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Aus Politik
und Zeitgeschichte
3 Paul Virilio Essay
Die çberbelichtete Stadt
5 Eckart Werthebach
Deutsche Sicherheitsstrukturen im
21. Jahrhundert
14 Christoph Gusy
Geheimdienstliche Aufklårung und
Grundrechtsschutz
21 Jan Wehrheim
Stådte im Blickpunkt Innerer Sicherheit
28 Wolfgang Hetzer
Europåische Strategien gegen Geldwåsche
und Terror
33 Wolf Dombrowsky
Terrorismus und die Verteidigung des Zivilen
B 44/2004
Editorial Qualitåt. Die sich rasch entwi-
Herausgegeben von ckelnde RFID-Technologie (Radio
der Bundeszentrale n Der Terroranschlag von Madrid Frequency Identification) etwa
fçr politische Bildung im Mårz dieses Jahres hat die Dis- eræffnet neue Mæglichkeiten zur
Adenauerallee 86 kussion çber Konsequenzen aus Identifizierung und Kontrolle von
53113 Bonn. der verånderten Sicherheitslage Verdåchtigen. Die automatisierte
verschårft. Benætigt Deutschland Erfassung von Kærpermerkmalen
Redaktion: eine neue ¹Sicherheitsarchitek- und ihre digitale Verarbeitung
Dr. Katharina Belwe turª? Bislang konkurrieren die erlauben den raschen Zugriff auf
Dr. Hans-Georg Golz fæderal organisierten Verfassungs- eine Fçlle von Informationen.
(verantwortlich fçr diese Ausgabe) schutz- und Kriminalåmter mitein-
ander und blockieren sich nicht sel- n Viele Bçrgerinnen und Bçrger
Dr. Ludwig Watzal
ten gegenseitig. Die Innenminister scheinen in Zeiten terroristischer
Hans G. Bauer
von Bund und Låndern haben des- Bedrohungsångste Einschrånkun-
Telefon: (0 18 88) 5 15-0
halb im Juli 2004 beschlossen, eine gen der bçrgerlichen Freiheiten
Internet: bereitwillig in Kauf zu nehmen. In
gemeinsame Antiterrordatei des
www.bpb.de/publikationen/apuz britischen Stådten hat sich die
Bundesnachrichtendienstes, der
E-Mail: apuz@bpb.de Anzahl der Videoçberwachungska-
Verfassungsschutzbehærden und
Druck: der Polizei einzurichten. meras vervierfacht; nach einer EU-
Frankfurter Societåts-Druckerei GmbH, Studie befçrworten 90 Prozent der
n Die Grenzen zwischen Polizei- Briten solche Kameras an æffentli-
60268 Frankfurt am Main
und Geheimdienstarbeit sind chen Plåtzen. Nach einer Allens-
Vertrieb und Leserservice: bereits als Folge der Anschlåge bach-Erhebung vom April 2004
Die Vertriebsabteilung vom 11. September 2001 in den meinen 44 Prozent der Deutschen,
der Wochenzeitung , USA durchlåssiger geworden. Zwei dass die Sicherheitsvorkehrungen
Frankenallee 71 ± 81, Antiterrorpakete wurden verab- gegen Terroranschlåge nicht ausrei-
60327 Frankfurt am Main, schiedet, mit denen die Vorfeldbe- chen, und çber 60 Prozent wçn-
Telefon (0 69) 75 01-42 53, fugnisse der Behærden erheblich schen, dass die Bundeswehr im
Telefax (0 69) 75 01-45 02, ausgeweitet wurden. Die Geheim- Innern Polizei- und Grenzschutz-
E-Mail: parlament@fsd.de, dienste dçrfen bei Anbietern von aufgaben çbernimmt.
nimmt entgegen: Telekommunikationsleistungen, bei
* Nachforderungen der Beilage Fluggesellschaften und Kreditinsti- n Absolute Sicherheit kann es in
Aus Politik und Zeitgeschichte tuten personenbezogene Daten hoch entwickelten Gemeinwesen
* Abonnementsbestellungen der
abfragen. Mit Inkrafttreten des nicht geben. Die komplexe Ver-
Wochenzeitung
Zuwanderungsgesetzes im Januar kehrs- und Kommunikationsinfra-
einschlieûlich Beilage zum Preis
nåchsten Jahres werden Abschie- struktur bietet Terroristen eine Fçlle
von Euro 19,15 halbjåhrlich,
bungen Verdåchtiger erleichtert. von ¹weichen Zielenª. Mæglicher-
Jahresvorzugspreis Euro 34,90
Bis Ende 2005 wollen die EU- weise hilft gegen die terroristische
einschlieûlich Mehrwertsteuer;
Innenminister neue, biometrisch Bedrohung ± und gegen die ver-
Kçndigung drei Wochen vor Ablauf
durch Fingerbilder, Netzhautscan breiteten Ohnmachtsgefçhle ± nur
des Berechnungszeitraumes;
oder Gesichtserfassung abgesi- aktiver Bçrgersinn: wachsame
cherte Ausweispapiere einfçhren. Gelassenheit, sowie das Vorleben
* Bestellungen von Sammel- In den USA wird bereits jetzt von der Werte und die Wahrnehmung
mappen fçr die Beilage Einreisenden die Hinterlegung bio- der Grundrechte, gegen die islamis-
zum Preis von Euro 3,58 metrischer Kennzeichen verlangt; tische und andere Terroristen zu
zuzçglich Verpackungskosten, Fingerabdrçcke und Digitalfotos Felde ziehen und die in einem
Portokosten und Mehrwertsteuer. werden mit Daten mutmaûlicher ¹Gottesstaatª niemals gewåhrt
Die Veræffentlichungen Terroristen abgeglichen. werden wçrden. Dazu gehært das
in der Beilage n Datenschçtzer warnen indes vor Selbstbewusstsein, auch Veråch-
Aus Politik und Zeitgeschichte dem ¹glåsernen Bçrgerª. Der Ziel- tern der Freiheit die Mæglichkeiten
stellen keine Meinungsåuûerung konflikt zwischen Freiheit und Inne- nicht zu versagen, die der Rechts-
des Herausgebers dar; rer Sicherheit ist nicht neu. Bereits staat bietet. Denn Freiheitsbe-
sie dienen lediglich der in der ¹bleiernen Zeitª der alten schrånkungen ohne Humanitåt
Unterrichtung und Urteilsbildung. Bundesrepublik in den siebziger und Legalitåt, die pauschale Ver-
Fçr Unterrichtszwecke dçrfen Jahren kam es angesichts des RAF- dåchtigung von Minderheiten oder
Kopien in Klassensatzstårke Terrors zu Rasterfahndungen, und Maûnahmen innerer Militarisierung
hergestellt werden. das Delikt ¹Bildung einer terroristi- sind geeignet, die rechtsstaatliche
schen Vereinigungª wurde ins Demokratie zu schwåchen.
Strafgesetzbuch eingefçgt. Heute
ISSN 0479-611 X
verleihen Globalisierung und Digi-
talisierung der Debatte eine neue Hans-Georg Golz n
Paul Virilio
Nach dem Kalten Krieg und seiner erschrecken- Polen die althergebrachten Kriegsschauplätze
den Vernichtungsdrohung gegen die Städte scheint bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts schrittweise
es so, dass nun die Zeit der Kalten Panik vor verdrängt hat: vom Schlachtfeld in die Stadt, mit
einem Massenterror angebrochen ist, der das glei- vernichtenden Luftangriffen, die das „massive
che Unheil anzurichten vermag wie die alten inter- Attentat“, die größtmögliche Katastrophe gegen
nationalen Konflikte.1 die städtischen Ballungsräume zu Beginn des 21.
Jahrhunderts, bereits ahnen ließen.
Der postmoderne Krieg hat sich gewissermaßen
hyperkonzentriert – von den militärischen Daher verändert sich auch der Begriff der Verteidi-
Schlachtfeldern früherer Zeiten zu einer gegen die gung auf radikale Weise. Nach der militärischen
Städte gerichteten Strategie. Wie „die Welt der Verteidigung der Länder und der zivilen Verteidi-
Wirtschaft“ ist er zu einem Monopol geworden, in gung der Bevölkerung steht nun, so scheint es, eine
dem die frühere Geopolitik der Größe der Natio- neue Frage im Vordergrund: Neben die nationale
nen unerwartet einer Metro-Politik heimischen Sicherheit, die im Wesentlichen auf bewaffneten
Terrors Platz gemacht hat, eine permanente Streitkräften und der sozialen Sicherheit der Bürge-
Bedrohung, welche die unbewaffnete Bevölkerung rinnen und Bürger beruht – und die dort, wo sie
unterschiedslos trifft. noch existiert, bedroht und obendrein in einer
Reihe von Rechtsstaaten unterentwickelt ist –, tritt
De facto hat die geostrategische Ausdehnung ihre
die entscheidende Frage der Sicherheit der Mensch-
Bedeutung für militärische Aktionen verloren,
heit, welche die bisherige Bedeutung des Begriffs
und zwar zugunsten einer metro-strategischen
„Gemeinwohl“, das der Staat garantiert, erweitert.
Konzentration, in der die Unterscheidung zwi-
schen zivil und militärisch zu schwinden beginnt – Kürzlich hat es die frühere Hochkommissarin der
wie diejenige zwischen privat und öffentlich. Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Sadako
Daher rührt das Auftreten eines dritten Typus von Ogata, angedeutet: „Der 11. September hat bewie-
Konflikten: Nach dem „Bürgerkrieg“ und dem sen, dass kein Staat – sei er militärisch auch noch
„internationalen Krieg“ folgt nun der Krieg gegen so stark – seine Bürger zu schützen vermag, selbst
die Zivilisten. Darin liegt auch die wichtige politi- innerhalb der eigenen Grenzen nicht.“2 Angesichts
sche Bedeutung des Unterschiedes zwischen den dieser alarmierenden Feststellung, die nicht nur
Konsequenzen eines Katastrophenfalls (ob natürli- die Versuchung eines Nihilismus der Verteidigung
chen Ursprungs oder durch die Industrie verur- einführt – wie er in manchen nordischen Ländern
sacht) und eines „massiven Attentats“ (für das vor dem Zweiten Weltkrieg bestand –, sondern
Verantwortung übernommen oder das anonym auch einen Nihilismus des öffentlichen Raums, in
verübt wird). dem die Stadt das Epizentrum darstellen könnte,
Wir wohnen teilnahmslos dem Niedergang des ist es hilfreich, sich die historische Entwicklung
Nationalstaates bei, dem Ende des Monopols der der Streitkräfte vor Augen zu führen. Wurden
öffentlichen Gewalt, die durch den Staat ausgeübt Konflikte in der Zeit von Obstruktionswaffen
wird, zugunsten eines nach innen gerichteten Ter- (Festungsmauern und -bauten jeder Art) zunächst
rors, der nicht nur die Demokratie in hohem Maße in Form von Stellungskriegen ausgetragen, führte
bedroht, sondern auch die Republik und ihren die weitere Entwicklung zum Bewegungskrieg und
Rechtsstaat. Das erweiterte Europa wird diese am Ende zum Blitzkrieg, in dem Vernichtungswaf-
Fragen nicht lange unbeachtet lassen können. Sie fen die städtischen Befestigungsanlagen verdräng-
sind nicht mehr nur eindimensional politisch, son- ten. Das Aufkommen der Abschreckungsstrategie
dern „metro-politisch“, da die demographische hat unter der (relativen) Trägheit des Gleichge-
Konzentration der Bevölkerungen in den Mega- wichts des Schreckens mit der Verhinderung von
Schlachten nicht nur den Rüstungswettlauf und
Übersetzung aus dem Französischen von Nicole Maschler, die Proliferation gefördert, sondern vor allem die
Berlin. Der Titel des Originals lautet „La Ville Surexposée“.
1 Vgl. Paul Virilio, Ville panique. Ailleurs commence ici, 2 Zit. nach Philippe Pons, Das Plädoyer von Sadako Ogata
Paris 2004. für die humanitäre Sicherheit, in: Le Monde vom 6. 1. 2004.
Nach der Privatisierung der Energieversorgung Als Schlussfolgerung muss betont werden, dass
könnte jene des öffentlichen Raums fatalerweise sich – wenn die Interaktivität für den Informati-
nicht nur in die Professionalisierung der öffentli- onsbereich das ist, was die Radioaktivität für die
chen Gewalt münden, sondern in einen wahrhafti- Energieversorgung ist – die Abschreckung grund-
gen „Nihilismus der Verteidigung“, die nicht mehr legend verändern wird. Militärische oder zivile
so sehr den Eindringling beträfe, den erklärten Abschreckung? Es handelt sich nicht mehr nur um
Feind, wie es etwa die schwedische Bewegung „For- das Überschreiten der Geopolitik oder die Rück-
varsnihilism“ hoffte, als sie in den zwanziger Jahren kehr zur Belagerung, sondern um ein Vordringen
fragte: „Ist die Invasion unseres Territoriums durch an Grenzen, einen Aufstieg zu Extremen, die sich
ein anderes zivilisiertes Volk eine wirklich ernste Clausewitz nicht hatte vorstellen können.
Der internationale Terrorismus – eine globale, Bekämpfung des Terrorismus hat die Anschlagsge-
vielleicht sogar epochale Herausforderung – fahr auch in Deutschland erhöht.3 Diese Ein-
bedroht unsere Zivilisation. Die Terrorangriffe schätzung4 schärft den Blick auf den Status quo
vom 11. September 2001 und die zahlreichen ante: Vor den Ereignissen des 11. September 2001
Anschläge danach mit einer Vielzahl von Toten war Deutschland offenbar kein Angriffsziel für die
und Verletzten überall in der Welt verstärken die Planer islamistischer Terroranschläge. Überra-
Furcht vieler, unvermittelt und unvorbereitet schen kann dies nicht, zeigen doch nicht nur die
Opfer von Terrorakten zu werden. Sicherheitsana- Erkenntnisse aus dem Kaplan-Verfahren vor dem
lysen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, OLG Düsseldorf, sondern vor allem auch die
dass in Zukunft mit weiteren barbarischen terro- Aktionsfähigkeit der hier offenbar weitgehend
ristischen Angriffen zu rechnen ist.1
3 Der „Stellvertreter“ Osama bin Ladens, Aiman al-Zawa-
Die Dimension der terroristischen Bedrohung ist hiri, drohte in einer im Oktober 2002 veröffentlichten Ton-
neu. Die trotz der militärischen Überlegenheit bandaufzeichnung: „Wir haben einige Botschaften an Ame-
bestehende Verletzlichkeit freiheitlicher Staaten rikas Verbündete geschickt, damit diese ihre Beteiligung an
dessen Kreuzzug beenden. Die kämpfende Jugend hat eine
und die Schutzlosigkeit ihrer Bürger werden offen- Botschaft an Deutschland und eine an Frankreich geschickt.
bar. Die militärische Abschreckung versagt, da es Wenn das nicht ausreicht, kann die Dosis erhöht werden.“ Er
sich nicht um Angriffe selbständiger Völkerrechts- nahm offenbar Bezug auf den Terroranschlag auf der Insel
subjekte, sondern um vernetzte Tätergruppen oder Djerba am 11. 4. 2002, bei dem 21 Touristen, darunter 14
Deutsche, getötet wurden. Am 12. 11. 2002, am 13. 7. 2003,
Einzeltäter aus unterschiedlichen Herkunftslän- am 17. 11. 2003 und im März 2004 wurden von bin Laden und
dern handelt.2 Gegenüber Attentätern, die ihren anderen Aktivisten der Al Qaida weitere Terroranschläge
Tod in Kauf nehmen oder ihren Körper als Waffe angedroht; teilweise wurden die Ankündigungen mit der
einsetzen, bleiben die general- und spezialpräven- Forderung verknüpft, die Europäer sollten bis zum 15. 7. 2004
die muslimischen Länder verlassen haben. Ende August 2004
tiven Mechanismen des Strafrechts (Entdeckungs- erneuerten die Abu-Hafs-al-Masri-Brigaden, die nach eige-
risiko, Angst vor Strafe) wirkungslos. Kein Staat nen Angaben der Al Qaida nahe stehen, unter Hinweis auf
darf es zulassen, dass sein Volk terroristischen den Anschlag in Madrid vom 11. 3. 2004 auf einer Internet-
Angriffen schutzlos ausgeliefert und er damit seite die Drohungen gegen die europäischen Staaten.
4 Nach dem 11. 9. 2001 sind von islamistischen Terroristen
erpressbar wird. Vorrangiges Ziel muss es sein, u. a. folgende Anschläge begangen worden: 11. 4. 2002: 21
bereits die Vorbereitung terroristischer Anschläge Touristen, darunter 14 Deutsche, werden bei einem Anschlag
so frühzeitig zu erkennen, dass sie verhindert wer- auf der tunesischen Insel Djerba getötet, 29 Personen ver-
den können. Die Anstrengungen von Politik und letzt; 8. 5. 2002: In Karatschi werden bei einem Bomben-
anschlag auf einen französischen Militärbus 11 Menschen ge-
Administration sind mithin auf die Abwehrstrate- tötet; 12. 10. 2002: Im Ferienort Kuta Beach auf Bali/
gien zu konzentrieren, die auf eine effektive Prä- Indonesien werden durch einen Bombenanschlag 202 Men-
vention gerichtet sind. Gleichzeitig muss aber auch schen, überwiegend Touristen, getötet; 28. 11. 2002: In Mom-
die notwendige Sicherheitsvorsorge getroffen wer- basa/Kenia werden durch einen Selbstmordanschlag 13 Men-
schen getötet und 80 verletzt; der Versuch, eine vollbesetzte
den, um der Bevölkerung im Ereignisfall größt- israelische Passagiermaschine mit einer Boden-Luft-Rakete
möglichen Schutz zu gewährleisten. abzuschießen, misslingt; 12. 5. 2003: In Riad/Saudi-Arabien
explodieren drei Autobomben in einem Ausländerwohnge-
Im Zielspektrum islamistischer Terroristen stehen biet; dabei sterben 35 Menschen; 16. 5. 2003: In Casablanca/
vor allem die USA, Großbritannien und Israel Marokko kommen bei Sprengstoffanschlägen auf aus-
sowie deren Einrichtungen im Ausland. Das mili- ländische und jüdische Einrichtungen über 44 Menschen ums
Leben; 7. 6. 2003: In Kabul/Afghanistan werden bei einem
tärische Engagement Deutschlands bei der Selbstmordanschlag auf einen Bundeswehr-Bus vier Men-
schen getötet; 8. 11. 2003: In Riad/Saudi-Arabien sterben bei
1 Vgl. The 9/11 Commission Report: „Alle Experten, mit einem Selbstmordanschlag auf eine Wohnanlage für Aus-
denen wir gesprochen haben, haben uns versichert, gegen- länder 18 Menschen; 15. 11. 2003: In Istanbul sterben bei
wärtig sei ein Angriff von noch größerem Ausmaß möglich – Selbstmordanschlägen in den Stadtteilen Beyoglu und Sisli 25
und sogar wahrscheinlich.“ Zit. nach Cicero. Magazin für po- Menschen; 11. 3. 2004: In Madrid werden bei drei Bomben-
litische Kultur, 1 (2004) 9, S. 50. anschlägen auf Züge des morgendlichen Berufsverkehrs 200
2 Vgl. Werner Weidenfeld, Für ein System kooperativer Si- Menschen getötet und 1400 verletzt; 29. 3. 2004: In Chobar/
cherheit, in: ders. (Hrsg.), Herausforderung Terrorismus – Saudi-Arabien stürmen Terroristen Wohnblöcke westlicher
Die Zukunft der Sicherheit, Wiesbaden 2004, S. 11 f. Firmen; dabei sterben 22 Menschen.
5 Vgl. Eckart Werthebach, Idealtypische Organisation in- 6 So heißt es zu Beginn der Empfehlungen für die Be-
nerer und äußerer Sicherheit, in: Christian Leggemann/Kai hördenstruktur: „Wir treten für umfassende Veränderungen
Hirschmann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus, der Organisation des Staatsapparates ein.“ Zit. nach Cicero
Berlin 2003, S. 339 –345. (Anm. 1), S. 52.
Die tragischen Ereignisse des 11. September 2001 Doch sind Freiheits- und Schutzauftrag unter-
haben möglicherweise nicht alles, wohl aber schiedlich und vielfach gegenläufig. Sicherheit ist
Sicherheitsdiskurse und das Sicherheitsrecht die Abwesenheit von Risiken; Freiheit hingegen
erheblich verändert. Statt der Alltagsfragen von verursacht und steigert Risiken. Die „Staatsauf-
zero tolerance erscheinen die Ausnahmeereignisse gabe Freiheit“ individualisiert Entscheidungszu-
des internationalen Terrorismus als neue Paradig- ständigkeiten; die „Staatsaufgabe Sicherheit“ kol-
mata der Diskussion. Damit stellt sich der Rechts- lektiviert sie. Hier kann und soll diese allgemeine
wissenschaft und den Juristen das ewige Thema Diskussion nicht ein weiteres Mal geführt werden.
der Zuordnung von Freiheit und Sicherheit ein Doch kann festgehalten werden: Die staatsphiloso-
weiteres Mal – unter neuen Vorzeichen.1 phischen und sozialwissenschaftlichen Erörterun-
gen haben das Argumentationsniveau erheblich
gesteigert. Doch haben sie nicht zu politisch oder
juristisch unmittelbar operationalisierbaren Ansät-
Freiheit und Sicherheit als zen geführt, welche gesetzlich oder gerichtlich in
Staatszwecke konkrete Entscheidungen umgegossen werden
können. Das gilt erst recht unter den Bedingungen
des modernen, demokratisch und rechtsstaatlich
Rechtsschutz und Rechtsgüterschutz sind essen- konzipierten Verfassungsstaates. Hier ist nach wie
zielle Legitimationsgrundlagen und Aufgaben des vor das Element der Entscheidung unabweisbar.
Staates. So unbestritten dieser Befund von den Im Folgenden sollen die rechtlichen Rahmenbe-
ältesten bis zu den modernsten Staatstheorien ist, dingungen solcher Entscheidungen dargestellt und
so hat er doch nur ganz vereinzelt Aufnahme in diskutiert werden.
Verfassungsdokumente gefunden. Hingegen hat
Eine notwendige Vorfrage soll wenigstens ange-
die Freiheit seit der Befriedung der „alten“ Bür-
schnitten werden: Wofür brauchen wir eigentlich
gerkriege als weiterer Staatszweck ihren Platz
Nachrichtendienste? Einerseits ist festzuhalten,
nicht nur in zahlreichen Staatstheorien, sondern
dass es in nahezu allen Staaten der Welt vergleich-
auch in den meisten Verfassungen erlangt. Auf
bare Behörden gibt, die mehr oder weniger von
diese Weise nehmen beide Ziele einen je verschie-
der Polizei abgesondert sind. Andererseits ist fest-
denen Status ein: „Sicherheit“ ist Verfassungsvor-
zustellen, dass das spezifisch deutsche System
aussetzung, „Freiheit“ ist Verfassungsinhalt.
strikt getrennter Polizei- und Nachrichtendienste
1 Vgl. zu meinen Ausführungen folgende Literatur: Chris-
in Europa nirgends auch nur in annähernd ver-
tian Calliess, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit gleichbarer Form besteht. Warum diese Besonder-
im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsver- heit? Historisch sind die Entstehungsbedingungen
ständnisse, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 17 (2003), S. 1096; eindeutig: Die Besatzungsmächte und die Verfas-
Erhard Denninger, „Streitbare Demokratie“ und Schutz der
Verfassung, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans Jochen
sungsväter und -mütter wollten eine Zusammen-
Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1984, S. 1293; ballung von Sicherheitsaufgaben und -befugnissen
Christoph Gusy, Die Gewährleistung von Freiheit und Si- bei einzelnen Behörden verhindern. Zu sehr erin-
cherheit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deut- nerte sie dies an die unselige nationalsozialistische
schen Staatsrechtslehrer, 63 (2004), S. 151; ders., Rechts-
güterschutz als Staatsaufgabe – Verfassungsfragen der
Vergangenheit.
„Staatsaufgabe Sicherheit“, in: Die öffentliche Verwaltung,
49 (1996), S. 573; ders., Vom Polizeirecht zum Sicherheits-
Gegenwärtig dominieren andere Antworten: Es
recht, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 5 (1994), S. 187; geht um Zweckmäßigkeitsfragen, Aufgabenab-
ders., Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in grenzung und Ermittlungsbefugnisse. Die Polizei
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Ar- ist in ihren Aufgaben begrenzt: Sie darf nur tat-
chiv des öffentlichen Rechts, 105 (1980), S. 279; Fredrik
Roggan, Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, Bonn
sächlichen Anhaltspunkten für Gefahren bzw. dem
2003; Uwe Volkmann, Sicherheit und Risiko als Probleme des Verdacht einer Straftat nachgehen. Sie ist also auf
Rechtsstaats, in: Juristenzeitung, 59 (2004), S. 696. rechtswidrige Handlungen beschränkt und darf
„Stadtluft macht frei!“ Mit dieser Freiheit ist heut- sozial fernstehender Personen.“1 Die Koexistenz
zutage nicht mehr gemeint, sich aus feudalen unterschiedlicher Individuen und heterogener
Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen und Bürger- sozialer und kultureller Gruppen und damit die
rechte zu erhalten. Heute steht im Vordergrund, Koexistenz unterschiedlicher Normen verlangen
durch den Umzug in eine Großstadt seine Vergan- Anpassungsleistungen von den Individuen und
genheit hinter sich lassen zu können, an einen Ort permanente Aushandlungsprozesse darüber, was
zu ziehen, an dem einen niemand kennt, an dem tolerabel ist und wo die Abweichung des einen die
man sich als Person neu in Szene setzen, neu ent- Individualität des anderen einschränkt oder gar
werfen kann. Die Möglichkeit, in der Großstadt gefährdet. Die Individuen müssen positive Tole-
nur einen Ausschnitt seiner Persönlichkeit preisge- ranz erlernen oder aber sich mental von ihrer
ben zu können, macht die städtische Freiheit aus. Umwelt abschotten, um nicht von der Vielfalt der
Doch diese Freiheit, die sich im emphatischen Bild Reize überfordert zu werden, denn „Urbanität ist
des für alle zugänglichen öffentlichen Raums kris- nichts als die überlegende Unfähigkeit, sich über
tallisiert, erscheint in jüngerer Zeit durch neue die schlechten Manieren des anderen zu ärgern“2.
Formen sozialer Kontrolle gefährdet. Diese beiden Integrationsmechanismen prägen die
urbane Ordnung.
Die Großstadt zeichnet sich aber nicht nur durch
individuelle Freiheiten aus, sie ist auch Ort sozia-
Ambivalente Urbanität len Wandels. Sie macht den Kontakt mit Fremden
wahrscheinlich, und es ist dieser Fremde, der
„objektive“ Beobachter, der eingefahrene Nor-
Größe, Dichte und Heterogenität konstituieren men, Institutionen und Rituale hinterfragen und
eine Großstadt. Sie bringen untrennbar positive Wandel initiieren kann. Konkurrierende Normen,
und negative Seiten hervor, die gleichzeitig anzie- Abweichungen vom Durchschnitt, Hinterfragen
hend und abstoßend, produktiv und verängstigend des Status quo, Krise statt Routine, Vielfalt statt
wirken. Die meist negativ konnotierten Begriffe Homogenität sind grundlegende Bestandteile von
Anonymität und Abweichung charakterisieren Veränderungen und von zivilisatorischem Fort-
diese Ambivalenz von Urbanität am besten: Die schritt.
Großstadt befreit aus den rigiden informellen
Kontrollen dörflicher Nachbarschaft. Man ist Im Folgenden sollen zunächst verschiedene Ent-
unbekannt und bleibt dies auch überwiegend, wicklungen auf dem Feld der Inneren Sicherheit
wenn man sich durch die Stadt bewegt. Die Ano- nachgezeichnet werden, mit denen in die urbane
nymität der Großstadt ist die Voraussetzung für Ordnung interveniert wird, um anschließend auf
die Freiheit zur Abweichung. Anonymität und deren Hintergründe und Folgen einzugehen.
schwächere Kontrollen erlauben es beispielsweise,
sich ausgefallener zu kleiden oder für randstän-
dige politische Positionen zu engagieren. Sie
erlauben es, wenig reputierliche Orte aufsuchen Überwachen und Ausgrenzen
zu können, seien es soziale Beratungsstellen oder
Sexshops, ohne befürchten zu müssen, dass am
nächsten Tag alle Welt dem Klatsch frönt. Die Maßnahmen Innerer Sicherheit und deren Insze-
Großstadt ermöglicht deviantes Verhalten, ohne nierungen, wie sie derzeit nach US-amerikani-
dass man per se Sanktionen oder Stigmatisierung schem und britischem Vorbild in deutschen Städ-
fürchten muss – dies macht ihren besonderen
1 Pierre Bourdieu, Ortseffekte, in: Albrecht Göschel/Vol-
Charakter aus. ker Kirchberg (Hrsg.), Kultur in der Stadt, Opladen 1998,
S. 24.
Damit sind zugleich die Schattenseiten der Urba- 2 So Stendhal (1783–1842), zit. nach Walter Siebel, Wesen
nität angesprochen: „Nichts ist unerträglicher als und Zukunft der europäischen Stadt, in: DISP, 141 (2000) 2,
die als Promiskuität empfundene physische Nähe S. 28 –34, hier: S. 32.
Die Europäische Kommission hat am 30. Juni 2004 die Einbeziehung des Waschens von Erlösen aus
einen Vorschlag für eine „Richtlinie des Europä- schweren Straftaten, die beträchtliche Erträge her-
ischen Parlaments und des Rates zur Verhinderung vorbringen und mit einer langen Freiheitsstrafe
der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der geahndet werden können. Die Finanzierung des
Geldwäsche einschließlich der Finanzierung des Terrorismus war bislang nicht ausdrücklich
Terrorismus“ (3. Geldwäscherichtlinie – 3. GWRL) genannt. Die Mitgliedstaaten sind aber der Auf-
vorgelegt.1 Der seinerzeit zuständige Kommissar fassung, dass alle Straftaten im Zusammenhang
für den Binnenmarkt, Fritz Bolkestein, erklärte, mit der Finanzierung des Terrorismus als „schwere
dass der Kampf gegen Geldwäsche und Terroris- Straftaten“ gelten.
mus für die Kommission höchste politische Priori-
tät genieße. Seit dem Erlass der ersten Geldwäsche-
richtlinie im Jahr 1991 habe die Europäische
Gemeinschaft bei den internationalen Bemühun- Strategien
gen zur Verhinderung des Waschens von Erlösen
aus Straftaten an vorderster Front gestanden. Mas-
sive Ströme „schmutzigen“ Geldes könnten der Der Europäische Rat erklärte am 21. September
Stabilität des Finanzsektors schaden und den Bin- 2001, dass der Terrorismus eine „wirkliche Heraus-
nenmarkt gefährden, während der Terrorismus die forderung für die Welt und Europa“ bedeute und
Grundfesten unserer Gesellschaft erschüttere. Die dass seine Bekämpfung eines der vorrangigen
Neufassung der vierzig Empfehlungen der Finan- Ziele der EU sein werde. Wenige Tage später ver-
cial Action Task Force (FATF) vom Juni 2003 habe abschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten
den internationalen Standard bei der Bekämpfung Nationen die Resolution 1373, in der bekräftigt
der Geldwäsche erhöht und den Geltungsbereich wurde, dass terroristische Handlungen eine Bedro-
auf die Terrorismusfinanzierung ausgedehnt. Die 3. hung des Friedens und der Sicherheit darstellen.
GWRL müsse diesem Standard gerecht werden Der Rat versicherte am 8. Oktober 2001, dass die
und seine Anwendung in der erweiterten Europä- Union und ihre Mitgliedstaaten an der globalen
ischen Union (EU) gewährleisten. Der Vorschlag Koalition gegen den Terrorismus unter der Ägide
ist dem Europäischen Parlament und dem Minister- der Vereinten Nationen teilnehmen werden und in
rat im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens enger Abstimmung mit den USA gegen die
zur Annahme vorgelegt worden. Die Niederlande, Finanzquellen des Terrorismus vorgehen wollen.
die vom Juli bis Dezember 2004 den Vorsitz im Rat Dies sollte insbesondere durch eine Verstärkung
haben, wollen dem Vorschlag für die 3. GWRL der Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen
Priorität einräumen. geschehen, die für die Terrorismusbekämpfung
zuständig sind: Europol, Eurojust, Nachrichten-
Mit der ersten Geldwäscherichtlinie waren die und Polizeidienste sowie die Justizbehörden.
Mitgliedstaaten verpflichtet worden, Geldwäsche Im „Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom
von Erlösen aus Drogenstraftaten zu untersagen 27. Dezember 2001 über die Bekämpfung des Ter-
und dafür zu sorgen, dass in den nationalen rorismus“2 wird erklärt, dass die vorsätzliche Be-
Finanzsektoren die Identität der Kunden festge- reitstellung oder Sammlung von Geldern durch
stellt wird, dass Belege aufbewahrt, interne Kon- Staatsangehörige oder im Hoheitsgebiet der Mit-
troll- und Mitteilungsverfahren eingeführt und den gliedstaaten der EU mit der Absicht, diese zur
Behörden Transaktionen gemeldet werden, die auf Ausführung terroristischer Handlungen zu ver-
Geldwäsche hindeuten. Die Beschränkung auf wenden, unter Strafe gestellt wird. Gelder und
Drogenstraftaten erwies sich bald als zu eng. Mit sonstige Vermögenswerte oder wirtschaftliche
einer Änderungsrichtlinie (2001/97/EG) erfolgte
2 Amtsblatt der Europäischen Union (ABl.) L 344 vom
1 Kommissionsvorschlag (KOM) (2004) 448 endg. 28. 12. 2001, S. 90.
7 ABl. C 326 vom 21. 11. 2001, S. 1. 8 ABl. C 124 vom 3. 5. 2000, S. 1.
Was das „Alte Europa“ von Anbeginn argwöhnte, funktionierender Staat in die Wüste gebombt, aus
bestätigen nun nicht nur der Geheimdienstaus- Gründen, die nicht stichhaltig waren, und ohne
schuss des Kongresses der Vereinigten Staaten von Aussicht auf Erbauliches. Die für den Wiederauf-
Amerika und der Abschlussbericht der UN-Waf- bau vorgesehenen Gelder werden von der allge-
feninspekteure, sondern auch die CIA: Massenver- meinen nationalen Destruktion verschlungen, in
nichtungswaffen konnten im Irak nicht gefunden die sich das Gegeneinander von Interessen, Eth-
werden. Die seinerzeit präsentierten „Quellen“ nien und Mörderbanden aufgelöst hat. Saudi-Ara-
erwiesen sich als Täuschungen.1 bien dagegen, dessen ultrafundamentale Eiferer
von Wahabiten und Salafiten den internationalen
Wäre dieser „Ring der Vernebelungen“ nur ein
Terrorismus nachweislich finanzieren, ist, im
Politthriller2 gewesen, könnte man mit den Schul-
Gegensatz zum Irak Saddam Husseins, als Verbün-
tern zucken. Dabei wünschte man sich, dass es
deter nicht in Ungnade gefallen. Auf der nach
beim globalen „War on Terror“ wirklich darum
unten offenen Skala der Menschenrechtsverletzun-
ginge, wofür gekämpft und gestorben wird: um die
gen gilt kein Maß mehr, seit die Befreier, wenn es
Verteidigung des Zivilen, um Demokratie und
opportun ist, ähnlich zu wüten scheinen wie die
Menschenrechte, um Freiheit und Wohlstand,
Despoten, derer sie sich entledigen wollten.
kurz, um eine friedlichere, bessere Welt, wenigs-
tens eine ohne Terror. Die Reaktionen auf den 11. Dabei entstammt doch die Moral der westlichen
September 2001 haben die Erreichbarkeit dieses Zivilisation ausgerechnet dem Kampf gegen
Ziels suggeriert: Die Anschläge mobilisierten die Despotie und Willkür, samt ihrem vornehmsten
Amerikaner vor allem moralisch, vergleichbar nur Grundsatz: der Gleichheit aller vor Gesetz und
ihrer Mobilisierung durch Pearl Harbor 1941. Wie- Recht. Was ist passiert, dass diese Zivilisation ihre
der sollte ein Krieg von Terror befreien, von Regi- wertvollsten Erbschaften, vom Westfälischen Frie-
men, die mit Füßen treten, was der Nation von den über die Menschenrechte bis zur Charta der
1787 heilig ist und seitdem Modell steht für die Vereinten Nationen, preiszugeben droht aufgrund
westliche Zivilisation. des Handelns einer unheiligen Allianz aus Gedan-
kenlosen, die an gar nichts mehr glauben, und
Doch Osama Bin Laden und Al-Qaida existieren fanatisch Glaubenden, die zu wenig denken? Muss
fort, auch wenn Afghanistans Berge von moderns- man den unvermeidbaren Fall großer Mächte, gar
ten Ortungswaffen durchlöchert sind. Die Taliban den Untergang des Abendlandes befürchten?3
wurden aus Kabul verjagt – zugunsten ihrer Vor-
gänger, die sich mit westlichen Hilfen wieder
bewaffnen, um alsbald jenen Staat beseitigen zu
können, der nicht der ihre ist, sondern den der
Westen zu seiner eigenen Beruhigung als demo- Zeitenwende „9/11“?
kratische Staatenbildung inszeniert, samt einer
Wahl, bei der das Wahlvolk kaum weiß, was Wäh-
len bedeutet. Wer über die Verteidigung des Zivilen schreibt,
läuft Gefahr, den entschiedenen Gutmenschen
Mit dem Irak verfuhr die westliche Zivilisation in geben zu wollen, der sich, gleich Nathan dem Wei-
umgekehrter Weise. Statt „nation building“ wurde sen, zum Mediator zwischen widerstreitenden Kul-
ein für vormoderne Verhältnisse erstaunlich gut turen macht, zugleich aber auch Grenzen zieht
und ein Politikverständnis propagiert, wie es einst
1 Die obskure Rolle Achmed Chalabis für die amerika- die Gralshüter der wehrhaften Demokratie ver-
nische Irak-Politik ohne Beteiligung von Irakern ist vielfach
kritisiert worden: vgl. David L. Phillips, Pentagon’s postwar fochten, als sie, mit dem Grundgesetz unter dem
fiasco coming full-circle?, in: The Christian Science Monitor
vom 24. 5. 2004 (www.csmonitor.com/2004/0524/p09s02- 3 Vgl. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte.
coop.html), sowie Seymor Hersh, Selective Intelligence, in: Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500
The New Yorker vom 19. 9. 2004 (www.newyorker.com/fact/ bis 2000, Hamburg 1989, und Oswald Spengler, Der Unter-
content/?030512fa_fact). gang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
2 Vgl. Bob Woodward, Der Angriff, München 2004. Weltgeschichte, München 1963 (Orig. 2 Bde., 1918 –1922).
4 Vgl. Reaktionen auf das Kopftuchverbot in Frankreich: 6 Vgl. Stefanie Dornschneider, Guantanamo darf kein Nie-
Gesche Wüpper, Moslem oder nicht – wir sind alle Franzosen, mandsland mehr sein. Das amerikanische Verfassungsgericht
in: Welt am Sonntag vom 5. 9. 2004, S. 12. setzt George Bushs Krieg gegen den Terror Grenzen, in: Die
5 „Wir werden auf ihren Gräbern tanzen“. Spiegel-Serie Zeit vom 29. 6. 2004.
über die Hintergründe der Terror-Anschläge vom 11. Sep- 7 Vgl. Bassam Tibi, Grenzen der Toleranz, in: Welt am
tember, in: Der Spiegel, Nr. 48 vom 26. 11. 2001, S. 140 –146. Sonntag vom 5. 9. 2004, S. 14.
8 Vgl. Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das 12 Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, hrsg. von Klaus
BKA, Hamburg 1998, S. 113. Bochmann/Wolfgang Fritz Haug, Hamburg – Berlin 1991 ff.;
9 Ich stütze mich auf die Forschungen von Dieter Claessens, zusammengefasst bei Theo Votsos, Der Begriff der Zivilge-
Instinkt, Psyche, Geltung. Zur Legitimation menschlichen sellschaft bei Antonio Gramsci: Ein Beitrag zu Geschichte
Verhaltens, Köln – Opladen 1970. und Gegenwart politischer Theorie, Hamburg – Berlin 2001.
10 Martin und Sylvia Greiffenhagen, Deutschland und die 13 „Die moderne Staatsgewalt“, so Friedrich Engels im
Zivilgesellschaft, in: Auf dem Wege zur Zivilgesellschaft, 49 „Manifest der Kommunistischen Partei“, „ist nur ein Aus-
(1999) 3, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung schuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen
Baden-Württemberg (www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/3_99/ Bourgeoisklasse verwaltet.“ Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Ber-
zivil2.htm, einges. am 10. 9. 2004). lin (Ost) 1974, S. 459 –493.
11 Vgl. den Forschungsschwerpunkt „Zivilgesellschaft, 14 Roosevelts „New Deal“ war diese historische Al-
Konflikte und Demokratie“ des Wissenschaftszentrums Ber- ternative. Sie zielte auf einen anderen „Staat“, ein anderes
lin. „Recht“ und einen anderen Umgang mit Minderheiten als
n Seit den Anschlågen in den USA im September 2001 hat n Groûe Stådte gelten als Orte individueller Freiheit, abwei-
der ¹metropolitischeª Terrorismus den Krieg der Nationen chenden Verhaltens und sozialen Wandels. Urbanitåt zeich-
ersetzt. Insbesondere die zu ¹Megalopolenª verdichteten net sich durch die Ambivalenz von Verunsicherung und reiz-
Stådte sind die Achillesfersen unserer Zivilisation. Die Stan- voller, produktiver Vielfalt aus. In jçngerer Zeit noch
dardisierung der æffentlichen Meinung in der industriellen verstårkt durch die Thematisierung von Terrorismus, unter-
Øra wird durch die Synchronisierung einer æffentlichen liegen auch deutsche Stådte Tendenzen, formelle soziale
Emotion (Panik, Entsetzen) abgelæst, die in der Lage ist, die Kontrolle in vier Dimensionen zu intensivieren: Recht, Orga-
repråsentative Demokratie abzuschaffen und jede Institu- nisation, Technik und Symbolik. Zusammengenommen fçh-
tion zu gefåhrden. ren diese Verånderungen dazu, sozial marginalisierte Grup-
pen aus sozial bedeutungsvollen Råumen auszugrenzen
und Stådte sozialråumlich zu spalten. Sie gefåhrden
Eckart Werthebach dadurch das demokratische, emanzipatorische Potenzial der
Deutsche Sicherheitsstrukturen im Groûstådte.
21. Jahrhundert
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 5 ± 13
Wolfgang Hetzer
n Die fæderale Sicherheitsarchitektur Deutschlands trennt Europåische Strategien gegen Geldwåsche
nach wie vor strikt nicht nur die Aufgabenfelder Innere und und Terror
Øuûere Sicherheit, sondern auch den Schutz der Bevælke- Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 28 ± 32
rung vor kriegsbedingten Schadensfållen und friedensmåûi-
gen Katastrophen, obwohl eine existenzgefåhrdende militå- n Die Europåische Kommission hat am 30. Juni 2004 einen
rische Bedrohung durch andere Staaten faktisch nicht mehr Vorschlag fçr eine ¹Richtlinie des Europåischen Parlaments
besteht, wåhrend eine neue, asymmetrische durch den und des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsys-
internationalen Terrorismus entstanden ist. Angesichts die- tems zum Zwecke der Geldwåsche einschlieûlich der Finan-
ses Terrorismus neuen Typs werden fçr Deutschland ± åhn- zierung des Terrorismusª (3. Geldwåscherichtlinie ± 3.
lich wie in den USA ± neue unkonventionelle, kooperative GWRL) vorgelegt. Der seinerzeit zuståndige Kommissar fçr
Sicherheitsstrategien verlangt. Dennoch muss sich der den Binnenmarkt, Fritz Bolkestein, erklårte, dass der Kampf
Rechtsstaat treu bleiben und seine Grundprinzipien wahren. gegen Geldwåsche und Terrorismus fçr die Kommission von
Es zeichnet den Rechtsstaat aus, auch auf befçrchtete Ter- hæchster politischer Prioritåt sei. Verhçtung und Verfolgung
roranschlåge mit Augenmaû zu reagieren. von Geldwåsche haben græûte strategische Bedeutung. Ihr
praktischer Nutzen wird sehr viel hæher sein als der gegen-
wårtige ¹Krieg gegen Terrorª.
Christoph Gusy
Geheimdienstliche Aufklårung und
Grundrechtsschutz Wolf R. Dombrowsky
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 14 ± 20 Terrorismus und die Verteidigung des Zivilen
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 44/2004, S. 33 ± 38
n Der Staat, der alle Risiken ausschlieûen soll, muss alles
wissen, alles kænnen und alles dçrfen. Das wåre nicht nur n Die Zivilgesellschaft wird nicht vom Terror bedroht, son-
das Ende jeglicher Freiheit. Ein solcher Staat wçrde vielmehr dern von der Einschrånkung jener Rechte, die sie begrçn-
zur Quelle dessen, was er eigentlich ausschlieûen wollte: det. Die Universalitåt der Menschenrechte stellt einen
der Unsicherheit. Die jçngeren Diskussionen çber den inter- unteilbaren Wert dar, fçr den sich das allgemeine Teilnah-
nationalen Terrorismus haben die Perspektive einseitig auf merisiko einzugehen lohnt. Eine offene, freie Gesellschaft
die Risiken der Freiheit gelenkt. Dahinter tritt die andere und Rechtssicherheit auch gegençber dem Staat und seinen
Blickrichtung, nåmlich auf die Chancen einer Politik zur Her- Institutionen gibt es nicht umsonst, doch gåbe es sonst
stellung von Freiheit, vællig zurçck. Es geht darum, der auch keinen Unterschied zu Gesellschaften, die genau diese
Sicherheitspolitik eine Freiheitspolitik zur Seite zu stellen. Sie Privilegien mit Fçûen treten. Verteidigung des Zivilen kann
muss mehr zu bieten haben als Ûberwachungsmaûnahmen daher nur heiûen, sich von Terror nicht beeindrucken zu
und Grundrechtseingriffe. Eine notwendig mittel- bis lang- lassen, sondern eben die Freiheit zu leben, die er hinweg-
fristige Freiheitspolitik muss bei den Ursachen ansetzen, die bomben will.
Risiken wie etwa den Terrorismus hervorbringen. n