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Beilage zur Wochenzeitung

25. Oktober 2004

Aus Politik
und Zeitgeschichte
3 Paul Virilio Essay
Die çberbelichtete Stadt
5 Eckart Werthebach
Deutsche Sicherheitsstrukturen im
21. Jahrhundert
14 Christoph Gusy
Geheimdienstliche Aufklårung und
Grundrechtsschutz
21 Jan Wehrheim
Stådte im Blickpunkt Innerer Sicherheit
28 Wolfgang Hetzer
Europåische Strategien gegen Geldwåsche
und Terror
33 Wolf Dombrowsky
Terrorismus und die Verteidigung des Zivilen

B 44/2004
Editorial Qualitåt. Die sich rasch entwi-
Herausgegeben von ckelnde RFID-Technologie (Radio
der Bundeszentrale n Der Terroranschlag von Madrid Frequency Identification) etwa
fçr politische Bildung im Mårz dieses Jahres hat die Dis- eræffnet neue Mæglichkeiten zur
Adenauerallee 86 kussion çber Konsequenzen aus Identifizierung und Kontrolle von
53113 Bonn. der verånderten Sicherheitslage Verdåchtigen. Die automatisierte
verschårft. Benætigt Deutschland Erfassung von Kærpermerkmalen
Redaktion: eine neue ¹Sicherheitsarchitek- und ihre digitale Verarbeitung
Dr. Katharina Belwe turª? Bislang konkurrieren die erlauben den raschen Zugriff auf
Dr. Hans-Georg Golz fæderal organisierten Verfassungs- eine Fçlle von Informationen.
(verantwortlich fçr diese Ausgabe) schutz- und Kriminalåmter mitein-
ander und blockieren sich nicht sel- n Viele Bçrgerinnen und Bçrger
Dr. Ludwig Watzal
ten gegenseitig. Die Innenminister scheinen in Zeiten terroristischer
Hans G. Bauer
von Bund und Låndern haben des- Bedrohungsångste Einschrånkun-
Telefon: (0 18 88) 5 15-0
halb im Juli 2004 beschlossen, eine gen der bçrgerlichen Freiheiten
Internet: bereitwillig in Kauf zu nehmen. In
gemeinsame Antiterrordatei des
www.bpb.de/publikationen/apuz britischen Stådten hat sich die
Bundesnachrichtendienstes, der
E-Mail: apuz@bpb.de Anzahl der Videoçberwachungska-
Verfassungsschutzbehærden und
Druck: der Polizei einzurichten. meras vervierfacht; nach einer EU-
Frankfurter Societåts-Druckerei GmbH, Studie befçrworten 90 Prozent der
n Die Grenzen zwischen Polizei- Briten solche Kameras an æffentli-
60268 Frankfurt am Main
und Geheimdienstarbeit sind chen Plåtzen. Nach einer Allens-
Vertrieb und Leserservice: bereits als Folge der Anschlåge bach-Erhebung vom April 2004
Die Vertriebsabteilung vom 11. September 2001 in den meinen 44 Prozent der Deutschen,
der Wochenzeitung , USA durchlåssiger geworden. Zwei dass die Sicherheitsvorkehrungen
Frankenallee 71 ± 81, Antiterrorpakete wurden verab- gegen Terroranschlåge nicht ausrei-
60327 Frankfurt am Main, schiedet, mit denen die Vorfeldbe- chen, und çber 60 Prozent wçn-
Telefon (0 69) 75 01-42 53, fugnisse der Behærden erheblich schen, dass die Bundeswehr im
Telefax (0 69) 75 01-45 02, ausgeweitet wurden. Die Geheim- Innern Polizei- und Grenzschutz-
E-Mail: parlament@fsd.de, dienste dçrfen bei Anbietern von aufgaben çbernimmt.
nimmt entgegen: Telekommunikationsleistungen, bei
* Nachforderungen der Beilage Fluggesellschaften und Kreditinsti- n Absolute Sicherheit kann es in
Aus Politik und Zeitgeschichte tuten personenbezogene Daten hoch entwickelten Gemeinwesen
* Abonnementsbestellungen der
abfragen. Mit Inkrafttreten des nicht geben. Die komplexe Ver-
Wochenzeitung
Zuwanderungsgesetzes im Januar kehrs- und Kommunikationsinfra-
einschlieûlich Beilage zum Preis
nåchsten Jahres werden Abschie- struktur bietet Terroristen eine Fçlle
von Euro 19,15 halbjåhrlich,
bungen Verdåchtiger erleichtert. von ¹weichen Zielenª. Mæglicher-
Jahresvorzugspreis Euro 34,90
Bis Ende 2005 wollen die EU- weise hilft gegen die terroristische
einschlieûlich Mehrwertsteuer;
Innenminister neue, biometrisch Bedrohung ± und gegen die ver-
Kçndigung drei Wochen vor Ablauf
durch Fingerbilder, Netzhautscan breiteten Ohnmachtsgefçhle ± nur
des Berechnungszeitraumes;
oder Gesichtserfassung abgesi- aktiver Bçrgersinn: wachsame
cherte Ausweispapiere einfçhren. Gelassenheit, sowie das Vorleben
* Bestellungen von Sammel- In den USA wird bereits jetzt von der Werte und die Wahrnehmung
mappen fçr die Beilage Einreisenden die Hinterlegung bio- der Grundrechte, gegen die islamis-
zum Preis von Euro 3,58 metrischer Kennzeichen verlangt; tische und andere Terroristen zu
zuzçglich Verpackungskosten, Fingerabdrçcke und Digitalfotos Felde ziehen und die in einem
Portokosten und Mehrwertsteuer. werden mit Daten mutmaûlicher ¹Gottesstaatª niemals gewåhrt
Die Veræffentlichungen Terroristen abgeglichen. werden wçrden. Dazu gehært das
in der Beilage n Datenschçtzer warnen indes vor Selbstbewusstsein, auch Veråch-
Aus Politik und Zeitgeschichte dem ¹glåsernen Bçrgerª. Der Ziel- tern der Freiheit die Mæglichkeiten
stellen keine Meinungsåuûerung konflikt zwischen Freiheit und Inne- nicht zu versagen, die der Rechts-
des Herausgebers dar; rer Sicherheit ist nicht neu. Bereits staat bietet. Denn Freiheitsbe-
sie dienen lediglich der in der ¹bleiernen Zeitª der alten schrånkungen ohne Humanitåt
Unterrichtung und Urteilsbildung. Bundesrepublik in den siebziger und Legalitåt, die pauschale Ver-
Fçr Unterrichtszwecke dçrfen Jahren kam es angesichts des RAF- dåchtigung von Minderheiten oder
Kopien in Klassensatzstårke Terrors zu Rasterfahndungen, und Maûnahmen innerer Militarisierung
hergestellt werden. das Delikt ¹Bildung einer terroristi- sind geeignet, die rechtsstaatliche
schen Vereinigungª wurde ins Demokratie zu schwåchen.
Strafgesetzbuch eingefçgt. Heute
ISSN 0479-611 X
verleihen Globalisierung und Digi-
talisierung der Debatte eine neue Hans-Georg Golz n
Paul Virilio

Die überbelichtete Stadt

Nach dem Kalten Krieg und seiner erschrecken- Polen die althergebrachten Kriegsschauplätze
den Vernichtungsdrohung gegen die Städte scheint bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts schrittweise
es so, dass nun die Zeit der Kalten Panik vor verdrängt hat: vom Schlachtfeld in die Stadt, mit
einem Massenterror angebrochen ist, der das glei- vernichtenden Luftangriffen, die das „massive
che Unheil anzurichten vermag wie die alten inter- Attentat“, die größtmögliche Katastrophe gegen
nationalen Konflikte.1 die städtischen Ballungsräume zu Beginn des 21.
Jahrhunderts, bereits ahnen ließen.
Der postmoderne Krieg hat sich gewissermaßen
hyperkonzentriert – von den militärischen Daher verändert sich auch der Begriff der Verteidi-
Schlachtfeldern früherer Zeiten zu einer gegen die gung auf radikale Weise. Nach der militärischen
Städte gerichteten Strategie. Wie „die Welt der Verteidigung der Länder und der zivilen Verteidi-
Wirtschaft“ ist er zu einem Monopol geworden, in gung der Bevölkerung steht nun, so scheint es, eine
dem die frühere Geopolitik der Größe der Natio- neue Frage im Vordergrund: Neben die nationale
nen unerwartet einer Metro-Politik heimischen Sicherheit, die im Wesentlichen auf bewaffneten
Terrors Platz gemacht hat, eine permanente Streitkräften und der sozialen Sicherheit der Bürge-
Bedrohung, welche die unbewaffnete Bevölkerung rinnen und Bürger beruht – und die dort, wo sie
unterschiedslos trifft. noch existiert, bedroht und obendrein in einer
Reihe von Rechtsstaaten unterentwickelt ist –, tritt
De facto hat die geostrategische Ausdehnung ihre
die entscheidende Frage der Sicherheit der Mensch-
Bedeutung für militärische Aktionen verloren,
heit, welche die bisherige Bedeutung des Begriffs
und zwar zugunsten einer metro-strategischen
„Gemeinwohl“, das der Staat garantiert, erweitert.
Konzentration, in der die Unterscheidung zwi-
schen zivil und militärisch zu schwinden beginnt – Kürzlich hat es die frühere Hochkommissarin der
wie diejenige zwischen privat und öffentlich. Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Sadako
Daher rührt das Auftreten eines dritten Typus von Ogata, angedeutet: „Der 11. September hat bewie-
Konflikten: Nach dem „Bürgerkrieg“ und dem sen, dass kein Staat – sei er militärisch auch noch
„internationalen Krieg“ folgt nun der Krieg gegen so stark – seine Bürger zu schützen vermag, selbst
die Zivilisten. Darin liegt auch die wichtige politi- innerhalb der eigenen Grenzen nicht.“2 Angesichts
sche Bedeutung des Unterschiedes zwischen den dieser alarmierenden Feststellung, die nicht nur
Konsequenzen eines Katastrophenfalls (ob natürli- die Versuchung eines Nihilismus der Verteidigung
chen Ursprungs oder durch die Industrie verur- einführt – wie er in manchen nordischen Ländern
sacht) und eines „massiven Attentats“ (für das vor dem Zweiten Weltkrieg bestand –, sondern
Verantwortung übernommen oder das anonym auch einen Nihilismus des öffentlichen Raums, in
verübt wird). dem die Stadt das Epizentrum darstellen könnte,
Wir wohnen teilnahmslos dem Niedergang des ist es hilfreich, sich die historische Entwicklung
Nationalstaates bei, dem Ende des Monopols der der Streitkräfte vor Augen zu führen. Wurden
öffentlichen Gewalt, die durch den Staat ausgeübt Konflikte in der Zeit von Obstruktionswaffen
wird, zugunsten eines nach innen gerichteten Ter- (Festungsmauern und -bauten jeder Art) zunächst
rors, der nicht nur die Demokratie in hohem Maße in Form von Stellungskriegen ausgetragen, führte
bedroht, sondern auch die Republik und ihren die weitere Entwicklung zum Bewegungskrieg und
Rechtsstaat. Das erweiterte Europa wird diese am Ende zum Blitzkrieg, in dem Vernichtungswaf-
Fragen nicht lange unbeachtet lassen können. Sie fen die städtischen Befestigungsanlagen verdräng-
sind nicht mehr nur eindimensional politisch, son- ten. Das Aufkommen der Abschreckungsstrategie
dern „metro-politisch“, da die demographische hat unter der (relativen) Trägheit des Gleichge-
Konzentration der Bevölkerungen in den Mega- wichts des Schreckens mit der Verhinderung von
Schlachten nicht nur den Rüstungswettlauf und
Übersetzung aus dem Französischen von Nicole Maschler, die Proliferation gefördert, sondern vor allem die
Berlin. Der Titel des Originals lautet „La Ville Surexposée“.
1 Vgl. Paul Virilio, Ville panique. Ailleurs commence ici, 2 Zit. nach Philippe Pons, Das Plädoyer von Sadako Ogata
Paris 2004. für die humanitäre Sicherheit, in: Le Monde vom 6. 1. 2004.

3 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Entwicklung von Massenkommunikationswaffen. Sache?“4 Sie beträfe vielmehr die Institution des
Diese führten nicht nur zu einer Umwälzung der Militärischen selbst, das Fundament des „Rechtes
früheren Geopolitik der Nationen, sondern sie zer- auf Verteidigung“, das jeder Politik zugrunde liegt.
störten die Stabilität einer – heute seit über zehn Was lässt sich heute sagen über das Eindringen
Jahren der Vergangenheit angehörenden – militä- eines „zivilisierten Volkes“ in ein fremdes Territo-
rischen „Kultur“, symbolisiert durch den Fall der rium, wenn es sich um Massenterrorismus im Zeital-
„Festungsmauer“ von Berlin und dem Zusammen- ter der Globalisierung handelt, der die Gesamtheit
bruch des „Bergfriedes“ World Trade Center in der Transportkapazitäten und der Telekommunika-
New York. tion nutzt, die gewöhnlich dem Tourismus und den
vielfältigsten Formen des Austausches offener
Gleichsam wie einem fatalen Ausdruck dieser
Gesellschaften zur Verfügung stehen?
Panik wohnt man derzeit dem institutionellen
Konflikt in den USA zwischen dem seit drei Jah- Claustropolis oder Cosmopolis? Eine abgeschot-
ren marginalisierten State Department und dem tete Gesellschaft oder eine Kontrollgesellschaft, in
Pentagon bei, aber auch dem Projekt einer Zwei- der das elektronische Portal auf die Festungs-
teilung der US-Armee in die bisherige und in den mauer folgt? Tatsächlich scheint dieses Dilemma
Entwurf von Anti-Krisen-Streitkräften. Gleichzei- trügerisch, angesichts der zeitweisen Verdichtung
tig wird versucht, die Schäden der fortschreitenden der Augenblicklichkeit und der Allgegenwart im
Zerstörung der soziopolitischen Form des Rechts- Zeitalter der Informationsrevolution. Die hoch
staates zu beheben – in einem öffentlichen Raum, technisierte, interaktive, höchst anfällige Gesell-
der eine beschleunigte Privatisierung erfährt. schaft, in der die reale Zeit die Oberhand über den
Ob man will oder nicht: Öffentlicher Raum und realen Raum der Geostrategie gewinnt, begünstigt
öffentliche Gewalt sind untrennbar, und jeder Ver- eine „Metro-Strategie“, bei der die Stadt weniger
such einer Teilung führt früher oder später zur das Zentrum eines Territoriums darstellt, eines
Infragestellung nicht nur der nationalen, sondern nationalen Raumes, als vielmehr das Zentrum der
vor allem auch der menschlichen Sicherheit, mit Zeit, der globalen Zeit, die aus jeder Stadt den
den offensichtlichen Risiken nicht nur eines „Poli- Resonanzkörper unterschiedlichster Ereignisse
tizids“3, sondern des wirklichen Genozids. Das macht: nukleare Pannen, schwere Unfälle, Mas-
„Prinzip der Vorsorge“, das wir aus der Ökologie senattentate, Brüche der sozialen Ordnung hervor-
kennen, ist daher vor allem auf die notwendige gerufen durch die extreme Fragilität einer abwei-
Stabilität des öffentlichen Rechts und seines Rau- chenden demographischen Polarisierung, mit
mes, das Umfeld für jede wirkliche Demokratie, Megapolen, die morgen nicht Millionen, sondern
anzuwenden. Es gilt anzumerken, dass ein solcher viele Millionen Einwohner in den Hochhäusern
neuer Begriff von „menschlicher Sicherheit“, der vereinigen. Dort sind sie vernetzt, und die Standar-
vor kurzem in Kanada und in Japan übernommen disierung der öffentlichen Meinung der industriel-
wurde – dort möglicherweise als Folge des schwe- len Ära wird plötzlich durch die Synchronisierung
ren Erdbebens von Kobe und des Attentats der einer öffentlichen Emotion abgelöst, die in der
Aum-Sekte in der Tokioter U-Bahn –, in hohem Lage ist, nicht allein die repräsentative Demokra-
Maße dazu beitragen könnte, den unzivilisierten tie abzuschaffen, sondern jede Institution, und an
Krieg zu verdammen, der nicht nur den Rechts- ihre Stelle kollektive Hysterie und Chaos zu set-
staat, sondern auch unsere gesamte Zivilisation zu zen, für das einige Kontinente bereits jetzt ein
verwüsten droht. unseliges Beispiel abgeben.

Nach der Privatisierung der Energieversorgung Als Schlussfolgerung muss betont werden, dass
könnte jene des öffentlichen Raums fatalerweise sich – wenn die Interaktivität für den Informati-
nicht nur in die Professionalisierung der öffentli- onsbereich das ist, was die Radioaktivität für die
chen Gewalt münden, sondern in einen wahrhafti- Energieversorgung ist – die Abschreckung grund-
gen „Nihilismus der Verteidigung“, die nicht mehr legend verändern wird. Militärische oder zivile
so sehr den Eindringling beträfe, den erklärten Abschreckung? Es handelt sich nicht mehr nur um
Feind, wie es etwa die schwedische Bewegung „For- das Überschreiten der Geopolitik oder die Rück-
varsnihilism“ hoffte, als sie in den zwanziger Jahren kehr zur Belagerung, sondern um ein Vordringen
fragte: „Ist die Invasion unseres Territoriums durch an Grenzen, einen Aufstieg zu Extremen, die sich
ein anderes zivilisiertes Volk eine wirklich ernste Clausewitz nicht hatte vorstellen können.

4 Vgl. Paul Virilio, Forvarsnihilism – mouvement animé par


3 Vgl. Baruch Kimmerling, Politicide – les guerres d’Ariel la Fédération des Jeunesse socialistes suédoises. Défense po-
Sharon contre les palestiniens, Paris 2003. pulaire et luttes écologiques, Paris 1978.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 4


Eckart Werthebach

Deutsche Sicherheitsstrukturen im 21. Jahrhundert

Der internationale Terrorismus – eine globale, Bekämpfung des Terrorismus hat die Anschlagsge-
vielleicht sogar epochale Herausforderung – fahr auch in Deutschland erhöht.3 Diese Ein-
bedroht unsere Zivilisation. Die Terrorangriffe schätzung4 schärft den Blick auf den Status quo
vom 11. September 2001 und die zahlreichen ante: Vor den Ereignissen des 11. September 2001
Anschläge danach mit einer Vielzahl von Toten war Deutschland offenbar kein Angriffsziel für die
und Verletzten überall in der Welt verstärken die Planer islamistischer Terroranschläge. Überra-
Furcht vieler, unvermittelt und unvorbereitet schen kann dies nicht, zeigen doch nicht nur die
Opfer von Terrorakten zu werden. Sicherheitsana- Erkenntnisse aus dem Kaplan-Verfahren vor dem
lysen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, OLG Düsseldorf, sondern vor allem auch die
dass in Zukunft mit weiteren barbarischen terro- Aktionsfähigkeit der hier offenbar weitgehend
ristischen Angriffen zu rechnen ist.1
3 Der „Stellvertreter“ Osama bin Ladens, Aiman al-Zawa-
Die Dimension der terroristischen Bedrohung ist hiri, drohte in einer im Oktober 2002 veröffentlichten Ton-
neu. Die trotz der militärischen Überlegenheit bandaufzeichnung: „Wir haben einige Botschaften an Ame-
bestehende Verletzlichkeit freiheitlicher Staaten rikas Verbündete geschickt, damit diese ihre Beteiligung an
dessen Kreuzzug beenden. Die kämpfende Jugend hat eine
und die Schutzlosigkeit ihrer Bürger werden offen- Botschaft an Deutschland und eine an Frankreich geschickt.
bar. Die militärische Abschreckung versagt, da es Wenn das nicht ausreicht, kann die Dosis erhöht werden.“ Er
sich nicht um Angriffe selbständiger Völkerrechts- nahm offenbar Bezug auf den Terroranschlag auf der Insel
subjekte, sondern um vernetzte Tätergruppen oder Djerba am 11. 4. 2002, bei dem 21 Touristen, darunter 14
Deutsche, getötet wurden. Am 12. 11. 2002, am 13. 7. 2003,
Einzeltäter aus unterschiedlichen Herkunftslän- am 17. 11. 2003 und im März 2004 wurden von bin Laden und
dern handelt.2 Gegenüber Attentätern, die ihren anderen Aktivisten der Al Qaida weitere Terroranschläge
Tod in Kauf nehmen oder ihren Körper als Waffe angedroht; teilweise wurden die Ankündigungen mit der
einsetzen, bleiben die general- und spezialpräven- Forderung verknüpft, die Europäer sollten bis zum 15. 7. 2004
die muslimischen Länder verlassen haben. Ende August 2004
tiven Mechanismen des Strafrechts (Entdeckungs- erneuerten die Abu-Hafs-al-Masri-Brigaden, die nach eige-
risiko, Angst vor Strafe) wirkungslos. Kein Staat nen Angaben der Al Qaida nahe stehen, unter Hinweis auf
darf es zulassen, dass sein Volk terroristischen den Anschlag in Madrid vom 11. 3. 2004 auf einer Internet-
Angriffen schutzlos ausgeliefert und er damit seite die Drohungen gegen die europäischen Staaten.
4 Nach dem 11. 9. 2001 sind von islamistischen Terroristen
erpressbar wird. Vorrangiges Ziel muss es sein, u. a. folgende Anschläge begangen worden: 11. 4. 2002: 21
bereits die Vorbereitung terroristischer Anschläge Touristen, darunter 14 Deutsche, werden bei einem Anschlag
so frühzeitig zu erkennen, dass sie verhindert wer- auf der tunesischen Insel Djerba getötet, 29 Personen ver-
den können. Die Anstrengungen von Politik und letzt; 8. 5. 2002: In Karatschi werden bei einem Bomben-
anschlag auf einen französischen Militärbus 11 Menschen ge-
Administration sind mithin auf die Abwehrstrate- tötet; 12. 10. 2002: Im Ferienort Kuta Beach auf Bali/
gien zu konzentrieren, die auf eine effektive Prä- Indonesien werden durch einen Bombenanschlag 202 Men-
vention gerichtet sind. Gleichzeitig muss aber auch schen, überwiegend Touristen, getötet; 28. 11. 2002: In Mom-
die notwendige Sicherheitsvorsorge getroffen wer- basa/Kenia werden durch einen Selbstmordanschlag 13 Men-
schen getötet und 80 verletzt; der Versuch, eine vollbesetzte
den, um der Bevölkerung im Ereignisfall größt- israelische Passagiermaschine mit einer Boden-Luft-Rakete
möglichen Schutz zu gewährleisten. abzuschießen, misslingt; 12. 5. 2003: In Riad/Saudi-Arabien
explodieren drei Autobomben in einem Ausländerwohnge-
Im Zielspektrum islamistischer Terroristen stehen biet; dabei sterben 35 Menschen; 16. 5. 2003: In Casablanca/
vor allem die USA, Großbritannien und Israel Marokko kommen bei Sprengstoffanschlägen auf aus-
sowie deren Einrichtungen im Ausland. Das mili- ländische und jüdische Einrichtungen über 44 Menschen ums
Leben; 7. 6. 2003: In Kabul/Afghanistan werden bei einem
tärische Engagement Deutschlands bei der Selbstmordanschlag auf einen Bundeswehr-Bus vier Men-
schen getötet; 8. 11. 2003: In Riad/Saudi-Arabien sterben bei
1 Vgl. The 9/11 Commission Report: „Alle Experten, mit einem Selbstmordanschlag auf eine Wohnanlage für Aus-
denen wir gesprochen haben, haben uns versichert, gegen- länder 18 Menschen; 15. 11. 2003: In Istanbul sterben bei
wärtig sei ein Angriff von noch größerem Ausmaß möglich – Selbstmordanschlägen in den Stadtteilen Beyoglu und Sisli 25
und sogar wahrscheinlich.“ Zit. nach Cicero. Magazin für po- Menschen; 11. 3. 2004: In Madrid werden bei drei Bomben-
litische Kultur, 1 (2004) 9, S. 50. anschlägen auf Züge des morgendlichen Berufsverkehrs 200
2 Vgl. Werner Weidenfeld, Für ein System kooperativer Si- Menschen getötet und 1400 verletzt; 29. 3. 2004: In Chobar/
cherheit, in: ders. (Hrsg.), Herausforderung Terrorismus – Saudi-Arabien stürmen Terroristen Wohnblöcke westlicher
Die Zukunft der Sicherheit, Wiesbaden 2004, S. 11 f. Firmen; dabei sterben 22 Menschen.

5 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


unbehelligt gebliebenen späteren Attentäter um Neben den von der Administration eingeleiteten
Mohammed Atta, dass die deutsche Ausländerpo- Reformen sind im Schlussbericht der Unabhängi-
litik möglicherweise nationale und internationale gen Parlamentskommission zur Untersuchung der
Sicherheitsrisiken nicht ausreichend berücksichtigt Terroranschläge vom 11. September, „The 9/11
hat. Ungewollte, aber nahezu zwangsläufige Folge Commission Report“ vom 22. Juli 2004, nicht
war das Entstehen von Rückzugsräumen zur Vor- nur schwere Versäumnisse und systemimmanente
bereitung terroristischer Aktivitäten, deren Stoß- Unzulänglichkeiten bei Geheimdiensten, der Poli-
richtung außerhalb Deutschlands lag und die zei und Ministerien festgestellt, sondern auch
durch Angriffe auf Einrichtungen in Deutschland weit reichende Reformen gefordert worden6, um
nicht gefährdet werden sollten. schlechte Recherchen, mangelhafte Zusammenar-
beit und institutionelle Eifersüchteleien künftig zu
verhindern, die seinerzeit Hinweise auf die 19
Selbstmordattentäter überdeckt hätten. Außerdem
seien die Sicherheitsvorkehrungen in der Luft und
Neue Abwehrstrategien zu Wasser unzureichend.

Der Ausschuss empfiehlt, „im Krieg gegen


Es war die amerikanische Regierung, die als erste
den Terrorismus“ die Position eines Direktors
von der Notwendigkeit sprach, neue Abwehrstra-
für Nationale Aufklärung (National Intelligence
tegien zu entwickeln. So sagte Präsident George
Director) mit Kabinettrang zu schaffen und dem
W. Bush wenige Tage nach dem 11. September
Amt ein Nationales Zentrum für Terrorismusab-
2001: „Wir wissen heute, dass Tausende von ausge-
wehr (National Counterterrorism Center) zuzu-
bildeten Mördern Angriffe gegen uns planen, und
ordnen. Auf diese Weise sollen das geheimdienst-
dieses schreckliche Wissen verlangt von uns ein
liche Wissen auf dem Gebiet der Terrorismusbe-
anderes Vorgehen.“ Vor der Militärakademie in
kämpfung und die Operativmaßnahmen in einer
West Point wies er darauf hin, dass (militärische)
Institution zusammengefasst werden. Dem Direk-
Abschreckung nicht genüge, weil die Drohung mit
tor für Nationale Aufklärung soll nicht nur die
massiver Vergeltung Terroristen ohne Land und
Aufsicht über CIA und NSA sowie die 13 anderen
Volk nicht von ihrem Tun abhalte. Prävention
(vor allem militärischen) Nachrichtendienste über-
bedeute, dass Amerika eingreifen müsse, bevor
tragen werden, sondern auch – und das wäre die
der Feind angreife; defensive intervention ist Aus-
entscheidende Neuerung – die Kontrolle über das
druck dieser neuen nationalen Sicherheitsstrate-
Gesamtbudget aller Nachrichtendienste mit ca. 40
gie. Es ist davon auszugehen, dass die USA künftig
Mrd. Dollar pro Jahr.
das Recht auf Selbstverteidigung in einer Weise
zur Anwendung bringen, dass der vorbeugende Dem republikanischen Vorsitzenden des Senats-
Schutz des eigenen Staates mit erfasst wird. Da- ausschusses für Geheimdienstfragen, Pat Roberts,
raus folgt, dass eine militärische Intervention wie gehen die vom Untersuchungsausschuss vor-
im ersten Golfkrieg nicht erst bei der Entfaltung geschlagenen Reorganisationsmaßnahmen noch
äußerer Aggression erfolgt, sondern bereits bei nicht weit genug. Er will die Sicherheitsarchitek-
deren Vorbereitung einsetzt. tur grundlegend verändern und greift unmittelbar
in die Besitzstände des Verteidigungs-, Heimat-
schutz- und Justizministeriums, der CIA und des
Reformkonzepte der USA
FBI ein. Senator Roberts schlägt vor, in der Funk-
Die neue amerikanische Verteidigungsstrategie tion eines Direktors für Nationale Aufklärung die
dokumentiert das 2003 errichtete und mit Kabi- wichtigsten nachrichtendienstlichen Aufgaben
nettsrang versehene Department of Homeland zentral zu bündeln. Außerdem soll er die Perso-
Security. Das Ministerium ist eine für die amerika- nal- und Budgethoheit über die Nachrichtendiens-
nische Staatsverfassung außergewöhnliche Neu- te erhalten. Zusätzlich will Roberts die drei wich-
schöpfung, die an die Kompetenzen von Innenmi- tigsten Abteilungen der CIA – Beschaffung und
nisterien in föderal organisierten Ländern Europas Auswertung/Analyse von nachrichtendienstlichen
erinnert. Es fasst den Kampf gegen den internatio- Informationen, verdeckte Ermittlungen sowie
nalen Terrorismus in einer Behörde zusammen.5 Technische Entwicklung und Forschung – als selb-

5 Vgl. Eckart Werthebach, Idealtypische Organisation in- 6 So heißt es zu Beginn der Empfehlungen für die Be-
nerer und äußerer Sicherheit, in: Christian Leggemann/Kai hördenstruktur: „Wir treten für umfassende Veränderungen
Hirschmann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus, der Organisation des Staatsapparates ein.“ Zit. nach Cicero
Berlin 2003, S. 339 –345. (Anm. 1), S. 52.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 6


ständige Organisationseinheiten jeweils unter Lei- umfangreichen Gesetzespaketen die Befugnisse
tung eines Stellvertreters des Direktors für Natio- der Sicherheitsbehörden erweitert hat.8 Die vom
nale Aufklärung einrichten. Damit würde das Bundesinnenminister im Sommer 2004 ausge-
Pentagon seinen Einfluss auf die zentrale Infor- hende Diskussion, die föderale Sicherheitsarchi-
mationssammlung durch CIA, NSA und die Satel- tektur zu verändern und die Kompetenzen des
litenaufklärung, das Department of Justice den Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesam-
auf die Terrorismusabwehr einschließlich der tes für Verfassungsschutz (BfV) zu Lasten der
nachrichtendienstlichen Hauptabteilung des FBI Landesbehörden zu stärken, versandete rasch im
verlieren. Die CIA wäre zerschlagen und ein heftigen Widerspruch der Landesinnenminister.
neuer Geheimdienst entstanden, der jeder Dikta-
tur gut zu Gesicht stünde. Der Direktor für Natio- Für Deutschland bedeutsam ist, dass die amerika-
nale Aufklärung der USA wäre der nach dem nische Regierung mit der Errichtung des Heimat-
Präsidenten wohl mächtigste Mensch der westli- schutzministeriums originäre Kompetenzen für die
chen Welt.7 zivile Sicherheitsvorsorge (Katastrophenschutz,
Zivilschutz einschließlich Abwehr von Anschlägen
Schon die (gemäßigten) Empfehlungen des Parla-
mit ABC-Waffen) gebündelt und die dafür not-
mentsausschusses sind nicht ohne weiteres mit den
wendigen Führungs- und Entscheidungsstrukturen
von der Regierung nach dem 11. September 2001
geschaffen hat. In Deutschland hingegen fehlte es
umgesetzten Reformen kompatibel. So ist offen,
bei zivilen Großschadenslagen – die über regionale
wie die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten
Naturkatastrophen und konventionelle Unglücks-
zwischen einem mit Kabinettrang versehenen
fälle hinausgehen, für welche die Länder und
Direktor für Nationale Aufklärung und dem 2003
Kommunen zuständig sind – bis zum vergangenen
geschaffenen Heimatschutzministerium sinnvoll
Jahr an einem gesamtstaatlichen Krisenmanage-
aufgeteilt werden können. Die Errichtung des
ment.9 Die Kompetenzaufteilung verharrt noch in
Department of Homeland Security wurde von
den Zeiten des Kalten Krieges; nämlich in der
Bush als die bedeutsamste Organisationsänderung
auf den Verteidigungsfall bezogenen Zivilschutz-
seit 50 Jahren – seinerzeit wurde der Nationale
zuständigkeit des Bundes und der friedensmäßi-
Sicherheitsrat geschaffen – bezeichnet.
gen Katastrophenschutzzuständigkeit der Länder
Die Vorstellungen von Senator Roberts verändern und Kommunen.10 Lothar Rühl hat anschaulich
die amerikanische Sicherheitslandschaft. Beiden auf den „Kompetenzwirrwarr“ hingewiesen. Er
Reformmodellen ist eines gemeinsam: Sie belegen schlägt vor, entweder die Zuständigkeiten beim
ein tiefes Unbehagen gegenüber dem bisherigen Bundesinnenminister zu bündeln oder ein eigenes
Sicherheitsapparat, von dem die erhoffte Stärkung Ressort zu schaffen, in dem die Zivilverteidigung,
der präventiven Terrorismusabwehr offenbar nicht der Katastrophenschutz, die Sicherheit der Daten-
erwartet wird. Eine verlässliche Einschätzung der informationen und des Fernmeldewesens sowie
Reformmodelle, die vermutlich nicht die letzten der Seuchenkontrolle angesiedelt sind.11
Vorschläge sein werden, ist nur schwer möglich.
Wichtig ist jedoch für die sehr verhaltene Struktur- Mit der 2003 von den Innenministern des Bundes
diskussion in Deutschland, dass das durch den Ter- und der Länder verabschiedeten Konzeption
ror bisher am stärksten betroffene Land die Unzu-
länglichkeit des aus der bipolaren Weltordnung 8 Vgl. Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terro-
rismus vom 9. 1. 2002, BGBl I, S. 361.
der Nachkriegszeit entstandenen Sicherheitsappa-
9 Die Innenministerkonferenz (IMK), in der die erheb-
rats erkannt hat und tief greifende Veränderungen lichen organisatorischen und personellen Defizite seit 2002
für unverzichtbar hält. offen angesprochen wurden, lässt das Konzept „Neue Strate-
gie zum Schutz der Bevölkerung“ fortschreiben.
10 Symptomatisch ist der Bericht der Unabhängigen Kom-
Reformkonzepte Deutschlands mission der Sächsischen Staatsregierung vom 16. 12. 2002 zur
Die Überlegungen zu weit reichenden Reorganisa- Bewältigung der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2002:
„Die Bundeswehr nahm mit ihren leistungsfähigen und zah-
tionsprozessen in der Sicherheitsarchitektur der lenmäßig starken Einsatzkräften in vielen Bereichen eine
USA führten in Deutschland bisher nicht zu ver- Schlüsselrolle zur Bewältigung der Katastrophe ein. Eine
gleichbar tief greifenden Erneuerungen, obwohl Führungsrolle hat sie nicht beansprucht, sie ist ihr aber an
auch die Bundesregierung den Terrorismus als vielen Orten zugewachsen. Dabei war es hilfreich, daß (. . .)
sie über alle wesentlichen Mittel zur Bekämpfung einer Ka-
epochale Herausforderung bezeichnet und in zwei tastrophe selbst verfügt. Der geordnete Einsatz von Kräften
und Mitteln ist geübte Praxis ihrer Führer und ihrer Füh-
7 Vgl. Republikaner wollen CIA zerschlagen, in: Frank- rungsorganisation.“
furter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 24. 8. 2004, S. 5; Ade 11 Vgl. Lothar Rühl, Eine Erweiterung des Bundessicher-
CIA, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 24. 8. 2004, S. 1. heitsrates, in: FAZ vom 9. 4. 2002, S. 10.

7 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


„Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ enthalt von Tausenden islamistischer Terroristen
wurde begonnen, die Defizite aufzuarbeiten. Mit bekannt. Der Schutz der inneren Sicherheit durch
der Errichtung des Bundesamtes für Bevölke- präventive Maßnahmen wird durch das mangel-
rungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) zum hafte Wissen über mögliche Täter erheblich
1. Mai 2004 wurde eine wichtige Koordinierungs- erschwert13.
stelle geschaffen. Das BBK besitzt jedoch keine
. Den westlichen Staaten fehlt es an Erfahrung
operativen Kompetenzen. Die Innenminister
und Experten in der Bekämpfung international
haben im Juli 2004 erneut betont, dass angesichts
operierender islamistischer Terroristen, die nicht
der verschärften Sicherheitslage nach den Terror-
nur in ihren Herkunftsländern, sondern auch im
anschlägen von Madrid am 11. März 2004 der
Operationsgebiet selbst und in den mit ihrem
Bevölkerungsschutz weiter entwickelt werden
Gastland befreundeten Staaten „Stützpunkte“
müsse. Es gelte vor allem, die Planung für Maß-
unterhalten. Die hohe Zahl von Landsleuten ihres
nahmen bei einem Massenanfall von Verletzten
Herkunftslandes erleichtert zudem die konspira-
voranzutreiben.12 Der entscheidende Reform-
tive Vorgehensweise von Terroristen im westlichen
schritt, der die Zweiteilung zwischen Katastro-
Operationsgebiet.
phenschutz und Zivilschutz überwindet, steht noch
aus. . Die bisherige Ausländerpolitik Deutschlands
war auch aus historischen Gründen nur ansatz-
weise auf Integration hier lebender Ausländer und
auf die Abwehr extremistischer bzw. terroristi-
Schwachstellenanalyse scher Gefahren ausgerichtet.
Mehr oder weniger ausgeprägt gibt es bei allen
Die folgende Analyse greift nicht nur die in Sicherheitsbehörden systemimmanente Schwach-
Rechtsstaaten durch Organisations- und Gesetzes- stellen, ja Sollbruchstellen in der informationellen
entscheidungen gewollten, systemimmanenten Zusammenarbeit:
Sollbruchstellen auf, die zugunsten individueller . Sie sind teilweise bereits in den Errichtungsge-
Freiheitsrechte zwangsläufig informationelle und setzen der Institutionen angelegt – mithin von
kooperative Defizite im Sicherheitsbereich nach einer breiten parlamentarischen Mehrheit gewollt
sich ziehen. Sie weist auch auf allgemeine Fehler- (z. B. das organisatorische Trennungsgebot von
quellen und Wissensmängel in der Beschaffung, Polizei- und Nachrichtendiensten14).
Auswertung und Übermittlung von Informationen
hin, welche die Effizienz präventiver Schutzmaß- . Sie können durch die Arbeitsweise der Staats-
nahmen erheblich beeinträchtigen können. schutzbehörden und Nachrichtendienste veranlasst
sein (Schutz geheimer Quellen auch vor einem
. Der internationale (islamistische) Terroris- Zugriff der Strafverfolgungsbehörden).
mus gefährdet die innere und äußere Sicherheit
gleichermaßen. Der Schutz der äußeren Sicher- . Nicht zuletzt sind sie durch die – auch als
heit und die Verteidigungsbereitschaft sind auf Machtkontrolle gewollte – föderale Struktur von
Angriffe selbständiger Völkerrechtssubjekte aus- polizeilichem Staatsschutz und Nachrichtendiens-
gerichtet. Nach bisherigen Erkenntnissen handel- ten verursacht, die a priori eine homogene Sicher-
ten die Täter der Anschläge vom 11. September heitsarchitektur erschwert.15
2001 nicht im Auftrag eines Staates und sind
. Die Erfahrung zeigt, dass die Informationsdefi-
außerdem verschiedenen Nationalitäten arabi-
zite primär bei der Speicherung (und Speicher-
scher Länder zuzuordnen.
. Den Sicherheitsbehörden der westlichen Staa- 13 Die hohe Zahl laufender Ermittlungsverfahren (80) in
ten sind weder die Identität noch die Anzahl, Deutschland mit der sehr großen Anzahl von Beschuldigten
(177) widerspricht dieser Feststellung nicht, da die Verfahren
weder die Herkunft noch der gegenwärtige Auf- in der Regel nicht zu Anklagen führen und vorrangig den
Zweck verfolgen, den Fahndungsdruck auf die terroristische
12 Die Länder forderten den Bund auf, das geltende Zivil- Szene hoch zu halten (die Zahlen gehen auf das BMJ zurück
schutzgesetz an die neue, asymmetrische Bedrohungslage und geben den Stand vom Juni 2004 wieder).
unter Beibehaltung der verfassungsrechtlichen Kompetenz- 14 Vgl. Eckart Werthebach/Bernadette Droste, Art. 73,
aufteilung anzupassen; außerdem soll der Bund Gefähr- Rdnr. 233 ff. mit weiteren Nennungen, in: Bonner Kommen-
dungseinschätzungen vorlegen, in denen die Risiken be- tar zum Grundgesetz (Loseblattsammlung), hrsg. von Rudolf
stimmt werden. Vgl. Christian Leggemann, Der Einsatz der Dolzer/Klaus Vogel, Heidelberg 1995 ff.
Streitkräfte zur Terorismusbekämpfung – Die aktuelle De- 15 In Deutschland befassen sich 36 unabhängige Behörden
batte in Deutschland, in: ders./K. Hirschmann (Anm. 5), S. mit Staatsschutz- und Verfassungsschutzaufgaben, die sich
255 ff. mit mäßigem Erfolg zu koordinieren versuchen.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 8


dauer) personenbezogener Informationen, der Lagezentren von Polizei und Nachrichtendiens-
Zugriffsmöglichkeit anderer Sicherheitsbehörden ten17 sind Hilfskonstruktionen, um diese Defizite
auf diese Informationen und bei unzureichender eindämmen zu können. Ähnliche Informationsver-
Informationsübermittlung innerhalb derselben luste sind auch im Rahmen der Zusammenarbeit
und zwischen den Sicherheitsinstitutionen entste- der polizeilichen Staatsschutzbehörden möglich,
hen. zumal die Zentralstelle BKA in keiner denkbaren
Fallvariante eine präventiv-polizeiliche Befugnis
. Unausweichliche Folgen sind vertikale und im Bereich des internationalen Terrorismus
horizontale Übermittlungsdefizite, Auswertungs- besitzt. Die Forderung, das BKA zu stärken und
fehler, unvollständige oder fehlerhafte Lagebilder, die bestehende (staatsschutz)polizeiliche Zustän-
ungenügende Prävention und schließlich der Ver- digkeitsvielfalt dadurch zu verringern, dass dem
lust von (polizeilichen) Ermittlungsansätzen.16 BKA für Fälle des internationalen Terrorismus
polizeiliche Aufgaben auch auf dem Gebiet der
. Die weltweit einmalige örtliche und sachliche
Strafverhütung übertragen werden, wurde bis zur
Zersplitterung von Staatsschutz- und Verfassungs-
Initiative des Bundesinnenministers vom Juni 2004
schutzaufgaben in Deutschland hat zur Folge, dass
nicht einmal vom BKA selbst erhoben. Erst recht
in keiner der Behörden ein Gesamtbild entsteht
sind Überlegungen früherer Jahre, das BKA zu
und Detailinformationen in ihrer Bedeutung nicht
einem „deutschen FBI“ aufwachsen zu lassen, auf
erkannt werden. Vielfach werden solche Informa-
absehbare Zeit als gescheitert anzusehen.18
tionen nicht gespeichert. Sie werden als „Prüf-
fälle“ nicht in Verbunddateien, Online-Verbindun- Neben der polizeilichen Gefahrenabwehr gibt es
gen zu anderen Sicherheitsbehörden, eingestellt. den Zivil- und Katastrophenschutz, der die Bevöl-
Damit sind sie für die Ermittlungen anderer Stel- kerung vor (Natur-)Katastrophen, konventionellen
len nicht existent. Es ist denkbar, dass mehrere Unglücken (z. B. Gasexplosionen) sowie vor
Verfassungsschutzbehörden Hinweise auf be- Gefahren schützen soll, die von militärischen Kon-
stimmte islamistische Terroristen bearbeiten, sie flikten und terroristischen Anschlägen ausgehen.
als bloße Verdachtsfälle behandeln, einander nicht In Deutschland teilen sich Bund, Länder und
unterrichten und daher keine Seite die Gefahr Kommunen diese Zuständigkeit; denn es gilt die
erkennt. tradierte Zweiteilung in Katastrophen- und Zivil-
schutzvorsorge (Art. 73 Nr. 1 GG). In dem Wissen,
Diese Sollbruchstellen gelten für die Zusammenar- dass die vertikal gegliederte, zivile Gefahrenab-
beit föderal gegliederter Sicherheitsbehörden wehr ein vorrangig auf Ehrenamtlichkeit und Frei-
(z. B. BKA und Landeskriminalämter; Verfas- willigkeit beruhendes Sicherheitssystem ist, hat
sungsschutz von Bund und Ländern), für die der Bund sehr frühzeitig Kommunen und Länder
Zusammenarbeit verschiedenartiger nationaler unterstützt. Das gilt für die Finanzierung des
Behörden (z. B. polizeilicher Staatsschutz und Erweiterten Katastrophenschutzes, für die Ein-
Nachrichtendienste) sowie für die internationale richtung des Technischen Hilfswerks und den Ein-
Zusammenarbeit der Staatsschutzbehörden und satz der Bundeswehr im Wege der Amtshilfe nach
Nachrichtendienste mit ausländischen Partnern. Art. 35 GG in Fällen außergewöhnlicher über-
Das Geheimnis erfolgreicher präventiver Staats- regionaler Katastrophen (mit nationalem Bedro-
schutzarbeit liegt jedoch darin, eine Vielzahl von hungspotenzial). Es ist offenkundig, dass weder
Einzelinformationen, die in verschiedenen Behör- die Zivilschutz- noch die Katastrophenschutzvor-
den vorhanden sind, an einer Stelle zu bündeln, zu sorge gegenwärtig in der Lage sind, angemessen
vergleichen, zusammenzusetzen und auszuwerten. auf terroristische Anschläge wie die vom 11. Sep-
Erst das Zusammentragen von Mosaiksteinen tember 2001 in den USA zu reagieren.19 Die
ergibt ein verlässliches Lagebild, eröffnet Ermitt-
lungs- und Fahndungsansätze und verbessert nach- 17 Siehe auch die Forderungen der Innenpolitiker der
haltig die Prävention. CDU/CSU nach einem Zentrum zur Terrorismusbekämp-
fung: Presseerklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Der Bundesregierung sind diese Sollbruchstellen vom 24. 8. 2004.
bekannt. Die Einrichtung eines so genannten 18 Die Forderung des BKA nach einer gesetzlichen In-
itiativermittlungskompetenz zur Überbrückung fehlender
Informationboards und die Bildung gemeinsamer präventiv-polizeilichen Zuständigkeiten ist eine Mindest-
forderung; selbst diese ist in den parlamentarischen Bera-
16 Nachzulesen im Schlussbericht der Unabhängigen Par- tungen gescheitert.
lamentskommission zur Untersuchung der Terroranschläge 19 Der Bericht der Weizsäcker-Kommission „Gemeinsame
vom 11. 9. 2001; vgl. Eckart Werthebach, Idealtypische Or- Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ vom 23. 6. 2000
ganisation innerer und äußerer Sicherheit, in: W. Weidenfeld stellt fest: „Im übrigen hat die Kommission festgestellt, daß
(Anm. 2), S. 230, Fn. 10. der Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Angriffen mit

9 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Innenminister drängen auf die zügige Umsetzung von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG ist der Bundeswehr
des im Auftrag der Innenministerkonferenz (IMK) bisher grundsätzlich nur schlicht hoheitliches Han-
erarbeiteten Konzeptes „Neue Strategien zum deln erlaubt.
Schutz der Bevölkerung“.
Doch den Streitkräften wird man im Rahmen von
Unterstützungsleistungen zugunsten von Polizei
Klärungsbedürftig ist auch, ob und inwieweit die
und Feuerwehr bei einer Naturkatastrophe oder
Bundeswehr außerhalb des (festgestellten) Vertei-
einem schweren Unglücksfall nicht die notwendi-
digungsfalls und über die verfassungsrechtlich
gen Zwangs- und Eingriffsbefugnisse zu ihrer eige-
geregelte Amtshilfe des Artikels 35 GG hinaus
nen Sicherung und zur Gewährleistung ihres Auf-
zum Schutz der inneren Sicherheit eingesetzt wer-
trags versagen können, soweit die Polizei dazu
den kann; beispielsweise zur Überwachung und
nicht in der Lage ist. Insoweit sind die notwendi-
Sicherung des Luftraumes, zum Schutz ziviler
gen Zwangs- und Eingriffsbefugnisse Mittel zur
Objekte, bei terroristischen Angriffen vom Wasser
Eigensicherung oder zur Gewährleistung des
aus. Die Aussage des Bundesinnenministers, die
Unterstützungsauftrages und somit nur Mittel zum
Bundeswehr sei für die Erfüllung polizeilicher
Zweck. Bei dem Abschuss eines gekaperten Flug-
Aufgaben „weder ausgebildet noch ausgerüstet“,
zeuges ist der Eingriff jedoch mehr als das. Er
ist richtig, aber greift zu kurz.20 Rechtlich unge-
muss legitimiert und rechtlich zulässig sein. Dies
klärt ist die Frage, wie der Schutz ziviler Einrich-
kann weder durch den Wortlaut von Art. 35 Abs. 2
tungen (Atomkraftwerke, Chemieanlagen, Flughä-
Satz 2 GG noch durch den Sinn und Zweck der
fen, Ballungszentren) gegen terroristische Angriffe
Vorschrift sowie ihrer Entstehungsgeschichte und
durch im Inland gekaperte Zivilflugzeuge oder bei
ihrer bisherigen Auslegung und Handhabung als
Angriffen vom Wasser aus zu gewährleisten ist.
in einer Weise gesichert angesehen werden, dass
Der Luftraum über Deutschland wird ständig mili-
sie als ausreichende Rechtsgrundlage in Betracht
tärisch überwacht. Dringen nicht identifizierte
kommen kann. Die Bundesregierung hat diese
oder nicht angemeldete Flugzeuge ein, überneh-
Regelungslücke durch ein Luftsicherheitsgesetz zu
men stets einsatzbereit gehaltene, bewaffnete
schließen versucht.22 Allerdings hat sie darauf ver-
Flugzeuge der „Alarmrotte“ der Luftwaffe zusätz-
zichtet, durch eine Ergänzung des Grundgesetzes
lich die Aufgabe eines „Air Policing“. Rechtlich
den möglichen schweren Eingriff in das Lebens-
sind diese Einsätze als Beobachtungsaufträge und
recht Dritter verfassungsrechtlich zu legalisieren.
damit als schlicht hoheitliches Handeln zu qualifi-
Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie jede
zieren, solange nicht in Rechte Dritter eingegriffen
Form eines Einsatzes der Streitkräfte im In-
wird. Umstritten ist, ob und inwieweit der „finale
land durch eine Ergänzung des Grundgesetzes
Rettungsschuss in der Luft“ regelungsbedürftig
(Art. 87a GG) zweifelsfrei regeln würde.23
und regelungsfähig ist und ob er der verfassungs-
rechtlichen Legalisierung bedarf.21 Ein zulässiges
Amtshilfeersuchen kann nur dann vorliegen, wenn
um Maßnahmen ersucht wird, zu denen die
ersuchte Behörde rechtlich befugt ist. Die Bundes- Lösungsmöglichkeiten
wehr darf Amtshilfe auf der Grundlage des gelten-
den Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG nur unterhalb der
Schwelle eines Einsatzes im Sinne von Art. 87a Bund und Länder sind bemüht, den Schutz der
Abs. 2 GG leisten. „Einsatz“ im Sinne dieser Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Auf die
Vorschrift ist außer der militärischen auch jede beiden Terrorismusbekämpfungsgesetze des Bun-
andere Verwendung im Rahmen der vollziehenden des vom Dezember 2001 bzw. Januar 2002 und die
Gewalt, sofern dabei hoheitliche Aufgaben unter Anschlussgesetze der Länder wurde bereits hinge-
Inanspruchnahme von Zwangs- und Eingriffsbe- wiesen. Es bestehen jedoch begründete Zweifel,
fugnissen wahrgenommen werden. Im Rahmen ob der vom internationalen Terrorismus ausgehen-
den globalen asymmetrischen Bedrohung, die auf
B- und C-Waffen auf deutschem Territorium nicht ausreicht. Mord und Totschlag an einer möglichst großen
Als erster Schritt für eine bessere Risikovorsorge sollte die
Zuständigkeit zwischen den Ressorts der Bundesregierung 22 Vgl. Otto Schily im Interview in der FAZ vom 29. 1.
präzise geregelt werden.“ 2003.
20 Otto Schily im Interview in der Berliner Zeitung vom 23 Gegen das vom Deutschen Bundestag in 2. und 3. Lesung
2. 10. 2001. am 18. 6. 2004 beschlossene Luftsicherheitsgesetz hat der
21 Vgl. Protokoll Nr. 15/35 über die öffentliche Anhörung Bundesrat in seiner Sitzung am 24. 9. 2004 Einspruch er-
von Sachverständigen zum Thema Luftsicherheitsgesetz in hoben, den der Bundestag am gleichen Tag mit „Kanzler-
der 35. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundes- mehrheit“ zurückgewiesen hat. Das Gesetz ist aber noch
tages. nicht ausgefertigt.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 10


Zahl unbeteiligter Menschen gerichtet ist und die schutzes; die Effektivität föderal organisierter
vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen Sicherheitsbehörden hängt maßgeblich von der
offenbar nicht zurückschreckt, durch eine bloße Leistungsfähigkeit der (koordinierenden) Zentral-
Intensivierung herkömmlicher Abwehrmaßnah- stellen ab. Folgerichtig ist die Forderung erhoben
men Erfolg versprechend begegnet werden kann. worden, die Landesbehörden mit den Bundeszen-
Angesichts eines Terrorismus neuen Typs werden tralstellen zusammenzufassen und dem Bund die
auch für Deutschland – ähnlich wie in den USA – Kompetenz für Angelegenheiten der Kriminalpo-
neue unkonventionelle, kooperative Sicherheits- lizei bzw. des Verfassungsschutzes zu übertragen.
strategien verlangt.24
Wenngleich auf absehbare Zeit nicht zu erwarten
Dieser Auffassung scheint auch der Bundesinnen- ist, dass die Länder ihre ablehnende Haltung zur
minister zuzuneigen, denn er hat die Bundesjustiz- Stärkung der Zentralstellenkompetenz aufgeben,
ministerin gebeten, in die laufenden Verhandlun- dürfen die strukturellen Informationsdefizite in
gen der Föderalismuskommission eine Reihe von der Sicherheitsarchitektur nicht hingenommen
Vorschlägen einzubringen, die auf eine unmittel- werden. Eine Konzentration kriminalpolizeilicher
bare Stärkung der zentralen Sicherheitsbehörden Aufgaben, vor allem aber der Aufgabe „Verfas-
des Bundes (BfV, BKA) zu Lasten der Länderbe- sungsschutz“ ist mittelfristig unumgänglich. Das
hörden zielen.25 Danach wird gefordert, dem Bund gilt vor allem für den Teil der Verfassungsschutz-
die Gesetzgebungskompetenz für die Terrorismus- behörden, deren personelle und sächliche Ausstat-
bekämpfung und den Bevölkerungsschutz zu über- tung so Not leidend ist, dass sie ihre gesetzlichen
tragen sowie die Aufgabe „Verfassungsschutz“ als Aufgaben nur unzureichend wahrnehmen können.
Bundesaufgabe im Grundgesetz auszuweisen. Es Übergangsweise sind unter Wahrung der föderalen
ist zu vermuten, dass die Vorbehalte der Länder, Struktur Zwischenlösungen umzusetzen. So könn-
aber auch von Parlamentariern einstweilen ten die 16 Landesbehörden für Verfassungsschutz
unüberwindbar sind. Gerade wenn man bedenkt, im Wege von Staatsverträgen der beteiligten Län-
dass der Föderalismus als Prinzip im Grundgesetz der zu sechs oder sieben gleich starken Ämtern
festgeschrieben worden ist, um die junge Demo- zusammengefasst werden. Die parlamentarische
kratie nach innen und außen abzusichern, erschei- Kontrolle und die Fachaufsicht oblägen dem im
nen die Reflexe der Länder auf Diskussionen um Staatsvertrag bestimmten federführenden Land.
mögliche Kompetenzverlagerungen zum Bund als Darüber hinaus ist es erforderlich, die Zuständig-
wenig überzeugend. Niemand wünscht die Wieder- keit und Verantwortlichkeit der Zentralstellen des
begründung eines deutschen Zentralstaates. Die Bundes zügig zu stärken. Dies kann dadurch
geforderte Stärkung der zentralen Sicherheitsbe- geschehen, dass dem BfV und dem BKA im Ein-
hörden des Bundes ist vielmehr eine Reaktion auf zelfall das früher vorhandene administrative Wei-
neue Bedrohungen von außen, die 1949 nicht ein- sungsrecht gegenüber den nach dem BfV-Gesetz
mal zu ahnen waren. Der Versuchung, den Födera- bzw. dem BKA-Gesetz zur Zusammenarbeit ver-
lismus zweckentfremdet in der innenpolitischen pflichteten Landesbehörden wieder eingeräumt
Auseinandersetzung einzusetzen, sollten wir wird.26 In besonders wichtigen Ermittlungsverfah-
widerstehen. Demgegenüber entwickelte sich in ren und operativen nachrichtendienstlichen Maß-
den USA die Kraft zur Veränderung der föderalen nahmen sollten außerdem BKA bzw. BfV ein
Struktur offenbar aus erlittenem Schmerz. Es unmittelbares Zugriffs- und Übernahmerecht ein-
wuchs die Überzeugung, dass die Intensivierung geräumt werden; im Rahmen von Ermittlungsver-
der Bekämpfung des Terrorismus auch in einer fahren bedarf es hierzu der Zustimmung der
föderalen Staatsstruktur nur durch die Bündelung Staatsanwaltschaft.
steuernder und koordinierender Kompetenzen in
Zentralstellen des Bundes möglich ist. Diese Es ist nicht akzeptabel, dass dem BKA keine prä-
Erkenntnisreife hat der Diskussionsprozess in ventiv-polizeilichen Befugnisse eingeräumt sind.
Deutschland bisher noch nicht erreicht. Die neuen Bedrohungsszenarien verlangen nach
einer über die Zentralstellenfunktion hinausge-
BKA und BfV sind die Zentralstellen des Bundes henden Verantwortung des BKA; zumindest sollte
in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungs- dem Amt unverzüglich die seit langem geforderte

24 Vgl. W. Weidenfeld (Anm. 2), S. 12. 26 Vgl. zu den Weisungsbefugnissen im Verfassungsschutz-


25 Vgl. z. B. SZ vom 18. 6. und 26./27. 6. 2004; weiter ge- recht Hermann Borgs-Maciejewski/Frank Ebert, Das Recht
hende Vorschläge hat der Verfasser in einem Gutachten der der Geheimdienste, Stuttgart 1986, § 5 Rdnr. 5ff, sowie die
Bertelsmann Stiftung, Task Force Zukunft der Sicherheit, BT-Drs. 7/3083 zur Ausweitung von Weisungsrechten und V/
vom 5. 7. 2002 unterbreitet. 4208, S. 6.

11 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Initiativermittlungskompetenz eingeräumt wer- mistischen Terrorismus zuständigen Sicherheits-
den. Darüber hinaus gibt es die Überlegung, die stellen – am besten als Textdatei – gesetzlich
operativ tätigen Organisationseinheiten von Zoll ermöglicht wird.28
und Bundesgrenzschutz mit den Ermittlungsein-
heiten des BKA zusammenzuführen. Wegen der Die föderale Sicherheitsarchitektur Deutschlands
grundverschiedenen Aufgabenstellung und der trennt nach wie vor strikt nicht nur die Aufgaben-
speziellen Fachkenntnisse der Mitarbeiter würde felder Innere und Äußere Sicherheit, sondern
ein Zusammenschluss aber weder einen Sicher- auch den Schutz der Bevölkerung vor kriegsbe-
heitsgewinn noch Synergieeffekte erwarten lassen. dingten Schadensfällen und friedensmäßigen Katas-
trophen, obwohl eine existenzgefährdende militä-
Dem global agierenden terroristischen Netzwerk rische Bedrohung durch andere Staaten faktisch
ist mit einem intensiven nationalen und interna- nicht mehr besteht, während eine neue, asymme-
tionalen Informationsaustausch der Sicherheitsbe- trische durch den internationalen Terrorismus ent-
hörden zu begegnen. Eine solche Kooperation ist standen ist. Doch wenn die Sicherheit Deutsch-
funktionstüchtig, wenn die Informationen elektro- lands auch am Hindukusch zu verteidigen ist, darf
nisch erfasst und zumindest national im Datenver- der Schutz der Bevölkerung nicht darunter leiden,
bund online zugänglich sind oder wenn eine dass wir uns aus historischen Gründen nicht dar-
gemeinsame Datenbank eingerichtet wird. Das gilt über verständigen wollen, wo die Innere Sicherheit
vor allem für die Zusammenarbeit der Sicherheits- endet und die Äußere beginnt. Die Streitkräfte
behörden in Deutschland.27 Die gegenwärtige sollten als unterstützende Einsatzkräfte nicht nur
Rechtslage offenbart gravierende Kooperationsde- wie bisher im Rahmen einer Amtshilfe nach
fizite: Die durch die Trennung von BKA und BfV Art. 35 bzw. nach Art. 87a GG eingesetzt werden,
bedingten Informationsdefizite werden dadurch sondern zumindest auch – entsprechend einer
verstärkt, dass dem BKA in der Terrorismusbe- Bundesratsinitiative der Länder Bayern, Baden-
kämpfung eine Rechtsgrundlage zur Gefahrenab- Württemberg, Thüringen und Sachsen – in beson-
wehr fehlt. Dem Verfassungsschutz wie auch den deren Lagen zum Objektschutz und zur Abwehr
anderen Sicherheitsbehörden ist es nicht erlaubt, von besonderen Gefahren aus der Luft oder von
dem BKA personenbezogene Informationen zu See. Generell wäre es sachdienlich, im Zuge der
übermitteln, die zur Verhütung von Staatsschutz- Umstrukturierung der Bundeswehr eine Organi-
delikten erforderlich sind. Empfänger solcher sationseinheit „Heimatschutz“ zu schaffen und
Informationen dürfen grundsätzlich nur die zu- zugleich in einer Ergänzung von Art. 87a GG
ständigen Landeskriminalämter sein. einen generellen Unterstützungsauftrag der Streit-
kräfte zugunsten ziviler Behörden bei der Abwehr
Nach heutiger Rechtslage sind alle (bereichsspe- schwer wiegender Bedrohungen der inneren Si-
zifischen) Befugnisvorschriften zur Übermittlung cherheit und zur Bewältigung anderer außeror-
personenbezogener Informationen lediglich Er- dentlicher Lagen zu formulieren.29
messens- und keine Mussvorschriften. Unzulässig
wäre derzeit die Errichtung einer gemeinsamen
Datei „internationaler/islamistischer Terrorismus“
der Sicherheitsbehörden des Bundes und/oder der
Länder, in welche die Behörden personenbezo- Ergebnis
gene Informationen für präventive und repres-
sive Zwecke einstellen. Die Forderung lautet, in
den Sicherheitsgesetzen die bereichsspezifischen Eine Reihe von institutionellen, organisatorischen
Datenschutzregelungen so zu verändern, dass eine und gesetzlichen Änderungen ist zur Verbesserung
anlassunabhängige Unterrichtungspflicht in Ange- der Beobachtung und Bekämpfung des internatio-
legenheiten des internationalen/islamistischen Ter- nalen/islamistischen Terrorismus und zum Schutz
rorismus eingeführt wird und die Einrichtung der Bevölkerung geboten.
einer gemeinsamen Datenbank der für den isla- 1. Aus historischen und rechtspolitischen Grün-
den sollte die organisatorische Trennung von Poli-
27 Im 9/11 Commission Report werden die Mängel im In- zei und Nachrichtendiensten – insbesondere von
formationsverbund heftig kritisiert: Wir brauchen „eine
Neugestaltung des Zugriffs auf Informationen“; weiter heißt BKA, BfV und BND – vorerst unberührt bleiben.
es: „Das Personal der Nachrichtendienste muss eine (. . .)
Wende vollziehen, damit die Institutionen nach den Prinzi- 28 Vgl. die Bundesratsinitiative des Landes Niedersachsen
pien einer gemeinsamen Führung arbeiten, wobei gemein- zu einem Anti-Terror-Datei-Gesetz vom 1. September 2004
samer Zugriff auf Informationen die Regel zu sein hat.“ Zit. (BR-Drs. 657/04).
nach Cicero (Anm. 1). 29 Vgl. Art. 58 Abs. 2 der Schweizer Bundesverfassung.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 12


Der Austausch von Verbindungsbeamten ist 7. Die Vorschläge haben eine Reihe von Geset-
zweckdienlich. zesänderungen zur Folge, die neben den empfohle-
nen oder erwogenen Grundgesetzänderungen30 in
2. Die Angelegenheiten des Verfassungsschutzes erster Linie bereichsspezifische Datenschutzbe-
sollten zumindest mittelfristig im Grundgesetz als stimmungen in den Sicherheitsgesetzen betref-
Aufgabe des Bundes ausgewiesen werden; über- fen.31
gangsweise wird den kleineren Ländern empfoh-
len, Staatsverträge mit Nachbarländern mit dem 8. Angesichts der Bedrohung ist ein gesamtstaatli-
Ziele zu schließen, dass sich die Zahl der Landes- cher Ansatz durch eine informationelle Vernet-
behörden für Verfassungsschutz auf sechs oder sie- zung der beteiligten Behörden geboten. Dement-
ben leistungsstärkere Ämter verringert. Darüber sprechend sind das deutsche Staatsangehörigkeits-,
hinaus ist eine Zusammenfassung von Landeskri- Ausländer-, Zuwanderungs- und Vereinsrecht zu
minalämtern – wie es beispielsweise für Ost- präzisieren und nicht länger isoliert zu betrach-
deutschland mit dem Gemeinsamen Landeskrimi- ten.32
nalamt vorgesehen war – sehr zweckdienlich.
Die Auseinandersetzung mit dem internationalen
3. Beim Chef des Bundeskanzleramtes sollte die Terrorismus muss auf allen Ebenen nachhaltig
Funktions- und Organisationseinheit eines Sicher- geführt werden. Nach aller Erfahrung wird sie mit
heitsberaters der Bundesregierung eingerichtet militärischen und exekutiv-polizeilichen Mitteln
werden. Er ersetzt den bisherigen Koordinator für allein nicht zu gewinnen sein. Daher muss die
die Nachrichtendienste. Zur Verbesserung des nationale und internationale Politik darauf gerich-
Schutzes der Inneren und Äußeren Sicherheit tet sein, die geistig-politische Auseinandersetzung
koordiniert er zivile und militärische staatliche mit dem internationalen Terrorismus zu intensivie-
Einrichtungen wie auch die Bund-Länderangele- ren, seine weltweite Ächtung zu erreichen und den
genheiten in der zivilen Sicherheitsvorsorge. harten Kern der Terroristen und ihr Unterstützer-
umfeld zu isolieren.
4. Bei einer der beiden Zentralstellen des Bundes
wird eine Datenbank „islamistischer Terrorismus“ Es ist zu befürchten, dass im nächsten Jahrzehnt
eingerichtet, in die von den Organisationseinhei- noch viele Menschen Opfer vielleicht heute kaum
ten des BKA, der LKÄ, des BfV, der LfV, des vorstellbarer Terroranschläge werden. Die jüngs-
BND und des MAD (personenbezogene) Informa- ten Terroranschläge im Kaukasus – vor allem die
tionen eingestellt werden und auf die nur die Ermordung von Schulkindern in Beslan – sind
jeweils zuständigen Mitarbeiter online zugreifen dafür barbarische Belege. Aber dennoch muss sich
können. Die übrigen Sicherheitsbehörden des auch in Zeiten der Not der Rechtsstaat treu blei-
Bundes (BGS, Zollkriminalamt) werden verpflich- ben und seine Grundprinzipien wahren. Eine Waf-
tet, anlassunabhängig den islamistischen Terroris- fengleichheit im Unrecht darf es nicht geben. Es
mus betreffende Informationen an BND, BKA zeichnet den starken und stabilen Rechtsstaat aus,
oder Verfassungsschutz zu übermitteln. auch auf befürchtete Terroranschläge mit Augen-
maß zu reagieren. Er muss vor allem der Versu-
5. Die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der chung des Übermaßes widerstehen. Denn Terro-
zentralen Sicherheitsbehörden des Bundes werden risten jedweder Provenienz zielen darauf, eine
durch Weisungsrechte und Zugriffsbefugnisse ge- Gewaltspirale in Gang zu setzen, an deren Ende
stärkt und erweitert. Dem BKA wird eine Initiativ- ihr Terror als „legitime Notwehrmaßnahme“
ermittlungskompetenz im Rahmen seiner Strafver- gegen eine vermeintlich aggressive militante
folgungsaufgaben nach § 4 BKA-Gesetz gewährt. Expansionspolitik – z. B. der USA und ihrer Ver-
bündeten – gerechtfertigt erscheinen soll.
6. Nicht nur der denkbare Einsatz von Massen-
vernichtungswaffen und die Gefahr von groß- 30 Zur Konzentration des administrativen Verfassungs-
flächigen Katastrophen durch Angriffe von Terro- schutzes (Art. 73 Nr. 10 GG), zur Erweiterung der Bundes-
risten erfordern es, über die im Grundgesetz kompetenz im Bereich des Schutzes der Zivilbevölkerung
bisher zugelassene Amtshilfe hinaus den Einsatz über kriegsbedingte Gefahren hinaus (Art. 73 Nr. 1 oder 74
GG) und des Bundeswehreinsatzes im Inland über die ver-
der Bundeswehr im Innern zu legalisieren. Durch fassungsrechtlich geregelte Amtshilfe hinaus (Art. 87 a GG).
eine Ergänzung des Grundgesetzes sollte ein gene- 31 Vgl. z. B. §§ 18, 19, 20 BVerfSchG; §§ 8, 9 BNDG; § 10
reller Unterstützungsauftrag der Streitkräfte BKAG. Vgl. auch Anm. 28.
zugunsten ziviler Behörden bei der Abwehr 32 In den Empfehlungen der Unabhängigen Parlaments-
kommission heißt es: „Die Einwanderungsbestimmungen
schwer wiegender Bedrohungen der Inneren Si- müssen effizient sein, um anständige Menschen ins Land zu
cherheit und zur Bewältigung anderer außeror- lassen und zugleich Terroristen draußen zu lassen.“ Zit. nach
dentlicher Lagen ermöglicht werden. Cicero (Anm. 1), S. 52.

13 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Christoph Gusy

Geheimdienstliche Aufklärung und


Grundrechtsschutz

Die tragischen Ereignisse des 11. September 2001 Doch sind Freiheits- und Schutzauftrag unter-
haben möglicherweise nicht alles, wohl aber schiedlich und vielfach gegenläufig. Sicherheit ist
Sicherheitsdiskurse und das Sicherheitsrecht die Abwesenheit von Risiken; Freiheit hingegen
erheblich verändert. Statt der Alltagsfragen von verursacht und steigert Risiken. Die „Staatsauf-
zero tolerance erscheinen die Ausnahmeereignisse gabe Freiheit“ individualisiert Entscheidungszu-
des internationalen Terrorismus als neue Paradig- ständigkeiten; die „Staatsaufgabe Sicherheit“ kol-
mata der Diskussion. Damit stellt sich der Rechts- lektiviert sie. Hier kann und soll diese allgemeine
wissenschaft und den Juristen das ewige Thema Diskussion nicht ein weiteres Mal geführt werden.
der Zuordnung von Freiheit und Sicherheit ein Doch kann festgehalten werden: Die staatsphiloso-
weiteres Mal – unter neuen Vorzeichen.1 phischen und sozialwissenschaftlichen Erörterun-
gen haben das Argumentationsniveau erheblich
gesteigert. Doch haben sie nicht zu politisch oder
juristisch unmittelbar operationalisierbaren Ansät-
Freiheit und Sicherheit als zen geführt, welche gesetzlich oder gerichtlich in
Staatszwecke konkrete Entscheidungen umgegossen werden
können. Das gilt erst recht unter den Bedingungen
des modernen, demokratisch und rechtsstaatlich
Rechtsschutz und Rechtsgüterschutz sind essen- konzipierten Verfassungsstaates. Hier ist nach wie
zielle Legitimationsgrundlagen und Aufgaben des vor das Element der Entscheidung unabweisbar.
Staates. So unbestritten dieser Befund von den Im Folgenden sollen die rechtlichen Rahmenbe-
ältesten bis zu den modernsten Staatstheorien ist, dingungen solcher Entscheidungen dargestellt und
so hat er doch nur ganz vereinzelt Aufnahme in diskutiert werden.
Verfassungsdokumente gefunden. Hingegen hat
Eine notwendige Vorfrage soll wenigstens ange-
die Freiheit seit der Befriedung der „alten“ Bür-
schnitten werden: Wofür brauchen wir eigentlich
gerkriege als weiterer Staatszweck ihren Platz
Nachrichtendienste? Einerseits ist festzuhalten,
nicht nur in zahlreichen Staatstheorien, sondern
dass es in nahezu allen Staaten der Welt vergleich-
auch in den meisten Verfassungen erlangt. Auf
bare Behörden gibt, die mehr oder weniger von
diese Weise nehmen beide Ziele einen je verschie-
der Polizei abgesondert sind. Andererseits ist fest-
denen Status ein: „Sicherheit“ ist Verfassungsvor-
zustellen, dass das spezifisch deutsche System
aussetzung, „Freiheit“ ist Verfassungsinhalt.
strikt getrennter Polizei- und Nachrichtendienste
1 Vgl. zu meinen Ausführungen folgende Literatur: Chris-
in Europa nirgends auch nur in annähernd ver-
tian Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit gleichbarer Form besteht. Warum diese Besonder-
im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsver- heit? Historisch sind die Entstehungsbedingungen
ständnisse, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 17 (2003), S. 1096; eindeutig: Die Besatzungsmächte und die Verfas-
Erhard Denninger, „Streitbare Demokratie“ und Schutz der
Verfassung, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans Jochen
sungsväter und -mütter wollten eine Zusammen-
Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1984, S. 1293; ballung von Sicherheitsaufgaben und -befugnissen
Christoph Gusy, Die Gewährleistung von Freiheit und Si- bei einzelnen Behörden verhindern. Zu sehr erin-
cherheit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deut- nerte sie dies an die unselige nationalsozialistische
schen Staatsrechtslehrer, 63 (2004), S. 151; ders., Rechts-
güterschutz als Staatsaufgabe – Verfassungsfragen der
Vergangenheit.
„Staatsaufgabe Sicherheit“, in: Die öffentliche Verwaltung,
49 (1996), S. 573; ders., Vom Polizeirecht zum Sicherheits-
Gegenwärtig dominieren andere Antworten: Es
recht, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 5 (1994), S. 187; geht um Zweckmäßigkeitsfragen, Aufgabenab-
ders., Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in grenzung und Ermittlungsbefugnisse. Die Polizei
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Ar- ist in ihren Aufgaben begrenzt: Sie darf nur tat-
chiv des öffentlichen Rechts, 105 (1980), S. 279; Fredrik
Roggan, Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, Bonn
sächlichen Anhaltspunkten für Gefahren bzw. dem
2003; Uwe Volkmann, Sicherheit und Risiko als Probleme des Verdacht einer Straftat nachgehen. Sie ist also auf
Rechtsstaats, in: Juristenzeitung, 59 (2004), S. 696. rechtswidrige Handlungen beschränkt und darf

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 14


nur in bestimmten Situationen ermitteln. Anders ben. In jener Perspektive ist „legitime Gewaltsam-
die Nachrichtendienste: Sie ermitteln im In- und keit“ Mittel, nicht Zweck des Staates. Aus ihr
im Ausland über das In- und Ausland, über recht- folgte also keine Staatsaufgabe – und erst recht
mäßige und rechtswidrige Handlungen und über kein Monopolanspruch im Verhältnis zu den
Bestrebungen oder Organisationen, die weit im Bürgerinnen und Bürgern. Dem Gewaltmonopol
Vorfeld von Beeinträchtigungen der verfassungs- ist Genüge getan, wenn der Staat berechtigt ist,
mäßigen Ordnung liegen. Die deutsche Besonder- über Legitimität bzw. Illegitimität von Gewalt zu
heit liegt in der strikten Zuordnung von Aufgaben entscheiden, wenn er in diesem Rahmen den
und Befugnissen: Weil die Polizei nur über ver- Umfang legitimer Gewalt bestimmen und illegi-
gleichsweise enge Ermittlungsspielräume verfügt, time Gewalt mit eigenen Mitteln – notfalls mit
darf sie sehr weitgehende Mittel einsetzen; weil Gewalt – verhindern kann.
die Nachrichtendienste sehr weitgehende Ermitt-
Auch das viel diskutierte „Grundrecht auf Sicher-
lungsspielräume haben, sind ihnen polizeiliche
heit“ soll dem Staatsziel des Rechtsgüterschutzes
Befugnisse versagt. Sehr pointiert formuliert lässt
einen Platz im Grundgesetz zuweisen. Die unge-
sich festhalten: Die Polizei darf weniger wissen
schriebene Garantie wird partiell aus einer
und daher ihr Wissen auch zu sehr eingreifenden
Gesamtschau grundrechtlicher Schutzpflichten,
Maßnahmen gegen die Bürger verwenden. Die
partiell aus objektiven Verfassungsprinzipien her-
Nachrichtendienste dürfen mehr wissen und dieses
geleitet. Seine postulierten Rechtsfolgen sind über-
Wissen daher weniger zu Lasten der Bürger einset-
aus vielschichtig. Da ist zunächst die Begründung
zen. Wer (fast) alles weiß, soll nicht alles dürfen;
der „Staatsaufgabe Sicherheit“ mit Verfassungs-
und wer (fast) alles darf, soll nicht alles wissen.
rang als gesetzlich unaufgebbare Kompetenz der
Die Zuordnung von Freiheit und Sicherheit ist öffentlichen Hand. Diese kann das Recht und die
demnach primär eine Aufgabe des Rechts. Vor- Pflicht der Staatsorgane begründen, Grundrechte
bildlich ist sie im EU-Vertrag und im Verfassungs- einzuschränken. Der subjektiv-rechtliche Gehalt
entwurf der EU als „Aufbau eines Raumes der der neuen Garantie bindet zudem im Einzelfall
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ beschrie- das Behördenermessen und kann einen Anspruch
ben. Alle drei Ziele sind aufeinander bezogen und auf polizeilichen Schutz begründen. Jene Anliegen
prägen einander sowohl inhaltlich als auch instru- mögen auf den ersten Blick geradezu als optimale
mentell. Diese anspruchsvolle Synthese gerät aller- Synthese von Freiheit und Sicherheit erscheinen.
dings aus der Balance, wenn die Kommission Sie scheint die Dichotomie aufzulösen, wonach
beginnt, jenen einheitlichen Raum in drei unter- Freiheit in den Grundrechten und bei den Einzel-
schiedliche, nebeneinander stehende Räume auf- nen, Sicherheit bei den Staatsaufgaben und der
zuteilen und so die Ziele voneinander zu isolieren. öffentlichen Hand zu verorten sei.
Eine solche Dogmatik würde die Idee des Vertra- Doch darin erschöpft sich ihre Leistungsfähigkeit.
ges nicht konkretisieren, sondern beschädigen. Die neuen Anliegen sind nämlich wenig geeig-
Das Grundgesetz differenziert die Aufgabe der net, zum Inhalt eines neuen Grundrechts zu wer-
Zuordnung von Freiheit und Sicherheit durch das den. Sicherheit ist relativ und nicht einfach da
Recht weiter aus. Doch lassen sich ihm nur ein- oder nicht da. Schon theoretisch können daher
zelne Vorgaben eines differenzierten staatlichen die grundrechtlichen Sicherheitsansprüche nie
Risikomanagements entnehmen. Es begründet „erfüllt“ werden. Aus diesem Grund kann ein
einige spezielle Staatsaufgaben auf dem Gebiet Grundrecht auf Sicherheit nichts anderes begrün-
der Sicherheit und lässt andere zu. Deren Sammel- den als den subjektiv-rechtlich formulierten
bezeichnung als „Staatsaufgabe Sicherheit“ kann Appell an die Grundrechtsadressaten, den Rechts-
allein klassifikatorisch verstanden werden: Ihr güterschutz bei der Erfüllung der eigenen Aufga-
Ganzes ist die Summe seiner Teile – nicht mehr. ben zu berücksichtigen. Aber selbst dann geraten
Hingegen besteht eine Staatsaufgabe zur „umfas- die neuen Verpflichtungen rasch an ihre Grenzen.
senden Risikosteuerung“ verfassungsrechtlich Was für vergleichsweise einfach strukturierte
nicht – oder aber sie läuft ins Leere. Grundrechte wie das Recht auf Leben noch
begründbar sein mag, wird für die meisten Frei-
Neoetatistische Ansätze suchen Antworten bei der heitsrechte paradox. Es ist widersinnig, einerseits
Lehre vom staatlichen Gewaltmonopol. Diese für die Bürger immer neue Modalitäten der Frei-
ursprünglich soziologische Idee nahm zunächst heitsausübung und damit der Begründung von
einen rein deskriptiven Status ein und sollte die Risiken zu postulieren und andererseits die Ver-
Herausbildung organisierter Staatlichkeit im Ver- pflichtung zur Bewältigung dieser Risiken aus-
hältnis zu anderen Herrschaftsverbänden beschrei- schließlich dem Staat anzulasten. Dadurch würde

15 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


die Grundrechtsausübung unter den Möglichkeits- Hier findet sich nicht selten ein argumentativer
vorbehalt des staatlichen Risikomanagements Kurzschluss durch Verschiebung der politischen
gestellt. Argumentationslast im Sicherheitsdiskurs. Dem
Staatsziel „Risikominimierung“ ist Freiheit wegen
Verfügt der Staat demnach nicht über ein verfas- ihrer generellen Tendenz zur Risikoerhöhung
sungsrechtlich anerkanntes Monopol der Rechts- regelmäßig abträglich. Soll dennoch beides – Frei-
durchsetzung, so eröffnet dies die Möglichkeit heit und Sicherheit – verwirklicht werden, muss in
einer Einbeziehung von Privaten und Unterneh- jedem Einzelfall geprüft werden, ob eine
men in jene Aufgaben. Dieser Befund schafft Frei- bestimmte Variante der Freiheitsausübung aus-
räume zur Berücksichtigung einer weiteren Deter- nahmsweise risikoneutral sein kann oder nicht.
minante, der Ressourcenfrage. Kostenlos zur Die Begründungslast trägt dann, wer sich auf die
Verfügung gestellte öffentliche Sicherheit ist als Freiheit beruft. Ist dies die Antwort des Grundge-
öffentliches Gut tendenziell knapp. Umso größe- setzes? Oder wenigstens eine zulässige Antwort?
rer Bedarf besteht nach optimaler Ressourcenallo-
kation und Ressourcennutzung.
Diese Perspektive lenkt den Blick auf die Instru-
mente staatlicher Sicherheitsgewährleistung.
Sicherheit erfordert unterschiedliche Eingriffe in Neue Herausforderungen an die
die Freiheit. Am Anfang steht die Risikoaufklä- rechtsstaatliche Demokratie
rung: Ein Zentralproblem des Risikomanage-
ments besteht darin, zu erforschen, wo überhaupt
welche Risiken sind. Die Erhebung und Verarbei- Das liberal-rechtsstaatliche Denken hat die
tung derartiger – auch personenbezogener – Infor- Grundlagen unseres Polizei- und Ordnungsrechts
mationen bezieht sich längst nicht mehr nur auf geprägt. Es geht von der Idee tendenziell unbe-
(potenzielle) Störer. Neuere Maßnahmen finden grenzter individueller Freiheit bei gleichzeitiger
nicht selten bereits im „Vorfeld“ oder gänzlich Begrenztheit des Staates, seiner Aufgaben und
anlassunabhängig statt; sie richten sich auch seiner Mittel aus. Danach bedarf jede Einschrän-
gegen Außenstehende, etwa Kontakt- oder kung der Freiheit ihrer Rechtfertigung durch
Begleitpersonen, gegen jedermann, etwa bei Kon- einen vorrangigen öffentlichen Zweck. Deren
trollstellen oder offener Videoüberwachung, und Zwischenschritte sind Bestimmtheitsgebote, die
damit auch gegen diejenigen, die durch die Ein- Skalierbarkeit rechtlich geschützter Belange, das
griffe geschützt werden sollen. Übermaßverbot als Abwägungsmaxime und die
Möglichkeit gerichtlicher Nachprüfung. So wichtig
Dies gilt gerade auch für die Geheimdienste. jene Gebote nach wie vor sind, so sind doch
Ihnen sind Aufgabenfelder eröffnet, welche weit Bedingungen und Grenzen ihrer Erfüllbarkeit
vor der Entstehung konkreter Gefahren liegen umstritten.
können. Dazu zählen allgemeine Aufklärungsauf-
gaben unabhängig von Gefahrenszenarien wie Die Begrenzung der Staatszwecke kollidiert mit
die anlassunabhängige Telefonüberwachung (§ 5 anderen Staatszielbestimmungen. Staatsaufgaben
G-10/Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- werden nicht mehr allein rechtsstaatlich, sondern
und Fernmeldegeheimnisses) ebenso wie die fort- auch demokratisch bestimmt. Sicherheitsbedürf-
gesetzte Beobachtung legaler Aktivitäten von Par- nisse und -ansprüche der Menschen können im
teien oder Religionsgemeinschaften im Hinblick demokratischen Wettbewerb von Ideen und Par-
auf mögliche, aber im Vorhinein nicht absehbare teien kaum ignoriert werden. Das gilt umso mehr,
Gefährdungen für die „freiheitliche demokratische seit sich Normen und Institutionen sozialer Selbst-
Grundordnung“. Hier zeigt sich das Paradox von regulierung in Auflösung befinden und die Legiti-
Freiheit und Sicherheit besonders eindringlich: mation für Freiheitsbeschränkungen nahezu aus-
Einerseits ist dem Bürger die freie Betätigung in schließlich durch Recht, Rechtsdurchsetzung und
Parteien (Art. 21 GG/Grundgesetz) und Religions- damit den Staat vermittelt werden kann. Das gilt
gemeinschaften (Art. 4 GG) – und zwar grundsätz- insbesondere, wenn „die Sicherheit“ als Staats-
lich auch frei von administrativer Beobachtungs- zweck bestimmt wird. Hier folgt nicht mehr die
oder Ermittlungstätigkeit – gewährleistet. Ande- Sicherheitsgewährleistung den Staatsaufgaben;
rerseits ist der Staat berechtigt und gegebenenfalls vielmehr folgen die Staatsaufgaben der tendenziell
sogar verpflichtet, daraus entstehende Risiken für unbegrenzt expansiven Logik von Risiko- und
die demokratischen Freiheiten und die Demokra- Sicherheitsdenken. Der rechtsstaatliche Ausgangs-
tie zu erkennen und zu steuern. punkt ist damit verlassen.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 16


Wo – wie in mancher neueren Sicherheitsdiskus- Die aktuelle Terrorismusdiskussion hat eine neue
sion – jede Beeinträchtigung von Rechtsgütern Anwendbarkeitsgrenze tradierter rechtsstaatlicher
Dritter zugleich als Angriff auf „die Sicherheit“ Grundsätze verdeutlicht. Dieses Gebot der Ratio-
und damit die Rechtsordnung insgesamt verstan- nalisierung staatlichen Agierens kann seine Wir-
den wird, gerät die individuelle Handlungsfreiheit kung nur entfalten, wenn es prognostizierbare
bei der Abwägung notwendigerweise ins Hinter- Zusammenhänge zwischen der behördlichen Maß-
treffen. Denn die Integrität der Rechtsordnung ist nahme und dem Verhalten der Betroffenen gibt.
Voraussetzung der Wirksamkeit der Verfassung Solche Zusammenhänge sind umso stabiler, je
und damit auch der in ihr enthaltenen Grund- rationaler beide Seiten handeln. Umgekehrt gilt:
rechte. Wer Rechtsgüter Dritter gefährdet, beein- Gegen einen völlig irrational handelnden, den
trächtigt in jener Logik zugleich die Grundlage der eigenen Tod in Kauf nehmenden Terroristen ver-
eigenen Rechtsposition und handelt geradezu sagen die tradierten Grundsätze des mildesten
selbstwidersprüchlich. Ein solches Verhalten muss Mittels und der Angemessenheit.
bei jeder Abwägung zurücktreten. Der Grund-
rechtsschutz wird so vollständig relativierbar. Dies Die zunehmend polizeiliche und nachrichten-
illustriert im Extrem die jüngere deutsche Diskus- dienstliche Orientierung der Sicherheitsproduk-
sion über die ausnahmsweise Zulässigkeit der Fol- tion hat das Gefüge der Gewaltenteilung zwischen
ter und damit die Relativierung der Art. 1 Abs. 1 Exekutive und Justiz verändert. Die Ahndung
S. 1 und Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG sowie des Art. 3 von Straftaten ist eine originäre Aufgabe der
der Europäischen Menschenrechtskonvention Justiz, die in jedem Fall beteiligt ist. Hingegen
(EMRK). Die überwiegend rechtsphilosophisch fällt Prävention in die Zuständigkeit der Exeku-
angeleitete Konstruktion von Fällen, in welchen tive. Die Justiz kann nur im Einzelfall und auf
Folter zulässig sein soll, wenn eindeutig feststehe, Antrag Betroffener tätig werden. Deren Möglich-
dass nur der Betroffene bestimmte Informationen keiten zur Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes
zum Schutz überragender Verfassungswerte preis- sind begrenzt. Ein Antrag ist wenig wahrschein-
geben könne, hat für die Praxis keinerlei Orientie- lich, wenn die Maßnahme – wie bei nachrichten-
rungswert. Polizeiliche Ermittlungshandlungen dienstlicher Informationserhebung die Regel –
sind Handlungen unter relativer Unwissenheit verdeckt stattfand und daher für die Betroffenen
über Tatsachen bei gleichzeitig notwendigem Wis- gar nicht bemerkbar war. Rechtsschutz ist gleich-
sen über die rechtlichen Grenzen der eigenen falls wenig effektiv, wenn der Eingriff schon been-
Befugnisse. Die jahrtausendealte Geschichte der det ist und daher keine unmittelbaren Folgewir-
Folter ist nahezu ausschließlich eine Geschichte kungen mehr hat. Haben die Ermittler die
erfolgreicher Versuche der Vorverlagerung jener Wohnung wieder verlassen oder das Abhören des
Grenzen. Hier gibt es kein Halten – außer am Telefons eingestellt, so können die Gerichte die
Anfang. Betroffenen nicht mehr wirksam schützen:
Warum also sollte man sie noch einschalten? Und
Die Idee grundrechtlicher Schutzpflichten basiert im Verfahren ist nicht selten der Zugang des
auf der Idee der Horizontalwirkung der Freiheit: Gerichts zu relevanten Informationen einge-
Der Staat soll berechtigt und sogar verpflichtet schränkt. Die Architektur der Gewaltenbalance
sein, durch Eingriffe in die Rechte eines Menschen wird durch diese Entwicklungen erheblich modi-
die Rechte anderer zu schützen. Es geht um den fiziert.
Ausgleich der Rechte des potenziellen Täters mit
denjenigen des potenziellen Opfers. Jenes Modell Dies bedeutet nicht, dass sämtliche tradierten
wird durch die neuen Jedermann-Eingriffe verlas- rechtsstaatlichen Prinzipien funktionslos geworden
sen, wenn an Kontrollstellen, bei der offenen wären. Doch ist die Diskussion um den Rechts-
Videoüberwachung oder der Rasterfahndung Ein- staat im Sicherheitsrecht voll von Larmoyanz.
griffe gegenüber Betroffenen stattfinden, um ihre Wichtig erscheinen zwei Folgerungen: Zunächst
eigenen Rechte zu schützen. Die überwältigende besteht die Notwendigkeit, die rechtsstaatlichen
Mehrheit der Adressaten solcher Eingriffe sind Anforderungen zu aktualisieren und in die neuen
Geschützte, nicht potenzielle Störer. Sie werden Rahmenbedingungen einzubringen. Sodann ent-
um ihrer eigenen Sicherheit willen in ihren Frei- steht die Aufgabe, dort neue Instrumente und Ver-
heitsrechten beschränkt. Ihre Grundrechte fordern fahren zu entwickeln, wo die alten ihre verfas-
Freiheit und Einschränkung zugleich und müssen sungsrechtlich notwendigen Funktionen nicht
daher mit sich selbst abgewogen werden. Wo hier mehr erfüllen können. Freiheit setzt ein gewisses
Anfänge und wo Grenzen liegen, bleibt allerdings Maß an Unsicherheit voraus. Diese ist Chance und
völlig offen. Preis der Freiheit zugleich. Die maßgebliche Frage

17 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


ist also stets aufs Neue, welchen Preis die Träger Entscheidungsfindung und -kontrolle. Hier ist der
der Freiheit für diese Chance zu zahlen bereit Ort, die erforderlichen Begründungsleistungen zu
sind.2 erbringen und die notwendigen Entscheidungen zu
treffen.
Anforderungen an demokratische Verfahren Es gibt keine Demokratie ohne ein ausreichendes
Maß an Sicherheit. Und es gibt erst recht keine
Das Schlüsselwort zahlreicher Risikodiskurse ist
Demokratie ohne eine ausreichendes Maß an Frei-
das Wort „Entscheidung“. Die Verrechtlichung heit. Im Gesetzgebungsverfahren müssen Frei-
des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit heits- und Sicherheitsbedürfnisse stets neu artiku-
macht die Zuordnung beider Ziele von Entschei- liert und abgewogen werden. Diese Aufgabe
dungen abhängig. Dabei geht es nicht (allein) um verträgt sich schwerlich mit einer Gesetzgebungs-
die Wahrheit von Argumenten, sondern um die technik, welche eine Vielzahl von Schubladenent-
Legitimation des Rechts. Je intensiver das Recht
würfen in umfangreichen „Sicherheitspaketen“
als Mittel politischer Steuerung und sozialer
zusammenfasst und bei gegebenen Anlässen ins
Gestaltung in Anspruch genommen wird, umso
Parlament einbringt, um sie sodann unter größtem
größer ist die Bürde, welche die demokratische
Zeitdruck durch Ausschüsse, Sachverständigenan-
Legitimation der Staatsgewalt tragen muss. Darin
hörungen und Plenum zu „peitschen“. Durch eine
liegt weniger eine Überwindung als vielmehr eine
solche Gesetzgebungstechnik wird das Legitima-
Ergänzung rechtsstaatlicher Prinzipien: Die Men-
tionspotenzial parlamentarischer Verfahren eher
schen- und Bürgerrechte legitimieren sowohl den
beschädigt als genutzt.
Rechtsstaat als auch das auf Aktivierung, Partizi-
pation, Selbstregulierung und Minderheitenschutz Die erwähnte Begründungsbedürftigkeit von
angelegte Demokratieprinzip. Die maßgebliche Grundrechtseingriffen bedarf also auch der verfah-
grundgesetzliche Argumentationsregel für die rensrechtlichen Einlösung. Der Hinweis auf erwar-
Zuordnung von Freiheit und Sicherheit enthalten tete oder vermutete Zugewinne an Sicherheit
die Freiheitsrechte. Die meisten staatlichen Maß- reicht dafür allein umso weniger aus, als die
nahmen zur Herstellung von Sicherheit bewirken Abschätzung zukünftiger Risikolagen ebenso wie
Freiheitseingriffe. Daraus folgt zugleich die Vertei- der Versuch ihrer Steuerung selbst notwendig risi-
lung der Argumentationslast: Begründungsbedürf- kobehaftet ist. Umso eher bietet sich hier eine
tig ist nicht die Freiheit, sondern der Eingriff. angemessene Befristung von Gesetzen und ihre
ausreichende Evaluation vor der Entscheidung
Soweit staatliche Maßnahmen zur Garantie von
über eine mögliche Verlängerung an. Aber geeig-
Sicherheit in die Freiheitsrechte eingreifen, sind
nete Kriterien für eine solche Evaluation stehen
sie legitimationsbedürftig – und nicht der Frei-
im Sicherheitsbereich noch ebenso aus wie ein
heitsanspruch der Bürger. Die Eingriffsvorbehalte
bereichsspezifisches Evaluationsverfahren.
des Grundgesetzes weisen diese Aufgabe ganz
wesentlich dem Gesetzgeber und seiner maßgebli-
chen Legitimationsquelle, dem demokratischen Trennungs- und Differenzierungsgebote
Verfahren, zu. Auch wenn man nicht jeder Einzel-
Ist der Gesetzgeber aufgefordert, das Verhältnis
heit einer vernunftrechtlich orientierten Diskurs-
von Freiheit und Sicherheit im Verfahren auszuta-
theorie des Rechts oder auch nur des Gesetzge-
rieren, so unterliegt er dabei dem Gebot inhaltli-
bungsverfahrens zustimmen möchte, so gilt doch:
cher Differenzierung. Es gibt nicht „die“ Zuord-
Offenheit und Transparenz namentlich des parla-
nung von Freiheit und Sicherheit. Vielmehr bedarf
mentarischen Verfahrens sind zentrale Quellen
es der je konkreten, bereichsspezifischen Zuord-
von Artikulations-, Partizipations- und Akzeptanz-
nung beider Ziele. Maßgeblich dafür sind die
chancen des Rechts. Zu deren Einlösung bedarf es
erkennbare Risikobelastung einerseits und die
der Formulierung belastbarer (Mindest-)Standards
Eingriffstiefe in die betroffene Freiheit anderer-
einer Beteiligung des Parlaments und der demo-
seits. Hier kann es einen erheblichen Unterschied
kratischen Öffentlichkeit an den Prozessen der
ausmachen, ob etwa legale oder illegale Handlun-
2 Ein wichtiges Fundament der Demokratie ist ein hin-
gen kontrolliert oder reguliert werden; ob Privat-,
reichendes Sicherheitsgefühl der Menschen. Dessen Pflege ist Betriebs- oder Geschäftssphäre oder aber die
keine eigenständige Staatsaufgabe, sondern als Folge an- Öffentlichkeitssphäre betroffen sind; ob es um ver-
sonsten zulässiger und rechtmäßiger Staatstätigkeit zu be- gleichsweise nahe liegende Gefahren oder um fer-
greifen. Hierzu zählen auch die allgemeinen Ein-
griffsbefugnisse. Hingegen ist der Schutz des Sicherheits-
ner liegende Risiken in Vorsorgebereichen geht;
gefühls nicht geeignet, eigenständige Befugnisse zu ob die zu steuernden Risiken von Handlungen,
Eingriffen in Rechte Dritter zu begründen. Anlagen oder Produkten mehr oder weniger pro-

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 18


gnostizierbar sind; ob eine erkennbare Ge- oder wenn das BfV allzu klein oder im Verhältnis zur
Missbrauchsgefahr für kriminelle Handlungen Bevölkerung an Fläche allzu groß ist. Hier wird
besteht oder nicht. Hier werden im Gentechnik-, Behördentrennung zur Plage.
im Arzneimittel- oder im Atomrecht andere Maß-
Eine andere, nach wie vor schwer zu lösende Frage
stäbe gelten als im „einfachen“ Polizeirechtsfall.
ist diejenige nach den Folgen des Trennungsgebots.
Das gesetzliche Risikomanagement hat demnach
Behördentrennung setzt Zusammenarbeit voraus
bereichsspezifisch zu differenzieren und Eingriffs-
und bedingt sie zugleich. Hier finden sich gerade im
verfahren, -tiefe und mögliche Sanktionen an dem
Sicherheitsbereich nach wie vor erhebliche Defi-
Ergebnis dieser Abwägung auszurichten.
zite: Das gilt sogar schon innerhalb einzelner
Sind so unterschiedliche Aufgaben mit unterschied- Behörden, wenn unterschiedliche Abteilungen
lichen Mitteln und Befugnissen wahrzunehmen, so oder Zweigstellen Informationen für sich behalten,
rechtfertigt dies auch das Gebot organisatorischer um so ihre Unentbehrlichkeit zu demonstrieren
Differenzierung und Spezialisierung innerhalb des oder ihre eigenen Erkenntnismöglichkeiten auszu-
Staates. Aus guten Gründen enthält das Grundge- bauen. Das gilt erst recht zwischen unterschiedli-
setz keine Zuweisung der „inneren Sicherheit“ an chen Sicherheitsbehörden, wenn diese Teilaspekte
einzelne Körperschaften oder gar Behörden. Maß- von Risiko- oder Gefahrenlagen bearbeiten, ohne
geblich für solche Trennungsgebote sind weniger sich ausreichend über die Zusammenhänge auszu-
Vorbehalte der Alliierten bei der Genehmigung des tauschen. Hier hat nicht zuletzt die amerikanische
Grundgesetzes als vielmehr grundrechtliche, daten- Diskussion über die Ursachen der Ereignisse des
schutzrechtliche und rechtsstaatliche Gesichts- 11. September 2001 wichtiges Material beigesteu-
punkte. Wenn Behörden unterschiedliche Aufga- ert. In Europa potenzieren sich die Probleme, weil
ben mit unterschiedlichen Instrumenten und jedes nationale System zwar in sich stimmig arbei-
Befugnissen erfüllen, so spricht mehr dafür, sie zu tet, die grenzüberschreitende Kooperation aber
trennen, als dafür, sie zusammenzufassen. Die Idee defizitär bleibt. Die Erfahrungen der Vergangen-
einheitlicher Megabehörden ist ein Leitbild, das der heit haben gezeigt: Hier genügen nicht bloße Ver-
Vergangenheit angehört. Das Grundgesetz und die pflichtungen zur Zusammenarbeit. Sie müssen
Bundesgesetze gehen zu Recht von den Gedanken behördenübergreifend organisatorisch und institu-
funktioneller und befugnismäßiger Differenzierung, tionell abgesichert werden.
organisatorischer Verselbständigung und bereichs-
spezifischer Kooperation aus.
Legitimation durch Kontrolle
Dies ist die eine Seite der viel diskutierten Tren-
Das so verabschiedete Recht muss, um Legitimati-
nungsgebote. Gegenwärtig stehen allerdings zwei
onswirkung zu erhalten, für die Exekutive als Ver-
andere Fragen im Vordergrund. Da ist zunächst
haltens- und für die Justiz als Kontrollnorm wirken
das Problem der Vielzahl unterschiedlicher Sicher-
können. Wenn der Gesetzgeber das Wesentliche des
heitsbehörden: Ist es wirklich sinnvoll, neben
Wesentlichen selbst regeln muss, kommt dem
einem Bundesnachrichtendienst (BND) und
Bestimmtheitsgebot gerade im Bereich weit rei-
einem Militärischen Abschirmdienst (MAD) ein
chender Grundrechtseingriffe eine hohe Bedeutung
Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie 16
zu. Insbesondere sind defizitäre materiell-rechtliche
Landesämter (LfV) zu unterhalten – selbstver-
Regelungen nicht einfach durch Verfahrensregelun-
ständlich neben dem Bundesgrenzschutz (BGS),
gen ersetzbar: Auch Behördenleiter oder Richter
dem Zollkriminalamt (ZKA), dem Bundeskrimi-
müssen bei der Ausübung von Behördenleiter- oder
nalamt (BKA) und 16 Landeskriminalämtern
Richtervorbehalten aus dem Gesetz erkennen kön-
(LKA)? Diese Vielfalt, die vielleicht in Zukunft
nen, unter welchen Voraussetzungen sie einen Ein-
durch europäische Instanzen zu ergänzen sein
griff vornehmen oder eben nicht vornehmen dürfen.
wird, kann nicht einfach durch den Gedanken der
Im Einzelfall bedürfen Grundrechtseingriffe
Zentralisierung hinwegrationalisiert werden. Viel-
namentlich dann einer besonderen Kontrolle, wenn
mehr ist sie im Einzelfall auf ihre Sinnhaftigkeit zu
der Rechtsschutz seine Wirkungen nicht ausrei-
befragen: Wo ist es sinnvoll, orts- und problemnah
chend erfüllen kann. Diesem Anliegen kann durch
Aufklärungsarbeit zu betreiben? Wo gelangt diese
die routinemäßige Mitwirkung von – oft außenste-
Fähigkeit an ihre Grenze? Insbesondere dort, wo
henden, überlasteten und bisweilen nicht hinrei-
Behörden derart klein werden, dass sie ihre Aufga-
chend fachkundigen – Richtern allein nicht ausrei-
ben nicht mehr wirksam erfüllen können, ist eine
chend Rechnung getragen werden.
Untergrenze erkennbar. Das gilt insbesondere für
die kleineren Landesämter für Verfassungsschutz, Zu erwägen ist deren Ergänzung durch objektive
welche deutlich unterdimensioniert sind, ferner, Kontrollverfahren, etwa durch Beauftragte,

19 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Ombudspersonen oder politische Gremien. Hinzu- trolleure als „blinde Wächter ohne Schwert“.
treten sollten Berichtspflichten, wie sie etwa in Wahrscheinlich schließen sich beide Feststellungen
Art. 13 Abs. 6 GG ansatzweise, wenn auch noch nicht einmal aus. Doch nicht zuletzt die Untersu-
auf zu hoher Ebene und damit zu hohem Allge- chungen zur Vorgeschichte der Attentate vom 11.
meinheitsgrad, vorgesehen sind. Solche Instru- September 2001 haben gezeigt: Eine wirksame
mente neuer Art werden namentlich im Sicher- Kontrolle der Nachrichtendienste beeinträchtigt
heitsrecht erst unzureichend genutzt. Sie könnten die Dienste kaum, sondern ist eher geeignet, deren
die Einsicht wach halten, dass Legitimation und Effizienz im Interesse eines wirksamen Schutzes
Kontrolle der Sicherheitspolitik untrennbar zu- von Freiheit und Demokratie zu erhöhen.
sammengehören. Hierzu zählt etwa, dass die Kon-
trolle nicht nur im individuellen Interesse Betrof-
fener und auf deren Veranlassung hin notwendig
ist. Vielmehr liegt sie zugleich im öffentlichen Freiheit und Sicherheit: Zwischen
Interesse und hat permanent und von Amts wegen
stattzufinden. So kann sichergestellt werden, dass Szylla und Charybdis?
die demokratisch zu leistende und zu verantwor-
tende Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit
Sicherheit ist relativ. Das Ziel kann nicht die völ-
nicht bloß auf dem Papier des Gesetzblatts steht,
lige Vermeidung von Risiken, sondern nur die
sondern gerade dort Wirksamkeit erlangt, wo das
Optimierung ihres Managements sein. Am Ende
Machtgefälle zwischen Handelnden und Betroffe-
der Skala steht das Paradoxon der Sicherheit: Der
nen am größten ist: bei der Steuerung verdeckter
Staat, der alle Risiken ausschließen soll, muss alles
oder imperativer Handlungen von Sicherheitsbe-
wissen, alles können und alles dürfen. Das wäre
hörden.
nicht nur das Ende jeglicher Freiheit. Ein solcher
So differenziert die Diskussion gegenwärtig ver- Staat würde vielmehr selbstwidersprüchlich. Er
läuft, so nachdrücklich stellt sich doch die Frage: würde zur Quelle dessen, was er eigentlich aus-
Wer kontrolliert die Nachrichtendienste? Hier schließen wollte: der Unsicherheit.
lässt sich primär festhalten: Der Vielzahl der
Die jüngeren Diskussionen über den internationa-
Behörden entspricht eine Vielzahl von Kontrollin-
len Terrorismus haben die Perspektive einseitig
stanzen. Neben den Mechanismen administrativer
auf die Risiken der Freiheit gelenkt. Dahinter tritt
Binnenkontrolle durch Fach- und Rechtsaufsicht
die andere Blickrichtung, nämlich auf die Chancen
sowie der politischen Verantwortung der Minister
einer Politik zur Herstellung von Freiheit, völlig
stehen unabhängige Kontrolleure der Exekutive
zurück. Es geht darum, der Sicherheitspolitik eine
(Beauftragte für den Datenschutz, Rechnungshöfe
Freiheitspolitik zur Seite zu stellen. Sie muss mehr
usw.), der Parlamente (Parlamentarische Kontroll-
zu bieten haben als Überwachungsmaßnahmen
kommission, G-10-Kommissionen und -Gremien)
und Grundrechtseingriffe. Eine notwendig mittel-
sowie der Justiz in den unterschiedlichsten
bis langfristige Freiheitspolitik muss bei den Ursa-
Gerichtszweigen. Und dennoch stellt sich immer
chen ansetzen, welche Risiken wie etwa den Terro-
wieder der Eindruck ein: Den vielfältigen Instan-
rismus hervorbringen.
zen fehlt es an Koordination und Effektivität. Sie
sind allein auf Informationen der von ihnen kon- Diese Ursachen sind umrisshaft bekannt. Dazu
trollierten Exekutiven angewiesen und erfahren so zählen krasse und offensichtliche soziale Gegen-
über Problemfälle aus den Medien mehr als auf sätze zwischen Arm und Reich auf engstem Raum;
den „offiziellen“ Wegen. Das gilt erst recht, wenn ein hohes Maß an sozialer Unsicherheit der Men-
die Nachrichtendienste berechtigt sind, Informa- schen in den Wechselfällen des Lebens; das
tionen aus Gründen des „Wohls der Allgemein- Bewusstsein ethnischer, kultureller oder religiöser
heit“ oder des Datenschutzes Einzelner zurückzu- Benachteiligung bei offenkundiger Bevorzugung
halten. Außerdem fehlt es den meisten Instanzen anderer Gruppen und die politische, ökonomische
an geeigneten Mitteln, ihren Kontrollauftrag ein- oder soziale Aussichtslosigkeit, diesen Verhältnis-
zulösen oder umzusetzen. Hierzu wird nicht selten sen individuell oder kollektiv zu entrinnen. Sie
allein auf das politische Gewicht der Kontrollin- näher zu erforschen und zu beseitigen ist ein Pro-
stanzen oder der in ihnen arbeitenden Politiker jekt, dessen Konturen hier nicht aufgezeigt werden
hingewiesen. So sind die Einschätzungen denn konnten. Doch erscheinen solche Strategien auch
auch schwankend: Die einen bezeichnen das deut- in Zeiten leerer Kassen nicht aussichtslos. Lang-
sche Kontrollinstrumentarium im internationalen fristig gesehen könnten sie sogar die günstigere
Vergleich als führend, andere hingegen die Kon- Alternative sein.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 20


Jan Wehrheim

Städte im Blickpunkt Innerer Sicherheit

„Stadtluft macht frei!“ Mit dieser Freiheit ist heut- sozial fernstehender Personen.“1 Die Koexistenz
zutage nicht mehr gemeint, sich aus feudalen unterschiedlicher Individuen und heterogener
Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen und Bürger- sozialer und kultureller Gruppen und damit die
rechte zu erhalten. Heute steht im Vordergrund, Koexistenz unterschiedlicher Normen verlangen
durch den Umzug in eine Großstadt seine Vergan- Anpassungsleistungen von den Individuen und
genheit hinter sich lassen zu können, an einen Ort permanente Aushandlungsprozesse darüber, was
zu ziehen, an dem einen niemand kennt, an dem tolerabel ist und wo die Abweichung des einen die
man sich als Person neu in Szene setzen, neu ent- Individualität des anderen einschränkt oder gar
werfen kann. Die Möglichkeit, in der Großstadt gefährdet. Die Individuen müssen positive Tole-
nur einen Ausschnitt seiner Persönlichkeit preisge- ranz erlernen oder aber sich mental von ihrer
ben zu können, macht die städtische Freiheit aus. Umwelt abschotten, um nicht von der Vielfalt der
Doch diese Freiheit, die sich im emphatischen Bild Reize überfordert zu werden, denn „Urbanität ist
des für alle zugänglichen öffentlichen Raums kris- nichts als die überlegende Unfähigkeit, sich über
tallisiert, erscheint in jüngerer Zeit durch neue die schlechten Manieren des anderen zu ärgern“2.
Formen sozialer Kontrolle gefährdet. Diese beiden Integrationsmechanismen prägen die
urbane Ordnung.
Die Großstadt zeichnet sich aber nicht nur durch
individuelle Freiheiten aus, sie ist auch Ort sozia-
Ambivalente Urbanität len Wandels. Sie macht den Kontakt mit Fremden
wahrscheinlich, und es ist dieser Fremde, der
„objektive“ Beobachter, der eingefahrene Nor-
Größe, Dichte und Heterogenität konstituieren men, Institutionen und Rituale hinterfragen und
eine Großstadt. Sie bringen untrennbar positive Wandel initiieren kann. Konkurrierende Normen,
und negative Seiten hervor, die gleichzeitig anzie- Abweichungen vom Durchschnitt, Hinterfragen
hend und abstoßend, produktiv und verängstigend des Status quo, Krise statt Routine, Vielfalt statt
wirken. Die meist negativ konnotierten Begriffe Homogenität sind grundlegende Bestandteile von
Anonymität und Abweichung charakterisieren Veränderungen und von zivilisatorischem Fort-
diese Ambivalenz von Urbanität am besten: Die schritt.
Großstadt befreit aus den rigiden informellen
Kontrollen dörflicher Nachbarschaft. Man ist Im Folgenden sollen zunächst verschiedene Ent-
unbekannt und bleibt dies auch überwiegend, wicklungen auf dem Feld der Inneren Sicherheit
wenn man sich durch die Stadt bewegt. Die Ano- nachgezeichnet werden, mit denen in die urbane
nymität der Großstadt ist die Voraussetzung für Ordnung interveniert wird, um anschließend auf
die Freiheit zur Abweichung. Anonymität und deren Hintergründe und Folgen einzugehen.
schwächere Kontrollen erlauben es beispielsweise,
sich ausgefallener zu kleiden oder für randstän-
dige politische Positionen zu engagieren. Sie
erlauben es, wenig reputierliche Orte aufsuchen Überwachen und Ausgrenzen
zu können, seien es soziale Beratungsstellen oder
Sexshops, ohne befürchten zu müssen, dass am
nächsten Tag alle Welt dem Klatsch frönt. Die Maßnahmen Innerer Sicherheit und deren Insze-
Großstadt ermöglicht deviantes Verhalten, ohne nierungen, wie sie derzeit nach US-amerikani-
dass man per se Sanktionen oder Stigmatisierung schem und britischem Vorbild in deutschen Städ-
fürchten muss – dies macht ihren besonderen
1 Pierre Bourdieu, Ortseffekte, in: Albrecht Göschel/Vol-
Charakter aus. ker Kirchberg (Hrsg.), Kultur in der Stadt, Opladen 1998,
S. 24.
Damit sind zugleich die Schattenseiten der Urba- 2 So Stendhal (1783–1842), zit. nach Walter Siebel, Wesen
nität angesprochen: „Nichts ist unerträglicher als und Zukunft der europäischen Stadt, in: DISP, 141 (2000) 2,
die als Promiskuität empfundene physische Nähe S. 28 –34, hier: S. 32.

21 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


ten Einzug halten, können in vier Dimensionen den Stadträndern schießen Passagen, Shopping
beschrieben werden: rechtlich, organisatorisch, Malls und Urban Entertainment Center aus dem
technisch und symbolisch-materiell.3 Boden. In diesen de jure privaten Räumen gelten,
wie auch in Bahnhöfen, Hausordnungen, die oft
Recht nicht nur Rennen, Betteln, das Trinken von Alko-
hol, Musikhören oder Spielen verbieten, sondern
Zunächst meint die Dimension Recht eine Novel-
darüber hinaus jeden „unnötigen“ Aufenthalt
lierung kommunaler bzw. länderspezifischer untersagen oder gar „angemessene“ Kleidung
Sicherheits- und Ordnungsgesetze oder so genann- vorschreiben. Hausverbote können die Folge von
ter Gefahrenabwehrverordnungen. Folge solcher Verstößen gegen solche substrafrechtlichen Parti-
Novellierungen sind neue Verbote, etwa das Trin- kularnormen sein. Privatunternehmen haben
ken von Alkohol, das Urinieren in der Öffentlich- die Definitionsmacht darüber, wer ursprünglich
keit, das Liegen und Lagern oder das Betteln öffentlichen Raum wozu nutzen darf. Es entstehen
betreffend. Heute verfügen fast alle Städte über
lokal spezifische Normativitäten, denen keine –
solche Regelungen, unabhängig von den tatsächli-
zumindest demokratisch legitimierten – Aushand-
chen Problematiken. Zudem erhält die Polizei
lungsprozesse zugrunde liegen.
neue Eingriffsmöglichkeiten: Sie kann nicht nur an
Orten, die von ihr als gefährlich definiert werden, Platzverweise und Hausverbote schließen in
verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen, sie Deutschland jährlich Hunderttausende, wahr-
kann an diesen Orten auch ohne Begründung scheinlich sogar Millionen temporär oder dauer-
Platzverweise gegen beliebige Personen ausspre- haft von sozial bedeutungsvollen Räumen aus.
chen. Wie beim Einsatz von Videoüberwachung Ausgesprochen und durchgesetzt werden diese
oder bei der Schleierfahndung zeichnet sich hier Maßnahmen nicht nur von der Polizei, sondern
ein Paradigmenwechsel im deutschen Rechtsver- gerade in den privatisierten Räumen von kommer-
ständnis ab: An die Stelle der Unschuldsvermu- ziellen Sicherheitsdienstleistern.
tung tritt ein pauschaler Verdacht, der lediglich im
Aufenthalt an einem Ort der Stadt begründet ist. Organisation
Welche Ausmaße Platzverweise annehmen kön- Damit ist die zweite Dimension angesprochen:
nen, zeigt das Beispiel Hamburg St. Georg: Dort neue Organisationsformen von städtischer Sicher-
gab es Mitte der neunziger Jahre durchschnittlich heit. Diese wird immer weniger informell, durch
etwa 50 000 solcher Platzverweise pro Jahr. Bei Anwohner oder Passanten der Straßen, geleistet.
Verstößen gegen diese können längerfristige Auf- Sie wird zunehmend staats- oder marktförmig
enthaltsverbote folgen oder auch Ingewahrsam- organisiert, also durch Polizei, Bundesgrenzschutz,
nahmen und Ersatzfreiheitsstrafen. Neben Platz- kommunale Ordnungs- oder durch private Sicher-
verweisen sind der Verbringungsgewahrsam sowie heitsdienste. Bürgerinnen und Bürger werden im
generelle Betretungsverbote zu erwähnen. Oft- Rahmen von Sicherheitswachten in formelle Kon-
mals summieren sich solche Maßnahmen zu einem trollstrukturen eingebunden.
dauerhaften Ausschluss aus dem öffentlichen
Raum. In den neunziger Jahren verteilte das Bre- Die Befugnisse von privaten Sicherheitsdiensten
mer Ordnungsamt Stadtpläne mit eingezeichneten sind rechtlich begrenzt. Im öffentlichen Raum gel-
Verbotszonen an Asylsuchende, die verdächtigt ten die so genannten Jedermannsrechte, die etwa
wurden, mit illegalen Drogen zu handeln. Für das Festhalten von „Straftätern“ gestatten. Durch
einen solchen Ausschluss aus ganzen Stadtvierteln ihr Auftreten und ihre Uniform suggerieren die
war keine Anklage und dementsprechend auch Akteure hoheitliche Kompetenzen, was ihnen
keine Verurteilung notwendig, ausreichend war erleichtert, auch ohne das Hausrecht ihre Aufga-
eine schlichte Verdachtsäußerung einzelner Poli- benbereiche zu erfüllen. Das „Fernhalten unlieb-
zisten. Das neue Bremer Polizeigesetz legalisiert samer Personen“ ist neben „Abschreckung“ zur
diese Praxis auch gegenüber deutschen Staatsange- Dienstleistung Nummer eins geworden: 87,2 Pro-
hörigen. zent der Anbieter sehen dies als Haupttätigkeits-
bereich an.4 Laut Statistischem Bundesamt ist die
Eine besondere Neuerung auf der Ebene des for- Zahl der Wach- und Sicherheitsunternehmen zwi-
malen Rechts resultiert aus der Privatisierung schen 1992 und 2002 von 1 290 auf 2 748 gestiegen.
städtischer Areale. In den Innenstädten wie an
4 Vgl. Hubert Beste, Policing the Poor – Profitorientierte
3 Vgl. zum Folgenden Jan Wehrheim, Die überwachte Sicherheitsdienste als neue Kontrollunternehmer, in: Chris-
Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen toph Gusy (Hrsg.), Privatisierung von Staatsaufgaben, Ba-
2002. den-Baden 1998, S. 180 – 214, hier: S. 195.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 22


Die Zahl der in ihnen Beschäftigen stieg laut dem Der aktuelle technische Standard von Videokame-
Bund Deutscher Wach- und Sicherheitsunterneh- ras ermöglicht es, Buchtitel auf eine Entfernung
men zwischen 1993 und 2003 von 101 000 auf von 100 Metern lesen zu können und Personen
170 000.5 beim Einsatz mehrerer Kameras automatisch zu
verfolgen. Gesichtserkennung in Echtzeit ist in der
Technik Erprobungsphase. In Zukunft soll Computersoft-
ware sogar Abweichungen erkennen, bevor sie
Zur Dimension Technik gehören im internationa- eintreten, und die Programmierung muss gar nicht
len Kontext biometrische Zugangskontrollsys- diskriminierend motiviert sein: Abweichung soll
teme, der Einsatz von Satelliten sowie Formen durch die Überwachung der Normalität auffallen.
akustischer Überwachung.6 Videoüberwachung ist Ohne solche „algorithmische“ Überwachung wer-
aber die bedeutendste Neuerung auf dem Feld der den einer britischen Studie zufolge9 insbesondere
Inneren Sicherheit in Städten. Zusammen mit männliche Jugendliche, Personen mit dunkler
DNA-Datenbanken, elektronischen Kundenkar- Hautfarbe, Angehörige subkultureller Gruppen
ten, RFID-Chips7 in Konsumgütern, dem Toll-Col- und soziale Randgruppen überproportional lange
lect-System und dem Großem Lauschangriff bietet und oft überwacht. Regelmäßige situative oder
optische Überwachung ungeahnte Potenziale. auch nur statistische Zusammenhänge zu straf-
Die Anzahl der Kameras wird für das Vorreiter- rechtlich relevanten Handlungen lassen sich
land Großbritannien auf bis zu vier Millionen jedoch nicht konstatieren. Frauen spielen kaum
geschätzt, für Deutschland kursiert die Zahl eine Rolle – und wenn, dann zu zehn Prozent aus
500 000, obwohl diese Angaben nur schwer zu Gründen des Voyeurismus.
überprüfen sind, denn die überwiegende Anzahl
wird in privaten Räumen eingesetzt und statistisch Zwei konkurrierende Argumentationen kenn-
nicht erfasst. Überwacht werden heutzutage auch zeichnen die öffentliche Diskussion. Einerseits
in Deutschland bereits Bahnhöfe, Einkaufszen- wird davon ausgegangen, Videoüberwachung
tren, öffentliche Plätze, Universitäten, Schulen, reduziere Kriminalität, sie wirke präventiv, als
Altersheime, Tankstellen, Busse, U-Bahn-Statio- eine Art positiver Ordnungsfaktor. Andererseits
nen und Wohngebäude. Auch wenn noch keines- wird argumentiert, Videoüberwachung führe zum
falls von einer flächendeckenden Überwachung Verlust bürgerlicher Freiheitsrechte, da die Indivi-
gesprochen werden kann, so verläuft die Verbrei- duen bei Beobachtung auf deren Wahrnehmung
tung in jüngerer Zeit rasant. In größeren Bahnhö- automatisch verzichten würden; sie wirke als nega-
fen oder Einkaufszentren sind jeweils um die tiver Ordnungsfaktor. In dieser Kontroverse wird
100 Kameras im Einsatz. Neben der Quantität davon ausgegangen, dass die Kameras von selbst
liegt jedoch der wesentliche Unterschied zum eine Wirkung entfalten. Dabei herrscht ein techno-
Orwell’schen Szenario darin, dass es eben gerade logischer Determinismus vor: Die Wirkung von
nicht den einen „Big Brother“ gibt, sondern viele Videoüberwachung scheint allein in der Natur des
kleine Brüder und Schwestern. Die meisten Kame- technischen Geräts begründet. Basis dieser
ras werden nicht zentral von einem „Leviathan“ Annahme ist das von Foucault10 beschriebene Pan-
kontrolliert, sondern von den Eigentümern der opticon: das Modell eines Gefängnisses, dessen
Räume. Es kann daher eher von einer Überwa- Architektur es den Wärtern ermöglicht, zu jeder
chungsgesellschaft als von einem Überwachungs- Zeit zu sehen, was in den Zellen vorgeht, ohne
staat gesprochen werden.8 dass die Insassen wissen, ob und wann sie beobach-
tet werden. In Analogie dazu werde der Einsatz
5 Vgl. www.bdws.de/main.html (6.9.2004). Allerdings muss von Videoüberwachung dazu führen, dass die
die Zunahme nicht so stark ausgefallen sein, wie es die Zah-
len suggerieren. Werkschutz und Zechengendarme gab es Stadtbewohner und -bewohnerinnen zwar nie wis-
schon seit der Industrialisierung. Outsourcing-Prozesse sen, wann, ob und von wem er oder sie beobachtet
könnten dazu geführt haben, dass diese Beschäftigten nicht werden, aber permanent damit rechnen müssen.
mehr bei den Betrieben angestellt sind, sondern ausgelagert Dies führe zu Verhaltensanpassung, zu Konfor-
und so statistisch registriert wurden.
6 Vgl. Fritz Sack/Detlef Nogala/Michael Lindenberg, Social mität.
Control Technologies (unveröff. DFG-Forschungsbericht),
Hamburg 1997. Erkner, Potsdam, Dessau, Mannheim, Rathenow, Halle,
7 RFID = radio frequency identification. Magdeburg und in München. Meist sind nur zwei oder drei
8 Videoüberwachung zur Kriminalitätskontrolle durch die Kameras installiert.
Polizei wird in Deutschland bislang in 20 Städten eingesetzt – 9 Vgl. Clive Norris/Garry Armstrong, The maximum sur-
ohne Anspruch auf Vollständigkeit: in Bremen, Leipzig, veillance society. The rise of CCTV, Oxford – New York 1999.
Flensburg, Westerland/Sylt, Dresden, Bernau, Fulda, Hof- 10 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frank-
heim/Taunus, Frankfurt/M., Bielefeld, Regensburg, Stuttgart, furt/M. 1989.

23 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Diese These stößt auf zweierlei Bedenken. Erstens Wirkungen entfalten, grundsätzlich disziplinierend
ist es zweifelhaft, ob das Modell des Gefängnisses wirken, also Verhalten verändern? Wenn ja, dür-
tatsächlich auf Großstädte übertragen werden fen sie die Bürgerrechte einschränken? Eine
kann, denn diese sind ja gerade das Gegenteil wesentliche, wenn auch nicht hinreichende Vor-
einer „totalen Institution“,11 und sie werden durch aussetzung für die panoptische Wirkung von
Kameras auch nicht zu einer solchen. Zweitens Kameras ist, dass die Adressaten dieser Machtin-
wird durch die Annahme eines technologischen tervention von der Existenz der Kameras wissen.
Determinismus der Einfluss sowohl der Kontrol- Nur dann können sie sich den Normen anpassen.
leure als auch der Kontrollierten unterschätzt. Die Kenntnis über die Existenz von Kameras
hängt aber von deren lokaler Inszenierung ab und
Zur Beurteilung des „Disziplinierungsfaktors“ von dürfte zudem sozial hoch selektiv sein. In Leipzig
Videoüberwachung bietet sich ein Blick auf Hand- etwa wird auf die Kameras der Polizei mittels gro-
lungen an, die als kriminogen angesehen werden. ßer Schilder hingewiesen. In privatisierten Räu-
Meist wird davon ausgegangen, Videoüberwa- men werden oft sogar nur offensiv präsentierte
chung reduziere die Kriminalität in dem von den Attrappen verwendet, d. h., es wird voll und ganz
Kameras beobachteten Raum. Das britische auf den disziplinierenden Effekt gesetzt. In Bre-
Innenministerium legte 2002 die Ergebnisse einer men dagegen erinnert die Kamera vor dem Haupt-
Auswertung von 22 methodisch aufwendigen Stu- bahnhof eher an eine Straßenlaterne, und die
dien zur Wirkung von Videoüberwachung in den Schilder sind klein und hoch angebracht. In der
USA und Großbritannien vor.12 Demnach redu- Atmosphäre der Reizüberflutung eines Bahnhofs-
zierte sich die Zahl der Diebstähle von und aus platzes kann kaum davon ausgegangen werden,
Kraftfahrzeugen um gut 40 Prozent, Taschendieb- dass die Passantinnen und Passanten sich der
stähle nahmen aber nur um zwei bis vier Prozent Überwachungssituation bewusst sind und so ihr
ab, und auf die Häufigkeit von Gewaltdelikten gab Verhalten normkonform gestalten.
es keinerlei Auswirkungen. Unterstellt man, dass
die Definitionen von Handlungen und weitere Die meisten Individuen nehmen Videokameras
intervenierende Variablen stabil geblieben sind, gar nicht wahr oder ignorieren sie. Reagieren
entfaltet Videoüberwachung demnach außer auf werden jedoch Gruppen, die verstärkt beobachtet
Parkplätzen kaum eine Wirkung. Aber nur ein werden und mit Schikanen von Ordnungshütern
Bruchteil der Kameras beobachtet Parkplätze, und rechnen, bzw. diejenigen, welche die anfangs
offiziell sollen sie ja primär vor Gewalt schützen. beschriebenen Freiheiten einer Großstadt nutzen.
Im Durchschnitt ist die Wirkung kostspieliger Die Anonymität als Voraussetzung dieser Freiheit
Videoüberwachung auf Kriminalität niedriger als wird eingeschränkt; spätestens dann, wenn es mög-
die Wirkung einer verbesserten Straßenbeleuch- lich wird, alle Menschen namentlich zu identifizie-
tung.13 Die häufigen Aussagen von Politik und ren, wenn sie durch die Stadt gehen. Videoüberwa-
Polizei, Videoüberwachung sei ein effektives Mit- chung ermöglicht die totale Überwachung aller, sie
tel zur Kriminalitätsbekämpfung – wobei meist mit wirkt bislang jedoch selektiv.
der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) argu-
mentiert wird – sind insofern nicht haltbar. Auch Gestalt
hinsichtlich Verlagerungseffekten dokumentiert
die Forschung kaum Auswirkungen von Video- Die vierte Dimension, welche die urbane Ordnung
überwachung. Es lassen sich weder positive verändert, ist die symbolisch-materielle. Sie ist oft
Effekte feststellen – Kriminalität sinkt auch in den unspektakulär, jedoch effektiv, wenn es um Kon-
angrenzenden, nicht überwachten Räumen – noch trolle, Ausgrenzung und soziale Spaltung in Städ-
negative, d. h., sie verlagert sich weder nennens- ten geht.
wert räumlich noch zeitlich. Verschiedene Formen lassen sich erkennen, wel-
Damit stellt sich eine neue Frage: Können Kame- che die gleichen latenten oder manifesten Funk-
ras, wenn sie nicht einmal hinsichtlich strafrecht- tionen aufweisen. Die erste Variante ist die
lich als kriminell definierten Handlungen große Schließung von Räumen. Plätze, Parks oder
Wohnquartiere sind nur noch von autorisierten
11 Erving Goffman, Asyle, Frankfurt/M. 1972. Personen oder nur zu bestimmten Zeiten betret-
12 Vgl. Brandon C. Welsh/David P. Farrington, Crime pre- bar; Zäune oder Mauern verhindern den Zugang.
vention effects of closed circuit television: a systematic re- Auch Änderungen in der Möblierung öffentlicher
view, London 2002.
13 Vgl. David P. Farrington/Brandon C. Welsh, Effects of
Räume gehören hierzu, etwa die inzwischen viel
improved street lightning on crime: a systematic review, Lon- zitierte, „pennersichere“ Bank, auf der man nicht
don 2002. mehr liegen und nur noch unbequem sitzen kann,

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 24


oder Spitzen auf Absätzen, die ein Verweilen chende, untere Einkommensschichten, exzessive
unterbinden. Zweitens wird Einsehbarkeit herge- Konsumenten legaler und illegaler Drogen. Sie
stellt. Sie erleichtert soziale Kontrolle und ist die sind „unerwünscht“, weil sie für die benannten
Voraussetzung für den Einsatz von Videoüberwa- Räume nicht finanzstark genug sind, weil sie Dritte
chung. Drittens ist die Variante der Ästhetisierung beim Geldausgeben stören oder weil ihnen generell
zu nennen. In Fußgängerzonen, Passagen und Ein- das Stigma „kriminell“ zugeschrieben wird. Gesell-
kaufszentren werden exklusive Materialien wie schaftliche Teilhabechancen der Betroffenen wer-
Chrom, Marmor oder Granit verwendet, die über den unterminiert. Mit den Personen verschwinden
ihre Symbolik ausgrenzend wirken. Wer nicht dem auch die mit ihnen verbundenen Themen aus dem
durch die Materialien suggerierten sozialen Status öffentlichen „Raum“. Soziale Ausgrenzungspro-
entspricht, wird einen solchen Ort erst gar nicht zesse verstärken sich. Die Basis demokratischer
betreten. Der Sicherheitsdienst wird dann zweit- Gesellschaften ist jedoch die Integration.
rangig. Die Materialien zeichnen sich durch ihren
sozialen Doppelcharakter aus, sie wirken als
„soziale Filter“. Während sie unerwünschte Perso-
nen abschrecken sollen, sollen sie gleichzeitig Hintergründe
attraktiv auf erwünschte Personen, z. B. kaufkräf-
tige Konsumenten, wirken. Sie sind wichtig für den
so genannten feel-good-factor und werden zum Multiple Veränderungen bilden den Hintergrund,
Symbol der Spaltung der Stadt. vor dem sich die beschriebenen Überwachungs-
und Ausgrenzungsprozesse in Städten manifestie-
Mit der Ziehung von Grenzen zwischen städti-
ren.14 Sie lassen sich in zwei Kategorien differen-
schen Räumen wirkt diese Dimension wie die übri-
zieren: politische und ökonomische Interessen
gen, mit denen Sicherheit vor allem über die
sowie Dispositionen der Bevölkerung, die in struk-
Segregation von Personenkategorien konstruiert
turell bedingten Ursachen gründen und die sie
werden soll. Räumliche Trennung scheint zur
empfänglich machen für interessengeleitete Verän-
Maxime Innerer Sicherheit in Städten zu werden.
derungen.

Gemeinsame Wirkungen Interessen


Zur Beurteilung der Folgen für Städte sollten die 1. Die politisch instrumentalisierte Dramatisierung
einzelnen Dimensionen zusammen betrachtet wer- von Kriminalität zeigt sich parteiübergreifend ins-
den. So lassen sich potenzielle Gefahren leichter besondere in Wahlkämpfen. Inszenierungen Inne-
antizipieren: Zäune zielen direkt auf Ausgrenzung, rer Sicherheit sind Ausdruck einer Politik mit
Materialien sollen als soziale Filter wirken, Platz- Symbolen, mit ihnen kann ein „Herrschaftssiche-
verweise verdrängen ganz unmittelbar, Videoüber- rungsmehrwert“15 erwirtschaftet werden. Staatli-
wachung soll disziplinieren und Personen latent ver- che Akteure wollen eine Handlungsfähigkeit
drängen, neue (Partikular-)Normen kriminalisieren demonstrieren, die in anderen Politikbereichen
Handlungen und damit Personen. Zusammenge- nicht (mehr) vorhanden oder nicht mehr
nommen wirkt all dies exkludierend und ermöglicht gewünscht ist.
eine umfassende Überwachung. Dabei sind es vor
allem spezielle Räume in den Städten, auf die sich 2. Die Massenmedien tragen mit spektakulären
die aktuellen Entwicklungen konzentrieren: inner- Berichten über Kriminalitätsfälle dazu bei, das
städtische Einkaufszonen, Orte des Transits, private Bild einer gefährlichen Stadt zu fördern. Gewalt-
Einkaufszentren am Rande der Städte oder auch darstellungen in Nachrichten und Unterhaltungs-
Wohnquartiere der gehobenen Schichten, die sich industrie sind marktfähig. Es lässt sich dabei
von ihrer Umgebung physisch abschotten. Wohn-
räumliche Segregation wird sicherheitstechnisch 14 Vgl. Walter Siebel/Jan Wehrheim, Sicherheit und ur-
bane Öffentlichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Kom-
überhöht, selbst wenn gated communities in deut- munalwissenschaften, 42 (2003) 1, S. 11 –30, sowie David
schen Städten im Unterschied zu den USA bislang Garland, Die Kultur der „High Crime Societies“, in: Dietrich
noch eine Ausnahme sind. Oberwittler/Susanne Karstedt (Hrsg.), Soziologie der Krimi-
nalität (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
Vor allem trifft diese Entwicklung Gruppen, die logie, Sonderheft 43), Wiesbaden 2003.
besonders auf den öffentlichen Raum angewiesen 15 Vgl. Helge Peters, Kühler Umgang oder Dramatisie-
rung?, in: Arno Pilgram/Cornelius Prittwitz (Hrsg.), Krimi-
sind, weil sie über keinen (adäquaten) privaten nologie als Akteurin und Kritikerin gesellschaftlicher Ent-
Raum verfügen bzw. der öffentliche der primäre wicklung (Jahrbuch Rechts- und Kriminalsoziologie), Baden-
Ort sozialer Kontakte ist: Wohnungslose, Asylsu- Baden 2004 (i. E.).

25 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


ein „politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf“ Inszenierungen von Individualität. Misstrauen, ja
konstatieren.16 die Unterstellung krimineller Absichten gegen-
über dem Fremden erscheint in dem Maße als
3. Sicherheit bekommt einen warenförmigen Cha-
zunehmend subjektiv „vernünftig“18, in dem sich
rakter: Unsicherheitsgefühle sind die Vorausset-
die durch relative Verlässlichkeit und Erwartbar-
zungen für einen prosperierenden Markt von
keit in den sozialen Beziehungen gekennzeichne-
Türschlössern, schwarzen Sheriffs, Überwachungs-
ten traditionellen Milieus auflösen. Die verunsi-
kameras und Versicherungen. Der privatwirt-
chernde Fremdheit wird erhöht. Gleiches gilt im
schaftliche Sektor greift bestehende Verunsiche-
Zusammenhang mit Migration.
rungen auf und schürt Ängste aus ökonomischem
Kalkül. Dabei werden Spaltungen vertieft: Sicher- 7. Der demographische Wandel und die Schrump-
heit wird verstärkt zu einem Gut für diejenigen, fung von Städten verändern die Stadtgesellschaf-
die es sich leisten können. ten. Der Anteil der über 60-Jährigen hat sich in
4. Finanzprobleme der Kommunen aufgrund von westdeutschen Großstädten bereits zwischen 1950
Bevölkerungsrückgang, Suburbanisierung, hohen und 1980 verdoppelt, und ältere Menschen sind
Transferleistungen und besonders aufgrund der sensibler für Verunsicherungen. Der Bevölke-
Neustrukturierung der Gewerbe- und Körper- rungsrückgang vor allem in ostdeutschen Städten
schaftssteuer haben die Handlungsspielräume der verringert zudem in vielen Stadtteilen die Intensi-
Städte in den letzten Jahren enger werden lassen. tät informeller sozialer Kontrolle.
Für soziale Projekte oder für die Straßenreinigung
stehen weniger Mittel zur Verfügung, um sozialen 8. Symbolische Verletzungen der öffentlichen Ord-
Ausgleich zu ermöglichen oder auch nur um die nung wie Verunreinigungen oder Vandalismus
viel zitierten Zeichen urbaner Unordnung wie können als Signale einer Lockerung der Selbstkon-
Graffiti oder Müll zu beseitigen. Die Prioritäten trollen einer zivilisierten, urbanen Lebensweise
der Kommunen liegen in Zeiten vermeintlichen interpretiert werden. Entsprechend dem „Thomas-
Wettbewerbs woanders: Prestigeträchtige Projekte Theorem“ wird, wenn Individuen eine Situation
wie Privatuniversitäten, Musicals oder die Auf- als bedrohlich interpretieren, diese tatsächlich
wertung städtischer „Visitenkarten“ haben Vor- bedrohlich, unabhängig von ihren „objektiven“
rang. Qualitäten.

9. In den Großstädten entwickeln sich drei Insel-


Dispositionen und strukturelle Hintergründe systeme. Auf der untersten Ebene finden sich
die ortsgebundenen Armutsmilieus, darüber die
5. Der Wandel des Arbeitsmarktes und die Ero- Arbeits-, Freizeit- und Wohnorte der Lebensstil-
sion des Wohlfahrtsstaats führen dazu, dass seit gruppen der Mittelschicht, darüber das Milieu inter-
den siebziger Jahren wachsende Minderheiten die national orientierter, hoch qualifizierter Arbeits-
Erfahrung sozialen Abstiegs bis hin zur Ausgren- kräfte. Diese Milieus überlagern sich und spiegeln
zung machen. Die zunehmende Unsicherheit von gleichzeitig die auseinander gehende Schere zwi-
Arbeitsplätzen und individuellen Karrieren sowie schen Arm und Reich. Es entsteht eine Vielzahl
der Abbau von Sozialleistungen führen zum Ver- unerwünschter Nachbarschaften, deren Grenzen
lust sozialer Sicherheit. Zusammen mit Individua- kontrolliert werden sollen. Solche Kontrolle wird
lisierungsprozessen entsteht ein Gefühl der „onto- als umso dringlicher empfunden, je tiefer die sozia-
logischen Unsicherheit“.17 Gerade in Zeiten len Spaltungen reichen.
verschärften sozialen Wandels werden allgemeine,
diffuse Unsicherheiten gewissermaßen umcodiert 10. Das Leben in der Stadt ist prinzipiell verunsi-
in Ängste vor Kriminalität. chernd. Der Kontakt mit sozial, kulturell und/oder
6. Die Erosion traditioneller Milieus und die Plu- biographisch Fremden ist nicht nur reizvoll und pro-
ralisierung von Lebensstilen erschweren es, die duktiv, er setzt auch Ängste frei. Sich im öffentli-
über Kleidung und Habitus zur Schau getragenen chen Raum zu bewegen bedeutet prinzipiell einen
sozialen Rollen der anderen zu interpretieren. Sti- Verlust an Kontrolle und grundsätzliche Unsicher-
lisierte Verhaltenweisen werden abgelöst durch heit darüber, welche Wege und Absichten die ande-
ren verfolgen. Es besteht eine Diskrepanz zwischen
16 Vgl. Sebastian Scheerer, Der politisch-publizistische dem, was man eigentlich wissen müsste, um eine
Verstärkerkreislauf, in: Kriminologisches Journal, 10 (1978)
3, S. 223 –227. 18 Roland Hitzler, Bedrohungen und Bewältigungen, in:
17 Vgl. Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, ders./Helge Peters (Hrsg.), Inszenierung: Innere Sicherheit.
Frankfurt/M. 1995. Daten und Diskurse, Opladen 1998, S. 204.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 26


Situation im öffentlichen Raum kontrollieren zu gegenseitig.23 Auch fühlen sich Individuen nicht
können, und dem, was man tatsächlich weiß.19 zwangsläufig durch mehr Mauern oder mehr
Kameras sicherer, denn diese erinnern permanent
Terrorismus und wachsende Kriminalität werden
an vermeintliche Gefahren. Zudem sind signifi-
regelmäßig als weitere Ursachen diskutiert bzw.
kante Zusammenhänge zwischen Kontrollmaß-
die Notwendigkeit, Überwachung auszuweiten,
nahmen und der Entdeckungswahrscheinlichkeit
wird damit begründet. Beides ist zu problematisie-
einerseits und der Zu- bzw. Abnahme von sankti-
ren. Die Anschläge vom September 2001 verdeut-
onswürdigen Handlungen andererseits zweifelhaft,
lichten auf drastische Weise, dass Maßnahmen wie
wie am Beispiel der Videoüberwachung verdeut-
die Videoüberwachung entsprechende Taten nicht
licht wurde.
verhindern. Wichtiger ist: Die oben beschriebenen
Entwicklungen begannen bereits weit vor diesen
Ereignissen. Der Terrorismusdiskurs führt jedoch
dazu, dass die Überwachungsmaßnahmen weiter
intensiviert werden. Als terroristisch bezeichnete Ausblick
Handlungen20 dienen vor allem als Legitimation
für das staatliche Handlungsfeld Innere Sicherheit.
„Bedauerliche Verhältnisse schaffen günstige Die Überwachung von Städten hat vielfältige, teil-
Gelegenheiten“, schreibt Edelmann,21 und dies gilt weise nur schwer greif- und veränderbare Hinter-
auch für Terrorismus. gründe. Die Gefahren überschießender Kontrollen
sind leicht zu überschauen: Umfängliche Datenbe-
Aber auch die Annahme, neue Kontrollformen stände über Bürgerinnen und Bürger sind die Vor-
seien Reaktionen auf „normale“ Kriminalität, aussetzung, Daten missbrauchen zu können.
erscheint fragwürdig.22 So besteht kein kausaler Räumliche Ausgrenzungsprozesse verschärfen die
Zusammenhang zwischen „objektiver“ Kriminali- soziale Exklusion. Integration ist aber gerade die
tätsbelastung und „subjektiver“ Kriminalitäts- Voraussetzung für eine zivilisierte, tolerante
furcht. Die Wahrnehmung von Kriminalität, Straf- Umgangsweise. Mit der sozialen und kulturellen
bedürfnisse in der Bevölkerung und die Homogenisierung einzelner Räume als Folge von
Sanktionspraxis der Gerichte korrelieren mit poli- sicherheitstechnisch überhöhter Segregation wird
tischen Kampagnen und der medialen Präsenz ent- die Möglichkeit unterminiert, in der Großstadt
sprechender Themen, und sie beeinflussen sich Toleranz und zivilisierten Umgang mit Differenz
täglich zu erlernen. Potenziale sozialen Fort-
19 Vgl. Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen,
Hamburg 1997.
schritts werden nicht genutzt.
20 Vgl. Sebastian Scheerer, Einige definitionstheoretische Urbanität ist eine Errungenschaft, aber auch eine
Aspekte des „Terrorismus“, in: Birgit Menzel/Kerstin Ratzke
(Hrsg.), Grenzenlose Konstruktivität?, Opladen 2003, S. 85 – Zumutung. Diese Zumutung müssen Individuen
98, zum Wandel des Begriffs. und Gesellschaft aushalten, soll ihr befreiendes
21 Murray Edelmann, Erzeugung und Verwendung sozialer Moment erhalten bleiben und das Ideal von Groß-
Probleme, in: Journal für Sozialforschung, 28 (1988) 2, stadt als Ort der Emanzipation, der positiven Indi-
S. 175 – 192, hier: S. 177.
22 Fraglich ist schon, inwieweit Kriminalität und damit ihre vidualisierung und der durchgesetzten Demokratie
Zu- oder Abnahme überhaupt gemessen werden kann. So jemals verwirklicht werden. Politik und Ökonomie
variieren Etikettierungsprozesse, in denen Handlungen als müssten die Voraussetzungen dafür erhalten bzw.
normativ unangemessen und als kriminell gedeutet werden, schaffen. Die Logik dieser Systeme scheint dies
mit ihrem sozialen Kontext und mit der Zeit. Auch ist zu be-
rücksichtigen, dass die PKS in erster Linie „ein Tätigkeits- jedoch zunehmend zu verhindern.
nachweis polizeilicher Kriminalitätskontrolle“ (vgl. Bundes-
ministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz, Erster 23 Vgl. Katherine Beckett, Making Crime Pay: Law and
Periodischer Sicherheitsbericht, Berlin 2001, S. 312) ist und Order in Contemporary American Politics, New York 1997,
dass sie darüber hinaus vor allem die Entwicklung des An- sowie Christian Pfeiffer/Michael Windzio/Matthias Klei-
zeigeverhaltens widerspiegelt. Zuschreibungsprozesse von mann, Die Medien, das Böse und wir. Zu den Auswirkungen
Akteuren sozialer Kontrolle könne auch in Dunkelfeld- der Mediennutzung auf Kriminalitätswahrnehmung, Straf-
studien nicht gemessen werden. bedürfnisse und Kriminalpolitik, unveröff. Ms., 2004.

27 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Wolfgang Hetzer

Europäische Strategien gegen Geldwäsche


und Terror

Die Europäische Kommission hat am 30. Juni 2004 die Einbeziehung des Waschens von Erlösen aus
einen Vorschlag für eine „Richtlinie des Europä- schweren Straftaten, die beträchtliche Erträge her-
ischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung vorbringen und mit einer langen Freiheitsstrafe
der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der geahndet werden können. Die Finanzierung des
Geldwäsche einschließlich der Finanzierung des Terrorismus war bislang nicht ausdrücklich
Terrorismus“ (3. Geldwäscherichtlinie – 3. GWRL) genannt. Die Mitgliedstaaten sind aber der Auf-
vorgelegt.1 Der seinerzeit zuständige Kommissar fassung, dass alle Straftaten im Zusammenhang
für den Binnenmarkt, Fritz Bolkestein, erklärte, mit der Finanzierung des Terrorismus als „schwere
dass der Kampf gegen Geldwäsche und Terroris- Straftaten“ gelten.
mus für die Kommission höchste politische Priori-
tät genieße. Seit dem Erlass der ersten Geldwäsche-
richtlinie im Jahr 1991 habe die Europäische
Gemeinschaft bei den internationalen Bemühun- Strategien
gen zur Verhinderung des Waschens von Erlösen
aus Straftaten an vorderster Front gestanden. Mas-
sive Ströme „schmutzigen“ Geldes könnten der Der Europäische Rat erklärte am 21. September
Stabilität des Finanzsektors schaden und den Bin- 2001, dass der Terrorismus eine „wirkliche Heraus-
nenmarkt gefährden, während der Terrorismus die forderung für die Welt und Europa“ bedeute und
Grundfesten unserer Gesellschaft erschüttere. Die dass seine Bekämpfung eines der vorrangigen
Neufassung der vierzig Empfehlungen der Finan- Ziele der EU sein werde. Wenige Tage später ver-
cial Action Task Force (FATF) vom Juni 2003 habe abschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten
den internationalen Standard bei der Bekämpfung Nationen die Resolution 1373, in der bekräftigt
der Geldwäsche erhöht und den Geltungsbereich wurde, dass terroristische Handlungen eine Bedro-
auf die Terrorismusfinanzierung ausgedehnt. Die 3. hung des Friedens und der Sicherheit darstellen.
GWRL müsse diesem Standard gerecht werden Der Rat versicherte am 8. Oktober 2001, dass die
und seine Anwendung in der erweiterten Europä- Union und ihre Mitgliedstaaten an der globalen
ischen Union (EU) gewährleisten. Der Vorschlag Koalition gegen den Terrorismus unter der Ägide
ist dem Europäischen Parlament und dem Minister- der Vereinten Nationen teilnehmen werden und in
rat im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens enger Abstimmung mit den USA gegen die
zur Annahme vorgelegt worden. Die Niederlande, Finanzquellen des Terrorismus vorgehen wollen.
die vom Juli bis Dezember 2004 den Vorsitz im Rat Dies sollte insbesondere durch eine Verstärkung
haben, wollen dem Vorschlag für die 3. GWRL der Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen
Priorität einräumen. geschehen, die für die Terrorismusbekämpfung
zuständig sind: Europol, Eurojust, Nachrichten-
Mit der ersten Geldwäscherichtlinie waren die und Polizeidienste sowie die Justizbehörden.
Mitgliedstaaten verpflichtet worden, Geldwäsche Im „Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom
von Erlösen aus Drogenstraftaten zu untersagen 27. Dezember 2001 über die Bekämpfung des Ter-
und dafür zu sorgen, dass in den nationalen rorismus“2 wird erklärt, dass die vorsätzliche Be-
Finanzsektoren die Identität der Kunden festge- reitstellung oder Sammlung von Geldern durch
stellt wird, dass Belege aufbewahrt, interne Kon- Staatsangehörige oder im Hoheitsgebiet der Mit-
troll- und Mitteilungsverfahren eingeführt und den gliedstaaten der EU mit der Absicht, diese zur
Behörden Transaktionen gemeldet werden, die auf Ausführung terroristischer Handlungen zu ver-
Geldwäsche hindeuten. Die Beschränkung auf wenden, unter Strafe gestellt wird. Gelder und
Drogenstraftaten erwies sich bald als zu eng. Mit sonstige Vermögenswerte oder wirtschaftliche
einer Änderungsrichtlinie (2001/97/EG) erfolgte
2 Amtsblatt der Europäischen Union (ABl.) L 344 vom
1 Kommissionsvorschlag (KOM) (2004) 448 endg. 28. 12. 2001, S. 90.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 28


Ressourcen von Personen oder Körperschaften haben (Art. 2). Der Rahmenbeschluss sieht auch
mit einem spezifizierten Bezug zum Terrorismus die Sanktionierung juristischer Personen vor
werden eingefroren. Personen, die terroristische (Art. 7 und 8).
Handlungen finanzieren, planen, unterstützen
oder begehen, sollen auf dem Gebiet der EU kei- Die Europäische Kommission hat in einer „Mittei-
nen sicheren Zufluchtsort erhalten. Die Mitglied- lung an den Rat und das Europäische Parlament
staaten gewähren im Einklang mit dem Völker- über bestimmte Maßnahmen, die zur Bekämpfung
recht und dem jeweiligen innerstaatlichen Recht des Terrorismus und anderer schwerwiegender
einander sowie Drittstaaten größtmögliche Hilfe Formen der Kriminalität, insbesondere im Hin-
bei strafrechtlichen Ermittlungen oder Strafver- blick auf die Verbesserung des Informationsaus-
fahren im Zusammenhang mit der Finanzierung tausches, zu treffen sind“, einen Vorschlag für
oder Unterstützung terroristischer Handlungen, einen „Beschluss des Rates über den Informati-
einschließlich der Hilfe bei der Beschaffung des onsaustausch und die Zusammenarbeit betreffend
für die Verfahren notwendigen Beweismaterials. terroristische Straftaten“ vorgelegt.5 Es wird
Die Bewegungsfreiheit von terroristischen Grup- betont, dass Ursachen und Auswirkungen des Ter-
pen soll durch wirksame Grenzkontrollen, die rorismus komplexer und unterschiedlicher Natur
Kontrolle der Ausgabe von Ausweispapieren und sind. Die Terrorismusbekämpfung müsse künftig
Reisedokumenten und Maßnahmen gegen Fäl- zu den obersten Prioritäten der EU gehören.
schung und betrügerischen Gebrauch von Doku- Damit der Terrorismus „ausgerottet“ und mög-
menten verhindert werden. Am selben Tag hat der lichst an seinen Wurzeln bekämpft werden kann,
Rat die „Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über müsse vor allem etwas gegen die Finanzierungs-
spezifische, gegen bestimmte Personen und Orga- quellen terroristischer Vereinigungen unternom-
nisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur men werden.
Bekämpfung des Terrorismus“3 erlassen, weil er Dies ist nach Einschätzung der Kommission ein
eine Ergänzung der Verwaltungs- und Gerichtsver- äußerst schwieriges Unterfangen. Sie ist der Über-
fahren gegen terroristische Organisationen in der zeugung, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der
EU und in Drittländern für erforderlich hielt. organisierten Kriminalität und solche zur Bekämp-
fung des Terrorismus verknüpft werden müssen.
Im „Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni Die Zusammenhänge zwischen Terrorismus und
2002 zur Terrorismusbekämpfung“4 wird hervorge- anderen Formen der Kriminalität, vor allem der
hoben, dass der Terrorismus einen der schwersten organisierten, sind nicht immer offenkundig. Den-
Verstöße gegen die universellen Werte darstellt, noch bestehen nach Wahrnehmung der Kommis-
auf denen die EU beruht. In Art. 1 ist festgelegt, sion hinsichtlich der Vorgehensweisen und der
dass jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maß- Finanzierung Verbindungen, mitunter sogar zwi-
nahmen trifft, um sicherzustellen, dass Hand- schen den Vereinigungen selbst. Dies gilt insbeson-
lungen, die nach den einzelstaatlichen Rechts- dere für den illegalen Handel mit Waffen, Betäu-
vorschriften als Straftaten definiert sind, als bungsmitteln und Diamanten, aber auch für
terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn Produktfälschung und -piraterie. Terroristische
sie mit bestimmten Zielsetzungen begangen wer- Vereinigungen gehen ähnlich wie kriminelle vor,
den. Bemerkenswert ist der Hinweis, dass der versuchen, sich durch Erpressung, Entführung
Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die oder illegalen Handel und Betrug Geld zu ver-
Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrund- schaffen, und greifen auf Bestechungspraktiken
sätze, wie sie in Art. 6 des Vertrages über die EU und Geldwäsche zurück. Die Kommission glaubt,
niedergelegt sind, zu achten (Art. 1 Abs. 2). Unter dass es durch Mobilisierung der Staaten im Kampf
„terroristischer Vereinigung“ versteht man einen gegen den Terrorismus und durch Sensibilisierung
auf Dauer angelegten organisatorischen Zusam- der Bürger möglich sein sollte, die „legalen“ Quel-
menschluss von mehr als zwei Personen, die len des Terrorismus auszutrocknen. Sie plädiert
zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu dafür, die vom Rat der EU am 21. Dezember 1998
begehen. Ein Zusammenschluss ist organisiert, angenommene „Gemeinsame Maßnahme zur
wenn er nicht nur zufällig zur unmittelbaren Bege- Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen
hung einer strafbaren Handlung gebildet wird. Er Vereinigung“6 zu überarbeiten. Diese Maßnahme
muss nicht notwendigerweise eine kontinuierliche betrifft nicht nur die organisierte Kriminalität,
Zusammensetzung oder eine ausgeprägte Struktur sondern auch terroristische Vereinigungen, soweit

3 Ebd., S. 70. 5 KOM (2004) 221 endg. 2004/0069 (CNS).


4 ABl. L 164 vom 22. 6. 2002, S. 3. 6 ABl. L 351 vom 29. 12. 1998, S. 1.

29 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


sie insbesondere auf die Straftaten nach Art. 2 des Terrorismus als wirksam erweist. In der Strategie
Europol-Übereinkommens abstellt, das auch die der EU für den Beginn des neuen Jahrtausends ist
Prävention und Bekämpfung des Terrorismus zum daher zu Recht die Empfehlung zu finden, dass
Ziel hat. Vorgeschlagen wird die Erstellung einer sich die Mitgliedstaaten bemühen sollen, im Ein-
elektronischen Liste der Personen, Vereinigungen klang mit den datenschutzrechtlichen Bestimmun-
und Körperschaften, gegen die Antiterrormaßnah- gen Daten über die an der Gründung und Leitung
men gerichtet sind oder gegen die strafrechtlich der in ihrem Hoheitsgebiet eingetragenen juristi-
ermittelt wird. Zum Zweck des Einfrierens von schen Personen beteiligten natürlichen Personen
Geldern und sonstigen Vermögenswerten der an zu erheben und zu sammeln, um so über ein Mittel
terroristischen Handlungen beteiligten Personen, gegen das Vordringen der organisierten Kriminali-
Vereinigungen und Körperschaften werden Listen tät in den öffentlichen und den legalen privaten
erstellt, die regelmäßig aktualisiert und im Amts- Sektor zu verfügen.8
blatt der EU veröffentlicht werden. Viele der dort
genannten Personen und Vereinigungen bedürfen
besonderer Aufmerksamkeit, vor allem im Ban- Im Hinblick auf eine wirksamere Bekämpfung der
kensektor, wo finanzielle Einschränkungen für sie Kriminalität und des Terrorismus sollte auch die
gelten. Einführung eines europäischen Strafregisters
erwogen werden. Darüber hinaus muss nach den
Vorstellungen der Kommission (in der Zwischen-
Nach Auffassung der Kommission sollte in jedem
phase) ein umfassender Informationsaustausch
Mitgliedstaat die Einrichtung eines effizienten
zwischen Mitgliedstaaten und den für die Terroris-
Systems zur Registrierung von Bankkonten ange-
musbekämpfung zuständigen Stellen der Union
strebt werden, so dass eine rasche Antwort auf
stattfinden. Der Beschluss 2003/48 JI des Rates
Rechtshilfeersuchen möglich wird. In der polizeili-
vom 19. Dezember 2002 über die Anwendung
chen und justiziellen Zusammenarbeit gibt es vor
besonderer Maßnahmen im Bereich der polizei-
allem im Bereich der Finanzdelikte erhebliche
lichen und justiziellen Zusammenarbeit bei der
Schwierigkeiten, weil es kaum gelingt, Untersu-
Bekämpfung des Terrorismus ist ein erster wichti-
chungen zu Konten und Bankbewegungen erfolg-
ger Schritt.
reich abzuschließen. Eine zentrale Erfassung der
Bankkonten könnte dazu beitragen, Kapitalbewe-
gungen im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen Nach den Anschlägen von Madrid hat der Europä-
bezüglich der Finanzierung des Terrorismus und ische Rat am 25. März 2004 eine Erklärung über
der Geldwäsche besser zurückzuverfolgen. Das die Bekämpfung des Terrorismus angenommen, in
mit dem Rechtsakt des Rates vom 16. Oktober der die Erforderlichkeit eines revidierten Aktions-
2001 erstellte Protokoll zu dem Übereinkommen plans zur Bekämpfung des Terrorismus hervorge-
über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den hoben wird. Zu den neuen strategischen Zielen,
Mitgliedstaaten der EU enthält Bestimmungen die in dem Aktionsplan vom 7. Juni 2004 aufge-
über Auskunftsersuchen zu Bankkonten und -ge- führt werden, gehören die Vertiefung der interna-
schäften und über Ersuchen um Überwachung von tionalen Anstrengungen zur Terrorismusbekämp-
Bankgeschäften.7 fung, die Erschwerung des Zugangs für Terroristen
zu finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen,
Es bedarf auch eines Mechanismus, der das Sam- die Maximierung der Fähigkeiten zur Aufdeckung,
meln und Übermitteln von Informationen ermög- Untersuchung, Verfolgung und Verhütung terro-
licht und das Vordringen terroristischer Vereini- ristischer Angriffe, der Schutz der Sicherheit der
gungen in legale Tätigkeitsbereiche verhindert. internationalen Verkehrsverbindungen und die
Legale Körperschaften werden von terroristischen Sicherung eines wirksamen Grenzkontrollsystems,
Vereinigungen für deren Zwecke, insbesondere die Verstärkung der Fähigkeiten zur Bewältigung
ihre Finanzierung, benutzt. Ebenso dringen orga- der Folgen eines terroristischen Angriffs, die Iden-
nisierte kriminelle Vereinigungen zum Zwecke der tifizierung und Behandlung der Faktoren, die für
Geldwäsche in legale Tätigkeitsbereiche vor. Es die Unterstützung und Rekrutierung für den Ter-
sollte nicht mehr zweifelhaft sein, dass eine bes- rorismus erheblich sind, und die Entwicklung von
sere Transparenz juristischer Personen, einschließ- Maßnahmen zur Unterstützung von Drittländern
lich der Organisationen ohne Erwerbscharakter bei der Verstärkung ihrer Fähigkeiten zur Terror-
(„Gemeinnützigkeit“), sich bei der Prävention abwehr im Rahmen der Außenbeziehungen der
sowohl der organisierten Kriminalität als auch des EU.

7 ABl. C 326 vom 21. 11. 2001, S. 1. 8 ABl. C 124 vom 3. 5. 2000, S. 1.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 30


zierten Kenntnis; Erwerb, Besitz oder Verwendung
Motive und Definitionen von Vermögensgegenständen in Kenntnis ihrer
Bemakelung; jede Bereitstellung oder Sammlung
rechtmäßig erworbener Vermögensgegenstände in
Die Kommission hält die Bekämpfung der Geld- der Absicht, diese ganz oder teilweise für terroristi-
wäsche für eines der wirksamsten Mittel gegen die sche Zwecke zu verwenden, oder in Kenntnis dieser
organisierte Kriminalität. Daher ist sie zu Recht Tatsache; Beteiligung an einer der oben aufgeführ-
der Auffassung, dass neben strafrechtlichen Maß- ten Handlungen, Zusammenschlüsse oder geheimen
nahmen Präventivmaßnahmen über das Finanz- Absprachen zur Ausführung einer solchen Hand-
system zweckdienlich sind. Ohne ein koordiniertes lung. Geldwäsche soll auch dann gegeben sein, wenn
Vorgehen gegen Geldwäsche auf Gemeinschafts- Tätigkeiten, die den zu waschenden Vermögensge-
ebene könnten Geldwäscher in einem einheitli- genständen zugrunde liegen, im Hoheitsgebiet eines
chen Finanzraum leichter operieren. Geldwäsche anderen Mitgliedstaates oder eines Drittlandes vor-
erfolgt grenzübergreifend, und nationale Allein- genommen wurden.
gänge haben nur eine sehr begrenzte Wirkung.
Seit etlichen Jahren gibt es einen Trend zu einer Angesichts des in Art. 1 Abs. 1 der 3. GWRL ent-
gegenüber den Anfangszeiten der Geldwäschebe- halten Pönalisierungsgebotes („Die Mitgliedstaa-
kämpfung erheblich weiter gefassten Definition ten sorgen dafür, dass Geldwäsche eine Straftat
der Geldwäsche auf der Grundlage eines breiteren darstellt“) und des Gebotes wirksamer Sanktionie-
Spektrums von Straften, die der Geldwäsche rung müssen natürliche Personen strafbar sein, die
vorangehen oder zugrunde liegen („Vortaten“). ihren Pflichten zur Kundenidentifizierung, Beleg-
Eine Ausweitung des Vortatenkatalogs erleichtert aufbewahrung und Meldung verdächtiger Trans-
die Meldung verdächtiger Transaktionen und die aktionen nicht nachkommen. Art. 2 der 3. GWRL
internationale Zusammenarbeit. In diesem Zu- umschreibt den Geltungsbereich der Richtlinie. Er
sammenhang ist nicht nur eine harmonisierte umfasst Kredit- und Finanzinstitute, Abschluss-
Fassung der Definition des Begriffs „schwere prüfer, externe Buchprüfer, Steuerberater, Notare
Straftaten“ geboten. Die Palette der kriminellen und andere selbstständige Angehörige von Rechts-
Handlungen, die dem Geldwäschebegriff zugrunde berufen, wenn sie im Namen und auf Rechnung
liegt, erscheint erweiterungsbedürftig. Dabei geht ihres Klienten Finanz- oder Immobilientransaktio-
es um „Terrorismus“ und „Finanzierung terroristi- nen tätigen oder andere Transaktionen planen
scher Handlungen“. Es darf aber nicht übersehen oder durchführen (Kauf und Verkauf von Immobi-
werden, dass nicht nur „bemakelte“, mit einem lien oder Gewerbebetrieben; Verwaltung von
juristischen Makel behaftete Gelder für terroristi- Geld, Wertpapieren oder sonstigen Vermögens-
sche Zwecke eingesetzt werden, sondern auch werten; Eröffnung oder Verwaltung von Bank-,
legale. Deshalb sollte nicht nur der Terrorismus Spar- oder Wertpapierkonten; Beschaffung der zur
der Liste schwerer Straftaten hinzugefügt werden; Gründung, zum Betrieb oder zur Verwaltung von
vielmehr muss auch der Geldwäschebegriff so ver- Gesellschaften erforderlichen Mittel; Gründung,
ändert werden, dass er dieser „Misch“-Finanzie- Betrieb oder Verwaltung von Treuhandgesellschaf-
rung Rechnung trägt. ten, Gesellschaften oder ähnlichen Strukturen).
Darüber hinaus gilt die 3. GWRL auch für An-
bieter von Dienstleistungen für Treuhandgesell-
Die Kommission schlägt vor, u. a. folgende, vorsätz- schaften und Unternehmen, die nicht unter die
liche Handlungen als Geldwäsche anzusehen (Art. 1 vorgenannten Kategorien fallen; Versicherungs-
der 3. GWRL): Umtausch oder Transfer von Vermö- vermittler bei der Vermittlung von Lebensversi-
gensgegenständen mit einer bestimmten Kenntnis cherungen und anderen Versicherungen mit Anla-
und Zielvorstellung;9 Verheimlichung oder Ver- gezweck; Immobilienmakler; andere Personen, die
schleierung der wahren Natur, Herkunft, Lage, Ver- mit Gütern handeln oder Dienstleistungen erbrin-
fügung oder Bewegung von Vermögensgegenstän- gen, wenn die Zahlung in bar erfolgt und min-
den oder des tatsächlichen Rechts oder Eigentums destens 15 000 Euro beträgt, unabhängig davon,
an Vermögensgegenständen in der bereits spezifi- ob das Geschäft in Form einer einzigen Transak-
tion oder mehrerer verbundener Transaktionen
9 Kenntnis der Tatsache, dass die Vermögensgegenstände abgewickelt wird; das gilt auch für Kasinos.
aus einer kriminellen Tätigkeit oder aus der Beteiligung
daran stammen. Ziel muss es sein, den illegalen Ursprung der Von besonderer Bedeutung ist die Feststellung der
Vermögensgegenstände zu verheimlichen oder zu ver-
schleiern oder Personen, die an einer solchen Tätigkeit be-
Identität von Kunden bzw. der Feststellung des
teiligt sind, dabei zu helfen, den Rechtsfolgen ihrer Tat zu „wirtschaftlichen Eigentümers“. Mittlerweile wer-
entgehen. den auch Lebensversicherungsvermittler sowie

31 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Treuhand- und Unternehmensdienstleister für diese permanent zu verbessern. Darüber hinaus
Geldwäschezwecke missbraucht. Deren Einbezie- sollten sie vor allem effektive, verhältnismäßige
hung in den Pflichtenkreis ist daher angebracht. und abschreckende Sanktionen erlassen, die für
Notare und selbstständige Angehörige von Rechts- den Fall gelten, dass die nationalen Vorschriften,
berufen unterliegen bereits den Bestimmungen die aufgrund der 3. GWRL erlassen sind, missach-
der geltenden Richtlinie, wenn sie sich – ein- tet werden. Im Hinblick auf die häufige Mit-
schließlich der Steuerberatung – an Finanz- und wirkung juristischer Personen insbesondere bei
Unternehmenstransaktionen beteiligen, bei denen komplexen Geldwäscheaktivitäten ist auch deren
die Missbrauchsgefahr im Sinne einer Geldwäsche Sanktionierung geboten und eine entsprechende
groß ist. Allerdings müssen Freistellungen von Gestaltung von Strafvorschriften erforderlich.
Meldepflichten gelten, wenn es um Informationen
geht, die vor oder nach einem Gerichtsverfahren
bzw. während eines Gerichtsverfahrens oder im
Rahmen der Beurteilung der Rechtslage für einen
Klienten erlangt wurden. Zur Wahrung der in der
„Weiche“ Ziele und „weiche“ Waffen
Europäischen Konvention zum Schutze der Men-
schenrechte und Grundfreiheiten und im Vertrag Die Terroristen wissen, dass ein Sieg der USA
über die EU verankerten Rechte sollten nach Mei- oder „des Westens“ in einem antiislamischen Ideo-
nung der Kommission Abschlussprüfer, externe logiekampf ausgeschlossen ist. Sie wollen ihren
Buchprüfer und Steuerberater, die in einigen Mit- menschenverachtenden Nihilismus zu einem Reli-
gliedstaaten einen Klienten in einem Gerichtsver- gionskrieg stilisieren. Allein die Zahl der Selbst-
fahren verteidigen oder vertreten können oder die mordattentate zeigt, wie viel religiöser „Brenn-
Rechtslage beurteilen, ebenfalls nicht der Melde- stoff“ ihnen zu Verfügung steht. Das „alte
pflicht unterliegen. Europa“ hat die traurige Kunst erst erlernen müs-
Das Geldwäscherisiko ist bereichsspezifisch unter- sen, Religionskriege zu beenden, nicht nur die
schiedlich hoch. Ein risikobezogener Ansatz ver- Konfessionskriege der Neuzeit, sondern auch die
langt differenzierte Sorgfaltspflichten bei Identifi- Frontstellung zwischen Religion und Liberalismus,
zierung und Überprüfung von Kunden. Gründlich- die sich seit der Französischen Revolution heraus-
keit ist erforderlich bei Geschäftsbeziehungen zu gebildet hatte.
Einzelpersonen, die wichtige öffentliche Positio- Nach den terroristischen Attacken von Madrid
nen bekleiden oder bekleidet haben. Dies gilt ins- wurde von einem Angriff auf die „Seele Europas“
besondere für solche, die aus Ländern stammen, in gesprochen. Angst sei im Kalkül der Terroristen
denen Korruptionsdelikte weit verbreitet sind. die zentrale Waffe, mit der sie auf die Lähmung
Verdächtige Transaktionen müssen an die zustän- des öffentlichen Lebens abzielten. „Harte“
digen Behörden gemeldet werden. Hierzu sollten Abwehr des Staates allein wird die „weichen“
„zentrale Meldestellen“ in allen Mitgliedstaaten Ziele, also das Leben der gewöhnlichen Bürger,
eingerichtet werden, die auch über den Versuch jedoch nicht hinreichend schützen können. Erfor-
einer Geldwäsche zu informieren sind. Von zen- derlich sind auch „weiche“ Waffen: Zivilcourage,
traler Bedeutung für die Wirksamkeit des Geld- Gelassenheit, Beharrlichkeit, Selbstvertrauen und
wäschebekämpfungssystems ist der Schutz von auch Trotz. Vielleicht geht es sogar um eine Art
Angestellten der meldepflichtigen Institutionen. von psychologischer Kriegführung: „Eine Gesell-
Die Mitgliedstaaten müssen entsprechende Vor- schaft, die sich nicht einschüchtern lässt, die Opfer
kehrungen gegen Einschüchterungs- und Bedro- aushält und ihr offenes Leben weiterlebt, ist vom
hungsversuche treffen. Der grenzüberschreitende Terror nicht zu besiegen.“10
Charakter der Geldwäsche und der Finanzierung
terroristischer Handlungen verlangt nach der Gleichwohl wird man in den Mitgliedstaaten der
Anwendung des Gemeinschaftsstandards auch in EU und auf gesamteuropäischer Ebene weitere
Zweigniederlassungen oder Filialen von Kredit- Erfolg versprechende Ansätze zur Terrorismusbe-
und Finanzinstituten der Gemeinschaft in Dritt- kämpfung entwickeln müssen. Verhütung und Ver-
ländern, in denen es keine entsprechenden ein- folgung von Geldwäsche haben dabei größte stra-
schlägigen Rechtsvorschriften gibt. Die Verpflich- tegische Bedeutung. Ihr praktischer Nutzen wird
teten sollten Rückmeldungen über den Nutzen sehr viel höher sein als der gegenwärtige „Krieg
ihrer Informationen und die ergriffenen Maßnah- gegen Terror“.
men erhalten. Die Mitgliedstaaten sind daher auf-
gerufen, einschlägige Statistiken zu führen und 10 Volker Ulrich, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. 4. 2004,
S. 4.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 32


Wolf R. Dombrowsky

Terrorismus und die Verteidigung des Zivilen

Was das „Alte Europa“ von Anbeginn argwöhnte, funktionierender Staat in die Wüste gebombt, aus
bestätigen nun nicht nur der Geheimdienstaus- Gründen, die nicht stichhaltig waren, und ohne
schuss des Kongresses der Vereinigten Staaten von Aussicht auf Erbauliches. Die für den Wiederauf-
Amerika und der Abschlussbericht der UN-Waf- bau vorgesehenen Gelder werden von der allge-
feninspekteure, sondern auch die CIA: Massenver- meinen nationalen Destruktion verschlungen, in
nichtungswaffen konnten im Irak nicht gefunden die sich das Gegeneinander von Interessen, Eth-
werden. Die seinerzeit präsentierten „Quellen“ nien und Mörderbanden aufgelöst hat. Saudi-Ara-
erwiesen sich als Täuschungen.1 bien dagegen, dessen ultrafundamentale Eiferer
von Wahabiten und Salafiten den internationalen
Wäre dieser „Ring der Vernebelungen“ nur ein
Terrorismus nachweislich finanzieren, ist, im
Politthriller2 gewesen, könnte man mit den Schul-
Gegensatz zum Irak Saddam Husseins, als Verbün-
tern zucken. Dabei wünschte man sich, dass es
deter nicht in Ungnade gefallen. Auf der nach
beim globalen „War on Terror“ wirklich darum
unten offenen Skala der Menschenrechtsverletzun-
ginge, wofür gekämpft und gestorben wird: um die
gen gilt kein Maß mehr, seit die Befreier, wenn es
Verteidigung des Zivilen, um Demokratie und
opportun ist, ähnlich zu wüten scheinen wie die
Menschenrechte, um Freiheit und Wohlstand,
Despoten, derer sie sich entledigen wollten.
kurz, um eine friedlichere, bessere Welt, wenigs-
tens eine ohne Terror. Die Reaktionen auf den 11. Dabei entstammt doch die Moral der westlichen
September 2001 haben die Erreichbarkeit dieses Zivilisation ausgerechnet dem Kampf gegen
Ziels suggeriert: Die Anschläge mobilisierten die Despotie und Willkür, samt ihrem vornehmsten
Amerikaner vor allem moralisch, vergleichbar nur Grundsatz: der Gleichheit aller vor Gesetz und
ihrer Mobilisierung durch Pearl Harbor 1941. Wie- Recht. Was ist passiert, dass diese Zivilisation ihre
der sollte ein Krieg von Terror befreien, von Regi- wertvollsten Erbschaften, vom Westfälischen Frie-
men, die mit Füßen treten, was der Nation von den über die Menschenrechte bis zur Charta der
1787 heilig ist und seitdem Modell steht für die Vereinten Nationen, preiszugeben droht aufgrund
westliche Zivilisation. des Handelns einer unheiligen Allianz aus Gedan-
kenlosen, die an gar nichts mehr glauben, und
Doch Osama Bin Laden und Al-Qaida existieren fanatisch Glaubenden, die zu wenig denken? Muss
fort, auch wenn Afghanistans Berge von moderns- man den unvermeidbaren Fall großer Mächte, gar
ten Ortungswaffen durchlöchert sind. Die Taliban den Untergang des Abendlandes befürchten?3
wurden aus Kabul verjagt – zugunsten ihrer Vor-
gänger, die sich mit westlichen Hilfen wieder
bewaffnen, um alsbald jenen Staat beseitigen zu
können, der nicht der ihre ist, sondern den der
Westen zu seiner eigenen Beruhigung als demo- Zeitenwende „9/11“?
kratische Staatenbildung inszeniert, samt einer
Wahl, bei der das Wahlvolk kaum weiß, was Wäh-
len bedeutet. Wer über die Verteidigung des Zivilen schreibt,
läuft Gefahr, den entschiedenen Gutmenschen
Mit dem Irak verfuhr die westliche Zivilisation in geben zu wollen, der sich, gleich Nathan dem Wei-
umgekehrter Weise. Statt „nation building“ wurde sen, zum Mediator zwischen widerstreitenden Kul-
ein für vormoderne Verhältnisse erstaunlich gut turen macht, zugleich aber auch Grenzen zieht
und ein Politikverständnis propagiert, wie es einst
1 Die obskure Rolle Achmed Chalabis für die amerika- die Gralshüter der wehrhaften Demokratie ver-
nische Irak-Politik ohne Beteiligung von Irakern ist vielfach
kritisiert worden: vgl. David L. Phillips, Pentagon’s postwar fochten, als sie, mit dem Grundgesetz unter dem
fiasco coming full-circle?, in: The Christian Science Monitor
vom 24. 5. 2004 (www.csmonitor.com/2004/0524/p09s02- 3 Vgl. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte.
coop.html), sowie Seymor Hersh, Selective Intelligence, in: Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500
The New Yorker vom 19. 9. 2004 (www.newyorker.com/fact/ bis 2000, Hamburg 1989, und Oswald Spengler, Der Unter-
content/?030512fa_fact). gang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
2 Vgl. Bob Woodward, Der Angriff, München 2004. Weltgeschichte, München 1963 (Orig. 2 Bde., 1918 –1922).

33 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Arm, „Radikale“ per Erlass vom öffentlichen Dass dies im Kontext des Terrorismus jedoch
Dienst fern hielten. Tatsächlich geht es nicht um durch und durch falsch klingt, spürt man beim
rituelle Politik oder die Exekution von Symbolen Schreiben und Lesen; in einem anderen Kontext
und Symbolischem, sondern um die Grundlagen, bekommt es einen neuen Klang. Wer beispiels-
die den Transformationen ins Symbolische voraus- weise am Straßenverkehr teilnimmt, übernimmt
gehen, und um den Wert, den ein jeder dieser ein „allgemeines Teilnahmerisiko“, das darin
Grundlage beimisst.4 Man muss wissen, wofür zu besteht, „verunfallen“ zu können. Im Jahr 2001
leben, und noch wichtiger, wofür zu sterben lohnt. starben auf unseren Straßen beinahe 8 000 Men-
Dass uns Selbstmordattentäter, die um des Para- schen. Unsere uneingeschränkte Mobilität ist uns
dieses und ein paar Jungfrauen willen zum Sterben dieses Teilnahmerisiko wert. Als Vielfahrer weiß
bereit sind, so fremd sind, könnte als gutes Zei- ich um dieses Risiko, und obwohl es mich jederzeit
chen gedeutet werden. Nach zwei mörderischen treffen kann, akzeptiere ich es stillschweigend. Ist
Kriegen und nach dem Zivilisationsbruch es unangemessen, nach dem allgemeinen Teilnah-
Auschwitz sollte uns das Leben so heilig geworden merisiko einer „offenen Demokratie“ zu fragen?
sein, dass sich für gar nichts zu sterben und für Ist es politisch inkorrekt, unsere stillschweigende
absolut nichts zu töten lohnt. Bereitschaft zum Blutzoll für ein minder bedeu-
tendes Gut wie Autofahren ins Verhältnis zu set-
Doch ein Blick auf die Debatten um Abtreibung, zen zur „Zahlungsbereitschaft“ für Rechtsstaat-
Sterbehilfe, Gentechnik oder Todesstrafe belehrt lichkeit und Menschenrechte?
eines Schlechteren. Vermutlich ist uns gar nichts
heilig – was auch kein schlechtes Zeichen wäre, Selbst wenn diese unveräußerlichen Güter in
nach „Heil Hitler“ und all dem Unheil reinrassiger Guantánamo oder im Abu-Ghraib-Gefängnis mit
Wunderheiler. Sind wir also völlig abgeklärte, Füßen getreten werden, zeigt dies nur, dass keine
ernüchterte Zeitgenossen? Die Frage ist nicht rhe- Zivilisation davor gefeit ist, von ihren Nutznießern
torisch, sollten wir es tatsächlich mit Menschen zu unterminiert zu werden, zugleich aber auch, dass
tun haben, die „den Tod mehr lieben als das nicht jede Zivilisation bereit und in der Lage ist,
Leben“ und die auf unseren Gräbern tanzen wol- dagegen Rechtsmittel einzulegen oder zuzulassen.6
len.5 Was können wir dem entgegensetzen? Bedarf Welche Rechtsmittel räumt die Scharia ein?
es nicht mindestens ebenso starker Überzeugun- Schützt sie, wie es Bassam Tibi an der westlichen
gen, um sich wehren zu können? Rechtsordnung kritisiert, sogar jene, die sie abzu-
schaffen suchen?7 Tibis Frage, ob „der Rechtsstaat
Der weltweite Terrorismus stellt uns nicht vor die ,offene Gesellschaft‘ noch gegen ihre Feinde
unmittelbare Notwehrsituationen. Die Menschen schützen kann“, offenbart nicht die Schwäche, son-
in den Twin Towers, in Madrid, Moskau oder dern die Stärke unserer Zivilisation. Als allgemei-
Beslan starben chancenlos. Situationen wie in Flug nes Menschenrecht gelten unsere Grundsätze für
93 der United Airlines sind die Ausnahme. Es geht alle. Jede Einschränkung wie jeder Ausschluss
auch nicht um Endkämpfe „Mann gegen Mann“, widerlegten sie. Folglich hat Metin Kaplan das
sondern um Moral: Was sind mir die Grundlagen, Recht, alle Rechtsmittel einer Zivilisation auszu-
die mir mein Leben ermöglichen, wirklich wert? schöpfen, die er ablehnt und abschaffen will.
Hier nützt kein Ungefähr. Die Scharia ist inakzep- Weder wird der Rechtsstaat dadurch zum Verlie-
tabel, ebenso ein Gottesstaat. Es ist eine histori- rer, wie Tibi meint, noch werden die Islamisten zu
sche Errungenschaft – die im Übrigen viel Blut Gewinnern. Das Gegenteil ist richtig: Der Rechts-
gekostet hat –, dass der Staat dem Recht unterwor- staat wird zum Verlierer, wenn er aufgibt, was ihn
fen ist statt religiösen Nomenklaturen, die ihre ausmacht. Baader-Meinhof haben diese Dynamik
Interessen als Offenbarung göttlicher Weisheit in Gang setzen und den Rechtsstaat durch Terror
ausgeben. Gleiches und unabhängiges Recht ist zwingen wollen, mit Gegenterror und Folter zu
das höchste Gut abendländischer Zivilisation und antworten, um sich dadurch als Unrechtsstaat zu
ihre unveräußerliche Grundlage, ohne die es keine entlarven. Bis zu einem gewissen Grad ist dies
Verständigung geben kann: Für diese Überzeu- durch die Praxis des „Radikalenerlasses“ und die
gung bin ich bereit, mit dem Leben zu bezahlen. massiv geschürte Denunziation kritischer Meinun-

4 Vgl. Reaktionen auf das Kopftuchverbot in Frankreich: 6 Vgl. Stefanie Dornschneider, Guantanamo darf kein Nie-
Gesche Wüpper, Moslem oder nicht – wir sind alle Franzosen, mandsland mehr sein. Das amerikanische Verfassungsgericht
in: Welt am Sonntag vom 5. 9. 2004, S. 12. setzt George Bushs Krieg gegen den Terror Grenzen, in: Die
5 „Wir werden auf ihren Gräbern tanzen“. Spiegel-Serie Zeit vom 29. 6. 2004.
über die Hintergründe der Terror-Anschläge vom 11. Sep- 7 Vgl. Bassam Tibi, Grenzen der Toleranz, in: Welt am
tember, in: Der Spiegel, Nr. 48 vom 26. 11. 2001, S. 140 –146. Sonntag vom 5. 9. 2004, S. 14.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 34


gen als „Sympathisantensumpf“ damals auch Antonio Gramsci prägte den Begriff ganz anders.
gelungen.8 Er meinte mit „Zivilgesellschaft“ alles Nicht-Staat-
liche, das den Gang des Politischen gleichwohl
Die Frage, wie in Zeiten terroristischer Bedrohung
bestimmt und als „beharrendes Bollwerk“ jede
das Zivile verteidigt werden kann, ist keineswegs
Veränderung zu verhindern vermag, sofern sie
so neu, wie gelegentlich getan wird. Das régime de
Nachteile befürchten lässt.12 Damit ist Gramsci
la terreur etwa, durch das in Frankreich nach 1793
sehr nahe an Robespierres Konterrevolution und
alle Konterrevolutionäre eingeschüchtert und
Engels’ Staat als Ausschuss der herrschenden
beseitigt werden sollten, mag den Begriff „Terro-
Klasse,13 und Denkwelten entfernt von moderner
rismus“ historisch datieren, nicht aber die Erfah-
Ideologie, die Staat und Gesellschaft zu eineiigen
rung eines Schreckens, der Ohnmacht fühlen lässt
Zwillingen schönfärbt, die, in „Good-Governance“
bis zur Entblößung aufs Kreatürliche. In dieser all-
vereint, das gute Ganze in der antiken Tradition
gemeinen Form ist Terror von Anbeginn der Feind
von polis und bonum communum umhegen.
jeden Hegens und Pflegens, jeden Zivilisierens
und Kultivierens. Der Schrecken aller Sinne macht Wachsender Wohlstand scheint den Blick zu trü-
jedes Besinnen unmöglich.9 Der 11. September ben, zumindest so lange, wie genügend Spielraum
2001 hat auf diese Weise gewirkt. Er erschreckte für Wohltaten und Transferleistungen zu erübrigen
bis aufs Kreatürliche, dorthin, wo Wut, Hass und ist, damit Differenzen nicht zu Konflikten eskalie-
Trauer, Angst und Aggressionen lauern. Diese ren. Wenn es knapp und eng wird, werden an den
Antriebe wurden mobilisiert, statt sie zu bezäh- Bollwerken die Zugbrücken eingeholt und die
men. Zur Bezähmung hätte es der kollektiven Sparempfehlungen durchgereicht bis zu jenen, die
Besinnung bedurft und damit des historischen sich ihrer nicht erwehren können. Ehrenamtliches
Maßnehmens. Stattdessen wurde „9/11“ zur Zei- Engagement, Gemeinsinn und Zivilgesellschaft
tenwende, zum history changing moment stilisiert, haben ihre Konjunkturen – antizyklisch zu denen
mit dem das Zeitalter des Terrorismus beginnt, als der Wirtschaft. Daran wäre nichts zu tadeln, gäbe
habe es vordem keinen gegeben, schon gar nicht es neben dem zu überwindenden Mangel auch ein
im Mutterland der westlichen Zivilisation. gemeinsames gutes Konzept, um seine Ursachen
zu beseitigen. „Blood, sweat and tears“ werden
bereitwillig vergossen, wenn daran geglaubt wird,
dass es richtig ist und gerecht. Wo hingegen weder
Aporien des Wahrnehmens die Ziele für richtig noch die Mittel ihrer Errei-
chung für gerecht erachtet werden, fallen Staat
und Gesellschaft auseinander, wird der Kampf par-
Der Begriff der „Zivilgesellschaft“10 ist als Mode- tialer Interessen unverhohlen. Im historischen
wort in den Sprachschatz politischer Korrektheit Kontext zeigen solche Kämpfe die hässliche Seite
eingegangen. Manche sehen in ihr einen Wert an der „Schönwetter-Demokratie“, nämlich eine anti-
sich, sozusagen das Wahre, Schöne, Gute als des zyklische Konjunktur der Entzivilisierung. Doch
Pudels Kern der aufgeklärten, bürgerlichen abnehmende Chancen münden keineswegs
Gesellschaft. Dabei gilt als ausgemacht, dass Herr- zwangsläufig in Kriminalität und Radikalismus auf
schaft „demokratisch“ ist im Sinne legitimer und der einen und in Polizeistaat und Faschismus auf
rechtsförmiger Interessenregulierung und Gesell- der anderen Seite. Die Übersteigerung ins einma-
schaft stets hinreichend „zivil“ ist im Sinne eines lig Monströse führt eher zu Besinnungslosigkeit,
Engagements für die gemeinsame Sache aller und die Erinnern zum leeren Ritual macht statt zum
eines friedlichen Umgangs miteinander auf der Bewusstsein, dass immer auch etwas ganz anderes
Grundlage wechselseitiger Anerkennung.11 Doch möglich ist und eine Wahl besteht.14

8 Vgl. Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das 12 Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hrsg. von Klaus
BKA, Hamburg 1998, S. 113. Bochmann/Wolfgang Fritz Haug, Hamburg – Berlin 1991 ff.;
9 Ich stütze mich auf die Forschungen von Dieter Claessens, zusammengefasst bei Theo Votsos, Der Begriff der Zivilge-
Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen sellschaft bei Antonio Gramsci: Ein Beitrag zu Geschichte
Verhaltens, Köln – Opladen 1970. und Gegenwart politischer Theorie, Hamburg – Berlin 2001.
10 Martin und Sylvia Greiffenhagen, Deutschland und die 13 „Die moderne Staatsgewalt“, so Friedrich Engels im
Zivilgesellschaft, in: Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft, 49 „Manifest der Kommunistischen Partei“, „ist nur ein Aus-
(1999) 3, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung schuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen
Baden-Württemberg (www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/3_99/ Bourgeoisklasse verwaltet.“ Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Ber-
zivil2.htm, einges. am 10. 9. 2004). lin (Ost) 1974, S. 459 –493.
11 Vgl. den Forschungsschwerpunkt „Zivilgesellschaft, 14 Roosevelts „New Deal“ war diese historische Al-
Konflikte und Demokratie“ des Wissenschaftszentrums Ber- ternative. Sie zielte auf einen anderen „Staat“, ein anderes
lin. „Recht“ und einen anderen Umgang mit Minderheiten als

35 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Haben wir heute gegenüber diesem ins einmalig zu können, die durch Terror unsere Wertordnung
Monströse übersteigerten Terrorismus überhaupt beseitigen wollen. Wieso tun wir selbst, was des
noch eine Wahl, ist ein ganz anderer Umgang mit Terrorismus ist? Zumal nie und nimmer zu
ihm möglich als fortwährende Eskalationen in befürchten steht, dass es diesem Terrorismus aus
Krieg, Gegenterror und eine lange Konjunktur der eigener Kraft gelingen könnte, seine Ziele zu
Entzivilisierung? Manche haben die USA bereits erreichen. Dazu fehlt es ihm an Überzeugungs-
vor „9/11“, vor den massiven Beschränkungen der kraft und auch an wirksamer Masse.
bürgerlichen Freiheiten durch den „Patriot Act“
Wovor fürchtet man sich also? Dass die Frauen
und den in Guantánamo Bay suspendierten
der westlichen Welt Jeans und Lippenstift wegwer-
Grundrechten als „Polizeistaat“ bezeichnet.15
fen und nach der Burka schreien? Dass ihre Män-
Auch in der Bundesrepublik stehen Grundrechte
ner in Bergcamps einrücken, um die Welt in die
und Freiheiten zur Disposition. Dabei sei nieman-
feudale Herrlichkeit von Scheichs, Imamen, Clan-
dem unterstellt, dass Terrorismus nur ein Vorwand
Despoten und warlords zurückzuentwickeln? Die
ist. Allerdings zeigt unsere Geschichte, wie schwer
Verheißungen der Gottesstaaten und ihrer Krieger
es ist, Freiheiten und Freiräume zurückzugewin-
gelten nur wenigen Frommen, während sich die
nen, wenn sie erst einmal verloren sind. Ferner
Mehrheit nach den säkularen Verheißungen einer
muss die Tauglichkeit der bevorzugt angestrebten
Zivilisation sehnt, die Recht und Freiheit gewährt.
Mittel grundsätzlich bezweifelt werden. Sie sind
Abermals ließe Geschichte zur Besinnung kom-
zumeist unverhältnismäßig und bereits mittelfristig
men: Die meisten Zivilisationen sind an inneren
kontraproduktiv. Aktive Terroristen werden zu
Blutungen verschieden, nicht an importiertem Ter-
„Schläfern“, tauchen in „Ruheräume“ ab, kom-
rorismus. Wenn wir etwas fürchten müssten, dann
plettieren in fernen Ländern ihre unbefleckte
nicht diesen Terrorismus, sondern innere Blutun-
Tarnbiografie, machen womöglich Karriere in der
gen. Die schlimmste hat Gramsci beschrieben: die
Gepäckabfertigung eines europäischen Flughafens
Denaturierung der Zivilgesellschaft in ein Boll-
oder einer Hafenmeisterei, während derweil die
werk partialer Interessen, unter deren Selbstsucht
Gesellschaft nach Verdächtigen gerastert wird –
das Gemeinwesen zerstört wird und mit ihm die
beispielsweise nach Studenten technischer Fach-
Glaubwürdigkeit unserer Grundwerte. Diese
richtungen, die Internetseiten aufrufen, welche die
Debatte wäre die Verteidigung des Zivilen, doch
Dienste als „einschlägig“ klassifizieren. Wo enden
stattdessen beherrscht ein hollywoodesker Phan-
diese Menschen, wenn sich ihnen eröffnen sollte,
tomterrorismus die allgemeine Wahrnehmung.
dass sie überwacht und gespeichert wurden und
seitdem als „Sympathisanten“ des Fundamentalis-
mus gelten, denen sich alle Türen verschließen?
Wäre das „Sicherheit“?
Allgemein formuliert stehen wir keineswegs vor
Monopoly
dem Dilemma, den Teufel mit dem Beelzebub aus-
treiben zu müssen. Es geht nicht um die Gefahr,
Die Medien haben die Ereignisse des 11. Septem-
den Terror mit polizeistaatlichen Mitteln zu
ber 2001 dem besonnenen Nachdenken entrissen
bekämpfen und dadurch des Zivilen verlustig zu
und in eine symbolische Inszenierung transfor-
gehen. Wahr ist vielmehr, dass ohne polizeistaat-
miert. Durch die Endlosschleife einschlagender
liche und geheimdienstliche Mittel Terrorismusbe-
Flugzeuge und brennender Türme verkam die
kämpfung unmöglich ist. Warum diese Mittel per
Wirklichkeit zu einem Hollywood-Film voller
se problematisch sein sollen, müsste von jenen
Pyrotechnik, Gigantismus und Heroisierung. Es
belegt werden, die so etwas fortwährend behaup-
ging nicht mehr um Terrorismus, schon gar nicht
ten. Die Bundeswehr ist keine Reichswehr und der
um die Suche nach einer angemessenen Antwort,
Staatsschutz keine Gestapo. Gefährlich ist etwas
sondern um Bin Laden und die Bushs, um den
anderes: Wir stehen in Gefahr, unsere Grundwerte
„Krieg gegen die Ungläubigen“ und den „Kreuz-
einzuschränken, um jener wenigen habhaft werden
zug“ der Zivilisation gegen das neue „Reich des
der deutsche Faschismus. Vgl. Harvard Sitkoff, A New Deal
Bösen“. Die Welt schien dem Showdown zwischen
for Blacks: The Emergence of Civil Rights as a National Issue Gut und Böse entgegenzufiebern. Es gab tatsäch-
– The Depression Decade, New York 1978; Alan Brinkley, lich „das Bedürfnis nach einem Militärschlag als
The New Deal and the Idea of the State, in: Steve Fraser/ Antwort auf die schrecklichen Angriffe“, sagte
Gary Gerstle (Hrsg.), The Rise and Fall of the New Deal
Order, Princeton, N. J. 1989, S. 85 –121.
Brent Scowcroft, Berater der US-Präsidenten
15 Vgl. Gore Vidal, Amerika ist ein Polizeistaat, Spiegel- Ford, George Bush sen. und George W. Bush. Die
Gespräch, in: Der Spiegel, Nr. 6 vom 8. 2. 1999, S. 154 –159. Rede vom „Krieg gegen den Terrorismus“ sei sinn-

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 36


voll und notwendig gewesen, um die Bevölkerung UNEP (United Nations Environmental Pro-
zu mobilisieren. „In den ersten Tagen“, so Scow- gramme) und der UNCTAD (United Nations Con-
croft, „war die Rede vom Krieg vor allem ein ference on Trade and Development) 1974 in Mexiko
Weckruf. Die Wortwahl hat ihren Zweck erfüllt.“16 verfasste Erklärung von Cocoyok bezeichnete die
Dass Bin Laden „ein nützliches Symbol“ dar- reichen Industrieländer als „fehl- bzw. überentwik-
stellte, das dem Bösen Gestalt gab, es aber einer kelt“. Man forderte sie auf, ihren „Überkonsum“
Zielplanung und eines Operationsgebietes bedarf, einzustellen und einen Lebensstil „einschließlich
wenn man wirklich Krieg führen will, war nicht bescheidener Konsumstrukturen“ zu bewirken, wel-
nur Scowcroft bewusst. cher der globalen Entwicklung nicht länger Schaden
zufüge. Dazu bedürfe es einer neuen internationalen
Was aber könnten die Kriegsziele und Einsatz- Wirtschaftsordnung, gerechterer terms of trade und
gebiete sein? Mangels Informationen sprossen eines Mitspracherechts bei der Festlegung von Mini-
Verschwörungstheorien17 und andere sattsam mum- und Maximumstandards des Konsums. Diese
bekannte Erklärungen: Es gehe ums irakische Öl, Forderungen gehen weit über das hinaus, was uns
um Pipelines der gesamten Region, um die geo- selbstverständlich ist: gerechte und gleiche Lebens-
strategische Vormachtstellung der USA im Nahen bedingungen für jeden Bürger. Was hier heraufzieht,
und Mittleren Osten oder um die Kontrolle der sind Welt-Pro-Kopf-Quoten für den Ressourcenver-
unheiligen Allianz von Drogen, Waffen und Öl. brauch und Standards für das Existenzminimum. Ob
Hinter allem Getöse um Zielauswahl und Mobili- wir es uns eingestehen mögen oder nicht, letztlich
sierung wäre beinahe der eigentliche Kampf ver- wird sich globale Gerechtigkeit nur über derartige
schwunden. Er wogte auf diplomatischem Parkett. Mechanismen herstellen lassen. Je länger wir uns
Vordergründig ging es um die Verknüpfungen von dieser materiellen Seite allgemeiner und gleicher
UNO-Mandaten und UN-Inspektionen mit der Menschenrechte verweigern, desto offensichtlicher
Bereitschaft, an Interventionen und Koalitionen wird, dass wir Heuchler im Bollwerk sind, die ihre
teilzunehmen. Hintergründig stellte sich die Konsumscharia verteidigen.
Machtfrage. Der massive Druck der USA hin auf
eine „Koalition der Willigen“ führte sowohl die
UN als auch Europa in eine institutionelle Krise.
Die Gewichte und Rollen von UN und EU stan- Scharia gegen Scharia
den in Frage und damit sowohl nationale Souverä-
nität als auch politische Identität: Was rechtfertigt
einen Waffengang? Welche Bindekraft haben Vielleicht ist es hilfreich, die im Namen des Islam,
Menschen- und Völkerrechte? Und welche Wirk- oder zutreffender: ideologisierter Islamismen,
kraft haben globale zivilgesellschaftliche Institu- begangenen Straftaten als das zu nehmen, was sie,
tionen wie die UN oder der Internationale zumindest auf der Symbolebene, auch immer sein
Gerichtshof? Es zeigte sich, dass es nicht um ein sollen: Fanale eines „heiligen Krieges“. Auch wenn
mehr oder weniger spontanes Zurückschlagen man die zugespitzten Thesen Samuel Huntingtons
einer zutiefst gekränkten Nation ging, sondern um vom clash of civilizations nicht teilen mag, zeigen
die zukünftige Ordnung der Welt und darum, wer gleichwohl die vielfachen Anschläge, dass religiöse
sie maßgeblich bestimmt. beziehungsweise ersatzreligiöse Versatzstücke als
weltanschauliche Gegenpole zum abendländischen
Es geht jedoch nicht nur um die Umverteilung von Modernisierungsverständnis instrumentalisiert
Souveränität zwischen Nationalstaaten und supra- werden. Doch wo Huntington das westliche Boll-
nationalen Institutionen, sondern auch um die werk verstärken will, entdecken andere hinter den
inhaltliche Ausgestaltung einer globalen Grund- fundamentalistischen Ideologemen einen rationa-
und Wertordnung. Wohl zu Recht werfen die len Wunsch, eine Hoffnung auf ein „Sein-Sollen“:
Armen den Reichen vor, dass sich Demokratie und „Die Moderne ist Lebensform und Wirtschafts-
Menschenrechte feiern lassen, wenn man im Über- system zugleich. Weltweit setzt die technisch-ratio-
fluss leben kann. Was wohl von diesen gepriesenen nale Industriegesellschaft den Maßstab für Ent-
Gütern bliebe, wenn es so knapp und erbärmlich wicklung und Fortschritt. Die entscheidende Frage
zuginge wie in den Ländern des Südens? Die vom lautet daher nicht: Wollen wir die Moderne, oder
sind wir dagegen? Sie ist längst Realität und prägt
16 Brent Scowcroft, Ein nützliches Symbol, Spiegel-Ge- auch den Nahen Osten. Das eigentliche Problem
spräch, in: Der Spiegel, Nr. 40 vom 1. 10. 2001, S. 170 –172.
17 Vgl. z. B. Matthias Bröckers, Verschwörungen, Ver-
liegt ganz woanders: Wird die arabisch-islamische
schwörungstheorien und die Geheimnisse des 11. 9., Frank- Welt die Moderne auch weiterhin nur importieren
furt/M. 2002. – oder kann sie einen eigenen Beitrag leisten zu

37 Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004


Fortschritt und Entwicklung? Wie kann die ara- unterscheiden sich in dieser Weltsicht nicht. Auch
bisch-islamische Welt den Anschluß finden an die sie glauben an die Möglichkeit, die Welt durch die
Industriegesellschaft westlicher Prägung, ohne ihre Symbiose absoluten Glaubens und darauf fußen-
kulturelle Identität zu verlieren?“18 den Handelns erneuern zu können. Ob sich damit
die globalen Probleme der Moderne lösen lassen,
Diese vor fast zehn Jahren formulierte Frage ist steht dahin. Bislang verheißt kein Gottesstaat
aktueller denn je. Sie beschreibt das eigentliche einen Gegenbeweis. Allerdings macht das Amal-
Problem und den emotionalen Kern, der politik- gam aus Zukunftsängsten, Technikkritik, Fort-
und damit verhandlungsfähig machen könnte und schrittsfeindschaft, schärfer werdenden ökonomi-
sollte. Er wirkt auf ganz ähnliche Weise für die schen Widersprüchen und politischen Ungerech-
Identitätsbildung Japans gegenüber dem Westen.19 tigkeiten in immer mehr Gesellschaften und quer
Auch in Japan spielt die Angst vor einer auflösen- durch alle Bevölkerungsgruppen anfällig für Ideo-
den Verwestlichung eine große Rolle, und sie logismen, Lösungsutopien und Heilsversprechen,
dürfte neuerliche Bedeutung gewinnen, je mehr vor allem, wenn sie sich religiös legitimieren und
sich China dem Westen öffnet. Die Anschläge von fundamental einfach erscheinen.
Aum wie die „im Namen Allahs“ unterbinden den
Dialog zwischen den Kulturen und werfen von Der zielorientierte Terrorismus kommt nicht ohne
neuem Gräben auf, die bereits zu Beginn des ver- Interaktionsbeziehungen aus; sie machen ihn, abhän-
gangenen Jahrhunderts schon einmal durch Tole- gig vom Gelingen, stark und unauffindbar oder
ranz und Austausch überwunden werden sollten schwach und entblößt. Der importierte Terrorismus
und die im Austausch mit der Türkei erfolgreich bleibt schwach und punktuell. Dagegen beginnt Zivi-
überwunden wurden. lisation von innen zu bluten, wenn der Terrorismus
heimisch wird und Unterstützung findet.
Tatsächlich hat die Moderne nicht ausschließlich
abendländische Wurzeln. Schon das Epigramm So gesehen ist jede Terrortat ein Test mit einem
vom antiken Griechenland als Wiege abendländi- Binnen- und einem Außeneffekt. Nach innen sol-
scher Kultur war Ideologie; es unterschlug nur allzu len Kohäsion und Einsatzbereitschaft der eigenen
gern die Zuströme aus Indien, China und der arabi- Leute, die Bindewirkung auf die Sympathisanten
schen Welt. Kein Wunder also, wenn viele Muslime und die Motivationskraft auf das Umfeld getestet,
eine solche Modernitätsbestimmung bekämpfen nach außen Entschlossenheit, Härte, auch Füh-
und sich um ihren Anteil am Menschheitserbe und rungsanspruch bewiesen und zugleich die Gegen-
somit auch um ihre Identität betrogen fühlen. wehr erkundet werden. Allein deshalb wäre es
Historisch gesehen ist damit eine kulturelle Identi- falsch, „Wirkung“ und „Nerven“ zu zeigen, weder
tät des Morgenlandes schon lange verloren, kann durch Angst noch durch Übermaß.
Fundamentalismus nur als der letzte Ausdruck
Eine wirksame Gefahrenabwehr gegenüber dem
einer viel länger andauernden Krise verstanden
Terrorismus besteht in Augenmaß und in einer
werden. Natürlich rechtfertigt die eigene Krise
systematischen, international koordinierten Auf-
nicht, das zerstören zu wollen, was man nicht hat
klärung der Vorfeldbereiche. Sie ist Prävention,
oder nicht haben kann. Gleichwohl machte man es
nicht Rachefeldzug bis zum Entstaatlichungskrieg.
sich zu einfach, jeden Fundamentalismus mit Terro-
Das unumkehrbare Erfordernis gesellschaftlicher
rismus gleichzusetzen. Viel zu wenig wird der Frage
Störungsfreiheit erzwingt die Früherkennung und
nachgegangen, welche Lösungen die Fundamenta-
Verhinderung riskanter Störungswirkung im
lismen außer Terror anbieten, welche „Identität“
Innern. Dies schließt das Risiko von Beschränkun-
sie ausbilden wollen und was ihr positiver Beitrag
gen ein, doch sollte in Ruhe und nicht ideologisch
zur menschlichen Zivilisation sein soll.
geprüft werden, was nützt, ohne Liberalität und
Die neuzeitlichen fundamentalistischen Bewegun- Freizügigkeit zu beschränken.20 Der moderne Ter-
gen entstanden unter protestantischen Christen im rorismus zwingt dazu, zwischen totalitären Antwor-
19. Jahrhundert in den USA. Bis heute sehen sie ten und integrierenden, konfliktgerechten Strate-
sich als Wahrer einer „echten“ Gläubigkeit, dazu gien zu entscheiden. Darin besteht die eigentliche
berufen, „Fehlentwicklungen“ ihres Landes zu Herausforderung des gegenwärtigen Terrorismus,
korrigieren. Die islamischen Fundamentalisten zugleich aber auch die Chance, den Wert des Zivi-
len schätzen zu lernen und verteidigen zu wollen.
18 Michael Lüders, Mit dem Koran in die Moderne. Nicht
nur das Christentum hat seine Wiedertäufer und Reformer, 20 Die Diskussionen um biometrische Daten zeigen wenig
in: Die Zeit vom 22. 12. 1995, S. 25 f. Augenmaß. Die Verwendung des Fingerabdrucks könnte viel
19 Vgl. Georg Blume, Das Gift in den Köpfen, in: Die Zeit Missbrauch verhindern, ohne dass Grundrechte einge-
vom 31. 3. 1995, S. 14. schränkt werden.

Aus Politik und Zeitgeschichte B 44 / 2004 38


Paul Virilio Veræffentlichungen u. a.: Die çberwachte Stadt.
Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen
Philosoph, Architekt, Schriftsteller, Urbanist, geb.
2002; (zus. mit Walter Siebel) Úffentlichkeit und
1932; Begrçnder der Ecole d' Architecture Spciale,
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Paris; derzeit Planung und Organisation des
(2003); (zus. mit Henning Schmidt-Semisch) Exklu-
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dierende Toleranz, in: Bernd Dollinger/Wolfgang
Anschrift: c/o Editions Galile, 9 rue de Linn, 75005 Schneider (Hrsg.), Sucht als Prozess, Berlin (i. E.).
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E-Mail: editions.galilee@free.fr Wolfgang Hetzer
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Wahrnehmung, Mçnchen 1986; Information und Bundeskanzleramt, Berlin; Head of Unit ¹Intelli-
Apokalypse. Die Strategie der Tåuschung, Mçnchen gence: Strategic Assessment & Analysisª im Euro-
2000; Rasender Stillstand, Frankfurt/M. 2002; Ville pean Anti-Fraud Office (OLAF), Brçssel.
Panique. Ailleurs commence ici, Paris 2004.
Anschrift: OLAF, Rue Joseph II, 30, Office 03/109,
1000 Brçssel/Belgien.
Eckart Werthebach E-Mail: wolfgang.hetzer@cec.eu.int
Dr. jur., geb. 1940; von 1991 bis 1995 Pråsident des Zahlreiche Veræffentlichungen zu den Themen orga-
Bundesamtes fçr Verfassungsschutz; von 1995 bis nisierte Kriminalitåt, Geldwåsche, Wirtschaftsrecht,
1998 Staatssekretår im Bundesinnenministerium; Polizeirecht, Nachrichtendienste und Europåisches
von 1998 bis 2001 Bçrgermeister und Innensenator Strafrecht.
in Berlin; Mitglied der Task Force ¹Zukunft der Sicher-
heitª der Bertelsmann Stiftung. Wolf R. Dombrowsky
E-Mail: eckart.werthebach@t-online.de Dr. rer. soc., geb. 1948; Leiter der Katastrophenfor-
schungsstelle (KFS) an der Universitåt Kiel.
Zahlreiche Veræffentlichungen und Redebeitråge zur
Inneren Sicherheit und zur Innenpolitik. Anschrift: KFS, Christian-Albrechts-Universitåt, Ols-
hausenstraûe 40, 24098 Kiel.
E-Mail: Dombrowsky@kfs.uni-kiel.de
Christoph Gusy
Zahlreiche Veræffentlichungen zu Katastrophenfor-
Dr. jur., geb. 1955; Professor fçr Úffentliches Recht, schung, extremem Verhalten, Zivil- und Katastro-
Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Uni- phenschutz, Krieg und Terror.
versitåt Bielefeld.
Anschrift: Fakultåt fçr Rechtswissenschaft, Postfach
100131, 33501 Bielefeld. Nåchste Ausgabe
E-Mail: christoph.gusy@uni-bielefeld.de
Veræffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Privatisierung von Jochen Thies Essay
Staatsaufgaben: Kriterien ± Grenzen ± Folgen, Partner oder Konkurrent?
Baden-Baden 1998; (Hrsg.) Demokratisches Denken Die deutsch-amerikanischen Beziehungen
in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Poli- Josef Braml
zeirecht, Tçbingen 2003; (zus. mit Otto Backes) Wer Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat?
kontrolliert die Telefonçberwachung?, Frankfurt/M. Die Einschrånkung persænlicher Freiheitsrechte durch
u. a. 2003. die Bush-Administration
Ernst-Otto Czempiel
Jan Wehrheim Die Auûenpolitik der Regierung George W. Bush
Dr. rer. pol., geb. 1967; wissenschaftlicher Mitarbei- Jçrgen Wilzewski
ter im DFG-Projekt ¹Kontrolle und æffentlicher Die Bush-Doktrin, der Irakkrieg und die amerikani-
Raumª an der Universitåt Oldenburg; geschåftsfçh- sche Demokratie
render Redakteur des Kriminologischen Journals,
Stephan Bierling
Weinheim.
Die US-Wirtschaft unter George W. Bush
Anschrift: Carl von Ossietzky Universitåt Oldenburg,
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Fakultåt IV, Institut fçr Soziologie, AG Stadtfor-
Die Sozial- und Gesundheitspolitik der
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Paul Virilio Essay Jan Wehrheim
Die çberbelichtete Stadt Stådte im Blickpunkt Innerer Sicherheit
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 3± 4 Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 21 ± 27

n Seit den Anschlågen in den USA im September 2001 hat n Groûe Stådte gelten als Orte individueller Freiheit, abwei-
der ¹metropolitischeª Terrorismus den Krieg der Nationen chenden Verhaltens und sozialen Wandels. Urbanitåt zeich-
ersetzt. Insbesondere die zu ¹Megalopolenª verdichteten net sich durch die Ambivalenz von Verunsicherung und reiz-
Stådte sind die Achillesfersen unserer Zivilisation. Die Stan- voller, produktiver Vielfalt aus. In jçngerer Zeit noch
dardisierung der æffentlichen Meinung in der industriellen verstårkt durch die Thematisierung von Terrorismus, unter-
Øra wird durch die Synchronisierung einer æffentlichen liegen auch deutsche Stådte Tendenzen, formelle soziale
Emotion (Panik, Entsetzen) abgelæst, die in der Lage ist, die Kontrolle in vier Dimensionen zu intensivieren: Recht, Orga-
repråsentative Demokratie abzuschaffen und jede Institu- nisation, Technik und Symbolik. Zusammengenommen fçh-
tion zu gefåhrden. ren diese Verånderungen dazu, sozial marginalisierte Grup-
pen aus sozial bedeutungsvollen Råumen auszugrenzen
und Stådte sozialråumlich zu spalten. Sie gefåhrden
Eckart Werthebach dadurch das demokratische, emanzipatorische Potenzial der
Deutsche Sicherheitsstrukturen im Groûstådte.
21. Jahrhundert
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 5 ± 13
Wolfgang Hetzer
n Die fæderale Sicherheitsarchitektur Deutschlands trennt Europåische Strategien gegen Geldwåsche
nach wie vor strikt nicht nur die Aufgabenfelder Innere und und Terror
Øuûere Sicherheit, sondern auch den Schutz der Bevælke- Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 28 ± 32
rung vor kriegsbedingten Schadensfållen und friedensmåûi-
gen Katastrophen, obwohl eine existenzgefåhrdende militå- n Die Europåische Kommission hat am 30. Juni 2004 einen
rische Bedrohung durch andere Staaten faktisch nicht mehr Vorschlag fçr eine ¹Richtlinie des Europåischen Parlaments
besteht, wåhrend eine neue, asymmetrische durch den und des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsys-
internationalen Terrorismus entstanden ist. Angesichts die- tems zum Zwecke der Geldwåsche einschlieûlich der Finan-
ses Terrorismus neuen Typs werden fçr Deutschland ± åhn- zierung des Terrorismusª (3. Geldwåscherichtlinie ± 3.
lich wie in den USA ± neue unkonventionelle, kooperative GWRL) vorgelegt. Der seinerzeit zuståndige Kommissar fçr
Sicherheitsstrategien verlangt. Dennoch muss sich der den Binnenmarkt, Fritz Bolkestein, erklårte, dass der Kampf
Rechtsstaat treu bleiben und seine Grundprinzipien wahren. gegen Geldwåsche und Terrorismus fçr die Kommission von
Es zeichnet den Rechtsstaat aus, auch auf befçrchtete Ter- hæchster politischer Prioritåt sei. Verhçtung und Verfolgung
roranschlåge mit Augenmaû zu reagieren. von Geldwåsche haben græûte strategische Bedeutung. Ihr
praktischer Nutzen wird sehr viel hæher sein als der gegen-
wårtige ¹Krieg gegen Terrorª.
Christoph Gusy
Geheimdienstliche Aufklårung und
Grundrechtsschutz Wolf R. Dombrowsky
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 14 ± 20 Terrorismus und die Verteidigung des Zivilen
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 33 ± 38
n Der Staat, der alle Risiken ausschlieûen soll, muss alles
wissen, alles kænnen und alles dçrfen. Das wåre nicht nur n Die Zivilgesellschaft wird nicht vom Terror bedroht, son-
das Ende jeglicher Freiheit. Ein solcher Staat wçrde vielmehr dern von der Einschrånkung jener Rechte, die sie begrçn-
zur Quelle dessen, was er eigentlich ausschlieûen wollte: det. Die Universalitåt der Menschenrechte stellt einen
der Unsicherheit. Die jçngeren Diskussionen çber den inter- unteilbaren Wert dar, fçr den sich das allgemeine Teilnah-
nationalen Terrorismus haben die Perspektive einseitig auf merisiko einzugehen lohnt. Eine offene, freie Gesellschaft
die Risiken der Freiheit gelenkt. Dahinter tritt die andere und Rechtssicherheit auch gegençber dem Staat und seinen
Blickrichtung, nåmlich auf die Chancen einer Politik zur Her- Institutionen gibt es nicht umsonst, doch gåbe es sonst
stellung von Freiheit, vællig zurçck. Es geht darum, der auch keinen Unterschied zu Gesellschaften, die genau diese
Sicherheitspolitik eine Freiheitspolitik zur Seite zu stellen. Sie Privilegien mit Fçûen treten. Verteidigung des Zivilen kann
muss mehr zu bieten haben als Ûberwachungsmaûnahmen daher nur heiûen, sich von Terror nicht beeindrucken zu
und Grundrechtseingriffe. Eine notwendig mittel- bis lang- lassen, sondern eben die Freiheit zu leben, die er hinweg-
fristige Freiheitspolitik muss bei den Ursachen ansetzen, die bomben will.
Risiken wie etwa den Terrorismus hervorbringen. n

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