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Leer!

elle

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Nach einer nun schon siebenjährigen Routine war ihm der Griff in den Geschirrschrank
fast mechanisch erschienen, als er seine Mutter aus dem Schlafzimmer fordernd rufen
hörte: „Jean, apporte-moi un verre d´eau!“ Spätestens da wurden die nächtlichen
Streiterein seiner Eltern ihm abermals zur Gewissheit und er konnte den Anblick
erahnen, der ihn ihm Schlafzimmer erwarten würde.
Er füllte das Glas mit kaltem Leitungswasser und setzte seine mechanische Handlung
fort, indem er, zu keiner Emotion fähig, seinen Weg zur Mutter nahm, die er seit Jahren
nur noch mit dem Vornamen ansprach. Unter einer dicken Daunendecke verborgen,
obgleich es Sommer war, erwartete sie ihn bereits, und als sie den Klang seiner
herannahenden Schritte vernahm, nuschelte sie: „Stell es auf dem Nachtschrank ab, mon
petit, dann schließ die Tür.“ Er tat wie geheißen, doch die Neugier trieb ihn zum Bleiben.
Er wollte ihr Gesicht sehen, die dicken Prellungen um die Augen, die womöglich
blutende Nase und die aufgesprungenen Lippen – all die Andenken, die des Vaters Fäußte
auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten.
Um sie glauben zu lassen, er wäre gegangen, inszenierte er laute, schwere Schritte und
schloss die Tür. Dann hielt er den Atem an. Es dauerte einen Moment, bis sich die Gestalt
unter der Decke reckte. Beschwerlich wurde der mit geblümter Bettwäsche überzogene
Daunenhügel beiseite geschoben und das erste, das er zu sehen bekam, war ihre Hand, an
dessen dürrem Ringfinger ein goldener Ehering baumelte. Sie richtete sich vorsichtig auf,
das Gesicht durch ihr langes, dunkles Haar wie von einem Vorhang verschlossen, und
griff nach dem Wasserglas. Jede Bewegung schien ihr schwer zu fallen. Sie verrichtete
sie mit einer unerträglichen Langsamkeit und in der Stille des Raumes klangen ihre
zaghaften Schlucke laut und unnatürlich. Er lauschte dem Aneinanderreiben von spröden

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Lippen auf der unbefeuchteten Seite des Glases und es erinnerte ihn unweigerlich an das
Gefühl von trockenem Sand auf warmen Händen - ein Ziehen und inneres Austrocknen,
das er bei weitem als unangenehmer empfand, als den schrillen Laut von Nägeln auf
einer Schultafel.
Der ihm längst vertraut gewordene Abscheu, den er gegenüber der Passivität seiner
Mutter, Elsa, empfand, ließ sich nur durch den Anblick ihrer demolierten Visage mildern,
doch tragisch war, dass er diese nicht im Ganzen zu Gesicht bekam, solange ihre weichen
französischen Haare, der ganze Stolz ihrer erbärmlichen Existenz, ihm die Sicht auf das
Schauspiel versperrten. Im hinteren Teil des Schlafzimmers hatte sie das Fenster
aufgelassen, um in den Genuss der milden Sommerluft zu kommen, ohne sich dafür vor
der Tür die Blöße geben zu müssen. Sie wusste um das Gerede der Nachbarn, „der
deutschen frigiden Zicken, die selbst kein Leben hatten“, aber unterbinden konnte sie es
nicht. Viel mehr schürte ihr öffentliches Auftreten zusätzlich das Klatschfeuer, wenn sie
jeden Mittwoch zum Markttag ihren blauen Einkaufskorb passend zum Blau ihrer
geschwollenen Lider ausführte.
An diesem Tag hatte es sie noch schlimmer erwischt, als es für gewöhnlich der Fall war.
Nicht nur ihre Schwerfälligkeit verwies auf das schwere Ausmaß der Konsequenzen,
denen eine unbedachte Handlung vorangegangen sein musste; auch der Umstand, dass
ihre Wahrnehmung geschädigt und durch die eitrigen, mit Tränen verklebten Augen
zusätzlich getrübt war, und sie deshalb nicht merkte, dass sich Jean noch immer im
Zimmer befand, bildete ein Anzeichen für eine posttraumatischen Störung, von der sie
sich sicherlich nicht so schnell wie sonst erholen würde.
Endlich strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, zupfte die Strähnen von den klebrigen
Wangen, stellte das Glas auf den Nachttisch zurück, den sie beinah verfehlt hätte und
ergab sich wie üblich einer lethargischen Regression, die sie für äußere Einflüsse
unzugänglich machte. Jean fiel auf, dass sich an ihren Wangen rote Striemen
abzeichneten, die ihr der Vater vermutlich mit einem Gürtel beigebracht hatte. In ihre
Nasenlöchern hatte sie je einen zusammengerollten Stöpsel aus Taschentüchern gesteckt,
was verdächtig an ein Walross erinnerte, abgesehen davon, dass sie nicht an Übergewicht
litt und ihre Hauer nicht nur kleiner, sondern rot gefärbt waren. Sie zog die voll
gesogenen Stöpsel heraus und platzierte sie neben das Glas. Um ihre Nase hatte sich eine
Kruste aus Blut gebildet, aber es war unwesentlich in Anbetracht des Anblicks ihrer
Augen, die es, wie Jean längst vermutete, tatsächlich am schlimmsten erwischt hatte.

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Elsa so in ihrem sauberen Nachthemd und der frischen, nach Flieder duftenden
Bettwäsche sitzen zu sehen – einem Anblick, der stark mit dem ihres deformierten
Gesichts kontrastierte – weckte in Jean tatsächlich für einen Moment das Gefühl von
Mitleid. Sie hatte es in all den Jahren, in denen sie nach und nach zum Spielball für
Aggressionen mutierte, zu keinem Wort des Widerspruchs gebracht, sich nie zur Wehr
gesetzt oder um Hilfe gebeten. Stattdessen wählte sie den stillen Weg der Kapitulation
und übte sich fleißig in ihrer perfekt einstudierten Rolle als tüchtige Hausfrau und
liebende Mutter. Jean zweifelte nicht daran, dass sie nur etwas Zeit brauchte, um schon
bald wieder aus dem Bett zu steigen, die gröbsten Verletzungen im Gesicht notdürftig mit
Make-Up zu kaschieren, nur um sich anschließend den Vorbereitung zum Mittagessen zu
widmen, das wie jeden Tag pünktlich um zwölf auf dem gedeckten Tisch stehen würde:
herrlich duftend und appetitlich. Schon beim bloßen Gedanken an ihr bevorstehendes
Vorhaben verflüchtigte sich die kurze und ihm deshalb überaus unbedeutend scheinende
Phase der Gefühlsregung, und an ihre Stelle trat die Gleichgültigkeit zurück. Was ihn
dann noch zu beschäftigen vermochte, war die Frage danach, warum der Vater seine
Schläge ausgerechnet auf ihr Gesicht fokussierte, denn obgleich sie ein unnützes
Weibsbild war, hatte sie eine beachtliche Schönheit vorzuweisen. Volle, sinnliche Lippen
und große dunkle Rehaugen, wie gemeißelt in ihre weiße Haut.
Er konnte sich die vorsätzliche Zerstörung einer derartigen Ästhetik einfach nicht
erklären. Als kleines Kind war er seiner Mutter verfallen gewesen. Er liebte alles an ihr
und besonders die langen Haare, die in weichen Wellen ihre Schultern umspielten und im
Sonnenlicht gesund glänzten. In einer Nacht hatte er sich zu ihr geschlichen, mit einer
Schere in der Hand, die er aus der Küche entwendet hatte. Dem Wunsch folgend, sie
nach und nach vollständig für sich zu besitzen, schnitt er ihr einige Strähnen ab, um sie in
einer kleinen Schachtel unter dem Bett für den Rest seines Lebens aufbewahren zu
können; doch war er dabei so ungeschickt vorgegangen, dass Elsa am nächsten morgen
wie gerupft ausgesehen hatte. So wurde er zur Beichte gezwungen und erntete zur Strafe
eine Ohrfeige, über dessen Ursache er sich keinen Reim machen konnte. Schließlich
liebte er sie und warum sollte ein solch schönes Gefühl etwas verwerfliches sein?
Schon merkwürdig, wie einem das Leben in solchen Dingen manchmal mitspielt und
entgegen kommt, denn nun lag sie vor ihm mit ihrem purpurroten Gesicht, das mehr als
nur eine Schelte empfangen hatte, über deren Ursache sie sich sicherlich auch nicht ganz
im Klaren war. Aber sie war auch nicht jemand, der solche Dinge hinterfragen würde,

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ebenso wie sie alles immer nur hin nahm, wie es auf sie zukam.
Jean verlor sich kurzzeitig in Erinnerungen. Dabei musste er wohl unaufmerksam
gewesen sein, zu laut geatmet oder sich unruhig bewegt haben, denn unerwartet erklang
leise, aber forsch die Stimme Elsas im Raum, der zuvor nur durch das unregelmäßige
Zwitschern der Vögel beschallt worden war.
„Jean! Du bist noch hier?“
Er antwortete nicht, erstarrte bloß wie ein Kind, das bei einem verbotenen Vergehen
ertappt worden war. Schamröte erhitze sein Gesicht. Elsas Stimme war wie ihr Körper -
ihm fiel nur ein Ausdruck ein - angeschlagen.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du gehen sollst. Und du hast dich an meine Anweisungen
zu halten, ist das klar? Ich möchte nicht, dass du mich so siehst, tu as compris, Jean? Geh
jetzt endlich!“
Etwas war dem Klang der schwächlich autoritären Aufforderung beigemischt, das Jeans
zunächst als Unsicherheit erkannt zu haben glaubte, nur wenig später jedoch als
Traurigkeit entlarvte, und als ihm vollends klar wurde, was dies bedeutete, entspannte
sich sein Körper wieder und die rote Maske wich einem rosigen Wangenton, als sich
seine kurzzeitig gesteigerte Körpertemperatur wieder normalisierte. Ihr Befehl hatte nicht
die eigentliche Absicht ihn aus dem Zimmer zu befördern, viel mehr entsprang er ihrem
einsamen Wunsch nach Trost und Zuwendung. Sie schien ihm sagen zu wollen, er solle
ein guter Sohn sein und bei ihr bleiben, ihr für einen Moment die Angst nehmen und
sagen, dass er sie versteht und nicht verurteilt. Vermutlich waren ihre Hoffnungen gar
nicht töricht und es war genau das, was er in diesem Moment auch hätte tun sollen.
Vielleicht wäre dann alles anders gelaufen, zukünftige Ereignisse hätten abgewendet
werden können, und so manche Narbe wäre erspart geblieben. Aber die Wahrheit, die
unbeschönigte, ungetarnte Wahrheit war nun einmal, dass sie und ihre Sehnsüchte ihm
vollkommen gleichgültig waren. Deshalb entschied er sich dafür, ihrer ausgesprochenen
Forderung Taten folgen zu lassen. Er sah ihr noch einmal in das deformierte Gesicht mit
einem Blick, der so leer war wie ein ausgetrockneter Brunnen, drehte sich um und verließ
wortlos das Zimmer.

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In unmittelbarer Nähe zur äußerlich gepflegten Wohnanlage, die sich aus mehreren
nebeneinander stehenden weißen Betonklötzen zusammensetzte, verlief eine schmale und
kurvenarme Straße. Den einzigen Blickfang auf diesem tristen Stück Strecke bildete eine
einsame Bushaltestelle mit überdachten Sitzmöglichkeiten. Fast exakt zu jeder vollen
Stunde und nur selten mit Verspätung, kam der Bus und mit ihm die einzige Gelegenheit
zu einem zeitlich begrenzten Eskapismus aus dem von Monontonie geprägten
kleinbürgerlichen Alltag. Seit sieben Uhr morgens drehte dieser nun schon seine Runden,
und als Jean sich eine grüne Kappe aufsetzte und die Wohnung verließ, hörte man den
Motor zum vierten Mal poltern und die Bremsen quietschen.
Er begab sich auf den kleinen anliegenden Spielplatz, der zum allgemeinen Treffpunkt
avanciert war. Ein großer Sandkasten, in den häufig Hunde urinierten, bildete den
Mittelpunkt der abgegrenzten Rasenfläche. Um ihn herum standen zwei Schaukeln und
eine Rutsche. Für die Eltern gab es Bänke, auf denen die Jugendlichen aus der
Nachbarschaft in den Abendstunden laut lachend Alkohol konsumierten, Drogen nahmen
und Spaziergänger anpöbelten. Jean setzte sich auf die Rückenlehne einer verschmierten
Bank, auf der sich ein Unbekannter mit roter Farbe verewigt hatte, und richtete seinen
Blick auf eine Gruppe junger Mädchen, die kichernd auf dem Rasen saßen oder flüsternd
Geheimnisse austauschten. Er kannte jede von ihnen namentlich, denn sie wohnten in
unmittelbarer Nähe und zwei von ihnen sogar im selben Haus wie er, doch sein
besonderes Interesse galt nur einer. Sie war die Hübscheste von allen, hatte ihr blondes,
fast weißes Haar zu einem Zopf gebunden, der ihr um die sonnengebräunten Schultern
hingt. Das rote Kleid, das sie trug, war dünn und beinah transparent, und die Träger
schnitten ihr in die Haut, hinterließen zarte Striemen zwischen hellen Härchen, an denen
sich ihr Schweiß verfing.

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