung des Streits um Honeckers BRD-Besuch, sondern vor
allem frischen Wind in Partei und Staat. Äußerlich begann der
Parteitag wie gewohnt: Die schönfärberischen Reden und der
Personenkult um Honecker waren noch unerträglicher als sonst.
Davon hob sich das Auftreten Gorbatschows und seiner
Begleiter wohltuend ab. Er erntete sogleich Sympathie, die
sowohl seiner Politik der Offenheit und Ehrlichkeit als auch
seiner persönlichen Ausstrahlung galt. Seine außenpolitischen
Bemerkungen klangen selbstbewußt und von umsichtiger
Klugheit geprägt. Die Delegierten des Parteitags, darunter auch
ich, waren gern bereit, jeden Impuls aufzunehmen, der eine
Wende im eigenen Land zu ermöglichen schien. Zur
Entwicklung in der DDR schwieg Gorbatschow, wie nicht
anders zu erwarten. Das Gespräch unter vier Augen schob
Honecker hinaus. Es kam erst am dritten Tag zustande und
dauerte drei Stunden. Beide Seiten brachten ihre altbekannten
Standpunkte vor.
Erst später erfuhr ich, daß Gorbatschow und seine engeren
Berater schon damals begonnen hatten, der Deutschlandpolitik
eine ganz neue Priorität beizumessen, und daß einige Berater
bereits die Möglichkeit einer deutschen Einheit ins Auge faßten.
Nach Gesprächen mit Egon Krenz und anderen Mitgliedern des
Politbüros wurde mir da erst klar, welches Trauma es bei
Honecker bewirkt haben muß zu sehen, daß er auf einmal von
Gorbatschow in den Beziehungen zur Bundesrepublik und sogar

-430-
in der China-Politik überholt wurde, indem dieser ihn zur
Zurückhaltung aufforderte, sich selbst an die Spitze der
Verständigung setzte und sich zum Vorreiter innen- und
weltpolitischer Veränderungen aufschwang.
Mit der Premiere des Dokumentarfilms über meinen Bruder,
die an seinem sechzigsten Geburtstag stattfand, hatte ich einen
kleinen Sieg über die Zensur errungen. In einer Passage des
Films spreche ich anläßlich unserer Jugend in Moskau auch über
die Verfolgungen unter Stalin. Das jedoch war damals bei uns
noch immer streng tabuisiert, und keiner der Zuständigen im
Fernsehfunk und im Zentralkomitee war bereit, die
Verantwortung für diese Passage zu übernehmen. Zuletzt mußte
Mielke sich den Film ansehen, und er genehmigte die
unzensierte Fassung.
Bei den Ehrungen und Veranstaltungen zum Gedenken an
meinen Bruder merkte ich, daß viele Künstler und Schriftsteller
die Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatten, auf mich
übertrugen, ganz so, als wäre ich sein Nachfolger. Die Summe
all dieser Gespräche, Begegnungen und Eindrücke verstärkte
mein Gefühl, daß ich vor dem Hintergrund der Lebensleistung
meines Vaters und meines Bruders mehr in die
gesellschaftlichen Prozesse unseres Landes eingreifen und mehr
Gehör finden konnte als durch mein Verbleiben im
Nachrichtendienst.
Zunächst entschied ich mich für das Troika-Projekt. Was
mein Bruder sich als Film vorgestellt hatte, würde ich als Buch
realisieren. Das Schicksal der drei Familien war allerdings ein
Jahrhundertstoff, der bewältigt sein wollte. Noch im Dienst
stehend, begann ich mit der Arbeit an dem Buch.
Fast zur selben Zeit, als ich mit Troika meinen Weg zu einem
neuen Ziel zu erkennen meinte, hatte mein eigenes Leben eine
neue Wendung genommen. Ich war mir der Liebe zu einer Frau
bewußt geworden, die ich zwei Jahre später heiratete. Als wir
feststellten, daß das Gefühl zwischen uns sich gegen alle
-431-
Versuche behauptete, es zu unterdrücken, beschlossen wir,
reinen Tisch zu machen. So blieb es nicht aus, daß ich Mielke
informieren mußte. Der Moralkodex in sozialistischen Ländern
stand dem der katholischen Kirche in nichts nach;
Ehescheidungen bei exponierten Persönlichkeiten waren
überhaupt nicht wohlgelitten. Ein geschlagenes Jahr lang
bemühte Mielke sich redlich, mich auf den Pfad der Tugend
zurückzuführen, doch vergebens. Mit dem Entschluß, Andrea zu
heiraten, lieferte ich endlich einen Anlaß, meinen Abgang in die
Wege zu leiten. Der 30. Mai 1986 wurde mein letzter
Arbeitstag. Den Abschied selbst jedoch verschob Mielke bis in
den Herbst hinein.
Im November war es dann soweit. Politbüro und Nationaler
Verteidigungsrat faßten den Beschluß über mein Ausscheiden.
Mielke hatte noch versucht, mich zu überreden, gesundheitliche
Gründe für mein Rücktrittsgesuch vorzuschützen, doch das hatte
ich abgelehnt. Jahre später las ich ein Interview, in dem Mielke
behauptete, er habe mich wegen moralischer Verfehlungen aus
dem Ministerium entfernen müssen; im ersten Moment war ich
sprachlos, aber dann gewann der Humor die Überhand.
Meine offizielle Verabschiedung war überaus feierlich und
aufwendig. In Anwesenheit sämtlicher leitender Mitarbeiter des
MfS und von Vertretern des Zentralkomitees der SED und des
KGB verkündete Mielke mein Ausscheiden und verlas eine
Laudatio. Beim Zuhören der Lobeshymne kam ich mir vor wie
bei der eigenen Beerdigung. Ich durfte sie mir übrigens vom
Tonband abgespielt während meiner Prozesse noch zweimal
anhören. Nach der Ansprache griff Mielke unter das Rednerpult
und holte wie ein Zauberer den Karl-Marx-Orden und eine
Urkunde hervor.
Nach der offiziellen Veranstaltung traf ich den Kern meiner
Mannschaft bei einer weniger förmlichen Abschiedsfeier, die
ich mir ausbedungen hatte. Jenen unter ihnen, die mich gut
kannten, wird meine innere Bewegung nicht verborgen

-432-
geblieben sein, als ich am 27. November 1986 die letzten Worte
an sie richtete.
Den roten Faden lieferte mir der Brief, den mein Vater 1944
meinem Bruder zum neunzehnten Geburtstag geschrieben hatte.
Damals war Koni Soldat der Roten Armee. Das, was mein Vater
in diesem Brief über die Zivilcourage sagte, war mein
Leitgedanke bei der Arbeit an der Troika geworden. In vertraute
Gesichter blickend, sprach ich an diesem Abend über das Glück,
viel Liebe und Freundschaft erfahren zu haben, in der Familie
und von Menschen, mit denen die Arbeit mich
zusammengeführt hatte. Meine Verabschiedung sah ich als
Chance, Erfahrungen des Lebens zu durchdenken und an
Jüngere weiterzugeben. Ich endete mit den Bertolt Brecht
zugeschriebenen Worten, wonach ein guter Kommunist viele
Beulen am Helm hat, manche auch vom Gegner.
An meiner Seite standen mein Nachfolger und die
Stellvertreter. Würden auch sie solchen Beulen nicht
ausweichen? Würde jeder einzelne die Stärke besitzen, dem Sog
des Systems und der militärischen Hierarchie zu widerstehen
und bei den Umwälzungen, die unausweichlich bevorstanden,
einen eigenen Standpunkt zu behaupten?
»Es gehört oft Mut dazu, für einen Standpunkt einzutreten,
auch im eigenen Land, auch im eigenen Lager«, sagte ich. »Wir
waren anfangs sehr gläubig, sind jetzt weniger blind gläubig.
Wir haben uns aber immer um selbständiges Denken bemüht.
Der Aufklärer ist nicht dazu da, vorhandene Erkenntnisse
wiederzukäuen, bis der Himmel eine neue Erleuchtung schickt,
sondern er hat Tatsachen objektiv zu bewerten und zu
analysieren. Die Fähigkeit, bisherige Erkenntnisse und Praktiken
immer wieder in Frage zu stellen, ist die Voraussetzung für die
Erarbeitung einer produktiven Strategie. Strategisches Denken
und selbständiges Handeln waren die Grundlage für
das›Geheimnis‹mancher unserer Erfolge, auch wenn dies im
eigenen Haus nicht immer und nicht von allen gern gesehen

-433-
wurde.«
Zu den Umständen meines Ausscheidens zitierte ich einige
Zeilen aus einem Gedicht meines Vaters, das kurz vor
Kriegsende entstanden ist:

Verzeiht, daß ich ein Mensch bin,


Der in dem Haß und Todeshauch
Vielleicht zuviel gehasset, Doch stark geliebet auch.
Und wenn ich zuviel gehasset
Und eine geliebet zu sehr,
Verzeiht, daß ich ein Mensch bin
Und nicht ein Heiliger.

Es war mir bei diesem letzten Zusammensein mit meinen


engsten Mitarbeitern wichtig, das Persönliche aus meinem
Credo, das ich ihnen mitgeben wollte, nicht auszuschließen. Ich
wollte mich nicht als müder Rentner verabschieden, der in den
Ruhestand geht, sondern aus der lange gewahrten Reserve
heraustreten. »In einer Zeit, in der Verantwortliche vielleicht
auch einmal den Mut haben müssen, sich etwas weiter aus dem
Fenster zu lehnen, wenn der Wind schärfer weht und Rückgrat
gezeigt werden muß, ist alles Dünkelhafte von Schaden«, fuhr
ich in meiner Rede fort. »Dünkel paart sich oft mit forschem
Auftreten, aber in Wirklichkeit sind Dünkel und Feigheit
Geschwister. Dünkel, Arroganz und Eigenliebe vertragen sich
nicht mit einfühlsamem Verhalten anderen Menschen
gegenüber, auf das es in dieser Zeit besonders ankommt. Jeder
Mensch hat das Bedürfnis, gebraucht und nicht benutzt zu
werden.« Zuletzt zitierte ich aus dem Brief meines Vaters an
meinen Bruder: »Wenn es schwere Situationen im Leben gibt,
wo einem keiner raten und helfen kann, dann muß man selbst
nach seinem Gewissen die Entscheidung mutig fällen und den

-434-
Weg unbeirrt zu Ende gehen. Der größte Mut – das gilt auch für
den Krieg – ist die Zivilcourage, das heißt, in allen wichtigen
Dingen seine Überzeugung zu vertreten und seine Meinung zu
sagen! Das kann einen gewiß manchmal bei kleinen Geistern
mißliebig machen; aber letzten Endes ist es das richtige und hat
auch den Aufrichtigen niemals gereut.«
Das Ausscheiden aus dem Dienst habe ich als Befreiung
empfunden. Die Arbeit am Troika-Projekt und die
anschließenden Lesungen aus dem Buch begleiteten mich bis
zum Beginn der Umwälzungen im Herbst 1989. Es war eine
aufregende, mich fordernde, kurzum produktive und schöne
Zeit. Noch nie hatte ich mich so lebendig gefühlt. Die Arbeit in
der Abgeschiedenheit unseres Waldgrundstücks mit den hohen
Kiefern und den schlanken Birken, mit der imposanten Eiche am
Eingangstor, dem weichen Morgenlicht über dem See und
Andreas Katzen war eins mit dem Glück meiner neuen Ehe.
Trotz der Konzentration auf mein Buch ließ die Sorge um die
Zukunft des Landes mir keine Ruhe. Die politische Führung
distanzierte sich in selbstzerstörerischer Weise und weltfremder
Selbstherrlichkeit von Perestroika und Glasnost, in die ich große
Hoffnungen setzte – ganz so, als gäbe es bei uns nichts zu
reformieren. Sie verharrte in einer Rechthaberei, die angesichts
der weltpolitischen Entwicklung nach dem Beginn des KSZE-
Prozesses kein gutes Ende nehmen konnte.
Als Troika im Frühjahr 1989 gleichzeitig in der BRD und der
DDR erschien, erregte das Buch Aufsehen. Am Erscheinungstag
gab ich im bundesrepublikanischen Fernsehen einige Interviews;
Sequenzen aus diesen Sendungen wurden in den
Nachrichtensendungen ausgestrahlt. Ich distanzierte mich darin
vom Verbot der deutschsprachigen sowjetischen Zeitschrift
Sputnik durch die DDR-Behörden, weil sie über Verbrechen im
Stalinismus berichtete. Auf die Frage, was ich von Gorbatschow
hielte, sagte ich, ich sei froh, daß es ihn gebe. Auf seiner
nächsten Sitzung beschäftigte das Politbüro sich mit meinen

-435-
Äußerungen. Nach der Sitzung rief Mielke mich an und teilte
mir mit, das Politbüro betrachte meine Worte als Angriff auf die
Parteiführung und erwarte, daß ich auf der bevorstehenden
Leipziger Buchmesse von Interviews Abstand nähme.

Umschlag der Troika von 1989 (v. l. n. r.: George Fischer, Lothar Wloch,
Konrad Wolf)

Die Leser der Troika in der DDR nahmen den abweichenden

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Umgang mit den finsteren Seiten aus der Geschichte des
Sozialismus in diesem Buch sehr wohl wahr und ebenso die
Aufforderung zur Offenheit und zum demokratischen
Meinungsstreit, zur Toleranz im Umgang mit anderen
Gedanken, zur Verständigung über Ländergrenzen und
Ideologien hinweg.
Für mich begann ein völlig neuer Lebensabschnitt, der mich
so intensiv wie nie zuvor mit der Realität im Land konfrontierte.
Bis dahin war mein Blick vorrangig nach außen gerichtet
gewesen. Den Gegensatz zwischen der Scheinwelt der Lüge und
der Realität der Wahrheit hatte es in der DDR schon immer
gegeben; dieser Zwiespalt hatte mich häufig beschäftigt. Jetzt
konnte ich ihn nicht mehr verdrängen, denn die Zuhörer auf
meinen Lesungen forderten in den anschließenden Diskussionen
Antworten von mir. Trotz des Verbots der Parteiführung gab ich
der Süddeutschen Zeitung ein Interview. Mielke fragte mich
irritiert, ob das gerade jetzt sein müsse, und ich antwortete stur,
so sei es in der Tat. Mit mir sympathisierende Mitarbeiter der
Staatssicherheit verrieten mir, daß mein Telefon inzwischen
abgehört wurde.
Mitten in diesem Sommer traf mich aus heiterem Himmel
eine seltsame Nachricht, die ich damals nicht sonderlich ernst
nahm: Generalbundesanwalt Rebmann erwirkte gegen mich, der
ich doch Bürger der DDR war, einen Haftbefehl. Weshalb
ausgerechnet gegen mich? Ich war doch längst nicht mehr aktiv.
Die einzig mögliche Erklärung schien mir die zu sein, daß ich in
einem Gespräch mit dem Spiegel gesagt hatte, ich würde gern
einmal wieder Stuttgart besuchen. Offenbar hatte Rebmann rein
sicherheitshalber für diesen Fall einen Haftbefehl gegen mich
erwirkt.
Am 18. Oktober 1989 traten Honecker und einige seiner
Getreuen sang- und klanglos von der politischen Bühne ab.
Keinen Monat später kam jener Tag, den keiner, der dabei war,
jemals vergessen wird.

-437-
Am 4. November war Ost-Berlin noch die Hauptstadt der
DDR, noch stand die Mauer, noch existierten Armee,
Staatssicherheit und Polizei. Trotzdem versammelten sich auf
dem Alexanderplatz, mitten im Zentrum, eine halbe Million
Menschen, um ihr Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit
öffentlich einzuklagen. Das Recht der freien Versammlung
nahmen sie sich an diesem Tag selbst. Die Stimmung war
gelöst, fast euphorisch. Alle empfanden, daß ein Umschwung
bevorstand, der noch keinen Namen hatte. Künstler und
Journalisten hatten zu dieser Willenskundgebung aufgerufen.
Als Rednertribüne diente die Ladefläche eines Lkw. Brechts
Enkelin, die Schauspielerin Johanna Schall, hatte mich wenige
Tage zuvor gefragt, ob ich bereit sei, auf der geplanten
Kundgebung zu sprechen. Ich hatte zugesagt und war
entschlossen, auch solche Gedanken auszusprechen, die
Widerspruch erregen mußten.
Als die Reihe an mir war, wurden meine ersten Sätze mit
Beifall quittiert. Ich bekannte mich zu Perestroika und zur
Verbindung von Sozialismus und wahrer Demokratie,
verschwieg aber nicht, daß ich General der Staatssicherheit
gewesen war. Da kamen die ersten Pfiffe. Als ich verlangte, daß
man nicht alle Mitarbeiter der Staatssicherheit undifferenziert zu
Prügelknaben der Nation machen solle, wurden die Pfiffe lauter.
Es hagelte Zwischenrufe; manche schrien: »Aufhören!«
Als ich meine Ansprache beendet hatte und vom Lastwagen
stieg, war mein Mund ausgetrocknet. Christa Wolf umarmte
mich, andere drückten mir die Hand. Nach langen inneren
Auseinandersetzungen, Zweifeln und Widersprüchen war ich
den Weg vom jugendlichen Bewunderer Stalins zum
Befürworter demokratischer Wandlungen gegangen. Ich
brauchte keine Feindbilder abzubauen, als ich nun inmitten
oppositioneller Bürgerrechtler stand. Aber an diesem 4.
November stieg eine erste Ahnung in mir auf, daß die
Vergangenheit mich einholen würde.

-438-
Später ging mir das Wort Tschingis Aitmatows durch den
Kopf: »Jeder Mensch wird im Laufe des Lebens mit einer
Richtstatt konfrontiert.« Die Richtstatt, das ist für Aitmatow
nicht der Ort der Hinrichtung, sondern der Ort der Wahrheit.

Am 4. 11. 1989 auf dem Alexanderplatz


An diesem grauen, schönen Novembertag hatte ich das
Gefühl, vor dem Ort meiner Wahrheit zu stehen.
Fünf Tage später diskutierte ich in einem Potsdamer Klub
nach einer Troika-Lesung mit dem Publikum, als ein Mann die
Tür aufriß und rief: »Die Grenze ist offen!« Ich glaube, niemand
hat an diesem Abend die historische Dimension der Stunde ganz
erfaßt.
Nach dem Fall der Mauer wurde von Woche zu Woche
deutlicher, daß die Tage der DDR gezählt waren. An Stelle des
Slogans »Wir sind das Volk« trat die Losung »Wir sind ein
Volk«, und aus ihr entwickelte sich die Forderung
»Deutschland, einig Vaterland«.

-439-
Anfang 1990 zog ich mich zu meiner Schwester Lena nach
Moskau zurück, um in Ruhe meine Gedanken zu ordnen und
abseits aller Wirren in der DDR, an deren politischem Ausgang
es keinen Zweifel mehr geben konnte, mein zweites Buch zu
beginnen, in dem ich als Zeitzeuge meine Eindrücke des letzten
Jahres festhalten wollte. Nur wenn ich mich sofort an die Arbeit
machte, konnte ich die noch frisch in der Erinnerung haftenden
Erlebnisse, Gespräche und Gedanken verarbeiten.
Als ich im Frühjahr aus Moskau zurückkehrte, geriet ich in
die hysterische Atmosphäre einer Schlammschlacht. Der
Rachedurst vieler konzentrierte sich in erster Linie auf die
Staatssicherheit. Das ehemalige Ministerium war von einer
Menschenmenge gestürmt worden. Seither sind bestimmte
Akten insbesondere aus dem Bereich der Abwehr –
verschwunden und erwiesenermaßen bei Diensten im Westen
gelandet. Da ich außer Mielke als einziger einer größeren
Öffentlichkeit bekannt war, verging kein Tag, ohne daß ich mich
heftigen Angriffen, aber auch Verleumdungen ausgesetzt sah.
Diese Attacken erreichten einen Höhepunkt, als bekannt wurde,
daß ehemalige RAF-Angehörige seit Jahren unter neuer Identität
in der DDR gelebt hatten. Wieder einmal nützte es mir herzlich
wenig, daß die HVA damit nichts zu tun gehabt und auch
keinerlei Kenntnis davon gehabt hatte.
Zu Beginn der 80er Jahre hatten Susanne Albrecht, Inge Viett
und andere RAF-Mitglieder, die aussteigen wollten, sich an das
MfS gewandt und waren heimlich in die DDR aufgenommen
worden. Offiziere der Abteilung XXII hatten sich um sie
gekümmert, ihnen neue Lebensläufe und Papiere verschafft und
mit ihnen geübt, wie man als DDR-Bürger nicht auffiel.
Vielleicht hatte Mielke sie aufgenommen, um den
Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik in die Suppe zu
spucken, vielleicht, weil er meinte, damit für den Fall des Falles
erprobte Kämpfer in Reserve zu halten. Ihre Resozialisierung
jedenfalls kann man im nachhinein nur als gelungen bezeichnen,

-440-
und die Offiziere der Abteilung XXII, die für sie zuständig
waren, haben sich als exzellente Bewährungshelfer erwiesen.
Neueste Enthüllungen deuteten an, daß die Spitze der
Bundesregierung die ganze Zeit über diese Vorgänge Bescheid
gewußt hat, aber keinen Grund sah, einzugreifen oder sich zu
beschweren.
Als die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bereits
abzusehen war, hatte ich nicht die Absicht, das Land zu
verlassen. Nach dem Sommer 1990 stand ich jedoch vor einer
völlig neuen Situation: Ein mit dem Einigungsvertrag
vorbereitetes Amnestiegesetz, das den Mitarbeitern der DDR-
Nachrichtendienste Straffreiheit zusichern sollte, war nicht
verabschiedet worden, sondern gescheitert. Am 3. Oktober
1990, dem Tag der Vereinigung, drohte mir unzweifelhaft der
Vollzug des Haftbefehls. Nach Gesprächen mit meinen
Anwälten und mit Freunden, darunter Walter Janka, beschloß
ich schweren Herzens, vorübergehend das Land zu verlassen.
Ich schrieb Briefe an den Bundespräsidenten, an den
Außenminister und an Willy Brandt, in denen ich klarstellte, daß
eine zweite Emigration für mich nicht in Frage kam. Allein
meine Erziehung zur Zivilcourage, fügte ich hinzu, sei Grund
genug, daß ich mich unter fairen Bedingungen einer Klärung der
gegen mich erhobenen Vorwürfe stellte. Aber faire
Bedingungen waren in diesem deutschen Herbst des Jahres 1990
nicht gegeben.
Bewegte Monate folgten, zuerst in Österreich, dann in der
Sowjetunion, wo ich das Scheitern der Perestroika miterlebte.
Anatolij G. Nowikow, der Leiter der Berliner KGB-
Niederlassung, dem ich sagte, daß ich Deutschland für eine
Weile zu verlassen gedenke, erwiderte lächelnd, der KGB sei
sehr froh, daß ich mich geweigert hätte, die Freiheit vor
Strafverfolgung durch Ausplaudern von Informationen zu
erkaufen. Woher sie das wußten, sagte er nicht, aber er fügte
hinzu, daß ich mich über eine Geheimnummer mit einem

-441-
Codewort an den KGB wenden könne, falls ich in
Schwierigkeiten geriete.
Sechs Tage vor der Vereinigung packten Andrea und ich
unsere Koffer und fuhren nach Österreich. Wir reisten mit
echten Pässen und unserem Volvo, denn ich wollte jedes
Merkmal illegalen Handelns vermeiden.
Am Grenzübergang in Richtung Karlsbad fuhr einer meiner
Söhne sicherheitshalber mit Andrea den Volvo; ich folgte in
gebührendem Abstand im Lada, den mein Schwiegervater
Helmut Stingl steuerte. Der Grenzer warf nur einen
oberflächlichen Blick auf die Papiere und winkte uns durch.
Außer Sichtweite hielten wir in der nächsten Kurve und freuten
uns wie kleine Kinder. Schwiegervater und Schwiegermutter
waren zwar die Sorge um uns nicht los, konnten aber zunächst
beruhigt umkehren.

Mit Yitzhak Shamir und Andrea Wolf 1996 in Tel Aviv

-442-
Mit Ziwi Weinman 1996 in Jerusalem
Schon nach kurzem wurden Fotos von mir in den Zeitungen
veröffentlicht, doch niemand, mit dem wir zu tun hatten, kam
auf die Idee, mich mit dem verschwundenen Generaloberst Wolf
in Verbindung zu bringen. Der Weg nach Israel war uns
versperrt, wie wir feststellten, als wir in Wien nachfragten, ob
die von der israelischen Zeitung anvisierten Tickets eingetroffen
seien. Tatsächlich sollte ich erst 1996 auf eine Einladung der
Zeitung Ma'ariv erstmals nach Israel kommen.
Aus Österreich schrieb ich an Gorbatschow, ohne eine
Antwort zu erhalten, und Ende November holte ich die
Geheimnummer hervor und sprach das Codewort. Zwei Tage
später erwartete ein russischer Kurier Andrea und mich an der
ungarischen Grenze und geleitete uns durch Ungarn und die
Ukraine nach Moskau.
Erschöpft, aber erleichtert, daß die Wochen der Flucht ein
Ende gefunden hatten, trafen wir dort ein. Bald darauf wurde ich
in Jasenewo von Leonid Schebarschin empfangen. Natürlich
tranken wir ein Glas auf meine Freiheit, die Stimmung war
jedoch gespannt. Meinem Gastgeber war es peinlich, daß sein

-443-
Dienst keine wirksamere Unterstützung des Präsidenten für den
Freund erlangen konnte. Als seltsam empfand ich es, daß
Wladimir Krjutschkow, nun Vorsitzender des KGB, mir als
altem Bekannten über Valentin Falin Grüße und die Empfehlung
ausrichten ließ, auf keinen Fall nach Deutschland
zurückzukehren. Sehr schnell mußte ich erkennen, daß es im
Kreml unterschiedliche Meinungen zu meinem Aufenthalt in
Moskau gab. Einerseits galt die Verpflichtung gegenüber der
Vergangenheit, die gebot, mir Asyl zu gewähren, andererseits
sollte meine Anwesenheit die Beziehungen zum vereinigten
Deutschland auf keinen Fall stören oder gar belasten. So kam es,
daß Freunde im KGB, die mir früher jeden Wunsch von den
Augen abgelesen hatten, bei bestimmten Wünschen nicht nein
sagten, sondern einfach schwiegen.

Mit Andrea Wolf, Johann Schwenn und Heinrich Senfft 1991 in Moskau

Bis August 1991 lebten wir einfach, doch komfortabel genug.


Wir trafen die Familie meiner Schwester, alte und neue Freunde;
ich schrieb an diesem Buch und sammelte Rezepte und
Geschichten für ein Buch über die russische Küche. Zweimal
besuchten uns mein Sohn Sascha und Andreas Tochter Claudia

-444-
aus erster Ehe. Im Sommer waren wir in ein Ferienheim in Jalta
an der Schwarzmeerküste eingeladen. Bei einem Ausflug nach
Sewastopol fuhren wir an den Luxusunterkünften vorbei, in
denen Gorbatschow mit Anhang untergebracht war und wo er
wenig später die nicht geladene Delegation seiner Genossen
vom Politbüro empfing, die ihm mitteilte, daß in Moskau ein
Putsch stattgefunden hatte – inszeniert von KGB-Chef
Krjutschkow, Gorbatschows Protege.
Krjutschkow war nie mein Wunschkandidat an der Spitze des
KGB gewesen. Er war mir zu schmalspurig, ein typischer
Verwaltungsmensch, intellektuell kein Vergleich mit Andropow.
Doch nie hätte ich es für möglich gehalten, daß sich ein Mann
seines Kalibers in eine so stümperhafte Aktion einlassen könnte
wie diesen Coup.
Dieser Putschversuch bestärkte Andrea und mich in unserem
Entschluß, die Rückkehr nach Deutschland nicht länger
hinauszuschieben. Meine Anwälte hatten mich mehrmals
besucht, um die Modalitäten der Rückkehr mit mir zu
diskutieren. Ende August ließ ich mich bei Schebarschin
anmelden, der den inhaftierten Krjutschkow als Chef des KGB
vertrat. Er wirkte erschöpft und überanstrengt, hörte sich jedoch
freundlich an, was ich ihm mitteilte, und sagte mit einer Geste
der Ratlosigkeit: »Mischa, du siehst selbst, was hier los ist. Du
warst uns immer ein treuer Freund, aber wir können im
Augenblick nichts für dich tun. Wer hätte gedacht, daß es so
kommen würde! Gott sei mit dir.«
Inzwischen war gegen meinen Nachfolger im Dienst und
gegen leitende Mitarbeiter der HVA vor dem Berliner
Kammergericht Anklage erhoben worden. In dieser Situation
wollte ich mich keinesfalls meiner Verantwortung entziehen. Ich
hätte bis Oktober abwarten und unter Zusicherung freien Geleits
im Prozeß gegen den ehemaligen Leiter der Äußeren Abwehr
meines Dienstes als Zeuge auftreten können, um danach zu
entscheiden, ob ich im Lande bleiben wollte oder nicht. Allein

-445-
schon um die Freiwilligkeit meiner Rückkehr zu verdeutlichen,
habe ich diesen Zeitpunkt bewußt nicht abgewartet.
Wir fuhren zuerst wieder nach Österreich, weil ich mich von
dort aus mit meinen Anwälten verständigen wollte, bevor ich die
Grenze zur Bundesrepublik überschritt. Wenige Tage nach
unserer Ankunft wurde von Moskau aus bekannt, daß ich mich
in Wien aufhielt, und daraufhin entfachte die Presse einen
Höllenspektakel. Um diesem Rummel ein Ende zu machen,
stellte ich mich den Wiener Behörden und teilte ihnen mit, daß
ich das Land inne rhalb einer absehbaren Frist verlassen wolle.
Am 24. September 1991 überschritt ich die Grenze in
Bayerisch Gmain, wo der Bundesanwalt, dem ich vor Gericht
viele Monate lang gegenübersitzen sollte, mich schon erwartete.
Der Triumph, meiner endlich habhaft zu werden, war ihm vom
Gesicht abzulesen. In einem kleinen Hotel eröffnete er mir im
Beisein meines Anwalts den Haftbefehl und nahm mich fest. In
zwei gepanzerten Mercedes-Limousinen chauffierte man uns
nach Karlsruhe, vorbei an meiner Heimatstadt Stuttgart, die ich
seit 1933 nicht gesehen hatte.
Der Ermittlungsrichter in Karlsruhe setzte den Haftbefehl mit
einigen Auflagen außer Kraft, doch der Bundesanwalt
protestierte sofort beim Senat des Bundesgerichtshofs, der die
Anordnung des Ermittlungsrichters noch zu später Stunde
aufhob und meine sofortige Inhaftierung anordnete. So landete
ich kurz vor Mitternacht an diesem ereignisreichen Tag als
Untersuchungshäftling in der einzigen doppelt vergitterten Zelle
des Karlsruher Gefängnisses.
Nach elf Tagen hinter Gefängnismauern entließ man mich
gegen Hinterlegung einer so hohen Kaution, daß ich sie nur mit
Mühe und dank der solidarischen Hilfe von Freunden
aufbringen konnte, und unter schikanösen Auflagen aus der
Haft.
Im Karlsruher Gefängnis hatte ich in der Presse Worte des

-446-
Justizministers Kinkel zum ersten Jahrestag der
Wiedervereinigung gelesen: Es gebe, so hatte er gesagt, in der
deutschen Vereinigung keine Sieger und keine Besiegten. Das
Berliner Kammergericht hatte seine Zweifel an der
Vereinbarkeit der Anklage gegen meine Mitarbeiter mit dem
Völkerrecht als so schwerwiegend bewertet, daß es das
Bundesverfassungsgericht ersucht hatte, eine grundsätzliche
Entscheidung zur Rechtmäßigkeit solcher Verfahren zu fällen.
Andere Gerichte wiederum hatten Urteile gesprochen. Es
herrschte also erhebliche Rechtsunsicherheit.
Wie bei vielen nach der Wiedervereinigung umstrittenen
Fragen ging es auch in meinem Prozeß letztlich um die
Grundfrage, ob es sich bei der Wiedervereinigung um die
Vereinigung zweier souveräner Staaten oder um eine
Einverleibung gehandelt hatte, die den Unterlegenen dem Sieger
unterwirft.
Schon vor meinem Prozeß und erst recht während des
Verfahrens mehrten sich in der Öffentlichkeit kritische
Stimmen. Sogar frühere Kontrahenten aus den westdeutschen
Nachrichtendiensten äußerten ihr Unverständnis. Heribert
Hellenbroich, der ehemalige Präsident des BND, erklärte: »Den
Prozeß gegen Wolf halte ich für verfassungswidrig. Wolf hat im
damaligen Staatsauftrag Aufklärung betrieben. (…) Ihn jetzt
(…) allein, weil der Zugriff möglich ist, des Landesverrats zu
bezichtigen, das ist schwer zu verstehen. Diese quasi
rückwirkend beanspruchte Zugriffsmöglichkeit kommt einem
rückwirkend beschlossenen Strafgesetz gleich. Jemanden, der
für die DDR spionierte, des Verrats an der Bundesrepublik zu
bezichtigen, das hat eine Logik, allerdings eine seltsame.«
Ähnliches war vom ehemaligen Chef des Militärischen
Abschirmdienstes, Admiral Elmar Schmähling, zu vernehmen,
der zudem den Fortbestand von Nachrichtendiensten nach dem
Ende des kalten Krieges generell in Frage stellte.
Nach sieben Monaten neigte sich mein Prozeß vor dem

-447-
Oberlandesgericht in Düsseldorf im Spätherbst 1993 seinem
Ende zu. Mehr als dreißig Zeugen und Gutachter waren gehört,
eine endlose Fülle von Papieren war verlesen worden. Hinter
den Sitzlehnen der Richter stapelten sich Dutzende von
Aktenordnern. Zu dem schon Bekannten war nichts Neues
hinzugekommen. Als einziger zu Prozeßbeginn noch nicht
bekannter Fall wurde »Topas« nachgeschoben. Während meines
Prozesses war Rainer Rupp, unsere einstige Spitzenquelle bei
der Nato in Brüssel, enttarnt und verhaftet worden. Aus dieser
und anderen Verhaftungen ehemaliger Quellen in der
Bundesrepublik mußte ich den Schluß ziehen, daß vermutlich
auf Disketten gespeicherte Karteien mit dem geheimsten Wissen
der HVA dank der CIA in die Hände westlicher Dienste gelangt
waren, denen es gelungen war, die Informationen zu
entschlüsseln. Später erfuhr ich, daß ein ehemaliger Mitarbeiter
der HVA den Codenamen unserer Brüsseler Quelle 1990 dem
BND verraten hatte, der dann mit Hilfe des aus den Disketten
gewonnen Wissens die Identität von »Topas« lüften konnte.
Bewiesen wurde in meinem Prozeß, was nie in Zweifel
gezogen worden war: daß ich Leiter eines leistungsfähigen
Nachrichtendienstes gewesen war und mich in dieser Funktion
mit Menschen getroffen hatte, die man als Agenten bezeichnen
kann. Dazu hatte ich erklärt, daß ich für die auf der Grundlage
von Gesetzen und der Verfassung der DDR getätigten
Handlungen der mir unterstellten Mitarbeiter die volle
Verantwortung übernahm.
Bundesanwaltschaft und Richter waren sich der
Fragwürdigkeit der verfassungs- und völkerrechtlichen
Grundlagen des Verfahrens sehr wohl bewußt. Deshalb
bemühten sie sich, mich als das Oberhaupt einer kriminellen
Vereinigung vorzuführen. Die als gefährliche Agenten
aufgebotenen Zeugen erwiesen sich jedoch nicht als Finsterlinge
aus der Unterwelt, sondern als Menschen, die aus der
Überzeugung heraus gehandelt hatten, einer guten Sache zu

-448-
dienen.
Die Urteilsverkündung in meinem ersten Verfahren war auf
Montag, den 6. Dezember 1993 anberaumt worden. Der
Generalbundesanwalt hatte sieben Jahre Freiheitsstrafe gefordert
– ein Strafmaß wie bei Agenten, die als Bürger der alten
Bundesrepublik verurteilt worden waren. Am Sonntag
begleiteten meine Kinder und Schwiegerkinder Andrea und
mich nach Düsseldorf. Den Abend verbrachten wir mit
neugewonnenen Freunden aus dem Rheinland, die Andrea und
mich in den vergangenen Monaten selbstlos beherbergt hatten.
Ich war des Landesverrats angeklagt, und mir bis dahin
unbekannte Menschen standen uns mit ihrer Solidarität wie
selbstverständlich zur Seite, sprachen uns vor der
Gerichtsverhandlung Mut zu und bewirteten uns bei sich zu
Hause.
Ein Freund, der mir in dieser Zeit nahekam, war Karl
Winkler. Ich hatte ihn auf der Novemberkundgebung 1989 in
Berlin kennengelernt. Als Regimekritiker aus dem Kreis um
Robert Havemann war er 1979 verurteilt und nach der Haft in
den Westen abgeschoben worden.
Als wir uns nach dem 4. November 1989 unterhielten, stellte
ich fest, daß dieser junge Mann trotz allem, was er
durchgemacht hatte, nicht verbittert oder rachsüchtig geworden
war, sondern ein offener, liebenswerter und mit neuen Ideen in
die Zukunft blickender Mensch geblieben war, für den das Wort
Dialog keine leere Floskel bildete. Gemeinsam entwickelten wir
Projekte, die wir später verwirklichen wollten. Leider starb
»Kalle« viel zu früh beim Baden im Mittelmeer 1994.
Bevor der Vorsitzende Richter die mündliche
Urteilsbegründung vortrug, gab er bekannt, daß er dem Antrag
der Bundesanwaltschaft auf sofortige Haftvollstreckung nicht
folge, sondern dem Angeklagten Haftverschonung unter
Auflagen gewähre. Das Urteil blieb ein Jahr unter dem Antrag
der Bundesanwaltschaft. Meine Verteidigung ging umgehend in
-449-
Revision. Im Sommer 1995 entschied das
Bundesverfassungsgericht im Verfahren gegen Werner
Großmann, daß Offiziere der DDR-Aufklärung nicht für
Landesverrat und Spionage in der Bundesrepublik verfolgt
werden können, und darum kassierte der Bundesgerichtshof
auch das Urteil des Düsseldorfer Gerichts gegen mich.

Mit Karl Winkler 1993 in Düsseldorf


Der Kreuzzug der Gewinner, der die untergegangene DDR
wie ein besetztes Land überzogen hatte, half mir die Lähmung
überwinden, die der Zusammenbruch des sozialistischen
Systems verursacht hatte. Der Gerichtssaal war nicht der Ort,
Rechenschaft über das abzulegen, was wir uns vorzuwerfen
haben mochten. Die Antwort auf vieles war ich mir selbst noch
schuldig.

-450-
18. Der menschliche Faktor

Als im Verlauf meines Prozesses vie le meiner ehemaligen


Mitarbeiter als Zeugen aufgerufen wurden, gab es für mich
immer wieder bewegende Augenblicke. Ich sah Frauen und
Männer wieder, die mir viele Jahre lang nahegestanden hatten
und die mir heute noch viel bedeuten. Obwohl auch für sie eine
Welt zusammengebrochen war, obwohl die meisten von ihnen
aus Gefängnissen vorgeführt wurden, wahrten sie ihre Haltung
und Würde.
Dies galt ebenso für den von schwerer Krankheit
gezeichneten Günter Guillaume wie für die beiden hochrangigen
Diplomaten des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Dr.
Hagen Blau und Klaus von Raussendorf. Zu hohen
Gefängnisstrafen verurteilt und in ihrer bürgerlichen Existenz
ruiniert, ließen sie es sich als Zeugen nicht nehmen, die
politischen Beweggründe ihres Handelns darzulege n. Auch
Johanna Olbrich sah ich nicht ohne Bewegung. Auf dem Weg
dazu, eine Spitzenquelle für unseren Dienst zu werden, war sie
eine Zeitlang Sekretärin bei William Borm gewesen, ohne daß
einer der beiden von der klandestinen Tätigkeit des anderen das
geringste geahnt hätte.
Mögen die folgenden Porträts für all jene stehen, mit denen
im Verlauf der Jahre und der Zusammenarbeit eine menschliche
Bindung gewachsen ist.
Hannsheinz Porst lernte ich in den 50er Jahren durch seinen
Vetter Karl Böhm kennen. Beide stammten aus Nürnberg, wo
Porsts Vater ein Fotogeschäft betrieb. Den zehn Jahre älteren
Böhm bewunderte Porst wie einen großen Bruder, doch mit
Beginn des Dritten Reichs war Böhm auf einmal verschwunden.
Als er sechs Jahre später aus Dachau zurückkam, brachte der
alte Porst ihn in seiner Firma unter. Obwohl er ein unpolitischer
Mensch war, bot er dem Gerede der Leute unerschrocken die

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Stirn, wenn es galt, einem »ehrlichen Kerl« zu helfen. Genauso
hielt er Jahrzehnte später zu seinem Sohn, obwohl er von dessen
Kontakten zum DDR-Geheimdienst nichts geahnt hatte.
Nachdem Porst junior und sein Vetter den Krieg überlebt
hatten – der eine in einem Strafbataillon, der andere als Flak-
Offizier –, wollten sie einen Verlag gründen. Da Böhm kein
Hehl aus seiner kommunistischen Einstellung machte,
verweigerten die amerikanischen Besatzungsbehörden ihnen die
Lizenz. Böhm ging in den Osten, und Porst wurde Teilhaber in
der Firma seines Vaters, deren Umsatz er innerhalb von zehn
Jahren verzehnfachte.
Porsts Verbindung zu seinem Vetter im anderen deutschen
Staat riß nie ab. Er sagte einmal über ihn: »Wenn Böhm seine
Ideen von einer freien, gerechten Gesellschaft entwickelte, dann
sprach er nicht nur mit Kenntnis, sondern auch mit der
Glaubwürdigkeit eines Mannes, der wegen seiner Überzeugung
verfolgt worden war, bei dem Theorie und Praxis sich nicht
widersprachen.«
Karl Böhm war inzwischen im Kulturministerium der DDR
für das Verlagswesen zuständig. Unter dem Dach seines
Ressorts hatte mein Dienst eine legale Residentur eingerichtet,
um westliche Verbindungen zu nutzen. Eher zufällig lernten
Mitarbeiter meines Dienstes auf diesem Weg Porst auf der
Leipziger Messe kennen. Da er im Gespräch kein Blatt vor den
Mund nahm, glaubten sie, mit ihm leichtes Spiel zu haben, und
forderten ihn auf, in die CDU einzutreten, um Informationen
gegen die Aufrüstung für sie zu sammeln. Daraufhin beschwerte
Porst sich bei seinem Vetter über das Ansinnen. Er sagte, er
wolle der DDR gern helfen, mehr über die Politik der BRD zu
erfahren, aber er sei keine Marionette.
Als ich einige Zeit darauf mit Böhm zu tun hatte, erzählte
dieser mir die Geschichte der verunglückten Anwerbung und
schloß mit dem Vorschlag, warum nicht ich selbst Kontakt zu
Porst aufnehmen wolle. Porst wollte sich mit einem
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kompetenten Mann über politische Zusammenhänge unterhalten
und erwartete, daß seine Ansichten auf hoher Ebene Beachtung
fanden.
Unsere erste Begegnung verlief ein wenig steif. Er war von
kleiner Statur, wirkte sportlich und ging temperamentvoll und
ohne Umschweife auf sein Thema los. Heute noch erinnere ich
mich gern an die Gespräche mit Hannsheinz Porst zurück. Es
war ein Vergnügen, mit ihm zu diskutieren und auch zu streiten,
denn sein Denken und Reden waren anspruchsvoll, von feiner
Ironie und originell durch phantasievolle Abschweifungen über
idealistische Weltverbesserungsideen. Auch er hat unsere
Begegnungen in guter Erinnerung behalten: »General Markus
Johannes Wolf […] konnte auf eine sehr distanzierte Weise
herzlich sein und hatte keine Hemmungen, auf Gedanken
einzugehen, selbst wenn sie nicht zu dem offiziellen Repertoire
gehörten. Der gleiche Jahrgang wie ich, gutgeschnittene
Anzüge, nicht ohne Humor. Ich muß sagen: So waren sie nicht
alle.«
Porst machte sich ernsthafte Gedanken über die Perspektiven,
Vor- und Nachteile sozialistischer Plan- und kapitalistischer
Marktwirtschaft. Obwohl er die objektiven Schwierigkeiten
nicht in Abrede stellte, mit denen unser Land zu kämpfen hatte,
beharrte er auf der Meinung, daß die DDR selbst schuld sei,
wenn die meisten im Westen und nicht geringe Teile der
eigenen Bevölkerung ihr System ablehnten. Seine Kritik begann
bei den schikanösen Grenzkontrollen und endete bei der
schwerfälligen Bürokratie und der mangelhaften Effizienz der
sozialistischen Wirtschaft. Vielem, was er vorbrachte, mußte ich
recht geben, auch wenn ich widersprach und mein Land
verteidigte. Einer Meinung waren wir allerdings sofort, als es
um Presse und Medien der DDR ging, deren plumpe Agitation
Hörer und Leser nur abschrecken konnte.
Porst blieb ein anregender und zuverlässiger
Gesprächspartner. Seine Informationen und Urteile wurden noch

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wertvoller, als sich nach dem Mauerbau erste Ansätze eines
politischen Umdenkens in der Bundesrepublik anzudeuten
schienen. Er war nicht in die CDU eingetreten, deren
Herrenreiterattitüden ihn zu sehr an die Zentrumspartei
erinnerten, sondern in die FDP, die ihm als Unternehmer
näherstand. Politiker wie Erich Mende, Walter Scheel, Thomas
Dehler und Karl- Hermann Flach verkehrten auch privat mit dem
ideenreichen Nürnberger Firmeninhaber.
Wie Porst seinen politischen Standort definierte, kann man
daraus ersehen, daß er, nachdem er in die FDP eingetreten war,
den Antrag auf Aufnahme in die SED stellte. Eigentlich war so
etwas nicht möglich, aber mit Hilfe eines Ausnahmestatuts
wurde ihm die Sondermitgliedschaft gewährt, an der sein Herz
zu hängen schien. Nach zwei Jahren Kandidatenzeit wurde er
Vollmitglied. Seinen Parteiausweis mußte er allerdings – zu
seinem großen Bedauern – in Ost-Berlin lassen.
Um den Kontakt optimal zu halten, schickten wir einen
Mitarbeiter mit der Vita eines Republikflüchtlings nach
Nürnberg. Optik, so sein Deckname, unterrichtete offiziell
Porsts Kinder als Hauslehrer, arbeitete in dessen Firma und trat
ebenfalls in die FDP ein. Daneben leitete er Porsts
Informationen an uns weiter und knüpfte selbst Verbindungen
an. Mit der Zeit erreichten »Optiks« Informationen einen
solchen Umfang, daß wir einen zweiten Mann damit beauftragen
mußten, die Verbindung zu Porst und »Optik« zu betreuen.
Zu meinem Entsetze n berichtete Porst mir eines Tages ganz
unbekümmert, daß er seinen persönlichen Referenten in alles
eingeweiht habe, und zu meinem noch größeren Entsetzen
brachte er den jungen Mann zu unserem nächsten Treffen nach
Budapest als Überraschungsgast mit. Er fand es auch
selbstverständlich, daß sein Assistent bei unserem vertraulichen
Gespräch anwesend war. Offenkundig glaubte er, ihn so
beeinflußt zu haben, daß er ihm gefahrlos alles anvertrauen
konnte. Möglicherweise war dieses vertrauensselige Verhalten

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Ausdruck der naiven Überheblichkeit des erfolgreichen
Unternehmers, der von dem Privilegierten aus der Schar seiner
Angestellten für seinen Gunstbeweis unverbrüchliche Treue
erwartet. Falls das so war, dann muß seine Verhaftung, nachdem
der junge Mann ihn denunziert hatte, ein unsanftes Erwachen
gewesen sein. Für uns galt allerdings das gleiche, denn »Optik«
entpuppte sich ebenfalls als Judas.
Immer wieder mußte ich Porsts unternehmerisches Gespür
bewundern. Als er die ersten Ausgaben einer neuen Rundfunk-
und Fernsehbeilage, die den Grundstein für eine spätere
Zeitschrift bilden sollte, zum Selbstkostenpreis mehreren
Tageszeitungen zur Verfügung stellte, hielt ich ihn für einen
Hasardeur, doch als er 1967 verhaftet wurde, ging diese Beilage
bereits an fast zweihundert Zeitungen und machte einen Umsatz
von drei Millionen Mark. Als wir uns in Budapest trafen, litt das
Versandgeschäft, der Kern seines Unternehmens, unter starken
Einbußen. Banken drohten, ihre Kredite zu sperren. Mit
Feuereifer erklärte Porst mir seinen Plan, den Versandhandel
durch eine Ladenkette zu ergänzen. Es funktionierte. Daran muß
ich denken, wenn mir heute von Geschäften im Osten wie im
Westen Deutschlands der Name Porst entgegenleuchtet.

Mit Hannsheinz Porst 1993 in Düsseldorf

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Bei einem Gespräch in Moskau entwickelte Porst seine
Vorstellungen von einer Synthese unternehmerischer Initiative
und Überführung des Eigentums in die Hände aller
Beschäftigten des Unternehmens. So faszinierend die Idee war,
so utopisch erschien sie mir. Auch konnte ich nicht glauben, daß
ein Millionär zu derartigen Experimenten wirklich bereit sein
könne. Doch unmittelbar nachdem Porst gegen Kaution aus der
Untersuchungshaft entlassen worden war, sprach er in der
Nürnberger Meistersingerhalle vor zweitausend
Belegschaftsmitgliedern über seine Vorstellungen von einer
Dezentralisierung des Konzerns, mehr Mitbestimmung der
Arbeitnehmer, Verantwortung und Initiative des einzelnen. Vier
Jahre später, als seine Unternehmen fast zweihundert Millionen
Mark Umsatz erzielten, übergab er die Porst-Gruppe mit
hundertprozentiger Gewinnbeteiligung und Selbstbestimmung
an die Mitarbeiter.
Heute sind wir beide Bürger der Bundesrepublik. Beim
Nachdenken darüber fallen mir seine Worte ein, die er 1968
sprach: »Ich bin in der Bundesrepub lik Deutschland zu Hause.
Und zwar mit meiner Meinung. Ich glaube immer noch, daß die
Bundesrepublik ein Land ist, in dem auch Gedanken, die von
den offiziellen Normen abweichen, gedacht werden dürfen. Ich
nehme mir die Freiheit nach links, da die nach rechts schon
längst wieder salonfähig geworden ist.«
William Borm war einer der interessantesten Menschen, die
ich während meiner Tätigkeit an der Spitze des
Nachrichtendienstes kennenlernte. Die Verbindung zu diesem
Politiker währte annähernd zwei Jahrzehnte bis zu meinem
Ausscheiden aus der HVA. Kurz darauf verstarb Borm im Alter
von zweiundneunzig Jahren.
Mein Dienst war Ende der 50er Jahre auf den West-Berliner
FDP-Politiker Borm gestoßen, als dieser nach Verbüßen einer
Haftstrafe in Bautzen wegen »Kriegs- und Boykotthetze« kurz
vor seiner Freilassung stand. Der wahre Grund für die neun

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Jahre Haft und auch für das Interesse meiner Leute an ihm war,
daß man Borm verdächtigte, für den britischen Geheimdienst in
der DDR tätig gewesen zu sein. Zwei Mitarbeiter der HVA
suchten Borm im Gefängnis auf. Im Gespräch erklärte er sich
bereit, nach seiner Entlassung den Kontakt zu ihnen
fortzusetzen. 1960 wurde er zum Vorsitzenden der FDP-
Landesparteiorganisation West-Berlins gewählt und wurde in
den Bundesvorstand der Partei aufgenommen. Kurz darauf trat
er in Verbindung mit den HVA-Männern, die ihn in Bautzen
besucht hatten. Ich war neugierig geworden und beschloß, selbst
einen Blick auf diesen Mann zu werfen.
In unserer konspirativen Villa erschien ein schlanker,
hochgewachsener Mann, der das fünfundsechzigste Lebensjahr
überschritten hatte. Sir William, der Beiname, den ihm die
Jungdemokraten verliehen hatten, beschreibt recht gut den
ersten Eindruck seiner Erscheinung. Selbst in legerer Kleidung
wirkte er stets elegant und vornehm. Allem Anschein nach hatte
er als Sohn eines Hamburger Fabrikbesitzers etwas von dem
angenommen und behalten, was man dort unter einem »Herrn«
versteht.
Nach unserem ersten Gespräch trafen wir uns regelmäßig.
Unseren Konsens hatten wir in der Ablehnung der
proamerikanischen Adenauer-Politik gefunden, der
bundesdeutschen Wiederaufrüstung und der Erkenntnis, daß
eine Verständigung zwischen beiden deutschen Staaten dringend
notwendig war. Vor diesem Hintergrund beriet Borm mit mir
sein politische s Agieren, zunächst innerhalb der West-Berliner
FDP, dann auf seinem Weg in den Deutschen Bundestag.
Von Borms Rolle in der West-Berliner Lokalpolitik zeugen
Willy Brandts Memoiren. Vor den Bundestagswahlen im Jahr
1965, bei denen Brandt Kanzlerkandidat war, wurden immer
wieder Spekulationen über die Möglichkeit einer
Regierungsbeteiligung der SPD laut, auch in der Variante einer
kleinen Koalition mit der FDP. Schon zwei Jahre zuvor hatte

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Borm sein Vorhaben einer solchen Koalition in der West-
Berliner Regie rung mit mir diskutiert und dieses Vorhaben auch
in die Tat umgesetzt, nachdem es ihm gelungen war, Brandt
davon zu überzeugen. Für Bonn aber war es noch früh, wie
Brandt sich in seinem Buch erinnert: »Daß es nicht ging, erfuhr
ich in den Sachgesprächen […] und, von Inhalten abgesehen: es
hätte in der geheimen Kanzlerwahl nicht gereicht. Mein
geschätzter Berliner FDP-Kollege William Borm hatte mir die
Gründe genannt und gefolgert:›Machen Sie es nicht.‹«
Bei der nächsten Bundestagswahl Ende September 1969
sahen die Voraussetzungen anders aus. Unter denkbar knappen
Mehrheitsverhältnissen läutete dieser Bundestag, dessen erste
Sitzung mit einer Ansprache des Alterspräsidenten William
Borm eröffnet wurde, die Geburtsstunde der sozialliberalen
Koalition in Bonn ein. Borm war eine der Quellen unseres
Wissens, die uns halfen, wie in einem Mosaik das Bild der
Wandlung Willy Brandts vom kalten Krieger und
Frontstadtpolitiker zum Befürworter einer neuen Ostpolitik der
Verständigung zusammenzusetzen. Die Informationen meines
Dienstes haben Ulbricht veranlaßt, eine behutsame Korrektur in
seinen Äußerungen über die Beziehungen zwischen BRD und
DDR vorzunehmen. Das zeugte von seinem guten Gespür.
Honecker war von einer solchen feinen Auffassungsgabe damals
noch weit entfernt.
In Borms Verhältnis zu meinem Dienst war der
Meinungsaustausch das Entscheidende, das gleichberechtigte
Geben und Nehmen. In mir sah er einen kompetenten und
gleichzeitig unorthodoxen Gesprächspartner, von dem er
wichtige Informationen erlangen konnte, so wie er uns wichtige
Informationen zukommen ließ.
In privaten Gesprächen lernte ich den Menschen William
Borm noch besser kennen. Daß er als Kriegsfreiwilliger im
Ersten Weltkrieg gedient hatte und in der Weimarer Republik in
die rechtsliberale Deutsche Volkspartei eingetreten war, wußte

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ich. Im Dritten Reich wurde er als Betriebsleiter zum
»Wehrwirtschaftsführer« ernannt, und die Sowjets verhafteten
ihn nach der Einnahme Berlins nur deshalb nicht, weil die
Zwangsarbeiter in seinem Betrieb nur Gutes über ihn aussagten.
Mitglied der NSDAP war er nie gewesen, und dennoch sprach er
von seiner »Mitschuld«, weil er keinen Widerstand geleistet
hatte. Das beschäftigte ihn bis zuletzt, und er sprach auch in der
Öffentlichkeit darüber. Nie wieder sollte es geschehen, daß
Unrecht widerspruchslos geduldet würde. »Ist es schon Mut,
wenn man für seine Überzeugung eintritt?« fragte er.
In diesen Gesprächen lernte ich mehr von der Haltung eines
Liberalen kennen, aber auch von einer anderen Komponente der
Weltsicht Borms, die ihn in seiner Haft aufrechterhalten hatte.
Es war das Freimaurertum, das mit Borms Verständnis von
Liberalität eine Einheit bildete. Brüderlichkeit und Dienen, diese
zentralen Begriffe der Freimaurer bestimmten für ihn den
eigentlichen Inhalt liberalen Denkens. Den Begriff Liberalismus
lehnte er zuletzt ab, weil er seiner Meinung nach aufgehört
hatte, für eine freiheitliche und unabhängige Strömung zu
stehen, und statt dessen für Opportunismus, Geschäftemacherei
und Geldvergötzung stand.
Seine politischen Maximen machten den Altliberalen William
Borm zu einer Vaterfigur für die Jungen in der Partei, denen er
nicht als Besserwisser gegenübertrat, sondern als
Gleichgesinnter. In seinem Denken war er jung und radikal. Ein
Satz, den er häufig äußerte, lautete: »Die Ketzereien von heute
sind die Banalitäten von morgen.«
Als der FDP-Vorstand sich 1979 auf die Zustimmung zum
Nato-Doppelbeschluß einigte, stimmte Borm als einziges
Vorstandsmitglied gegen den Beschluß. Als er 1981 zum Kampf
gegen den »atomaren Selbstmord« aufrief, stand er an der Spitze
der Opposition innerhalb der Partei. Im August desselben Jahres
veröffentlichte der Spiegel eine scharfe Abrechnung Borms mit
der Außenpolitik Genschers.

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Wie ungezwungen Borm mit meinen Leuten und mir umging,
zeigt sich auch in der Offenheit, mit der er seine Parteikollegen
charakterisierte. Bei aller Pointiertheit waren seine Porträts nie
denunzierend. Genscher hielt er für einen Macher, dem er das
Zeug zu einem guten zweiten Mann, nicht aber zu einem
Strategen zubilligte. Mit Sorge beobachtete er, daß Genscher in
Bonn immer häufiger bei sogenannten privaten Begegnungen
mit Helmut Kohl gesehen wurde. Er tadelte Genschers
Bereitschaft, eine politische Kehrtwende zu vollziehen, hielt ihn
aber charakterlich nicht für une hrenhaft. Für den damals noch
aufstrebenden Jürgen Möllemann hatte er allerdings nur
Verachtung und den Spottnamen Mümmelmann übrig. An
Genscher störte ihn, daß er gerade solche Karrieristen förderte.
Der Bruch mit der FDP war von Borm nicht so geplant und
kam für uns völlig überraschend. Die Geister, die er gerufen
hatte, warfen nach dem Eintritt der FDP in die
Regierungskoalition mit der CDU jedes politische Kalkül über
den Haufen. Unter Protest verließ die Parteiopposition im
November 1982 die Tagungsstätte des Berliner FDP-Parteitags.
»Hätte ich da sitzenbleiben sollen?« fragte er mich später.
Das war sein Ende als Parteipolitiker. Er wurde zwar noch
von seinen Anhängern zum Ehrenvorsitzenden der
neugegründeten Liberalen Demokraten ernannt, schätzte aber
selbst nüchtern ein, daß dieser Partei keine Zukunft beschieden
sein konnte.
Fortan sah er seine Aufgabe und sein Betätigungsfeld in der
Friedensbewegung. Hinzu kam, daß er seine Lebensgeschichte
aufzuzeichnen begann, wozu ich ihn ermuntert hatte. 1981 sah
man ihn in der ersten Reihe der Demonstranten und als Redner
vor der großen Kundgebung der Dreihunderttausend in Bonn;
das folgende Jahr leitete er zusammen mit vielen bekannten
Persönlichkeiten mit einem Friedensmanifest 1982 ein. Im
Herbst 1983 demonstrierte er mit über einer Million Menschen
gegen die geplante Aufstellung von US-Atomwaffen in der

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Bundesrepublik. Als der Bundestag im November nach
turbulenten Debatten die Stationierung mehrheitlich billigte und
die ersten Pershing-2-Raketen in das US-Depot in Mutlangen
transportiert wurden, saß der Achtundachtzigjährige im Parka
neben den anderen Demonstranten vor dem Raketenstützpunkt.
Ein langer Lebensweg hatte ihn vom Freiwilligen der
kaiserlichen Armee an die Seite der konsequentesten
Kriegsgegner ge führt.

Mit William Borm 1983 in Ost-Berlin

-461-
William Borm war, so wie ich ihn kennengelernt habe, ein
echter Deutscher, der stets von deutscher Geschichte ausgehend
politisch gedacht und gelebt hat. Zugleich war er ein
überzeugter Liberaler, der die Gedanken anderer respektierte.
Nach seinem Tod am 2. September 1987 schrieb
Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seinem
Kondolenzschreiben: »Sein Leben war bestimmt von der
Überzeugungskraft eines Demokraten, der unbeirrbar und
ungebrochen für Freiheit und Demokratie eingetreten ist, auch
um den Preis der eigenen Freiheit. Er hat stets Opfer gebracht,
wo es ihm geboten schien, seine grundlegenden Werte zu
verteidigen. Sein Wort, so unbequem es auch oft war, galt viel.
Es fand Gehör weit über die Grenzen seiner eigenen Partei
hinaus. Er hat Konflikte nicht gescheut. Aber im Grunde war er
beseelt von dem Drang, Trennendes zu überwinden nicht nur
zwischen den Generationen, sondern auch zwischen den
Deutschen im geteilten Vaterland.« Die Liberalen Demokraten
schrieben über ihren Ehrenvorsitzenden: »William Borm hat
deutsche Geschichte gestaltet. Obwohl gerade er unter
langjähriger Einzelhaft besonders gelitten hatte, war er geistiger
Wegbereiter der Friedenspolitik gegenüber dem Osten, der
Aussöhnung gerade da, als sie nahezu allen anderen als
unmöglich erschien. Er war der erste Politiker aus dem Westen,
dem die Ehrendoktorwürde einer DDR-Universität angetragen
wurde, als äußeres Zeichen, daß sein Einsatz, seine Mühen
verstanden wurden. Zugleich vereinigte er damit in seiner
Person die Widersprüche der deutschen Gegenwart.«
Wahrer und zutreffender kann man William Borm nicht
würdigen, als es diese Nachrufe des von ihm geschätzten
Bundespräsidenten und seiner Freunde, der Liberalen
Demokraten, getan haben.
Gabriele Gast gehört zu jenen, die es mir besonders schwer
machten, die Fäden zu durchtrennen, die mich mit Jahrzehnten

-462-
der Arbeit im Nachrichtendienst verbanden. Diese Frau war ein
weißer Rabe, eine Ausnahmeerscheinung in einer von Männern
dominierten Welt. Als einzige Frau war sie im BND in eine
Spitzenposition gelangt als Chefanalytikerin für die Sowjetunion
und Osteuropa und dadurch für uns zu einer Quelle geworden,
von der jeder Nachrichtendienst nur träumen kann. Lange Zeit
war es ihre Aufgabe, aus sämtlichen wichtigen Informationen
den Lagebericht für den Bundeskanzler zu erstellen.
Bei oberflächlicher Bekanntschaft lief man leicht Gefahr,
Gaby Gast mit ihrem komplizierten Charakter, ihrer hohen
Intelligenz und Bildung dem Typ kühler emanzipierter Frauen
mit ausgeprägtem Ehrgeiz zuzurechen. Ein solches
Psychogramm würde ihr Wesen jedoch völlig verfehlen, weil es
ihre Sensibilität, ihre Einzigartigkeit und ihre Anteilnahme am
anderen außer acht läßt. Die Mitarbeiter meines Dienstes, die
den ersten Kontakt zu ihr aufnahmen und sich öfter mit ihr
trafen, als dies noch möglich war, ohne daß man zu große
Gefahren einging, könnten mehr dazu sagen, wenn sie noch
lebten. Beide waren kluge Männer, die sich nicht nur durch
Geduld, die Kardinaltugend des Aufklärers, ausze ichneten,
sondern auch durch großes psychologisches
Einfühlungsvermögen. Für Gaby waren sie väterliche Freunde
und Vermittler einer Weltsicht, die zu der ihren wurde. Durch
sie fühlte Gaby Gast sich einer Gemeinschaft zugehörig, die für
eine gute Sache eintrat, für ein edles Ideal. Auch bei anderen
Menschen bürgerlicher Herkunft, die sich für unseren Dienst
engagierten, habe ich immer wieder festgestellt, daß eine solche
starke Bindung ihr auffälligstes Motiv war.
Ihr soziales Verantwortungsgefühl beschränkte sich nicht auf
die Theorie; als ihr Bruder und seine Frau ein schwerbehindertes
Kind adoptierten und sich dieser emotionalen Belastung nicht
gewachsen sahen, übernahm Gaby die zeitaufwendige und
seelisch aufreibende Pflege des Jungen, weil sie nicht wollte,
daß er in ein Heim abgeschoben wurde.

-463-
Als Gaby Gast Ende der 60er Jahre an ihrer Dissertation über
die politische Rolle der Frau in der DDR arbeitete, besuchte sie
erstmals die DDR, um dort zu recherchieren, und lernte die
beiden Mitarbeiter meines Dienstes kennen. Ab 1968 wurde ein
Mitarbeiter der HVA, der sich Gaby gegenüber als Karl-Heinz
Schmidt ausgab, zu ihrem ständigen Betreuer, und das
Verhältnis zu ihm entwickelte sich zu einer Liebesbeziehung.
Einige Zeit nach ihrer Promotion 1973 bei Klaus Mehnert,
dem bekannten Osteuropaspezialisten, bot ihr der BND eine
Stelle als Analytikerin an. Die strengen Bestimmungen ihres
neuen Arbeitgebers erlaubten keine Reisen in die DDR mehr.
Treffen mußten während Gabys Urlaubstagen umständlich in
Drittländern arrangiert werden.
Ihre Arbeit für uns war hervorragend. Sie hatte Zugang zu
vielen außenpolitischen Interna der Bundesrepublik und der
Nato und zu Berichten über die Einschätzung der Lage im
Ostblock. Ihr verdankten wir ein Wissen über die Sicht des
Westens auf den Osten, das uns erlaubte, die richtige Wertung
zu haben, als Anfang der 80er Jahre die polnische Innenpolitik
ihre dramatische Veränderung erlebte.
Die Analysen, die sie für uns verfaßte, zeugten von ihrer
herausragenden Fähigkeit, das Wesentliche zu erfassen und
darzustellen. Ich weiß, daß ihre Vorgesetzten beim BND diese
Einschätzung geteilt haben. Wenn wir Originaldokumente
benötigten, fertigte sie Mikrofilmkopien an, die sie in Toiletten-
oder Kosmetikartikeln versteckte. Anfangs fand die Übergabe
statt, indem Gaby Gast die präparierten Gegenstände im
Toilettenabteil der Züge versteckte, die von München in den
Osten fuhren, doch das war zu riskant und zu umständlich, und
deshalb übernahm dies ein Kurier, der in München,
vorzugsweise in Umkleidekabinen von Schwimmbädern, das
Material entgegennahm.
Da Gaby Gast sich in kurzer Zeit zu einer unserer
Spitzenquellen entwickelt hatte, fand ich es ratsam, mich Mitte
-464-
der 70er Jahre selbst mit ihr zu treffen. Wir begegneten uns in
einem Bungalow an der jugoslawischen Adriaküste. Die
Atmosphäre war zu Anfang gehemmt, doch je länger wir uns
unterhielten, um so ungezwungener und fesselnder wurde das
Gespräch mit dieser Frau, deren wacher und lebhafter Intellekt
mich tief beeindruckte.

Mit Gabriele Gast 1981 in Dresden


Als wir uns einige Jahre später wiedersahen, war sie vom
Dauerstreß der Konspiration, von ihren persönlichen Problemen
und von der Bürde der Verantwortung für das Kind gezeichnet.
Als wir uns einmal über den Nürnberger Kriegsverbrecher-
Prozeß unterhalten hatten, hatte sie mir danach einen Bildband
über Nürnberg geschickt, in den sie geschrieben hatte: »Neues
Nürnberg – Altes hinter neuen Fassaden oder Neues in
wiedererstandenen alten Gemäuern? Dreißig Jahre nach
›Nürnberg‹ muß der Kampf weitergehen.« Diesen Kampfgeist
sah ich ungemindert in ihr. Probleme waren daraus erwachsen,
daß der Kontakt zwischen ihr und uns immer unpersönlicher,

-465-
immer marginaler geworden war, so daß sie sich zu fragen
begonnen hatte, ob sie nichts weiter als ein »Schräubche n im
Getriebe« sei. Bei unserem Gespräch erfuhr ich, wie wichtig es
ihr war, mit dem, was sie für uns tat, etwas Sinnvolles zu leisten.
Meine anfänglichen Befürchtungen, sie wolle sich zurückziehen,
hatte ich zu Unrecht gehegt. Gaby wollte nur offen mit mir über
ihre Situation und über ihre politischen Sorgen sprechen. Sie
prognostizierte, daß autonome Reformbewegungen über Polen
hinaus im ganzen Ostblock Fuß fassen würden. Sie sah die
größere Selbständigkeit der kleineren Staaten, ihr gewachsenes
Selbstbewußtsein, als logische Folge vornehmlich ökonomischer
Prozesse. Meine Sorge über die Stagnation im sozialistischen
System, vor allem nach dem Tod Andropows, konnte ihr gewiß
nicht verborgen bleiben.
Es war eine Begegnung, bei der wir sehr ernsthaft miteinander
sprachen und die uns nachdenklich zurückließ.
Die Karriere unserer Spitzeninformantin in Pullach schien
unaufhaltsam nach oben zu führen. Welche hohe Wertschätzung
sie in ihrer Behörde genoß, läßt sich daraus ablesen, daß sie
1986 beauftragt wurde, einen Geheimbericht für den
Bundeskanzler über den Verdacht abzufassen, daß westdeutsche
Firmen in Libyen am Bau einer Fabrik für chemische Waffen
beteiligt waren. Ein Jahr später wurde sie zur stellvertretenden
Leiterin der Ostblockabteilung des BND befördert.
Nach dem Zusammenbruch der DDR fand noch ein Treffen
Anfang 1990 in Salzburg statt, bei dem letzte Dinge mit ihr
besprochen wurden. Alle Unterlagen, die mit ihr zu tun hatten,
waren bereits vernichtet worden, so daß ihre Identität nicht
enthüllt werden konnte. Aber das war ein Irrtum.
Wie sich herausstellen sollte, waren einige Mitarbeiter der
HVA auf den Gedanken verfallen, sich im wiedervereinigten
Land dadurch Vorteile zu sichern, daß sie andere denunzierten.
Karl-Christoph Großmann (mit Werner Großmann nicht

-466-
verwandt) tat sich dabei besonders hervor. Er lieferte den
entscheidenden Hinweis auf Gaby, weil er mitangehört hatte,
wie sich andere Mitarbeiter darüber unterhielten, daß eine Frau
mit einem behinderten Kind im BND für uns arbeitete. Im
Spätherbst 1990 wurde sie an der österreichischen Grenze
festgenommen.
Nach der schockierenden Meldung ihrer Verhaftung habe ich
mich gefragt, ob ich sie damals, Mitte der 80er Jahre, hätten
freigeben sollen, indem ich ihr offen meine Zweifel anvertraut
und ihr eingestanden hätte, daß der »reale Sozialismus« sich
auch für mich als Truggebilde herausgestellt hatte, an das ich
nicht mehr glauben konnte. In einem Brief aus der
Untersuchungshaft schilderte sie mir ihre Lage und besonders
ihr Entsetzen, als sie begriff, daß ein leitender Offizier unserer
Zentrale sie verraten hatte, daß genau das eingetreten war, was
meinen wiederholten Versicherungen zufolge nie und nimmer
hätte eintreten können.
Zwei Jahre vergingen zwischen unserem Briefwechsel und
unserer Wiederbegegnung bei meinem Prozeß. Daß ihr Auftritt
als Zeugin, die aus der Haft vorgeführt wurde, sie nervlich
belastete, merkte man an ihrer Anspannung. In der Prozeßpause
konnten wir uns ungestört unterhalten, und wir vereinbarten, uns
sobald wie möglich zu treffe n, um ausführlicher über alles zu
sprechen, was uns bewegte. Anfang Februar 1994 war es soweit
– Gaby Gast war nach Verbüßung der Hälfte ihrer Haftstrafe
wieder auf freiem Fuß. Ende März besuchte sie mich. Wir
unternahmen stundenlange Spaziergänge und redeten bis tief in
die Nacht.
Wieder und wieder kam sie auf das zurück, was sie in den
Haftjahren gequält hatte, die Frage nach den Quellen des
detaillierten Wissens ihrer Vernehmer. Das Verhalten Karl-
Heinz Schmidts, ihres »Karliceks«, der vor Gericht ganz anders
hieß, und ihres letzten Führungsoffiziers wurde für sie zu einer
herben Enttäuschung. Nach ihrer Rückkehr schrieb sie mir, daß

-467-
unsere Gespräche die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit für sie
erträglicher machen würden, obschon sie auch neue
Verwundunge n erlitten habe.
Wahrheiten können nicht nur hilfreich, sondern ebenso
schmerzhaft sein. Gerade aus diesem Brief spürte ich ihre
Charakterstärke und ihre Sensibilität gegenüber Lebensfragen.
Deshalb möchte ich daran glauben, daß wir uns auf unserem
»Weg der Erkenntnis« auch künftig immer wieder treffen
werden. Daß nicht verlorengeht, was an die Stelle
nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit getreten ist: eine
Freundschaft.

-468-
19 Glanz und Elend der Spionage

»Man darf die einen nicht unreflektiert zu Trägern des Guten


machen und die anderen zu Missetätern, indem man sie nach
relativ positiven oder negativen Kriterien bewertet. Diese wie
jene wechseln je nach historischen Umständen, dem Charakter
einer Gesellschaft, des Zeitalters und der subjektiven
Ansichten«, schreibt der japanische Philosoph Daisaku Ikeda.
Die eigene Verstrickung in die geheimen Seiten des kalten
Krieges und die Erfahrung des im Namen Sozialismus
betriebenen Machtmißbrauchs sind tiefe Einschnitte in meiner
Biographie. Das Wissen um meine politische und moralische
Mitverantwortung für vieles, was in der vierzigjährigen
Geschichte der DDR geschah, wird mich verfolgen. Doch dies
steht nicht zuvorderst auf dem Blatt meiner Verantwortung als
Leiter eines Nachrichtendienstes.
Genausowenig wie die Partnerdienste der Warschauer-Pakt-
Staaten konnte mein Dienst den Untergang des Systems
verhindern, dem wir dienten. Im Gespräch mit Michael Kohl,
dem Bonner Botschafter der DDR, hat Helmut Schmidt einmal
in seiner direkten Art gesagt: »Man soll mit den lästigen
Spionagegeschichten aufhören. (…) Das, worauf es ankommt,
weiß man sowieso. (…) Der Aufwand ist unnötig und stellt eine
Wichtigtuerei dieser Dienste dar, die ihre Existenzberechtigung
nachweisen und ihre Planstellen erhalten wollen.«
Ein anderer Beobachter urteilte nach dem Übertritt Tiedges
nicht weniger hart über das, was er den Unfug der
Geheimdienste nannte: »Ihre Aktionen erinnern zuweilen an das
Cowboy- und Indianerspiel von Kindern: KGB-Agenten wachen
über CIA-Agenten, die gemeinsam mit dem
Bundesnachrichtendienst, dem israelischen Mossad oder dem
britischen MI 5 Moskaus KGB-Agenten beschatten und
bekämpfen. Dafür werden den Diplomaten Callgirls auf den

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west-östlichen Diwan gelegt, Regenschirmspitzen vergiftet,
alternde Sekretärinnen erhalten Rosen von östlichen Kavalieren.
Keine Nation der Welt glaubt, ohne Geheimdienst auskommen
zu können. Die Hauptarbeit der meist aufgeblähten Behörden
erschöpft sich weitgehend darin, einander das Leben zu
erschweren. Die Deutschen in ihrer geteilten Nation haben es
dabei zu wahrer Meisterschaft gebracht, fügen Pyrrhussieg an
Pyrrhussieg.«
Eine eigene Eintragung, 1974 nach den Feiern zum 25.
Jahrestag der DDR geschrieben, führte mir beim Blättern in
meinem Tagebuch vor Augen, daß die Frage nach dem Sinn
nachrichtendienstlicher Tätigkeit mir nicht erst seit dem
Scheitern des »real existierenden Sozialismus« durch den Kopf
geht: »Bei der Diskussion über Geheimdienste taucht neben der
Frage cui bono? die Frage auf: Nutzen sie überhaupt? Dabei
geht es nicht nur um diese Apparate; die Armeen verschlingen
das Vielfache an Milliarden. Doch fast sämtliches in der Nato
produzierte Papier, mit Stempeln cosmic und streng geheim
versehen, das wir mit hohem Aufwand beschaffen, ist bei
näherem Hinsehen nicht einmal dafür gut, an einem stillen
Örtchen verwendet zu werden. Und wer will bei uns im Innern
den Nutzen der Riesenapparate von Partei, Staat und Wirtschaft
messen, die sich zum erheblichen Teil gegenseitig beschäftigen,
anleiten, kontrollieren? Wie viele nützlichere Dinge könnten
getan werden, wie viele Menschen eine wirklich befriedigende
Tätigkeit ausüben, wenn diese Zöpfe beschnitten würden. Aber
die Monster wachsen unaufhaltsam.«

-470-
Tagebucheintrag vom 16. 10. 1974 (Transkription im Anhang)

-471-
Tagebucheintrag vom 17. 10. 1974 (Transkription im Anhang)

Das Elend beginnt dort, wo die Nachrichten der Dienste auf


Ignoranz und Arroganz stoßen, wo ihre Warnungen in den

-472-
Archiven verstauben, falls sie nicht gleich in den Reißwolf
gewandert sind. In der Politik fällt die Entscheidung, ob die
Arbeit der Nachrichtendienste Nutzen stiftet oder zur
Sinnlosigkeit verurteilt ist. Als ich an der Spitze meines
Dienstes stand und mich immer wieder nach dem Sinn der Opfer
fragen mußte, die wir vielen Mitarbeitern abverlangten, und
auch jetzt beim Niederschreiben meiner Gedanken bewegte und
beschäftigt mich das Schicksal jener, die wir als unsere
Vorläufer und Vorbilder ehrten. Wie mochten Richard Sorge
oder Harro Schulze-Boysen und seine Gefährten den Wert ihres
Tuns, den Sinn ihres Lebens gesehen haben, als sie den Weg
zum Schafott gingen?
Sie hatten, bevor sie starben, die verheerenden Niederlagen
der Roten Armee in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs
erlebt. Trotz ihrer sehr präzisen Warnungen schien die Führung
der Sowjetarmee völlig überrascht worden zu sein. Dennoch
setzten sie ihre lebensgefährliche Tätigkeit bis zuletzt fort.
Durch ihren Tod blieb ihnen die bittere Wahrheit erspart, daß
Stalin ihre Warnungen in den Wind geschlagen hatte.
Sorge in Tokio, die Rote Kapelle in Berlin, Leopold Trepper
in Frankreich, Sandor Rado in der Schweiz und Gerhard Kegel
an der deutschen Botschaft in Moskau – sie füllen die
Ruhmesseiten nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Das Elend war
die Behandlung ihrer Meldungen durch einen Mann, der in
maßloser Selbstherrlichkeit alles, was seiner vorgefaßten
Meinung nicht entsprach, mit einer Handbewegung vom Tisch
fegte.
Mein Bruder Konrad empfahl mir eines Tages, den Roman
Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss zu lesen, dem er
eng verbunden war. Für das Erscheinen dieses Werkes in der
DDR hatte er sich als Präsident der Akademie der Künste
nachdrücklich eingesetzt und keine Auseinandersetzung mit der
Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED gescheut. In
wenigen Tagen verschlang ich die drei Bände: Es war mein

-473-
Thema! Zehn Jahre hindurch hatte Weiss umfangreiches
Material für das Buch gesammelt. Seine Notizbücher darüber
sind eine aufregende Lektüre. Immer wieder stieß ich auf
vertraute Namen. Die Veröffentlichung seiner Recherchen über
die Verbrechen und die Opfer des Stalinismus waren in der
DDR sensationell.
Trotz der Faszination, die das Werk auf mich ausübte, blieb
Widerspruch in mir zurück. Auch Peter Weiss stellte die Frage
nach dem Sinn der Opfer und des Lebens von Kundschaftern. Er
beschreibt ihren Gang zum Schafott und ihre Enthauptung so
eindringlich, daß die Bilder mich bis in meine Träume
verfolgten. Seine Darstellung empfand ich als zutiefst
pessimistisch. Ich sträubte mich innerlich heftig gegen seine
Skepsis. Noch stand ich im Bann des historischen Optimismus,
zu dem sich Harro Schulze-Boysen bekannte, als er kurz vor
seiner Hinrichtung schrieb: »Der Stunde Ernst will fragen: Hat
es sich auch gelohnt? An Dir ist's nun zu sagen: Doch! Es war
die rechte Front!« Dieses Bekenntnis entsprach meiner
Überzeugung – die Opfer konnten, nein, sie durften nicht
umsonst gewesen sein.
Aber Opfer und Entbehrungen, Risiken und Mut sagen nichts
über den Wert nachrichtendienstlicher Tätigkeit aus, weil deren
Effizienz letztlich nur von der Bereitschaft des Die nstherrn
abhängt, den Informationen auch dann Rechnung zu tragen,
wenn sie von seinem Urteil abweichen oder ihm sogar
widersprechen.
Dem Außenstehenden muß die Welt der Geheimdienste
manchmal absurd und surreal, ihr Tun unmoralisch, zumindest
als sinnloses Spiel erscheinen. Um so dringlicher stellt sich nach
dem Ende des kalten Krieges die Frage nach einer weiteren
Existenzberechtigung der Dienste – nicht nur hierzulande, auch
in der US-Öffentlichkeit. Nach dem Skandal um Aldrich Ames
mußte die CIA es sich gefallen lassen, daß ihre Funktion kritisch
durchleuchtet wurde, und sie bekam keine guten Noten.

-474-
Gewiß könnten die aufgeblähten Apparate der Geheimdienste
einer unparteiischen und objektiven Prüfung ihrer Effizienz und
der sachlichen Notwendigkeit ihres Umfangs nicht standhalten.
Im Satellitenzeitalter hat die technische Aufklärung
Riesenschritte gemacht; die wachsende Bedeutung der
analytischen Arbeit heißt, daß durch sinnvolle Konzentration
viel überflüssiger Aufwand und Doppelgleisigkeit vermieden
werden könnten. Dennoch glaube ich, daß die Arbeit mit
menschlichen Quellen, solange diese Dienste existieren, nie
ganz zu ersetzen sein wird. Technisch kann man nur den Ist-
Zustand des überwachten Gebietes annähernd genau feststellen.
Geheime Pläne, Optionen und Entscheidungen müssen auch
dem höchstentwickelten Satelliten verborgen bleiben.
Hochwertige Quellen in den entscheidenden Bereichen, in die
man eindringen will, zu gewinnen und aufzubauen, das
allerdings hängt nicht von der Anzahl der Mitarbeiter in der
Zentrale ab, sondern von den eigenen Führungsqualitäten. Im
Unterschied zu anderen leitenden Offizieren im MfS habe ich
nie um erweiterte Kompetenzen und Stellenpläne gekämpft.
Selbst wenn man also Nachrichtendienste auch künftig für
unverzichtbar hielte, ließe sich ihre Größe erheblich
einschränken. Gegenwärtig besteht jedoch eher die Tendenz, sie
aufzublasen. Wenn als Begründung dafür sogar die Bekämpfung
der Schwerkriminalität herhalten muß, dann drängt sich der
Verdacht auf, daß hier unter der Hand ganz andere Ziele verfolgt
werden.
Vielleicht steht es nicht gerade mir zu, darauf hinzuweisen,
daß es gewissermaßen in der Natur der Sache liegt, daß
Nachrichtendienste undemokratisch und denkbar ungeeignet
sind, Bürgerrechte zu schützen. Aber es ist so. Die Arbeit mit
Geheimagenten schließt eine vorbehaltlose Offenlegung aus.
Selbst ein auf wenige, streng ausgesuchte Abgeordnete
begrenzter Kontrollausschuß, wie er im Deutschen Bundestag
oder im Kongreß der USA besteht, vermag diese Barriere nicht

-475-
zu überwinden. Davon zeugt die endlose Geschichte der
Skandale in allen parlamentarischen Demokratien.
Also doch weg mit den »Monstern«?
Was spricht am Ende der Geschichte dieses Jahrhunderts,
dessen Zeugen wir gerade wurden, eigentlich dagegen, diese
Frage zu bejahe n? Erfahrung und Vernunft lassen mich an der
Realisierbarkeit einer solchen Vorstellung in absehbarer
Perspektive zweifeln. Regierungen sind niemals bereit, von sich
aus darauf zu verzichten, Machtpolitik nach außen wie nach
innen auszuüben und die überkommenen Bahnen ihres Denkens
zu verlassen. Nach dem Verschwinden der behaupteten
Bedrohung durch den Ostblock hat keine einzige Regierung
eines Nato-Mitgliedstaates die Existenzberechtigung
hochgerüsteter Armeen in Europa oder gar des Bündnisses
selbst in Frage gestellt. Warum sollten sie dann ausgerechnet
ihre Geheimdienste abschaffen?
Daß der BND auch lange nach der Ära Gehlen Dossiers über
prominente Bundesbürger führte, vorzugsweise
Sozialdemokraten und als linkslastig eingestufte
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ist allgemein bekannt.
Er zeigte auch wenig Skrupel dabei, seine Beziehungen zu
Nachrichtendiensten verbündeter Länder zu nutzen, um deren
Interna mittels jener Chiffriertechnik auszuforschen, die er ihnen
selbst geliefert hatte. Überhaup t ist es kaum zu fassen, mit
welchem Aufwand die Nato-Verbündeten sich untereinander
überwacht und bespitzelt haben. Aber ein besonders finsteres
Kapitel stellen die illegalen Waffenlieferungen der
Geheimdienste in Krisengebiete dar.
Eine 1994 vom Forschungsinstitut für Friedenspolitik in
Weilheim erstellte Studie zur »Zukunft der Nachrichtendienste
der KSZE-Staaten und Japans« gelangt zu dem Schluß, daß
heute weltweit mehr spioniert wird als zu Zeiten des kalten
Krieges. Vor allem in Deutschland, heißt es, »tummeln sich
mehr Nachrichtendienste als je zuvor«, nur hat sich der
-476-
Schwerpunkt von der Ausspähung militärischer Geheimnisse
zur Wirtschaftsspionage verschoben. Diese Einschätzung deckt
sich mit Erkenntnissen von Experten der Bundesregierung.
Allerdings versäumen diese Experten, den naheliegenden Schluß
zu ziehen, daß die Dienste sich mit fremden Federn schmücken,
um gegenüber Regierungen und Parlamenten ihre
Existenzberechtigung zu demonstrieren, denn die großen
Wirtschaftsunternehmen haben längst ihre eigenen Spionage-
und Sicherheitsdienste auf- und ausgebaut. Auf diesem Gebiet
sind die Amerikaner von erfrischendem Pragmatismus: Robert
Gates, CIA-Direktor unter Präsident Bush, hat offen
ausgesprochen, daß gerade auf dem Feld der
Wirtschaftsspionage seines Erachtens eine der wichtigsten
Aufgaben nachrichtendienstlicher Tätigkeit in der Zukunft
liegen wird. Mehr denn je benötige die Regierung zuverlässige
Analysen globaler wirtschaftlicher Trends, der technologischen
Entwicklung anderer Länder und deren Aktivitäten in der
Wirtschaftsspionage. Im übrigen ist die Wirtschafts- und
Industriespionage keine neue Entdeckung, sondern spätestens
seit dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil aller
Nachrichtendienste.
Aber es gibt noch andere Gebiete, auf denen die
Geheimdienste trotz aller angebrachten Skepsis ihrem Tun
gegenüber nützlich sein und international kooperieren könnten.
Als Beispiele will ich nur die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus und der sich ausbreitenden Drogenmafia nennen.
Das leider bei Politikern immer noch verbreitete Lawandorder-
Denken verleitet diese nur zu oft dazu, die mit dem Terrorismus
und der Drogenmafia einhergehenden Gefahren als
Rechtfertigung für den Ausbau eines inneren
Repressionsapparates vorzuschieben. Allzu gern verlange n
bestimmte Kreise bei jedem Anlaß Überwachung linker
Organisationen und Einschränkung der Bürgerrechte.
Was die Atommafia betrifft, so entsprechen die bisherige

-477-
Vorgehensweise und die internationale Koordinierung nicht
einmal annähernd der Herausforderung, die das noch
vorhandene Vernichtungspotential der Waffenarsenale darstellt.
Trotz erster bescheidener Abrüstungsschritte bedrohen Kern-
und Trägerwaffen nicht nur die Sicherheit einzelner Staaten und
Regionen, sie gefährden noch immer den Weltfrieden.
Meldungen über die Inbetriebnahme geheimer Anlagen in
sogenannten
Schwellenländern, die meist in instabilen Regionen oder
Krisengebieten liegen, signalisieren die latente Gefahr. Sofern
Nachrichtendienste sich auf eine diesbezügliche Tätigkeit
berufen, muß gefragt werden, in wessen Hände ihre
Erkenntnisse gelangen und zu welchem Zweck. Dem echten
friedlichen Zusammenwirken der Dienste sind noch immer
zahlreiche und sehr enge Grenzen gesetzt. Deshalb geht der
Kampf im dunkeln weiter. Dieser Kampf ist kein Spie l, denn er
findet in einer sehr realen problembeladenen Welt statt.
Vielleicht ermöglicht es das Ende der Konfrontation zwischen
Ost und West, die unkontrollierte Macht der Dienste zu
beschneiden. Admiral Schmähling, dessen Forderung nach dem
Abschaffen der Geheimdienste von Kollegen, die sich selbst
gern realistisches Denken bescheinigen, als Utopie abgetan
wird, pflegt auf dieses Argument zu erwidern, unsere Welt
brauche Utopien. Dem möchte ich hinzufügen, daß eine
zivilisierte Welt Regierungen braucht, deren Politik sich von der
kompromittierten Machtausübung in internationalen
Beziehungen wie gegenüber den Bürgern des eigenen Landes
abwendet und zur Respektierung des Rechts auch auf Gebieten
hinführt, wo es bisher ausgeklammert blieb. Ohne derartige
politische Zielsetzungen muß die Forderung nach der Bändigung
der »Monster« ein frommer Wunsch bleiben.
Als ehemaligen Leiter eines mit seinem Staat
untergegangenen Nachrichtendienstes, der dem Urteil eines
amerikanischen Kollegen zufolge zwar der bessere war, aber das

-478-
Endspiel verloren hat, beschäftigt mich die Frage einer
künftigen Rolle der Geheimdienste nur noch am Rande. Sie ist
in meinen Augen Teil der größeren und wichtigeren Frage nach
der Rolle der Macht in der Gesellschaft, ihres Gebrauchs oder
Mißbrauchs, besonders durch den Staat.

-479-
Epilog

Das Schlußwort, das ich zu meinem Prozeß in Düsseldorf


1993 hielt, endete mit den Worten: »Mit Siebzig ist es sicher an
der Zeit, sich nach der Bilanz des eigenen Lebens zu befragen.
Hier steht das Wort ›Verrat‹ im Raum. Habe ich etwas von den
Werten verraten, die meinen Lebensweg begleitet haben, die
meinen Vorbildern, meiner Familie, mir selbst wert und teuer
waren? Wir haben geirrt, vieles haben wir falsch gemacht, die
Fehler und ihre Ursachen viel zu spät erkannt. Aber ich halte an
den Werten fest, mit denen wir die Welt verändern wollten. Es
war ein hoher, wahrscheinlich zu hoher Anspruch.«
Wenn ich nach allem, was hinter mir liegt, mit gutem
Gewissen sage, daß ich nichts verraten habe, was meiner
Familie und mir teuer war, bedeutet dies, daß ich auch bei noch
so kritischem Rückblick mein Leben und meine
Wertvorstellungen nicht in Frage stelle. Wir haben Spuren
hinterlassen, auch Wunden und schmerzende Narben, wir haben
aber nicht umsonst gelebt.
Wenn ich mich an meine Jugend in der Sowjetunion erinnere,
dann fallen mir nicht zuerst die Verbrechen Stalins ein, die mir
erst später bewußt wurden, und es fällt mir auch nicht der Pakt
mit Nazideutschland ein, sondern das Leben in Kriegszeiten.
Der Zweite Weltkrieg war das tief eingreifende Ereignis im
Leben vieler Menschen; er endete mit dem Untergang des
Dritten Reichs. Daß wir als Deutsche an der Seite der Sowjets
gegen Hitlers Truppen kämpften, war kein Verrat an
Deutschland. Mag der Beitrag meiner Familie und der anderer
Emigranten, gemessen an den Opfern und Leiden der
überfallenen Völker, noch so gering gewesen sein, so brauche
ich mich doch dieses Teils meiner Biographie nicht zu schämen.
Ebensowenig kann ich mich meines Anteils an dem Versuch
schämen, den die DDR in den Nachkriegsjahren unternahm, die

-480-
Wurzeln des Nationalsozialismus, seiner Verbrechen und des
schlimmsten aller bisherigen Kriege bloßzulegen. Unter diesem
Zeichen stand auch meine frühe Tätigkeit im Geheimdienst.
Und bei aller Verstrickung in Ungerechtigkeit und
Niederträchtigkeiten des kalten Krieges bin ich stolz darauf, daß
meine geheimdienstliche Tätigkeit zum Status quo in Europa
und somit zur längsten Friedensperiode in der modernen
Geschichte Europas und zur Verhinderung eines atomaren
Infernos beigetragen hat.
Wenn ich mich entschieden gegen Versuche wehre, die
Geschichte der DDR zu kriminalisieren und ihre
antifaschistischen Ursprünge zu leugnen, kann ich dennoch
meinen Anteil an der Verantwortung für die Schattenseiten ihres
Systems und für die Ursachen ihres Scheiterns nicht abstreiten.
Durch meine Position und meine Tätigkeit war ich Teil dieses
Systems, nahm ich an der Macht teil. Mit der Macht umzugehen
bedeutet aber immer, Verantwortung für ihren Mißbrauch, auch
durch andere, auf sich nehmen zu müssen. Das habe ich als Teil
meiner Lebensbilanz zu tragen.
Immer wieder habe ich mich seit 1989 nach den Ursachen des
jämmerlichen Untergangs unseres Staates gefragt und danach,
was ich meinen wachsenden Erkenntnissen folgend früher,
mutiger, konsequenter hätte tun können, tun müssen. Mangelnde
Courage, meine Meinung zu vertreten, war es nicht, was mich
lahmte. Es war vielmehr der Zweifel, in dem System, wie es
beschaffen war, durch offenes Opponieren etwas Sinnvolles
bewirken zu können. Wie viele meiner Freunde scheute ich
davor zurück, heilige Kühe wie die in der Verfassung
festgeschriebene führende Rolle der Partei anzutasten, obwohl
wir tagtäglich zu spüren bekamen, wie diese Führung jeden
Meinungsstreit, jede schöpferische Diskussion im Keim
erstickte. Wie gebannt warteten wir auf einen
Generationswechsel in der Führung, auf Veränderungen von
oben, vor allem in Moskau, ohne zu begreifen, daß wir uns

-481-
selbst die Hände banden, indem wir alles Handeln delegierten.
Schließlich kam die Veränderung von oben in Gestalt Michail
Gorbatschows. Ihm galten auch meine Hoffnungen, doch nicht
sehr lange. Die Zeit war abgelaufen; das 1917 in Rußland
ausgerufene Gesellschaftsmodell gescheitert.
Was bleibt von unseren Idealen, was von den Mühen, den
Sozialismus Wirklichkeit werden zu lassen? Wir glaubten, den
Ideen treu zu folgen, die Marx und Engels im Kommunistischen
Manifest formuliert hatten; wir glaubten, an einer Gesellschaft
mitzuwirken, in der die großen Ideale der Französischen
Revolution mehr Lebenskraft besäßen als im kapitalistischen
System. Wir sind gescheitert – aber nicht, weil wir zuviel
Sozialismus praktizierten, sondern zuwenig. Das ist meine feste
Überzeugung, so, wie es meine Überzeugung ist, daß die unter
Stalin begangenen Verbrechen nicht Verbrechen des
Kommunismus, sondern Verbrechen am Kommunismus waren.
Mein Weg zur sozialistischen Bewegung begann zu einer
Zeit, als unter Stalin der Begriff der Freiheit des einzelnen
bereits der bedingungslosen Unterordnung unter die
Parteidoktrin geopfert war, dem bedingungslosen Gehorsam, der
sich letztlich in nichts vom Kadavergehorsam des
Obrigkeitsstaates unterschied, zu einer Zeit, als Ideale von
zynischen Machtinhabern mißbraucht wurden, um eine
disziplinierte Gesellschaft zu manipulieren.
Die Realität in der Gesellschaft der DDR hatte mit
Demokratie und Sozialismus zunehmend wenig zu tun, und
daran ist diese Gesellschaft erstickt und ihr System zerbrochen.
Ohne Demokratie als unerläßliche Prämisse aber mußte unsere
Gesellschaft in einem Vergleich mit der pluralistischen
Demokratie eines entwickelten kapitalistischen Landes den
kürzeren ziehen. Die größere soziale Sicherheit allein konnte die
fehlende Reisefreiheit und das ständige Reglementieren freier
Meinungsäußerung nicht aufwiegen.
Für viele meiner La ndsleute hat die strahlende Fassade des
-482-
Westens mehr versprochen, als sie halten konnte. Viele müssen
erkennen, daß manche Menschenrechte in der DDR größer
geschrieben wurden. Das Recht auf Arbeit und das auf eine
bezahlbare Wohnung werden in dem Maße wertgeschätzt, in
dem sie verlorengehen. Die Entsolidarisierung in der
Gesellschaft wird als schwerwiegender Verlust empfunden.
Man mag einwenden, daß eine Kritik an den demokratischen
oder undemokratischen Verhältnissen im Kapitalismus nicht
anhand der Meßlatte eines sozialistischen Ideals vorgenommen
werden dürfe. So richtig das ist, kann ich darauf nur erwidern,
daß ich mich genausowenig wie andere damit abfinden kann, ein
Gesellschaftssystem zu akzeptieren, in dem seit Jahrzehnten die
Reichen unbestritten immer reicher und die Armen immer ärmer
werden. Sollen die Menschen sich auf Dauer mit einem
Zivilisationsmodell zufriedengeben, das dadurch charakterisiert
werden kann, daß alles unter dem Diktat des Besitzes steht?
Die Macht des Geldes übt nicht weniger Gewalt aus als die
Macht des Staates. Sie wirkt weniger vordergründig, ist aber
nicht weniger brutal. Wenn Machtmißbrauch wie im »realen
Sozialismus« mit der Manipulation eines Ideals beginnt, so wird
im Kapitalismus das Ideal von der individuellen Freiheit im
Interesse der Macht des Geldes und zum Schaden für die
Mehrheit der Gesellschaft mißbraucht. Nicht nur ich empfinde
großes Unbehagen angesichts einer Politik, die keine
Zukunftsvisionen anzubieten hat und sich auf das Erhalten des
Bestehenden zurückzie ht. Eine diffuse Angst vor der Zukunft ist
vielerorts zu spüren, und sie rührt daher, daß unser
gegenwärtiges Gesellschaftssystem die großen Probleme, vor
denen die Menschheit steht, nicht zu lösen vermag, sondern
immer neue und größere Probleme erzeugt.
Manchmal werde ich gefragt, welchen Rat und welche
Erfahrung ich meinen zehn Enkeln mit auf den Weg geben kann.
Ihnen reiche ich die Lebensmaxime meines Vaters über die
Zivilcourage weiter. Für einen jungen Menschen ist nichts

-483-
wichtiger, als sich eine eigene Meinung zu bilden. Kaum
weniger wichtig scheint mir jedoch der Mut, diese Meinung
auch zu vertreten, selbst wenn dies mit Unannehmlichkeiten
verbunden ist. Aus meiner Erfahrung möchte ich ihnen auch
nahelegen, die Meinung anderer unbedingt zu respektieren und
niemals zu versuchen, anderen die eigene Meinung mit Gewalt
aufzuzwingen.
Ich weiß nicht, wie viele junge Menschen heute von einer
gerechteren Welt träumen. Utopien – da pflichte ich Elmar
Schmähling bei – werden gebraucht, sie lassen sich nicht
einfach außer Kraft setzen. Ohne das weitere Suchen nach einer
Alternative müßten wir zusehen, wie unser Planet schleichend
oder mit einem Knall zerstört wird. Ich habe die Hoffnung nicht
aufgegeben, daß auch künftig Idealisten eine
Gesellschaftsordnung anstreben werden, in der Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit Wirklichkeit werden sollen. Ob
ihnen bei ihrem Weg der gute alte Marx noch eine Richtschnur
sein kann, das müssen sie selbst prüfen und herausfinden.
Unweit meiner Wohnung im Zentrum Berlins haben junge
Leute auf ein Marx-Engels-Denkmal die Worte aufgesprüht: Wir
sind unschuldig. Sie hatten recht. Der kalte Krieg ist zu Ende,
ein Modell des Sozialismus, dessen Beginn mit großen
Hoffnungen verbunden war, ist gescheitert, doch meine Ideale
habe ich nicht verloren. Die Worte der Sprayer drücken auch das
aus, was Jean Ziegler sagte, als er seinem Buch über die
Unsterblichkeit des Marxismus den Titel gab: A demain, Karl –
bis morgen, Karl.

-484-
Vor dem Marx-Engels-Denkmal in Berlin 1993

-485-
Danksagung

Seit Ende der 70er Jahre hat dieses Buch mich beschäftigt.
Daran zu schreiben begann ich 1991 in Moskau. Die erste
Fassung habe ich während meines Prozesses Ende 1993 beendet,
die Endfassung Anfang 1997.
Für Rat, Unterstützung und die in erster Linie bezeigte
Solidarität und Hilfe bei der Vorbereitung der englisch- und
deutschsprachigen Ausgabe danke ich insbesondere Anne
McElvoy, Klaus Eichner, Kai Hermann, Jürgen Jessel, Aune
Renk und Craig R. Whitney. Für die Erstellung von Glossar und
Register sei an dieser Stelle Herbert Kloss gedankt.
Mein Dank gilt besonders meiner Frau Andrea, die am
Werden dieses Buches den größten Anteil hat und die in dieser
Zeit der Prüfung keinen Augenblick von meiner Seite gewichen
ist.
Berlin, im März 1997

-486-
Transkription der
Tagebucheintragungen

Eintrag vom 15. und vom 16. April 1980


Der »Kanal« zum Onkel ist aktiv, u.a. in Vorbereitung der
Mittagreise. Onkel Herbert steht unter schwerem Beschuß,
repräsentativ dafür ist ein Artikel der FAZ vom 29. 3.: »Sing
anders, Sachse«, wo von möglichem Wiederentdecken des alten
kommunist. Parteibuchs, seinem Übersollerfüllen auf seinem
einzigen Feld der deutschsowjetischen Beziehungen, das von
keinem »Einflußagenten« gelöst werden könnte u.a.
Unterstellungen für das an die Heimat Sachsen gebundene
»Rätsel Wehner« die Rede ist.
Frisch von der Krisensitzung am 13.4. mit Schmidt, Brandt,
Wischnewski, Bahr und Apel im BKA kommend, bedankte er
sich für die Grüße E. H.s. »Wir ziehen ja an einem Strang. Ich
habe ihm versprochen, vor einer möglichen Kriegsgefahr zu
warnen. Seit heute weiß ich, daß sie sich anbahnt, ja vielleicht
schon brodelt.«
Es wird berichtet, wie in diesem Kreis die verschiedenen von
den USA geforderten Maßnahmen behandelt wurden, mit
unterschiedlichen Relationen beim Votum.
Beim Olympia-Boykott drohte Schmidt mit Rücktritt, als
Wehner namens der Fraktion dagegen votierte. Schmidt schickte
Wehner einen warnenden Brief, u. a. mit Zeitungsausschnitten,
auch der FAZ (Wischnewski hat auch bei Moldt versucht, H.W.
für unzurechnungsfähig zu erklären). Es ging auch um die
Einladung L.I. Breshnews an Schmidt (wobei sich herausstellte,
daß auch Brandt eine Einladung besitzt), um wirtschaftliche
Sanktionen gegen die SU, für die nur Wischnewski eintrat, alle
waren gegen den Abbruch der Beziehungen zum Iran und gegen
jede militär. Eskalation.

-487-
Die Lage wurde mit der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des
ersten Weltkrieges 1914 verglichen. »Sagen sie meinem
Jugendfreund, Schmidt befindet sich in einem Dickicht von
Wahnvorstellungen. Ob u. wie er sich da heraus windet, da ist
alles drin.«
Später wurden Genscher, Lambsdorff, Mischnik u. Verheugen
hinzugezogen.
H.W. gab dann noch Empfehlungen für G. Mittag, u.a. zum
Ansprechen der »humanitären Fragen«, die im argen liegen. Es
soll da einen Brief von RA Vogel an Stange geben, mit dem
operiert werden soll.
Eintrag vom 24. August 1981
Bemerkenswert scharfe Abrechnung »Olafs« im Spiegel Nr.
35 mit der Außenpolitik Genschers. Das Bemerkenswerte für die
Stimmungslage ist die Tatsache der Veröffentlichung.
Besuch von RA Vo gel bei H. Wehner auf Öland/Schweden
vom 7.- 10. 8.
Viel Freundschaftsbeteuerungen gegenüber E.H. Er beginnt
sein physisches Unvermögen zu verstehen u. daß er aufhören
muß. Stimmungslage insgesamt apokalyptisch. Der geschnitzte
Holzfäller aus dem Erzgebirge – von E.H. zum 75. – sein
liebstes Geschenk.
Plädiert für Schmidt als einzig vernünftige Alternative u.
absolut gegen den von Moskau poussierten Brandt. Dieser
glaube noch, die UdSSR könne die DDR opfern.
Bestätigt den für Sept. vorgesehenen Austausch vo n G.
Guillaume.
Drängt auf entschlossene Maßnahmen gegenüber Polen. »Je
eher, desto besser.«
Sorge, ob die UdSSR mit der amerik. Materialwalze auf
Dauer mithalten könne.
Polen – gefährlicher »Ermunterungssog.«

-488-
»Es geht nicht ohne innere Gewalt, leider. Es ist eine halbe
Minute vor 12.«
Absolute Ablehnung Reagans u. seiner Politik.
Eintrag vom 8. März 1983
Mit Herbert Wehner, der nicht mehr im Bundestag sein und
als Fraktionsvorsitzender von H.-J. Vogel abgelöst wird, tritt
eine der markanten und schillernden Figuren von der politischen
Arena ab.
Sein Leben voller jäher Wendungen, Winkelzüge und nur ihm
selbst bekannter Geheimnisse wäre einer Beschreibung wert.
Vom kommunistischen Funktionär über den aktiven Anti bis zu
dem im Alter anscheinend weise werdenden humanistischen
Weltverbesserer und Einzelkämpfer mit konspirativen
Sonderbeziehungen, eigentlich immer ein Einzelgänger,
Choleriker, bereit andere u. sich selbst zu zerfleischen, ein
interessantes Leben unserer Zeit.
Es wäre schon ein Eckstein für meine Geschichte. Abend mit
Barbara Koppe und Klaus Wischnewski.
Reagan am 8. 3. vor Evangelisten in Orlando/Florida warnte
vor jedem Entgegenkommen gegenüber der UdSSR. Der
Kommunismus bleibe das »Zentrum des Boesen in der
modernen Welt«. Für alle, die an Gott glauben, sei es besser, tot
als rot zu sein. »Laßt uns für die Rettung all jener zu beten, die
in jener totalitären Finsternis leben – beten, daß sie die Freude
entdecken, Gott zu kennen.«
Eintrag vom 27. Februar 1969
Es ist erstaunlich, wie sehr subjektive Einstellungen und sogar
Emotionen führende Leute beeinflussen. So hat die Antwort
Brandts (ND 27. 2.) auf das Schreiben Walter U.s (PB) mit dem
kernigen Satz: Ȇber die Bundesversammlung u. ihren
Tagungsort kann es zwischen der SPD und Ihnen keine
Erörterungen geben« – großen Ärger verursacht. Als ob von
Brandt, der ja immer als Verräter in der Arbeiterklasse

-489-
charakterisiert wird, etwas anderes zu erwarten gewesen wäre.
Und doch geht man von alten Vorstellungen und taktischen
Überlegungen aus.
Dabei ist es ein so nüchternes Geschäft: Wenn die Interessen
aus entgegengesetzten Motiven zusammentreffen – gibt es eine
Übereinstimmung; sonst nicht. Das Letztere scheint der Fall zu
sein.
Nixon in Westberlin. Der Bursche versteht etwas vom
Publicitygeschäft. Max Christiansen-Clausen 70.
Eintrag vom 25. April 1974
Großer Mist:
»Hansen«, »Heinze« – sind verhaftet. Das ging auf den
Magen. Trotz aller Überlegungen u. Wissens über die Gefahr
hatte unsere Rechnung und Risikobereitschaft war es eine
Fehlkalkulation. Ausschlaggebend war die Annahme, man
werde bei dringendem Verdacht Brandt einen Hinweis geben
müssen. Dann hätte »Hansen« etwas gemerkt, der ja viele intime
Geheimnisse des Kanzlers kannte und wahrte. Schade, schade,
schade. Politisch völlig unpassend.
Eintrag vom 6. Mai 1974
Es schien kurze Zeit, als ob die Wogen in der Sache
Guillaume im Abklingen wäre[n]. Doch der Schein trügte. Seit
Wochenende eskaliert die Kampagne der Rechten Zug um Zug,
und die Regierungs- und Koalitionsspitze stellt einen desolaten
Haufen dar. Er war es seit eh und je, nur wurde er hier zu einem
Zeitpunkt sichtbar, als ein Tropfen genügte, um das Faß zum
Überlaufen zu bringen.
Am Freitag hatte Onkel Herbert in einem Gespräch mit dem
Beauftragten E. H.s, bei dem eine ganze Serie konstruktiver
Vorschläge überbracht wurde, mitteilen lassen:
»Es sei das schlimmste zu befürchten. Die SED solle sich
darauf einstellen, daß es den Willy Brandt nicht mehr gibt, der

-490-
an die Hypothesen seiner Ostpolitik glaube.«
Am Montag glich Bonn einem Wespennest, in dem
herumgestochert wurde. Ein Gerücht jagte das andere. BfV-Chef
Nollau u. ehem. BKA-Min. Ehmke schlugen sich gegenseitig in
die Pfann[e].
Zu Emmi sagte ich vor dem Schlafengehen: Ich glaube,
Brandt tritt zurück.
Eintrag vom 7. und 8. Mai 1974
Brandt ist tatsächlich zurückgetreten.
Ironie des Schicksals: Jahrelang schmiedeten wir Pläne und
Maßnahmen gegen Brandt, jetzt, wo wir das wirklich nicht
wollten und sogar befürchteten, passiert dieser Unfall, betätigen
wir den Abzug, liefern das Geschoß. Natürlich war [es] nur ein
letzter Anstoß, aber kein geringer und im denkbar wirksamsten
Augenblick.
Brandt – der Kämpfer gegen uns im kalten Krieg, zeigt hier
seine bekannten emotionalen Empfindlichkeiten und
Schwächen. Er glaubte tatsächlich, sich aus den Tiefen des
politischen Geschäfts und Alltags zur einsamen Höhe und Größe
einer politischen Sendung erhoben zu haben. Und nun zu allen
Widerwärtigkeiten der letzten Monate noch dieser in seinen
Augen unzulässige Tiefschlag.
Den hat er allerdings weniger uns, als seinen Gefährten
zuzuschreiben, und das wußte u. weiß er. Daher die echte
Resignation. Ein Mann, mit dem man manches machen konnte,
in einigem Sympathie entgegenbringen, aber dessen
demagogische Schauspielerei man auch registrieren mußte. Er
wird in die Geschichte eingehen, auch unser Günter Guillaume,
aber ein ganz Großer war er nicht.
Gut daß bei uns weiter gelassen reagiert wird. Rücktritte
scheinen nicht fällig zu sein. Bei manchen Augure[n] herrscht
Schadenfreude, u.a. mit dem Kalkül, daß es mit Helmut Schmidt
vielleicht gar nicht schlechter gehen wird. Warum auch?

-491-
In der PB-Sitzung wurde von E. H. unsere kurzfristig
zusammengestellte Argumentation verwandt u. ohne großes
Palaver richtige Reaktionen festgelegt.
Möglicherweise ist die Reaktion in Moskau anders. Dort gab
es emotional und möglicherweise auch sachlich eine etwas
differenzierende Einstellung.
Eintrag vom 16. und 17. Oktober 1974
Bei der aktuellen Diskussion über die Geheimdienste taucht
neben der Frage: Cui bono auch die Frage auf: Nützen sie
überhaupt.
Eine durchaus berechtigte Frage und welcher ehrliche
Eingeweihte würde sie ohne zu zögern beantworten.
Aber es geht ja nicht nur um diese Apparate. Will man mal
von den Milliarden verschlingenden Armeen absehen:
Fast alles Papier, das die NATO produziert, mit Stempeln
Geheim u. Cosmic versieht und das wir mit hohem Aufwand
beschaffen, ist bei näherem Hinsehen nicht einmal gut, um an
einem stillen Örtchen nutzbringend verwandt zu werden.
Ähnlich sieht es aber in unseren Bündnisapparaten auch aus.
Beim RGW spricht wenigstens die Logik für einen möglichen
Nutzen, wenn auch die Effektivität der in den verschiedenen
Gremien produzierten Papierberge minimal ist.
Im Innern ist es aber auch nicht viel anders. Wer will den
Anteil effektiven Nutzens der Riesenapparate von Partei, Staat,
Wirtschaft messen, die sich zum erheblichen Teil gegenseitig
beschäftigen, anleiten, kontrollieren.
Wie viele nützliche Dinge könnten getan, wie viele Menschen
eine sie echt befriedigende Tätigkeit ausüben, wenn diese Zöpfe
beschnitten würden. Vorläufig aber wachsen diese Monster
unaufhaltsam.
Ob unsere Urenkel schon die Gegenmittel finden?

-492-
Glossar

Abschöpfen
geheime Gewinnung von Informationen durch Gespräche mit
einer Zielperson; auch Gesprächsaufklärung
Agent
für einen Geheimdienst wissentlich tätiger Spion, auch V-
Mann oder Inoffizieller Mitarbeiter
Aktive Maßnahme
verdeckte Aktivität, um Medien, Politik, Wirtschaft und
Öffentlichkeit zu beeinflussen
Aufklärung
geheimdienstliche Ermittlung und Analyse im In- und
Ausland; auch Spionage
Bearbeiten
Tätigkeit der Aufklärung im Zielgebiet
Beschaffung, operative
geheime Sammlung von Informationen, Dokumenten,
Gegenständen
BfV
Bundesamt für Verfassungsschutz
BND
Bundesnachrichtendienst
CIA
Central Intelligence Agency (zentraler Nachrichtendienst der
USA)
Chiffrieren
vertrauliche Nachrichten verschlüsseln
Codes

-493-
Buchstaben oder Zahlenkombinationen, die zum Chiffrieren
verwendet werden
Counterman
von westlichen Geheimdiensten enttarnter geheimer
Mitarbeiter eines fremden Nachrichtendienstes, der umgedreht
seine frühere Führungsstelle ausspäht
Deckadresse Deckname (auch Code - oder Tarnname)
Anschrift für geheime Postsendungen falscher Name für
geheime Mitarbeiter, Zielpersonen und operative Vorgänge
Desinformation (auch Aktive Maßname)
gezielte Indiskretion oder Falschinformation
Doppelagent
umgedrehte Agent, der nach seiner Enttarnung durch
gegnerischen Dienst für diesen tätig ist
Einflußagent
im Rahmen Aktiver Maßnahmen tätiger Agent
Einschleusen
zielgerichtetes getarntes Eindringen eines Agenten in das
Operationsgebiet
FBI
Federal Bureau of Investigation (Inlandsnachrichtendienst der
USA)
Führungsoffizier
hauptamtlicher Geheimdienstmitarbeiter, der IM und Quellen
betreut und koordiniert
Gegenspionage
Eindringen in einen fremden Gehe imdienst durch
Einschleusen eines eigenen oder Umdrehen eines fremden
Spions
IM

-494-
Inoffizieller Mitarbeiter; geheimer nebenamtlicher Mitarbeiter
der Abwehr und der Aufklärung (MfS und HVA)
KGB
Komitet Gossudarstwenoi Besopasnosti (Komitee für
Staatssicherheit der UdSSR)
Kontaktperson
Person, die unwissentlich in Verbindung zu einem
Geheimdienst steht und deren Wissen von diesem genutzt wird
Kurier
Bote zwischen Geheimdienstzentrale und Quelle
Legende, operative
glaubwürdiger Vorwand, um sich konspirativ an einem
bestimmten Ort aufzuhalten, Ermittlungen vorzunehmen, unter
Täuschung über den wahren Hintergrund der
nachrichtendienstlichen Tätigkeit
MAD
Militärischer Abschirmdienst der Bundeswehr
Maulwurf
eingeschleuster oder umgedrehter Agent, der innerhalb eines
Geheimdienstes für einen gegnerischen Dienst tätig ist
MfS
Ministerium für Staatssicherheit der DDR
NSA
National Security Agency der USA (nationale
Sicherheitsbehörde mit den Schwerpunkten der Satellitenund
Funkaufklärung)
Observation
heimliche Beobachtung von Zielpersonen
(umgangssprachlich: Beschattung)
operativ

-495-
geheimdienstlich
Operationsgebiet
Zielgebiet (Land) für nachrichtendienstliche Tätigkeit
Quelle
Person, die zur geheimdienstlichen Informationsgewinnung
dient; auch technisches Gerät zu diesem Zweck, wie
Abhöreinrichtungen
Resident
getarnter Führungsbeamter oder offizier bzw. Leiter einer
Agentengruppe
Residentur
getarnte nachrichtendienstliche Führungsstelle außerhalb der
Zentrale des Apparats (legale Residentur: Botschaft oder
Handelsmission, illegale Residentur: Agentengruppe mit
Führungsoffizier)
SDECE
Service de Documentation et d'Espionnage
(Auslandsnachrichtendienst Frankreichs)
SIS
Secret Intelligence Service (geheimer Aufklärungsdienst
Großbritanniens)
Spielmaterial
zur Beeinflussung bzw. Irreführung des Gegners eingesetzte –
oftmals gefälschte – Dokumente und Informationen
Spionageabwehr
Behörde zur Bekämpfung gegnerischer Spionage
Stützpunkt
geheime Operationsbasis wie Wohn-, Funk- oder
Operationsstützpunkt, auch Geld- oder Materialdepot
Subversion

-496-
Sammelbegriff für organisierte Untergrundtätigkeit
Tarnung
verdeckte Tätigkeit oder Schutz eines Objekts zum Zweck der
Geheimhaltung
Treff
geheime Zusammenkunft von Agent und Instrukteur oder
Kurier im Operationsgebiet oder in Drittland; auch
Führungstreff mit Führungsoffizier
Überwerben
Werben eines bereits für einen anderen Nachrichtendienst
tätigen Agenten
V-Mann/V-Frau
geheime nebenamtliche Mitarbeiter eines Geheimdienstes
oder der Polizei
Werbung
Gewinnung einer Zielperson zur Zusammenarbeit mit dem
Nachrichtendienst
Zielobjekt
Objekt der Aufklärung, z. B. Behörde, militärische
Einrichtung, Forschungsunternehmen
Zielperson
Person im Visier des Geheimdienstes zum Zweck der
Werbung oder im Visier der Abwehr wegen Verdachts der
Spionage

-497-

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