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Wolfgang Cernoch

KULTURPHILOSOPHIE UND POLITIK


ZUR GESCHICHTLICHKEIT DER ZEIT UND DER
GESCHICHTLICHKEIT IN DER ZEITWAHRNEHMUNG.
VON DER TRANSZENDENTALEN ZEITBEDINGUNG ZUM
ZEITINHALT IN DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE

Wien 2006
2

Vorbemerkung

In der Einleitung wird die transzendentale Anthropologie zwischen Kultur-


und Naturwesen des Menschen systematisch in die Geschichtlichkeit des
Daseins (im Sinne Kants schließlich Publizistik) eingespannt, und der
gesamte Fragekreis von hier aus aufgespannt. Die bereits im Ursprung des
philosophischen Fragens in der Rückwendung auf den Menschen selbst sich
abzeichnenden Schwierigkeiten, wollte man aus dem Unbekannten, das wir
uns selbst sind, ein absolutes Fundament destillieren, um unser mögliches
Gattungswesen vollständig und gewiss zu unserem Besitz zu machen, auf
daß wir unsere historische Erfahrung zur Ausgestaltung unseres Daseins
und unserer Gesellschaft gar nicht mehr benötigen, zwingen zur
Transformation der metaphysisch indizierten Fragestellung zur Offenheit
einer transzendentalen Fragestellung, die eben beides benötigt: Das
Analytische des Rückganges auf das Unbekannte unseres Ursprungs und
das Synthetische der jeweils in der Gegenwart stattfindenden Progression,
die die Unterbestimmtheit der Vergangenheit mit der Unbestimmtheit der
Zukunft, manchmal blind, manchmal, so scheint es, weiter sehend als wir,
inmitten unserer Kontingenz vermengt.

Der Titel der ganzen Arbeit ist etwas irreführend: Ich komme erst nach der
Grundlegung der Geschichtlichkeit der Zeitwahrnehmung zum Zeitinhalt.
Die vorliegende Arbeit hat vielmehr ihren ersten Zweck in der Verbindung
der Grundlagenproblematik insbesondere der Geschichtsphilosophie mit
den Vorstellungen des Regressus in der Dialektik der reinen Vernunft der
Kantschen Transzendentalphilosophie, um die Irrtümer Simmels und
Mannheims bezüglich des transzendentalen Subjektes der
Geschichtsphilosophie oder Kultursoziologie hintanhalten zu können. Der
Irrtum besteht im Wesentlichen darin, die transzendentale Zeitbedingung
der Sinnlichkeit mit den Formen des Regressus des Erfahrungmachens zu
verwechseln, weshalb die Anwendung des Kategoriengerüsts aus der
Analytik des Verstandesgebrauches unangebracht ist.

Der andere Pol der Untersuchung des Geschichtlichen als Problem der
Zeitwahrnehmung ist die Kultursoziologie der Frankfurter Schule, dessen
Hegelianismus insbesondere bei Adorno anhand der Unterschiede der
Bereiche der Gesellschaft, die bei Adorno, Benjamin und Mannheim als
3

Ausdrucksebene aufgefasst werden, kritisch durchleuchtet werden soll.


Insbesondere bei Adorno wird die Verwischtheit der Grenze zwischen
einem konkreten Kunstobjekt und der geschichtlichen Perspektive in der
Methexis einerseits, und den kontingenten Fulgurationen der Methexis, wie
sie dem Betrachter nahegebracht wurde und der Spontaneität des
Betrachters im Geschmacksurteil andererseits im Zuge der Aufstufung der
ästhetisch-philosophischen Reflexion sehr schön einsichtig. Aber auch bei
Benjamin und Mannheim gibt es diese aufstufende Denkbewegung im
Versuch, den Sinn von Geschichte auszulegen und vor allem zu zeigen die
Absicht haben, wie die Rede vom Sinn der Geschichte überhaupt möglich
wird. Die Frage nach dem Zeitinhalt der Geschichte ist aber damit
beantwortet, daß eben Artefakt, Kulturausdruck und Sinnhorizont der
Geschichte gemeinsam den Zeitinhalt darstellen, aber jeweils für sich als
Darstellungsebene auftreten.

Als Verbindungsstück soll die Überlegung im Anschluß an die


transzendentale Grundlegung des historischen Zeitbegriffes im Regressus
und Progressus des Erfahrungmachens Kantens dienen: Da wird Robert
Zimmermann zur Darstellung der nämlichen Beziehung des Betrachters
zum Kunstwerk herangezogen wie von Adorno abgehandelt. Allerdings
bleibt Zimmermann, unter dem Einfluß Herbarts stehend, formalästhetisch,
doch erlaubt Zimmermanns Ansatz so auch, deutlicher als es auch bei
Adorno möglich wäre, die Ursache, die im Künstler gegenüber dem Artefakt
zu sehen ist, die Ursache, die im Artefakt gegenüber dem Betrachter tätig zu
sein scheint, und die Ursache, die im interpretierenden Betrachter tätig ist,
im Sinne des Spiels von Rückblick und Vorblick, wie von Kant im
Zusammenspannen von Regressus und Progressus vermutlich nach
thomistischen Vorbild vorgesehen worden ist, unterzubringen. Dabei hat
sich gezeigt, daß sich die angerissenen Vorstellungen von Ursächlichkeit
sich gemäß der reinen Verstandesbegriffe der dynamischen Kategorien
gruppieren lassen, aber als transzendentale Zeitbedingung aufgefaßt der
Kausalitätskategorie am überzeugensten eine Verbindung zum
transzendentalen Subjekt Kantens herzustellen erlauben. Kierkegaard
behandelt mit der Frage nach dem Verhältnis der Jünger zu Jesus im
Vergleich zum Verhältnis des später Christus Nachfolgendem zu Jesus
ebenfalls eine insofern verwandte Frage, die sich zuspitzt zur Frage nach
4

dem Ursprung und der zu erhaltenden oder durch Interpretation erst


herzustellenden Einheit der Botschaft durch die Zeit hindurch, die den
hermeneutischen Aspekt des Fragekreises analog zur logischen Definition
der Sukzessivität zur Kontinuitätsbedingung erhebt.

Als Zeitinhalt steht aber in der Philosophie der Ästhetik seit Zimmermann
bis zu Adorno der Mensch, der zwischen individueller und
gattungsmäßiger Existenz das umrissene Feld Artefakt, Kulturausdruck des
Ensembles und Methexis zum Ausdruck wie zur Selbsterkenntnis benutzt.
— Nachdem die transzendentale Grundlegung der Zeitwahrnehmung als
Geschichtlichkeit (Abschnitt A) und die kultursoziologische Begründung
der Zeitwahrnehmung als Geschichtlichkeit, die über die philosophische
Ästhetik die Frage nach dem Gattungswesen und seinem historischen
Sinnhorizont aufzuwerfen beginnt (Abschnitt B), tritt die Überlegung in den
nächsten Fragekreis, der angesichts der Komplexität der
Zusammengesetztheit der Spontaneität, die sich der Spontaneität des
Betrachters letztlich aufprägt, mit dem Freiheitsproblem zu tun bekommt.
Die ganze Überlegung zwischen Individuum und Gattungswesen findet
notwendigerweise am Boden der Gesellschaftswissenschaften statt, wenn
die Geschichtlichkeit der Zeit wesentlich wird. So stellt sich Verbindung von
Freiheit des Individuums und Politik von selbst her (Abschnitt C).

Das Freiheitsproblem wird nun nicht mehr ausschließlich oder vorwiegend


als Frage an das Individuum verstanden, sondern als Offenheit der
historischen Möglichkeiten in den gesellschaftlichen
Veränderungsprozessen und deren externen Randbedingungen. Mit Hilfe
eines Aufsatzes von Michael Benedikt (Vom Gattungswesen zum Geist.
Metamorphose beim frühen Hegel und beim jungen Marx, in:
Philosophische Politik?, Thuria und Kant, Wien 1992) wird das Ungenügen
der Idee des Gattungswesen vorgeführt, wenn versucht wird, die Relationen
von Tausch und Produktion analytisch aus demselben abzuleiten. Zwar ist
sowohl Tausch wie Produktion mit dem Begriff vom Menschen hinreichend
als ursprünglich mitgegeben zu denken, doch aber ist die Ausformung zu
Relationsbegriffen zweiseitig: Der Mensch als Individuum und als
Sozialwesen kann sowohl als Quelle der Spontaneität der gesellschaftlichen
Bewegungen wie auch als Material des vergesellschafteten »man« der
Institutionen betrachtet werden. Den Bedingungen dieser notwendigen
5

Synthesis wird als Aufgabenstellung weiter nachgegangen. Im nächsten


Beitrag wird der Veränderung durch die Industrialisierung und
Monetarisierung der Wirtschaft selbst nachgegangen, um der Kritik an der
Frankfurter Schule ein erstes Gegengewicht geben zu können; und zwar
beginnen die Gründe der Beschleunigung der Gesellschaftsbewegung und
Veränderung ins Zentrum der Erörterung einzurücken. Die damit
verbundenen Veränderung zwischen den Allgemeinen und dem
Individuellen betreffen den Einbruch der partikularen Vernunft in die
Illusion einer durchgängigen allgemeinen Vernunft schon seit Zimmermann
und die Wertediskussion. Damit verschiebt sich die philosophische
Fragestellung von einer transzendentalen Problemaufstellung (vom Subjekt
ausgehend) zu einer Problemaufstellung der metaphysischen
Anfangsgrunde der Gesellschaftswissenschaften.

Die vorliegende Arbeit ist konzipiert als Grundgerüst und Ankündigung


von Weiterem. Ich möchte in gewisser Vorläufigkeit und Unbestimmtheit
einige Punkte anreissen:

1. Zuerst ist eine Diskussion des Rückbezuges auf das Kantsche


transzendentale Subjekt bei Simmel und Mannheim abzuführen, die mit den
Standpunkten anderer moderner klassischer Soziologen wie Tönnies,
Durkheim, Pareto etc. zu konfrontieren wäre.

2. Abgesehen vom allgemein zu erwartenden Ausbau der Argumentation ist


sowohl der Vergleich der Positionen innerhalb der Frankkfurter Schule
(etwa Horkheimer und Bloch) wie außerhalb näher auszuführen. Es fehlt
noch das historische Verhältnis zum Marxismus und den wichtigsten
Grundzugen der Hegelrezeption der Exponenten der Frankfurter Schule,
und es fehlt noch eine ausformulierte Kritik an den Positionen derselben
hinsichtlich der Supplierung der Kritik an Politik, Ökonomie,
Rechtsstaatlichkeit durch die Entwicklung des politischen Aspektes der
Kunst- und Kulturkritik.

3. Weiters bietet sich die Weiterführung der Diskussion um die Grundlagen


der Sittlichkeit des Menschen sowohl transzendentalphilosophisch wie
philosophisch wie kultursoziologisch an (materiale Wertethik und
6

Lebensmächte: Max Scheler, Alois Dempf, »morale par provision«: Descartes


und K. O. Apel).

4. Schließlich ist die Einspielung der Ökonomie nur als erste Skizze zu
verstehen, deren bereits geplante Ergänzung einerseits zwischen Carl
Mengers Grenznutzentheorie und deren psychologisch-ästhetischen
Komponenten zur Warenästhetik, andererseits zwischen Mengers Soziologie
und deren primitive Gruppentheorie zu Carl Schmitts politischer Theologie,
insbesondere was die Bestimmung des Feldes der Außenpolitik angeht,
jeweil eine Verbindung herstellt. Darüberhinaus wird eine Skizze der
wichtigsten Positionen in der Geschichte der ökonomischen Theorie wohl
für den Gesamtzusammenhang unverzichtbar bleiben.

5. Neben den schon historisch bekannten Schwierigkeiten zwischen


Wirtschaftsform, Staatsform und Sozialform kommt nun auch daß
Verhältnis von Ökonomie und Ökologie auf uns zu.

Es verbinden sich hier projektiv mehrere Aufgaben: Einerseits sollen die


verschiedenen Relevanzen anhand einer gewissermaßen »flächig«
vorgehenden Untersuchung, die über das Konzept der Lebensmächte hinaus
in die relative Selbstständigkeit gesellschaftlicher Prozesse reichen, in ihrer
Verschiedenheit der Quellen und Ausformungen skizziert werden,
andererseits wird damit auch die Rekonstruktion eines »globus
intellectualis« ins Auge gefaßt, um eine systematische Rückbindung an die
vertikale Reflexion von Individuum, Vergesellschaftungsformen,
Gattungswesen und Natur zu erreichen.
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Inhaltsverzeichnis

Einleitung:
Die Grundlagenproblematik der philosophischen Anthropologie und die
Universalgeschichte — 10

A. ZUR TRANSZENDENTALEN BEGRÜNDUNG DER


ZEITWAHRNEHMUNG

1. Die inneren und äußeren Einschränkungen der Vernunft und die


Instantierung der Subjektbegriffe. Die sechs direktiven und die drei
relativ selbstständigen Arten von transzendentalen Differenzen.
Bemerkung zu K. O. Apel.
a) Der transzendentale Beweis einer transzendentalen Differenz in der
transzendentalen Ästhetik ist erst mit dem transzendentalen Beweis des
Kauslitätsprinzips und dessen Fassung der transzendentalen Differenz
möglich — 16
b) Zwei nicht-transzendentale formalwissenschaftliche Differenzen:
I. Das Ding an sich als Artefakt logischer Intentionalität und der
dogmatische Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe. Die drei Psychologien
der Urteilslehre und die Ideenlehre — 20
II. Die Analogie der Diskursivität als Charakteristikum der Vernunft zur
Diskursivität als Ideal der Kommunikationswissenschaften — 24
c) Der Durchblick auf das intelligible Subjekt der empirischen Handlung
impliziert eine zweite relativ selbstständige und konstituive transzendentale
Differenz als Vervollständigung zur Totalität der reinen Vernunft — 28
d) Der Übergang von reiner Vernunft zur reinen Willensphilosophie des
intelligiblen Subjekts — 36
2. Formalontologie, Kultursoziologie, Geschichtsphilosophie?
Zur dritten relativ selbstständigen und konstitutiven transzendentalen
Differenz
a) Der Übergang von der Formalontologie des Daseins zur Geschichtlichkeit
des Daseins — 42
8

b) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die ästhetische Dimension der


transzendentalen Zeitbedingung (Robert Zimmermann).
Zur Doppeldeutigkeit von Artefakt und kulturellem Symbol — 45
c) Täuschung und Enttäuschung: Individuum und Gattungswesen — 49
d) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die hermeneutische Dimension der
transzendentalen Zeitbedingung (Sören Kierkegaard).
Die Epoche in Erzählung und Natur — 51
e) Die eigentliche und die uneigentliche transzendentale Differenz
der Zeit als Geschichtlichkeit — 57

B. ZUR KULTURSOZIOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG DER


ZEITWAHRNEHMUNG. KULTURSOZIOLOGIE UND GESCHICHTE:
ADORNO, BENJAMIN, MANNHEIM

1. Der Schock, die monadische Konzentration (Methexis) und deren Öffnung


zu Lebenslauf und Geschichte. Die Wahrheit der Geschichte ist die
philosophische Wahrheit — 61
2. Der Widerschein der Politik zwischen Künstler, Publikum und
Kunstkritik und die Ersetzung der politischen Kritik durch Kunstkritik. Die
Wiederentdeckung der philosophischen Wahrheit in der Kunst als Brechung
des Mythos — 67
3. Die Verwandlung von Kunst in Metaphysik und deren Zerstörung als
Lichtung gegenüber der kollektiven Auflösung der
Weltanschauungsphilosophien ins Mimetische — 72
4. Freiheit als historische Möglichkeit und Utopie?
Zur Kompexität und Spontaneität (Fulguration) der Methexis — 77
5. Die Negationen des Scheins und die Geschichtlichkeit als Negat der
Zeitform des Seienden. Der Übergang von philosophischer Ästhetik zu
Kultursoziologie zu Kulturphilosophie als Bearbeitungsstufen der
Kollektivität der Methexis — 85

C. FREIHEIT UND POLITIK

1. Das Allgemeine an der Aufklärung und das emprische Individuum als


Wurzel der kritischen Vernunft. Der endgültige Positionswechsel des
Realismus und dessen Bedrohung durch die Indifferenz von
Totalitarismus und absolutem Individualismus
9

a) Der transzendentale Mangel in der Unerkennbarkeit der ratio essendi des


Gattungswesens: Freiheit als Grund von Sittlichkeit. Demgegenüber die
empirische Bestimmbarkeit in der ratio cognoscendi des Gattungswesens:
Sittlichkeit als Grund der Freiheit — 90
b) Das unvollständige Kalkül des Projekts der Aufkärung:
Prästabilierte Harmonie, »invisible hand«, List der Vernunft, Fulguration —
94
c) Aufklärung und Humanismus: Wechselseitige Entwertung von
Allgemeinheit und Individuum und die Wiederkehr der Gespenster oder
das Studium der Relevanzen — 97
2. Philosophische Politik?
a) Die Ideen von Gesellschaft und Gattungswesen: Polis und communio
primavea — 101
b) Der Übergang von communio primavea zur communio mei et tui
originare reicht nicht zur Konstitution der Produktions- und
Tauschrelationen — 106
c) Der Mangel an der Idee der Politik als gemeinschaftlicher
Willensausdruck und die Künstlichkeit der Relationen — 112
3. Metaphysische Anfangsgründe der Gesellschaftswissenschaften
zwischen zwei Ursprünge der Beurteilungsprinzipien: Psychologie und
Soziologie im Rahmen der philosophischen Anthropologie
I. Zu den Erfahrungsgrundlagen — 118
II. Ökonomie als Dynamik — 120
III. Prinzipien der »sozialen« Anschauung und Prinzipien der Sittlichkeit als
Beurteilungsprinzipien — 123
IV. Der Wert (pretium) als das Prinzip der Regeln des Spieles — ist
demgegenüber dignitas bloßer Stil und somit Ästhetik? — 127
V. Die »prästabilierte Harmonie« Leibnizens oder die »invisible hand« von
Adam Smith? — 131
VI. Die unbekannten Alternativen anhand der gemeinsamen Betrachtung
von Relevanzen und Werte — 135

Bibliographie in Arbeit
10

Einleitung:
DIE GRUNDLAGENPROBLEMATIK DER PHILOSOPHISCHEN
ANTHROPOLOGIE UND DIE UNIVERSALGESCHICHTE

Die Anthropologie zeichnet sich durch eine Anzahl problematischer


Beziehungen aus, welche alle einerseits die Anthropologie als
Begründungsinstanz einzelner methodischer Interessen heranziehen, oder
andererseits diese erst nach der erfolgten Ermittlung ihrer jeweils eigenen
Grundlagen anhand der Bedingungen einer praktischen Synthese derselben
sowohl die Anthropologie konstituieren sollen, wie auch allererst die Praxis
einer ethischen Bedingung unterwerfen.

Damit spiegelt sich in der formalen Struktur des hier erforderlichen


Reflexionsganges die Problematik der zerfallenenden substantialen Formen
der Leibniz‘schen Einheit von Monadenwelt und vinculum substantiale ab.
Allerdings auf einer Weise, welche die intellektuelle Subsumtion, mit
welcher noch an der Nahtstelle zwischen beseelten apperzipierenden
Mondaden und der konvergierenden Maschinen- und Organismenwelt eine
Vereinbarkeit gedacht werden könnte, offensichtlich als ungenügend
entlarvt.

Die philosophische Anthropologie steht zunächst in drei große Bezüge


eingespannt: Erstens die Bestimmung des Menschen als Naturwesen unter
anderen Naturwesen und die Frage nach der Herkunft des Menschen als
Kulturwesen; zweitens das Verhältnis zwischen der Vorstellung einer
Intelligenz überhaupt aus der Analyse von Wahrheit und Logik und einer
Wissenschaft vom Menschen; und drittens das Verhältnis zwischen derart
aus der Einheit von absolutem Wissen als scientia generalis und der
Vorsehung Gottes gezogenen Bestimmbarkeit der menschlichen Seele zur
Bestimmbarkeit des Menschen als geschichtliches Wesen überhaupt,
welches den Übergang vom vernünftigen Tier zum Weltbürger zu
beinhalten hätte, und nicht den vom Naturwesen zum Kulturwesen.

Die Problematik des erstgenannten Themenkreises ist nur an der Oberfläche


der Verhaltensforschung zu behandeln, und kann so nur Material, aber
keine Konzepte zur Beantwortung der Frage: Was ist der Mensch? liefern,
denn immer schon wird der Mensch auch als Kulturwesen angetroffen,
11

sodaß sich angesichts der feststellbaren Sozialordnung bei höheren Tieren


der Kern der Frage auch von hier aus zum drittgenannten Themenkreis
verschiebt. Die Unterscheidung in Naturwesen und Kulturwesen wird also
von zwei Seiten her relativiert: einmal läßt sich bei vielen höheren Tieren
eine soziale Rangordnung feststellen welche nicht allein durch Instinkt
erklärbar ist, sondern aus bloß vorgegeben gedachten Instinkten im
Wechselspiel der Individuen erst entsteht; und einmal läßt sich der Mensch
nur als Kulturwesen feststellen, sodaß die Frage nach dem, was der Mensch
sein solle (und was er hoffen dürfe) nur in der Spannung des Überganges
von Kultur zu Zivilisation gestellt werden kann.

Gerade die Möglichkeit der Behauptung, daß Geschichte einen Zweck haben
soll, ohne daß damit behaupten worden ist, daß Geschichte einen Zwecke
haben müsse, gibt die Möglichkeit, zwischen Metaphysik als Naturteleologie
(Physik) und Metaphysik als heilsgeschichtliche Teleologie der Konvergenz
von Politik und Theologie zu unterscheiden. — Die alternative
Bestimmbarkeit der Notwendigkeit einer teleologischen Bestimmbarkeit von
Geschichtlichkeit, also als Naturphilosophie der Geschichte oder als
historische Phänomenologie einer Kulturanthropologie, ändert an der
formalen Struktur des Reflexionsganges nur wenig. Die fraglos
vorausgesetzte Einheit des Menschen sollte zuvor die verschiedenen Arten
der Praxis zur Einheit bringen können, und damit entweder einer
ontotheologischen Metaphysik das Schema ihrer Verwirklichung auch in der
Schöpfung durch den Menschen hindurch garantieren, oder allererst einer
nur transzendental ortbaren Gesamtmetaphysik die Denkbarkeit
ermöglichen. Jedoch wird eben in der Anthropologie gerade diese Einheit
selbst zum Gegenstand der Fragestellung, sodaß die philosophische Analyse
der Seinsbezüge des Menschen sowohl zur eigenen Grundlegung wie zur
Grundlegung ihrer systematischen oder teleologischen Einheit woanders
vorstellig werden muß.

Kant gibt in der »Metaphysik der Sitten« sowohl für die systematische, wie
für die teleologische Einheit einen Ansatz vor, welcher in zwei Schritten
verläuft. Zunächst wird die Bestimmung der Intelligenz außerhalb jeder
Anthropologie vorgenommen, und bezieht sich auf das transzendentale
Subjekt als Bedingungskatalog zur Erkenntnis in der theoretischen Vernunft.
Erst im Anschluß darauf wird die so bestimmte Vorstellung eines
12

vernünftigen Wesens dahingehend weiterbestimmt, daß ein solches


vernünftiges Wesen notwendigerweise auch moralischen Gesetzen
unterworfen sein muß. Also erst die Anwendung eines solchen im Rahmen
der theoretischen Vernunft bestimmten transzendentalen Wesens auf den
Erfahrungsgegenstand, der für uns nur der Mensch selbst sein kann, bringt
Universalbegriff und Gattungsbegriff in die Verstrickung von Ontologie und
Anthropologie (269).

Daraus ergeben sich allerdings zwei grundlegende Probleme, nämlich


erstens daß die Bestimmung moralischer Gesetze im transzendentalen
Subjekt der theoretischen Vernunft nur den Ort der Reflexion angiebt, aber
nicht den Unterschied zwischen Wahrheit als Bestimmung eines Urteils als
einer diesem außerhalb vorliegenden Sachverhalt zukommende Vorstellung,
und Wahrheit als Bestimmung der Rechtmäßigkeit der Methode oder der
Gutheit eines Zweckes. Zweitens aber, daß eine derartige Konzeption der
Bestimmung der Anthropologie aus dem Primat eines transzendentalen
Wesens überhaupt nur den Kreis der engen Pflichten gegenüber sich selbst
beinhalten kann und den schon für die Tierheit partiell zugestandenen
Sozialcharakter außer Acht läßt; somit die Übergangsbestimmungen von
transzendentalen Subjekt zum anthropologischen Subjekt ohne die Angabe
der restringierenden Bedingungen der Sinnlichkeit im Übergang von reinen
Kategorien zu schematisierten Katgorien stecken bleibt. Das hat zwar
weiters seinen Grund in der Verschiedenheit in der Objektbestimmung bis
zum Ding an sich selbst und als Gegenstand bereits vergesellschafteten bzw.
anhand der Überlebens- und Lebensinteressen vergesellschaftbaren
Gegenstandes als Zeug, macht aber damit nur das Problem zwischen
theoretischer und praktischer Vernunftbestimmung des transzendentalen
Subjektes selbst als ungelöst sichtbar. Der Übergang von Mannigfaltigkeit
als Verschiedenheit der Instanzen des transzendentalen Subjektes zur
Vielheit als Gegenstand der Spontaneität, die allem Anschein nach erst mit
der Restringtion auf Bedingungen der äußeren Sinnlichkeit gegeben werden
kann, führt in einen Paralogismus, worin sich das Subjekt nicht mehr als
Ganzes wiedererkennen kann.

Wird diese formal festgestellte gegenwendige Struktur des Reflexionsgangs


nun auf den Ausfall zwischen transzendentalem Subjekt und
anthropologische Subjekt angewendet, ergibt sich im Kant‘schen Ansatz
13

eine doppelte Bestimmung des Problemhorizonts, welche mit der doppelten


Bestimmung des Begriffes von der Natur des Menschen eine Entsprechung
findet. Und zwar nicht als Doppeltheit von Naturwesen und Kulturwesens
einerseits und vernünftiges Tier mit Zivilisation und Kultur, aber ohne
Moral, andererseits, sondern bereits nur als Zivilisations- und Kulturwesen
betrachtet; nämlich als am Individuum feststellbare Vereinigung von
Physiognomie und Habitus einerseits und als in der Vergesellschaftung
feststellbare Divergenz von Willen bzw. Abmachung und
Institutionalisierung andererseits. Hiebei beinhaltet die Vereinigung von
Physiognomie und Habitus den Übergang von Naturwesen zum
Kulturwesen implizite ohne jede weitere Erklärung, sodaß auch hier nicht
wirklich von ursprünglicher Einheit die Rede sein kann.

Derart beschränkt bleibt die Anthropologie zwangsläufig hinter den


Politikwissenschaften und der Soziologie als Lehre der Organisierbarkeit
von Arbeitsteilung und Tausch zurück, da diese bereits wieder einen
Naturbegriff vorstellen, welcher aus der Anwendung zuvor eingeforderter
wissenschaftlicher Methoden im Rahmen der Idee einer
Gesellschaftsmechanik erwachsen ist. Derart durchläuft die Reflexion der
Anthropologie vier oder fünf Naturbegriffe: Erstens der Natur als Produkt
und eigentliche Metaphysik der Physik, zweitens der dynamischen
Auffassung der Natur vom Belebten her auf die ganze Varianz der Natur
übertragen, worin auch der Mensch als Naturwesen einen ersten, aber
immer verdeckten Platz hat; drittens die Natur des Menschen als
Kulturwesen an sich, dem die Einwurzelung in ein »mythopoetisches
heiliges Geviert« (communio primavea) aufgegeben ist; viertens die Natur
des Menschen als historisch-konkretes Wesen, in der Dialogphilosophie
manchmal als Eigentlichkeit pneumatologisch interpretiert (communio mei
et tui originaria); und fünftens die Natur des Menschen als
vergesellschaftetes Wesen, dessen Institutionen, wie sie auch immer
legitimierbar sein mögen, in ihren epistemischen Funktionen mit der Idee
einer Gesellschaftsmechanik partiell mittels Statistik übereingestimmt
werden kann.
Die zweite und dritte Natur sind selbst nicht offenzulegen, ohne nur einen
Teil des Menschen ins Blickfeld zu bekommen; die vierte und fünfte Natur
wäre noch nach Geschlechterdifferenz, öffentlich-rechtlich und familär-
14

naturrechtliche Rollendifferenz und des in der Mitte der beiden letzten


Positionen befindliche Herr-Knecht-Verhältnis zu ergänzen.

Nach vorhergehender Überlegung bleibt der Anthropologie also nur mehr


dritte und vierte Natur als eigenes Thema, und beinhaltet so aber weiter
politische Relevanz, da die Öffentlichkeit jenes Bindeglied zwischen
privaten und Arbeitsbereich einerseits und der Legitimierbarkeit der
Institutionen andererseits darstellt. Jedoch reicht auch schon die von Kant
angesetzte publizistische Methode nicht aus, welche er als Methode der
Darstellung des ursprünglichen und abgeleiteten Rechts auf die Darstellung
der Geschichte überträgt (vgl. Refl. 1439-1443).

Kant entwirft die Möglichkeit einer Universalgeschichte, welche mit der


Frage des Ursprungs von Gut und Böse beginnt, indem die Tierheit welche
an sich nicht böse ist, mit der Vernünftigkeit, welche an sich gut ist, in ein
Verhältnis gesetzt wird, woraus erst durch bloße Zivilisation und Kultur
ohne Moralität die Möglichkeit des Bösen sich ergibt. Ohne an dieser Stelle
auf die Überlegungen zur Religionswissenschaft in den Grenzen bloßer
Vernunft selbst einzugehen, soll zumindest die Rolle der Publizistik in der
Darstellung der Universalgeschichte vorstellbar werden können. Denn
einerseits soll die Geschichte neben biographischer und statistischer (auch
statuarischer) Darstellung vor allem in kosmopolitischer Absicht öffentlich
werden; d.h. eine Geschichte der Fortschritte hinsichtlich der obersten Idee
der Zweckmäßigkeit sein. Andererseits stellt Kant die Idee des obersten
Zweckes, welche den Zusammenhängen nach Zwecken, selbst wenn sie
nicht als solche intendiert sind (Refl. 1420), zur Bildung des Charakters und
zur Bestimmung des Menschen als Gattungswesens inneren und
systematischen Zusammenhalt geben soll, in Kontrast zu seiner
Beschreibung des Zustandes der Öffentlichkeit in dieser Kultur und
Zivilisation, welche ihr Maximum ohne Moralität erreicht habe: Mißtrauen,
Mißgunst und Nebenbuhlerei kennzeichnen den öffentlichen Charakter.

Die Publizistik hat also im Rahmen der humanistischen Bildungsidee auch


die Aufgabe der Propaganda des Guten, und soll einen allgemeinen
Chiliasmus herbeiführen, welche die Partikularität des Einzelnen in der
15

Öffentlichkeit aufhebt, damit die politischen Institutionen nach der Idee des
obersten Zweckes, eben die Ausbildung des sittlichen Charakters der
Menschen, was zwar eine Gattungsbestimmung, aber eben nicht eine
Bestimmung des Menschen als Naturwesen ist, gestaltet werden, und
fortwährend neu legitimiert werden können. Die Universalgeschichte soll
also erstens Einsicht geben, wie der höchste Zweck der Gesellschaft und des
Staates sich auch aus nicht eigens intendierten partiellen Zwecken sichtbar
macht, und gehört insofern zum Schema des anthropologischen Subjektes,
welches nunmehr auch berücksichtigt, daß der Mensch von Natur aus ein
komplexes Sozialwesen ist, dessen kommunikative Natur nicht
ausschließlich dialogisch verfasst ist. Zweitens aber soll die
Universalgeschichte ein anschauliches Beispiel sein, welches für die
Öffentlichkeit geeignet ist, denn gelehrte Geschichte oder
Religionsphilosophie zählt Kant nicht zu den kosmopolitischen
Darstellungsmethoden.

Nimmt man diese Kurzdarstellung als Grundlage für das, was aus der
Erörterung der Öffentlichkeit als politischer Teil der Anthropologie (als Teil
der vierten Natur) gewonnen werden kann, ist allerdings nur wenig mehr
erreicht. Zwar wird nun auch der empirische Sozialcharakter berücksichtigt,
was allein aus der Ableitung des anthropologischen Subjekts aus den
transzendentalen Subjekt nicht geglückt ist, aber Kant gelingt es auch nicht
(und macht konkret auch keinen ausdrücklichen Versuch dazu), den Ablauf
der Geschichte als notwendige Ideengeschichte der Entfaltung, welche die
Gattungsbestimmung des Menschen garantiert, noch als konsequent sich
fortbildende Tradition der Selbstschöpfung des Menschen darzustellen.
Dazu muß die Idee der Universalgeschichte selbst erst methodische Mittel
erschließen, was sofort wieder, wie anfangs bereits gezeigt, die
Begründungsproblematik außerhalb der transzendentalen Anthropologie
verlegt. So ist selbst nach einer etwaigen Lösung des Methodenproblems
zwischen Geschichte und Gesellschaftstheorie, und nach der Aufhellung des
Unterschiedes zwischen Wahrheit und Rechtmäßigkeit bzw. Gutheit eines
Urteils im Rahmen des transzendentalen Subjekts die Anthropologie nicht
auf die ganze Menschheit anzuwenden; jedoch immer individuell und
partiell.
16

A. ZUR TRANSZENDENTALEN ZEITBEGRÜNDUNG DER


ZEITWAHRNEHMUNG

9. Die inneren und äußeren Einschränkungen der Vernunft und


die Instantierung der Subjektbegriffe.
Die sechs direktiven und die drei relativ selbstständigen Arten
von transzendentalen Differenzen.
Bemerkung zu K. O. Apel.

a) Der transzendentale Beweis einer transzendentalen Differenz in der


transzendentalen Ästhetik ist erst mit dem transzendentalen Beweis des
Kauslitätsprinzips und dessen Fassung der transzendentalen Differenz
möglich

I.
Die transzendentale Ästhetik beginnt mit Setzung der Objektivität des
Raumes, welcher allerdings auf Erfahrung respektive wiederum deren
transzendentalästhetischen Erscheinungsformen a posteriori ihr Argument a
priori gründen kann. Die Geometrie als Wissenschaft wird hier noch nicht
als Argument gefordert, da der Raum als bloßes Auseinandersein weder
metrische noch dimensionale Eigenschaften voraussetzt. Diese Setzung ist
bekanntlich zunächst metaphysisch (erste metaphysische Erörterung des
Raumes) und schließt die transzendentale Differenz zwar ein, vermag diese
aber nicht selbst als transzendentale zu konstituieren. Wie schon an
verschiedenen Stellen, insbesondere zu Beginn dieser Arbeit ausgeführt,
überlagern sich hier eine ontologische und eine transzendentale Differenz:
Der Raum ist selbst kein Seiendes, etc.; der Raum ist bloße
Anschauungsform, etc.. Die Demonstration der ursprünglich
entscheidenden Differenz in der ersten metaphysischen Erörterung des
Raumes geschieht zwar selbst in zwei Schritten, in welchem schon die
Übertragung des Ortes des Subjekts und seiner Beziehung zu einem davon
verschiedenen Ort auf etwas in einem andern Ort und dessen Beziehungen
zu anderen Örtern stattfindet, und ist so nicht selbst einfach, kann aber
selbst konstitutiv betrachtet nur eine sythetisch-metaphysische Operation
der Vernunft sein, deren vorgängige Synthesis, von der die Notwendigkeit
nur a posteriori eingesehen werden kann, selbst unbekannt bleibt. Deren
Transzendentalität erweist trotz dieses pseudo-analytischen Beweises aus
17

dem Gegenteil der Unmöglichkeit der nur als vorgängig veranschlagten


synthetischen Metaphysik, wie weiter oben bereits im Ansatz in der
Widerlegung des Idealismus gezeigt, sich in vollem Umfang erst im
Rückgang auf das System der Erfahrung. Der durch Mangel an
Beweiskräftigkeit notgedrungen aufgegebene metaphysische Ansatz des
Raumes und dessen Geometrisierbarkeit wird in einem möglichen System
der Erfahrung für die Grundlegung der Geometrie durch die
transzendentale Anschauungsform ersetzt (entwicklungspsychologisch-
genetisch gesehen liegt die Anschauung auch der Arithmetik voraus und
wird durch Grammatik ersetzt). M. a. W., es wird eine mit Descartes für
Kant naheliegende Alternative des Problems des Gegebenseins der res
extensa angepeilt, nämlich die Formen der Sinnlichkeit (Locke), die als
solche noch keines weiteren Beweises ihrer objektiven Realität bedürften
(Aristoteles); da aber doch von Anschauungsform die Rede ist, bei Kant,
zumal in Verbindung mit der euklidischen Verfaßtheit des objektiven
Raumes, zunächst als Fortschritt nur zu verbuchen ist, daß ein
argumentatives Problem der reinen Geometrie zwischen Idee
(philosophischer Begriff vom Dreieck) und Konstruktion in reiner
Anschauung (geometrischer Konstruktionsbegriff des Dreiecks) die
Problematik zwischen Anschauungsform des Gegebenen und Sinnlichkeit
zu ersetzen beginnt, wobei erstere die transzendentale Apperzeption (die in
der ersten Erörterung des Raumes eingeklammert wurde), die zweite den
inneren Sinn zwischen Einbildungskraft und äußerer Sinnlichkeit (was
durch die Objekthaftigkeit kollektiver physikalischer Erscheinungen ersetzt
werden wird) zum theoretischen Hintergrund hat. Die erste metaphysische
Erörterung des Raumes klammert das transzendentale Subjekt der
transzendentalen Apperzeption aus, zur transzendentalen Psychologie ist
man in diesem Stadium der Erörterung so wenig wie zur Physik fähig:
Allein das Auseinandersein verschiedener Objekte, die verschiedene Orte im
Raum bezeichnen, ist die eigentliche Aussage der ersten metaphysischen
Erörterung des Raumes.

In der transzendentalen Ästhetik wird (a) die Differenz zwischen


transzendentalem Idealismus und transzendentalem Realismus maximal
interpretiert, (b) der Unterschied der metaphysischen und der
transzendentanalytischen Erklärung der Geometrisierbarkeit des Raumes
zwischen Letztbegründung in der reinen Idee und Anwendungsproblem ein
18

erstes Mal vorgestellt, und (c) in der ersten metaphysischen Erörterung des
Raumes ein absolutes Minimum an Erfahrung eingeführt, die für die
Widerlegung des Idealismus in den Empirischen Postulaten als
Ausgangspunkt zureicht; aber es wird auch (d) das Problem der
Erfüllbarkeit der damit verbundenen metaphysischen Hypothese vom
universalisierbarem Auseinandersein der transzendentalanalytischen
Untersuchung zugewiesen. Damit wird begründet die transzendentale
Differenz zwischen transzendentalem Subjekt (res cogitans) und seinem
Objekt (res extensa) inmitten unserer Leiblichkeit behauptet, aber gerade
nicht transzendentalanalytisch vollständig gerechtfertigt.

Insofern behaupte ich nach wie vor, daß die transzendentale Differenz in der
transzendentalen Ästhetik noch nicht konstituiert wird, obgleich gerade die
radikale Fassung des transzendentalen Idealismus in der transzendentalen
Ästhetik nicht nur eine deutliche »transzendentale Direktion« auf
selbstständige Existenzen aufweist, sondern selbst eine ziemlich radikale
Fassung der transzendentalen Differenz vorstellt. Die Urbildhaftigkeit dieser
ersten transzendentalen Differenz kann aber nicht daran hindern
einzusehen, daß die hier von mir eingeführte Verschärfung die Einseitigkeit,
von wo her die transzendentale Differenz gedacht wird, nicht länger gelten
kann, denn ab der transzendentalen Ästhetik ist der transzendentale
Unterschied bereits dem transzendentalen Subjekt zustellbar und der
Reflexion auf eine mögliche Ganzheit unterwerfbar: »Die Leibniz-Wolffische
Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den
Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt
angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen
bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transzendental ist, und nicht bloß
die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und
den Inhalt derselben betrifft« (B 61 f./A 44). Die Definition der
Transzendentalität, die dort zu finden ist, bezieht sich jedoch nicht selbst
konkret auf die Problemstellung der transzendentalen Ästhetik und bleibt
ihr gegenüber neutral, da es sich bei den Anschauungsformen von Raum
und Zeit zuerst nicht um Begriffe und nicht um Produkte der
Einbildungskraft im inneren Sinn handelt. Der Ursprung der
transzendentalen Differenz liegt sowohl synthetisch-metaphysisch wie
transzendentalanalytisch in der Differenz zwischen Intellektualität (nicht
dem Verstand selbst!) und Sinnlichkeit. Dies ist metaphysisch, weil
19

Intellektualität und Sinnlichkeit allein aus Wesensgründen


gegeneinandergestellt werden; synthetisch, weil die transzendentale
Psychologie (rationale Psychologie und rationale Physiologie) des
transzendentalen Subjekts argumentativ vorausgesetzt wird; aber nicht
ontologisch: die transzendentale Differenz zwischen transzendentalem
Subjekt und Objekt ist nur mittelbar transzendental zu nennen; diese
Differenz wäre selbst ontologisch, ginge es nur um die Differenz von reiner
Intellektualität und physischer Objektwelt. Die Bestimmung der Differenz
von transzendentaler (diesmal mittelbar) und ontologischer Differenz
scheint im Anschluß auf ein Übersetzungsproblem reduzierbar zu sein
(Verwechslung von transzendentalem und intelligiblem Subjekt).

In der transzendentalen Logik wird von einem Prinzip nur mehr erwartet
aufzuklären, »daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder
Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich seien, [damit
es] transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder Gebrauch
derselben a priori) heißen müsse« (B 80 f./A 56). Das scheint zwar deutlich
weniger zu sein als prinzipiell in der transzendentalen Ästhetik von einem
transzendentalen Prinzip verlangt, doch aber soll zumindest für die
»gewissen Vorstellungen« die Rechtfertigung aus einem Prinzip nach wie
vor die leitende Idee sein. Die Frage nach dem Ursprung der
transzendentalen Differenz scheint nicht berührt worden zu sein; es wird
also desweiteren der Geltungsbereich eines transzendentalen Prinzips
abgehandelt.

II.
Die Untersuchung des Verstandesbegriffs im kategorialen Gebrauch beginnt
mit der Untersuchung der Anwendungsbedingungen der reinen
Verstandesbegriffe gemäß ihrer Exposition und der logischen Erfassung der
transzendentalen Zeitbedingung. Der Vergleich der Reihen der
Erscheinungen mit den Reihen der Vorstellungen ist die argumentative
Grundlage der synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien in
transzendentalanalytischer Hinsicht. In der selbst formalen Idee der
Vergleichung von Reihen liegt die transzendentale Rechtfertigung der
Anwendung der Varianzrechnung. Die Kantsche Untersuchung der
Differenz von mathematischen und dynamischen Kategorien führt aber
anhand der Kausalitätskategorie zur zweiten transzendentalen Differenz,
20

deren Analogien zur Handlung wie zum Naturgeschehen mit der


vollständigen Deduktion der Verstandesbegriffe in den Kategorien (die also
Analyse wie Synthesis, insofern also bereits eine Art von Regressus wie
Progressus umfaßt) zur einen Hälfte als bereits geleistet ausgewiesen
werden konnte. Diese transzendentale Differenz ist entlang der Analogie der
reinen Kategorie zum empirischen Gebrauch des reinen Verstandesbegriff
der Kausalität ein erstes Mal formal vollständig zu konstituieren und ist die
erste relativ selbstständige transzendentale Differenz. Kant beschränkt diese
Analogie in der transzendentalen Analytik des Verstandesgebrauches in der
Erfahrung nicht grundlos auf die sinnliche Anschauung, da er sich von
deren Kontinuität erwartet, einen vollständigen oder grundsätzlich
vervollständigbaren Schematismus der Verstandesbegriffe zu erhalten,
womit sich letztere rechtfertigen lassen. Daß diese Absicht trotz
mannigfaltiger Schwierigkeiten und einigen Unvollkommenheiten letztlich
wegen der logischen Definition des Wechsels zur Sukzessivität als
durchführbar erscheinen muß, habe ich versucht, in den vorhergehenden,
insbesondere aber im ersten Teil des zweiten Abschnittes zu zeigen. Es
handelt sich keinesfalls um einen Nachweis der im Rahmen der
transzendentalen Ästhetik (hier insbesondere in Bezug auf die erste
metaphysische Erörterung des Raumes) diskutierten ursprüngliche
transzendentalen Differenz, die noch mit der ontologischen Differenz
mittelbar verwechselt werden kann; vielmehr wird eben diese durch eine
andere transzendentale Differenz, die zum Unterschied der ersteren im
transzendentalen Subjekt hinlänglich darstellbar ist, indirekt bewiesen,
obwohl die erstere der zweiteren im Argumentationsgang vorausgesetzt ist.

b) Zwei nicht-transzendentale formalwissenschaftliche Differenzen:

I. Das Ding an sich als Artefakt logischer Intentionalität und der dogmatische
Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe. Die drei Psychologien der Urteilslehre und
die Ideenlehre
Die erste nachvollziehbare Einschränkung der reinen spekulativen Vernunft
geschieht nun auf Grund des Argumentes aus der Deduktion der
Kategorien, und ist insofern nicht selbstständig aus der reinen Vernunft
entnommen. Ein relativ selbständiges Moment dieser Einschränkung steht
jedoch in Verbindung mit dem rein theoretischen Ding an sich als
21

formalwissenschaftliches Experiment der reinen Vernunft mit sich selbst.


Dieses Ding an sich ist eine rein formalwissenschaftlich gewonnene Fassung
der logischen Gegenständlichkeit der orthogonalen Intentionalität und nicht
das transzendentale Objekt oder das Dinges an sich selbst; oder genauer:
Diese formalwissenschaftlich gewonnene Fassung des theoretischen Dings
an sichs widerspricht inhaltlich nicht dem Konzept des transzendentalen
Objekts, während das Ding der durchgängigen Bestimmbarkeit mittels
Prädikate wegen eben dieser prädikativen Bestimmbarkeit nicht mit dem
Konzept des transzendentalen Objekts zur Deckung zu bringen ist, obgleich
letzteres das Selbe intendieren kann. Hier wird weder selbst eine
transzendentale Differenz eingeschlossen noch konstituiert; es stellt sich
bloß heraus, daß das Konzept des transzendentalen Objekts mit dem
Konzept des Dings an sich formal darin »ähnlich« sind, als daß diese
Konzepte nur aus der Bestimmung einer Stellung in der theoretischen
Erörterung bestehen und keinerlei weitere inhaltliche Bestimmungen mehr
an sich haben. Solche Vergleiche sind bloße Handlungen im inneren Sinn
(Gemüt) wie die Vergleichung von Begriffen auch und beinhalten weder,
noch konstituieren sie eine transzendentale Differenz. Die Entscheidung des
Für-Wahr-Haltens oder des Für-Richtig-Haltens beziehen sich aber um
nichts weniger als auf die Eigenschaft der Kategorien, einen dogmatischen
Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe zu ermöglichen. Damit ist nichts
weiter explizit über die Verfaßtheit physikalisch charakterisierbarer
Weltlichkeit gesagt worden, es wäre aber ohne der Eigenschaft der
Deduktion der Kategorien, den Verstandesgebrauch in der sinnlichen
Erfahrung grundsätzlich zu sichern, nicht möglich, die Einschränkung auf
den von Kant »logisch« genannten Gebrauch der Vernunftschlüsse für
anders gerechtfertigt zu halten wie andere zunächst in sich folgerichtige,
aber a fortiori in Widersprüche mit sich selbst führende Systeme der reinen
spekulativen Vernunft auch. Nicht aber die transzendentale Differenz in der
Deduktion der transzendentalen Kausalität in der Kausalitätskategorie,
sondern eben nur die allgemein beurteilte Eigenschaft der Deduktion, ein
für sich jedenfalls schon gerechtfertigter Grund für eine Entscheidung im
Rahmen des Einschränkungsproblems der reinen spekulativen Vernunft
sein zu können, ist das, was der dann schon wieder als reines synthetisches
Urteil a priori zu behauptende Vernunftschluß genau aussagt. Genau
betrachtet bleibt aber, unabhängig vom Inhalt der Aussage und dessen
Valenzen zum mannigfaltig Ausgesagtem, die Quelle der Apriorität solange
22

im Dunkeln, bis die Priorität der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in


den Kategorien vor den Vernunftbegriffen klar herausgestellt ist. Daß die
Kategorien als Begriffe nur Titel von Relationen von Aussagen über
Wahrnehmungen und Aussagen über Regeln sind, ist das Ergebnis der
transzendentalanalytischen Untersuchung des empirischen
Verstandesgebrauchs und nicht das Ergebnis der Untersuchung der reinen
Vernunft. Daß Kant diesen von Descartes vorgezeichneten Schritt über das
Konzept der transzendentalen Subsumtion hinausgehend macht, und die
Schematen der Sinnlichkeit (Einbildungskraft) und der Verstandesbegriffe,
also das Ungleichartige, im transzendentalen Schematismus zusammensetzt,
ist der erste und entscheidende Schritt zu einen Begriff objektiver Realität,
der aber nichts als der Titel einer Relation ist, die in A den Anspruch erhebt,
die Relation in und zwischen den daseienden Dingen auszudrücken, in B
immerhin noch die Wahrnehmungsurteile gemäß dem Kausalitätsprinzip zu
verknüpfen vorschreibt. Der zweite, die Methode reflektierender und
formalisierender Schritt führte im Rahmen der Intentionslehre zuerst zur
Frage nach der Gerichtetheit und der Modi der Aufmerksamkeit, und dann
in einem weiteren Schritt zu einer »transzendentalen« Grammatik, wie sie
Kant meiner Auffassung nach im Duisburger Nachlaß als Problem skizziert
hat. Dies als Sprachphilosophie zu erkennen fällt den Vertretern der
analytischen Sprachphilosophie schwer, wenn auch Searle sich von einem
Kritiker der Intentionslehre zu einem Verteidtiger gewandelt hat, insofern er
anzuerkennen bereit ist, daß die Urteilslehre ohne Psychologie sinnlos wird,
weil Urteilen und Schlußfolgern nicht durch eine mechanisierbares Kalkül
der aussagenlogischen Schlußformen ersetzt werden kann. Darüberhinaus
zeigt sich die Wichtigkeit der psychologischen Komponente der Urteilslehre
sowohl in der Beurteilung der Prämissen als einzusetzende empirische
Begriffe subjektiver Realität wie in der Beurteilung der Bedeutung der auf
Analogien zu den Verstandesschlüssen in den Kategorien in heuristischer
Hinsicht bereits eingeschränkten Vernunftbegriffe. Das erste Mal als
Instanzen des transzendentalen Subjekts wie Apperzeption und innerer
Sinn; der notwendigerweise vorauszusetzende Influx von Intelligibilität und
Ausdehnung stellt die Verbindung her zum äußeren Sinn und der
Leiblichkeit als Ort und als Gestalt im Raum.

Diesen psychologisch-physiologischen Strang der Argumentation aus der


Untersuchung der transzendentalen Apperzeption nenne ich, in diesem
23

Zusammenhang gegen Kant, die transzendentale Psychologie des


transzendentalen Subjekts, da die rationale Psychologie des Ich denke nur die
Bestimmungen des reinen Verstandes und noch nicht die Bestimmbarkeit
der im inneren Sinn gegebenen Erscheinungsmannigfaltigkeit behandeln
kann. Wenn nun das transzendentale Subjekt den unhintergehbaren
Horizont der transzendentalen Analytik ausmacht, kann man nicht mit
absoluter Sicherheit behaupten, hier sei eine transzendentale Differenz
notwendigerweise enthalten, die nur nicht herausgehoben werden könnte,
um daraus ein Argument zu machen. Dazu ist eigens die Gegenüberstellung
der Intellektualität und der Sinnlichkeit als transzendentale und
metaphysische Differenz (aber nicht unbedingt als ontologische Differenz)
notwendig. Sicherlich kann jedoch behauptet werden, daß hier keine
transzendentale Differenz innerhalb der reinen Vernunft beansprucht
wurde, so wenig wie von der Unterscheidung in rationale Psychologie und
rationale Physiologie als Tableaus der spezifischen Reflexionbegriffe selbst
andere als formale Differenzen entstehen. Erst im Vergleich mit dem
möglichen Ganzen kann eine transzendentale Reflexion stattfinden.

Das dritte Mal geht es ebenfalls um eine Psychologie, die aber völlig
unabhängig von der gerade behandelten zu fundieren ist. Das Problem zu
beginnen besteht darin, daß in der Einteilung der Seelenvermögen die
Vernunft bereits als oberes Begehrungsvermögen vorgestellt wird, hier aber
noch eine Psychologie der reinen (theoretischen) Vernunft verlangt wird. Ich
unterstelle der Ideenlehre der Vernunft einen psychologischen Aspekt, der
durch die im Umkreis skizzierten alternativen Übergänge zur empirischen,
praktisch-philosophischen und transzendentalen Anthropologie nicht
erschöpft werden kann, weil es unweigerlich immer nur die Vernunft einer
individuellen Person sein kann, die in der transzendentalen Dialektik auf
ihre allgemeinen Formen hin kritisch untersucht wird. Ich behaupte damit
mitnichten, die Vernunftideen seien selbst Produkte transzendental
ursprünglicherer, phylogenetisch tieferliegender oder genetisch
präformierter psychologischer Strukturen oder dergleichen interessanter
Fragen, die zu entscheiden aber für die Transzendentalphilosophie zu ihrer
Fundierung nicht unbedingt notwendig sind. Vielmehr handelt es sich um
eine für die Aufgabenstellung angemessene, vom Entwurf her aber nur als
unvollständig veranschlagtes Konzept, das seine Richtigkeit ohne eine
andere Möglichkeit des Wahrheitsbeweises allein aus der
24

widerspruchsfreien Passendheit zur Aufgabenstellung herstellt: Die Frage


der Einteilung der Seelenvermögen entspricht modal der Exposition eines
nicht vollständig durchbestimmten philosophischen Begriffes, doch kann
man nicht umhin, die Frage nach der Einteilung der Seelenvermögen
transzendentalanalytisch als eine ursprünglichere als die der Untersuchung
der Erkenntnisvermögen selbst anzusehen, bedenkt man, daß der erste
Schritt der transzendentalen Analytik: die Beschränkung auf die
Erkenntnisvermögen, eine Einklammerung des praktischen und des
intelligiblen Subjekts bedeutet. Die transzendentalanalytische
Gesamtperspektive betrachtet die Erkenntnisvermögen hingegen als ein Teil
des Horizontes der Seelenvermögen, an welchem der Anspruch gestellt
wird, die Vollständigkeit der Einteilung an der Vollständigkeit und
Passendheit der architektonischen Folgen für die einzelnen
Untersuchungen, die sich daraus ableiten, zu messen. Diese systematische
Frage wird von Kant versucht mit den drei Kritiken (und Umliegendes) zu
beantworten; die Vollständigkeit liegt in der Selektion und in der Ordnung
aller Ideen; nicht nur der Ideen der reinen Vernunft.

II. Die Analogie der Diskursivität als Charakteristikum der Vernunft zur
Diskursivität als Ideal der Kommunikationswissenschaften
Die zweite Einschränkung durch die Kritik des Dogmatismus in der reinen
Vernunft (dergleichen ist nur als Doktrin der bestimmenden Urteilskraft
möglich) hält die Möglichkeit bereit, sich im Rahmen der transzendentalen
Methodenlehre anhand der Diskursivität philosophischer Beweise (wo nur
aus Begriffen erwiesen werden kann) eine Analogie zur
Vernunftphilosophie des »linguistic turn« denken zu können: Die
Diskursivität als Charakterisierung der Vernunft im Feld formaler
Spekulation und Kombinatorik bis in die formalontologische Auslegung der
reinen Vernunft (Christian Wolff) fordert dazu heraus, den Anspruch der
Sprachphilosophie zwischen intuitus und Diskursivität der Elemente der
»formalen« Logik Kantens einerseits und innerem Monolog Husserls
zwischen kommunikativer und darstellender Funktion andererseits noch
25

näher zu betrachten. Die Schlußfolgerungen aus dem Horizont einer rein


theoretischen »Gleichursprünglichkeit« von ursprünglich angesetzter
Ausdrucksintention und ursprünglich vorausgesetzter Darstellungsfunktion
sind naturgemäß selbst spekulativ und gehören zur synthetisch
vorgehenden Metaphysik. Dieser hypostasierte Horizont der
Aufmerksamkeit kann uns eben nur soviel sagen:
1) Der rein monologische Horizont der bloßen Darstellungsfunktion ist nicht
nur in sich selbst diskursiv verfaßt, indem unterschieden und verglichen,
identifiziert und abgeleitet, anerkannt und verworfen wird, sondern er ist
auch daraufhin angelegt, eine Mitteilungsabsicht zu verwirklichen. Der
ausdrücklich monologische Horizont ist bereits das Ergebnis einer bewußten
Einklammerung der Mitteilungsintention.
2) Im Gegenzug wird aus der Beobachterposition von außen auch ohne
ausdrückliche Ausdrucksintention teilweise aus dem wahrnehmbaren
Verhalten die inhaltliche Orientierung der intentionalen Verfaßtheit des
Bewußtseins (hier als Zustand des inneren Sinnes denkbar) einer anderen
Person bekannt werden können.
3) Schließlich verlangt die Ausdrucksintention immer schon einen Inhalt,
der mitgeteilt werden will. Dieser Inhalt ist nun nicht immer Gegenstand
einer Satzaussage oder eines endlichen Systems von Satzaussagen, sondern
kann auch Ausdruck einer Befindlichkeit oder desweiteren einer
Absichtskundgebung sein, wie K. O. Apel mit der Unterscheidung in
propositionale Aussage und illokutionären Redebestandteil die reine
Ausdrucksintention isoliert hat. Doch auch Apel bestreitet nicht, daß die
illokutionären Akte nochmals als propositionale Sprachakte ausdrückbar
sein können. Dies kann nun durch andere objizierend, oder im inneren
Monolog objizierend stattfinden. Eine Ausdrucksintention ohne jeden
Inhalt, der nicht propositional ausdrückbar wäre, gibt es auch für
analytische Sprachphilosophen nicht.

Allerdings kommt es offenbar bei einigen Vertretern der Sprachphilosophie


in England wie in Deutschland, insbesondere bei K. O. Apel, zu einer
Verwechslung ganz anderer Art, und zwar innerhalb der Analogie zwischen
immanenter Struktur der reinen Vernunft und der sprachimmanenten, also
schon selbst idealisierten, kommunikativen Struktur selbst. Denn weder ist
bis zu diesem Schritt die reine Vernunft noch die kommunikative Struktur
einer Gesellschaft, welche die (transzendental)philosophische Fragen zu
26

stellen ermöglicht, selbst transzendental. Ist doch zunächst diese als


realmöglich vorauszusetzende Kommunikationstruktur bereits selbst
Ergebnis einer Auswahl aus verschiedenen empirisch möglichen
Kommunikationstrukturen. Insofern ist einmal mit dem Akt der Wahl selbst
die transzendentale Freiheit mit angesprochen und zumal das Motiv, daß
die Wahl eben auf die ideale und nicht reale Verfaßtheit der
Kommunikationstruktur gefallen ist, für die Beantwortung dieser Frage
entscheidend.

Das Motiv ist die Frage nach der Wahrheit, was sowohl die theoretische wie
die praktische Vernunft betrifft, als daß die Beantwortung der Frage nach
der Wahrheit zwar aus beiden Gründen am propositionalen Gehalt der
Aussage primäres Interesse hat (insofern das Theoretische unter dem
konkret-praktischen Interesse), komplementär aber auch am illokutiven
Gehalt der Aussage Interesse hat. Als reale Handlung der Kommunikation
betrachtet ist eben beides in Rechnung zu stellen. Vermag man auch
zwischen Behaupten, Wünschen, Befehlen als für die weitere
Charakterisierung der Intentionalität (als Haltung) noch die Liebe zur
Wahrheit als weitere Leidenschaft in die Psychologie einzufügen, hat man
aber immer noch nicht die reine praktische Vernunft als Quelle der reinen
Willensphilosophie erfaßt, um die Reflexion des rationalen Sprechaktes auch
im postiv-konkreten Handlungssinne abschließen zu können (Franz
Fischer). Doch dürfte bisher deutlich geworden sein, daß die reine Liebe zur
Wahrheit zwar schon eine sittliche Haltung in der ideal verfaßten
Kommunikation erwarten lassen würde, aber selbst noch nicht eine Theorie
der Sittlichkeit impliziert. Die Wahl der idealen diskursiven
Kommunikationssituation impliziert nicht eine Theorie der Sittlichkeit; diese
Aussage behauptet aber nicht die Unmöglichkeit irgendeiner Art von
Theorie über die Sittlichkeit. Es ist also erstens festzustellen, daß das Motiv
der Wahl zwar eine ethische Frage, aber nicht die Frage nach einer Theorie
der Sittlichkeit selbst stellt, und zweitens, daß auch sonst nichts auf eine
transzendentale Differenz hinweist, die mit einer formalisierbaren Differenz
zwischen der diskursiven Verfaßtheit der reinen (theoretischen) Vernunft
und der idealen, aber immerhin als realmöglich gedachten
Kommunikationsstruktur verläßlich konstituiert werden könnte. Die einzige
transzendentale Differenz besteht zwischen der Idealität der diskursiven
Kommunikationsstruktur und deren wie auch immer beschränkten
27

Realmöglichkeit. So konnte auch zwischen metaphysischem Ansatz und


transzendentalästhetischem Ansatz in der Frage nach der Begründung der
Geometrisierbarkeit des Raumes keine eigene transzendentale Differenz
ausgemacht werden. Allenfalls ist eine einseitige ontologische Differenz
auszumachen, indem die verschiedenen realmöglichen
Kommunikationsstrukturen zumindest teilweise in der physikalischen
Realität, welche eben Gegenstand der Kategorien ist, fundierbar sind,
während die reine Vernunft zuerst immer nur als Idee »existiert« und so nur
im Ganzen des Daseins eines Subjektes fundiert werden kann, auch wenn
der idelle Inhalt selbst Diskursivität und Komplementarität zur
Ausgestaltung und Generierung von Ideen vor jeder Reduktion voraussetzt.

Die reine Vernunft ist als spekulative Vernunft zwar diskursiv verfaßt, aber
nicht nur an die selbst als monologisch verfaßt gedachte intelligible
Spontaneität der transzendentalen Apperzeption sondern auch an die
transzendentale Subjektivität der Leiblichkeit im Raum gebunden. Die
Erörterung bleibt in der Doppeldeutigkeit des inneren Monologs Husserls:
Schon mittels der bloßen Darstellungsintention wird das betrachtete
einzelne Subjekt letztlich zur möglichen Quelle der Interpretation durch
andere. Zum Schutz unserer Privatheit, aber auch zum Schutz der Intaktheit
der vermittelten Botschaft scheint es angezeigt zu sein, dennoch
Ausdrucksintention und Darstellungsintention systematisch zu
unterscheiden. Weiters ist es für die darstellende Intention kein
Widerspruch, im Rahmen des inneren Monologs widerstreitende
Standpunkte zu diskutieren. Der innere Monolog Husserls ist insofern als
eine sprachliche Fassung des inneren Sinnes, welcher nach Kant bei Bedarf
auch als Medium des Vergleiches empirischer Begriffe herzuhalten hat,
anzusehen. Daher ließe sich auch nachvollziehen, weshalb die empirische
kommunikative Verfaßtheit des Verhältnisses der Individuen untereinander
zwar als Analogie zur diskursiven Verfaßtheit des inneren Monologs
geeignet ist, aber auch, weshalb diese erkenntliche Differenz vielleicht eher
eine ontologische Differenz genannt werden dürfte als selbst eine
transzendentale Differenz. Eine transzendentale Differenz kann per
definitionem (ein transzendentales Prinzip ist eines der synthetischen
Urteile a priori und setzt so analytisch Erscheinungen existierender Dinge in
der inneren Erfahrung voraus) nur von einem
transzendentalsubjektivistischen Standpunkt aus bestimmt werden. M. a.
28

W., hier kann aus anderen Gründen als vorher keine transzendentale
Differenz konstituiert werden: Es ist nicht anders als komplementär
möglich, reine Vernunft und ideale Kommunikationsstruktur zu denken; sie
liegen also nicht in einer einfachen und geraden Intentionsrichtung.1 Die
transzendentale Differenz kann aber nur primärintentional ausgebildet
werden, was sich auch an der Behandlung des transzendentalen
Schematismus und dessen Schwierigkeit der gleichzeitig zu
berücksichtigenden doppelten Intentionsrichtung gezeigt hat; dort aber war
eine Lösung des psychologischen Problems in der Urteilslehre möglich, weil
die Gegenwendigkeit von Objektintention und Handlungsintention in einer
Linie gelegen ist mit der doppelten Orientierbarkeit der Ausrichtung der
Subjekt-Objekt-Differenz, die wesensmäßig in der Affinität des Daseins
gegeben ist.

So wird der transzendentalen Differenz, welche einerseits ein synthetisches


Urteil a priori notwendig macht, dieses aber bei geeignetem Prinzip auch
erst für uns zu konstituieren ermöglicht, die gegenwendige Intentionalität
als Reflexion bereits vorausgesetzt. Die einzelnen Schematen des
transzendentalen Schematismus konstituieren selbst mitnichten
irgendwelche transzendentalen Differenzen; die Schwierigkeit liegt dort
vielmehr in der Gruppierung verschiedener Ansätze, die selbst teilweise
keine ontologische Bedeutungen im epistemologischen Sinne, aber
ontologischen Relevanzen besitzen (wie die Beharrlichkeit in den
Erscheinungen) und solchen, die ontologische Bedeutung und Relevanz
besitzen, wie etwa die dynamische Erklärung der Materie oder das
Bewegliche als Substrat der M. A. d. N. überhaupt. Wenn nun auch die
verschiedenen Schematen selbst nur komplementär betrachtet werden
können, so haben sie in ihrer Zusammensetzung doch die Orientierung der
primären Intentionalität nicht verloren, als daß ein gemeinsames Substrat als
Gegenstand der Erfahrung zugrundegelegt wird, was zwar nicht für den
ganzen möglichen Umfang des transzendentalen Schematismus, aber für
den Vergleich von »subjektiver Vorstellungsreihe« und »objektiver
Erscheinungsreihe«, worauf die Deduktion der Kategorien schlußendlich
beruht, im dritten Abschnitt bewiesen wird. Eben dieses vorausgesetzte und
voraussetzende gemeinsame Substrat in einer aktuellen Ereignishaftigkeit
fehlt in der komplementären Betrachtung von reiner Vernunft und idealer

1 Brentano sagt dazu Orthogonalität.


29

Kommunikationsstruktur ebenso wie eine auch nur formale durchgehende


Subsummierbarkeit. Hingegen ist nichts gegen die Vorstellung
einzuwenden, es ließen sich aus den Grundsätzen der diskursiven reinen
Vernunft Prinzipien a parte priori für Kommunikationsverhältnisse ableiten,
doch wird dabei die Konstitution einer transzendentalen Differenz bereits
vorausgesetzt oder eben übersprungen, weil es sich um
Kommunikationsverhältnisse handelt.

c) Der Durchblick auf das intelligible Subjekt der empirischen Handlung


impliziert eine zweite relativ selbstständige und konstituive
transzendentale Differenz als Vervollständigung zur Totalität der reinen
Vernunft
Erst die dritte Einschränkung in der Auflösung dritten Antinomie der
kosmologischen Ideen erlaubt den Durchblick auf das intelligible Subjekt;
und zwar als vollständige Darstellung der transzendentalen Analogie der
Kausalität, indem hier von der Kausalität aus Freiheit (ausgehend von der
transzendentalen Freiheit die Frage nach der Wertsetzung) über die
Kausalität durch Freiheit (die Spontaneität, eine Reihe von Erscheinungen in
der Natur beginnen zu können) bis zur Kausalitätskategorie des reinen
Verstandesbegriffes alle möglichen Abschnitte des Anwendungsbereiches
des transzendentalen Prinzips der Kausalität versammelt werden können;
was auch dann relevant ist, wenn der eine oder der andere Abschnitt
hinsichtlich des modalen Anspruches seines Beitrages zur Frage, woher es
notwendig ist und woher was notwendig ist (Quaeitas und der ostensive
Beweis) als defizient angesehen werden sollte. Obwohl von der Deduktion
der Kategorien, insbesondere von der transzendentalen Deduktion und ihrer
selbst synthetischen Fortsetzung im Schematismuskapitel und in den
Erläuterungen zu den synthetischen Grundsätzen ein eigener Beweisgang
zu fordern ist, kann doch auch im selben Geltungssinn behauptet werden,
daß dieser Beweisgang seinen Ansprüchen genügt und in der Vorstellung
der Kausalität durch Freiheit synthetisch-metaphysisch gedacht bereits
analytisch enthalten ist. Diese Analogie der Kausalität durch die
Doppeltheit, sowohl als Bedingung wie als Teil des Bedingten
vorzukommen, ist nun wahrhaft ein metaphysisches Kompositum und nur
für die intensionale Logik möglich. Es lassen sich auch einige formale
Merkmale für diese Auffassung angeben: Erstens die Vollständigkeit der
Darstellung in den aufgezählten Abschnitten einer zu fordernden
30

Untersuchung, zweitens der mit der Doktrin der bestimmenden Urteilskraft


bereits als geliefert zu betrachtenden transzendentale Beweis der Deduktion
der Kategorien, drittens die metaphysische Argumentationen von Seiten (a)
des intelligiblen Subjekts, (b) als metaphysische Anfangsgründe der
Naturwissenschaften (Elastizität und Repulsion bzw. Bewegung aus Impuls
und Attraktion) , (c) als teleologisches Naturprinzip (Commercium und
Dialektik der teleologischen Urteilskraft). Systematisch ist zu fordern, daß
die transzendentale Analytik und deren gegenwendig aufzusuchende
synthetische Urteile a priori in den synthetischen Grundsätzen der
Kategorien — also samt deren synthetischer Metaphysik — analytisch in
ihre Stellungen im Untersuchungsgang der Architektonik der reinen
Vernunft eingewiesen werden können.

Ein Hinweis auf die Schwierigkeit in der dritten Antinomie der Kritik der
reinen Vernunft, den Einsatz der intelligiblen Ursächlichkeit in die Reihe der
Erscheinungen zu denken, vermag folgende Stellungnahme des späten
Kants zu geben (Benedikt: Deduktion von oben gegenüber dem
Doppelsystem von Empfindung und beweglichen Kräften als
Deduktionsansatz von unten). Die Schwierigkeit besteht näher darin, daß
die Weiterbestimmung des Ding an sichs beginnt, die Freiheit des
erkennenden Subjekts in die Schematen von Raum und Zeit einzusperren;
also neben der Absicht, ein verlässliches Instrumentarium zur Beurteilung
der Erscheinungen zu erlangen, damit auch begonnen wird, weitere
Prinzipien zur Beurteilung einer Handlung aus Gründen einer freien
Entscheidung auszuschließen: »In dem Erkenntnis eines Gegenstandes liegt
zweyerlei Vorstellungsart 1. des Gegenstandes an sich 2. dem in der
Erscheinung. Die erstere ist diejenige wodurch das Subject sich selbst
uranfänglich in der Anschauung setzt (cognitio primaria) [ — wohl aber
deshalb noch nicht selbst als Anschauung, vgl. erste metaphysische
Erörterung des Raumes — ] die zweyte da es sich mittelbar selbst zum
Gegenstand macht nach der Form wie er affiziert wird (cognitio secundaria)
[ — als psychologische und kosmologische Idee —], diese letztere ist die
Anschauung wodurch der Sinnengegenstand dem Subjekt gegeben wird ist
die Vorstellung und Zusammensetzung des Mannigfaltigen nach Raum/ u.
Zeitbedingung Das Objekt aber an sich = X ist nicht ein besonderer
Gegenstand sondern das bloße Princip der synthetischen Erkenntnis a priori
31

welches das Formale der Einheit dieses Mannigfaltigen der Anschauung in


sich enthält (nicht ein besonderes Object).« (AA XXII, p. 20)

Hier wird der Kosmotheoros durch das transzendentale Objekt ersetzt, das
den Kosmos und den Leib als Teil dieses Kosmos darzustellen beginnt,
während in der Deduktion von unten (Benedikt gibt S. 395 stellvertretend
eine Stelle aus AA XXII, p. 461) das »subjektive System« der
Wahrnehmungsorganisation nicht nur die immanente Schwierigkeit hat, wie
diese gänzlich unter die Regeln des Systems beweglicher Kräfte gebracht
werden kann, was doch zur Physik als doktrinales System der
Wahrnehmungen gefordert werden muß, sondern dazu noch gerade
deshalb — eben wie die »Deduktion von oben« — in Zweifel gerät, ob das
»subjektive System« überhaupt geeignet ist, einer kategorischen Pflicht
unterworfen zu werden. M. a. W., das Freiheitsproblem droht letzlich da wie
dort aus der Kosmologie der Welt gleich ganz in den Kosmotheoros, und
damit außer Reichweite anthropologischen Philosophierens verlegt zu
werden. Dieser aber ist von einem bloßen Demiurgen bald nicht mehr zu
unterscheiden.

Der Durchblick auf das intelligible Subjekt holt hingegen den gesamten
Regressus in seinen verschiedenen Varianten des Rückganges von
Vorstellungen auf oberste Ideen (wie dann auch die Prinzipien des
Progressus bis hin zum Wandel der Prinzipien a parte priori des konkret-
empirischen Erfahrungmachens) prinzipiell und theoretisch ein. Zuerst wird
das intelligible Subjekt in der Kritik der reinen Vernunft zur Voraussetzung
der transzendentalsubjektivistischen Letztbegründungsstrategien und deren
Kritik; schließlich zur Voraussetzung der Vereinigungsversuche der reinen
(theoretischen) und praktischen Vernunft. Obgleich das intelligible Subjekt
nicht unmittelbares Ergebnis der transzendentalen Analytik ist, nenne ich
diesen Durchblick mit Kant transzendental, gerade weil zwischen
»intellektuellem« Subjekt und empirischem Objekt zwar zweifellos eine
transzendentale Differenz der Vorstellungsart bestehen muß, damit wohl
aber auch erst recht eine ontologische Differenz zwischen dem Subjekt und
Objekt der formalontologisch von Wolff behaupteten Affinität behauptet
wird. Das intelligible Subjekt könnte als der Restbestand der synthetisch-
metaphysischen Philosophie angesehen werden, in dessen topos sich
allerdings nunmehr intellektuelle Spontaneität und intellektuelle
32

Rezeptivität im Problem der transzendentalen Freiheit treffen. Es erweist


sich, daß das intelligible Subjekt kein Artefakt irgendwelcher Methoden ist
(was man, uneingeschränkt der objektiven Gültigkeit der transzendentalen
Analytik, vom transzendentalen Subjekt als deren Zielpunkt gerade nicht
sagen kann), sodaß hier, zumal die Darstellung der Analogie vollständig ist,
von einem eigentlichen und selbstständigen Substrat des Begriffes die Rede
sein kann, dessen Ort in der Untersuchung der dritten Antinomie zugleich
vollständig bestimmt ist. In der Deduktion der Kategorien waren die
Relationen der mathematischen (Phoronomie) und der dynamischen
Kategorien (Relationen zwischen daseienden Dingen) in der subjektiven
Realität der Phänomene das Unterpfand für ein außersubjektives Substrat
des Geschehens und der, der transzendentalen Deduktion
gegenüberliegende Eckpfeiler, worauf sich eine transzendentale Analyse und
Synthese unserer Erfahrungen errichten hat lassen. Hier steht nun sowohl
methodisch abermals eine transzendentalanalytische wie inhaltlich eine
synthetisch-metaphysische Entscheidung an, mit der nunmehr die
Auffassung über unser jeweiliges empirisches und intelligibles Subjekt
hinsichtlich des Freiheitsproblems steht und fällt, wovon das
transzendentale Subjekt nur eine abstraktive Vorstellung war. Diese
ursprüngliche, zwar radikal subjektive und doch modale Frage, deren
negative Beantwortung gleich jede philosophische Untersuchung schon als
bloße Möglichkeit zunichte machen würde, hinterläßt also die Idee eines
Substrates des transzendentalen Subjektes, welches sowohl bestimmend wie
zugleich sich selbst bestimmend gedacht werden soll. Darin ist zuerst nur
das zu ersehen, was gesagt worden ist: das transzendentale Subjekt ist als
Zielpunkt der transzendentalen Analytik der Erfahrung desselben Subjekts
sowohl intelligibel (rein intellektual) wie auch als sinnlich, a fortiori als
leiblich zu denken. — Nun steht aber die Intelligibilität der Spontaneität der
Intellektualität als Voraussetzung jeder durchgängigen Kritik und
Bestimmung als solche zur Diskussion, die, zur Mannigfaltigkeit der
Vernunft geworden, nicht den inneren Sinn, sondern sich selbst bestimmt,
indem die Intelligibilität rein ist, weil sie sich, sofern sie sich zur rein
spekulativen Vernunft bestimmt, zu sich selbst verhält. Indem sie sich zur
rein spekulativen Vernunft selbst bestimmt hat, hat sie sich zu einer
»idealischen« Vernunft bestimmt, die spekulativ die Totalität zu bestimmen
sucht, wie die Intellection der reinen Ideen auch. Indem sie sich aber darin
zu sich selbst verhält (wenngleich eben nicht mit sich selbst ident ist), indem
33

sie sich selbst weiter bestimmt, versucht die Intellection in der rein
spekulativen Vernunft damit auch eine Identität der Bewegung dieser
Weiterbestimmung und zugleich die Totalität zu bestimmen. Deshalb kann
diese vorgängige »Vernunft« auch idealisch genannt werden (Ideal der
reinen Vernunft). Indem die Intelligibilität ihre Intellektualität zur reinen
Vernunft in Analogie zu möglichen Grundsätzen der Erfahrung
weiterbestimmt, bestimmt sie nicht sich selbst, vielmehr das andere in uns –
den inneren Sinn. Wir aber haben im Rückblick (von der abstraktiv
vorgehenden transzendentalen Analyse aus gesehen) reine Intelligibilität
(für uns zuerst als Intellektualität), inneren Sinn und Leiblichkeit zum
zusammengesetzten Substrat; nur als intelligibeles Wesen der rationalen
Psychologie sind wir ein einfaches Wesen. Insofern kann die reine
Selbstbestimmung des intelligiblen Subjekts mittels dessen Intellektualität
auch ein ervernünfteltes Artefakt der transzendentalen Analytik sein, die
erst im Begriff ist, über die Grenzen möglicher Bestimmungen des
Erfahrungsraumes (als mögliches Ganzes) hinauszugehen. Wenn von einem
solchen Wesen, von welchem die genaue Zusammensetzung und der Grad
der Verwirklichung seiner Möglichkeit zwar nicht bekannt ist, aber
zureichen soll, in der besagten dritten Antinomie der ersten Kritik die
Kausalität aus Freiheit in der Kausalität durch Freiheit mit der
Kausalitätskategorie zu verbinden, vermag man nicht nur die, vom
transzendentalen Subjekt unter eine Klammer gebrachte
Substratsmannigfaltigkeit desselben als, letztlich nach der transzendentalen
Analytik vorgegebenen Grenzen geordnete, synthetische Metaphysik in den
von der transzendentalen Analytik in der transzendentalen Psychologie
gezogenen Grenzen aufzufassen. Die Kausalität aus Freiheit garantiert,
insofern teils aus reiner Spekulation (wie etwa oben), teils bereits aus
architektonischen Gründen, das transzendentale Freiheitsproblem. Das
ergibt eine weitere Möglichkeit von synthetischer Metaphysik (metaphysica
specialis).

Das damit nur unvollständig exponierte Problem der Willensphilosophie


reicht aber zu, irgendein Substrat eines handelnden Subjektes abermals aus
dem Gegenteil der Unmöglichkeit, das ein mögliches Ganzes ausgeschlossen
werden könne, als notwendig zu denken, sodaß insbesondere im Rahmen
der dritten Antinomie unabweislich wird, die Totalität der reinen
(theoretischen) Vernunft als Übergang zur praktischen Vernunft, und dies
34

auch als Übergang vom Konzept des transzendentalen Subjektes der


Untersuchung des Verstandesgebrauches gegenüber der Sinnlichkeit und
Erfahrung zum intelligiblen Subjekt eines gemäß seiner ganzen
(organisierten) Seelenvermögen handelnden Wesens zu verstehen. Das
allerdings rechtfertigt überhaupt erst das Ansinnen, hier von einer
transzendentalen Differenz zu sprechen: Erstens weil doch immer (auch im
transzendentalen Subjekt) das einzelne und idente, aber unbekannte Subjekt
gemeint war; und zweitens, weil dieses Konzept vom Subjekt dann anhand
des bloß erschlossenen intelligiblen Subjektes in der dritten Antinomie auch
noch die rein formale (hier also nicht-sinnlich und nicht-anschaulich zu
verstehende) Kontinuität im Wechsel seiner Bestimmungen erhält, bis es zur
Vorstellung eines Wesens kommt, das nur vom reinen Willen, das ist das
vom Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft mit dem Gefühl der
Achtung affizierte Gemüt, bestimmt ist. Doch wohl auch um den
Unterschied für eine Transzendentalphilosophie gewiß genug zu machen,
hat Kant noch ein übriges getan und aus dem Unterschied der Quelle der
das Gemüt und sein Streben bestimmenden Affektationen einen Gegensatz
zwischen empirischem Subjekt, das pathologisch, und intelligiblem Subjekt
gemacht, das die praktischen Vernunftgesetze denkt; von welchem aber das
empirische Subjekt, das im transzendentalen Subjekt gedacht wird,
ästhetisch-praktisch affiziert werden soll. Die Frage ist, wie ist der Satz: »Der
intelligible Charakter ist ohne jeden Einfluß der Sinnlichkeit« (B 569/A 54)
zu verstehen ist. Ist der intelligible Charakter nur eine weitere Abstraktion
wie das transzendentale Subjekt, welches in der transzendentalen
Untersuchung der Erkenntnisvermögen (Verstand und Sinnlichkeit) als
Folge der Einklammerung (Husserl: transzendentale Reduktion) erscheint,
der nunmehr zum Fluchtpunkt einer unbedingten Norm rektifiziert worden
ist? Oder ist der intelligible Charakter nur im Sinne einer intensionallogisch
absolut gedachten Einheit von Essenz und Existenz das wirkliche Substrat
des transzendentalen Subjektes? Ich folge hier der letzten Auffassung, die
Kant nahelegt, wenn er die Kausalität aus Freiheit als solche unzweideutig
exponiert. Nur deren sichere Erkennbarkeit als Ursprung einer
Naturdetermination wird in den Anmerkungen zur dritten Antinomie
letztlich in Zweifel gezogen, wenn die Freiheit durch Kausalität kritisch
diskutiert wird.
35

Es ist also festzuhalten, daß hier der Übergang von der Totalität der reinen
Vernunft zur praktischen Vernunft auf eine Weise vollzogen wird, daß
sowohl was den modalen Anspruch betrifft, wie auch was die Kontinuität
und Vollständigkeit der Darstellung angeht, die Konstitution der
transzendentalen Differenz innerhalb des transzendentalen Subjektes
zwischen intelligiblem Subjekt und empirischem Subjekt zunächst außer Frage
gestellt werden kann, gerade weil eben über das empirische Subjekt als
Erfahrung über sich selbst als erkennendes Subjekt vermittelt. Die bloße
Unterscheidung in rationale Psychologie und rationale Physiologie macht
nicht die transzendentale Differenz, doch kann sie darin gedacht werden,
wenn diese zuerst als philosophischer Begriff exponierte Differenz nicht nur
als Direktion, sondern auch als Konzept vorstellig wird, die den Kantschen
Kriterien genüge tut. Das erkennende Subjekt ist aber das intelligible Subjekt
und das empirische Subjekt im transzendentalen Subjekt, welches als bloßer
Zielpunkt der transzendentalen Analytik selbst die Vermittlung aber nicht
leisten könnte. Wenn nun das intelligible Subjekt aber womöglich nur das
Produkt der über die Grenzen möglicher Erfahrung gehenden
transzendentalen Analytik ist, bliebe nur das empirische Subjekt als Instanz
und Agent der Vermittlung in einem. Eben das konnte ausgeschlossen
werden. Hingegen kann das empirische Subjekt nicht einfach als
Pathologisch-Sinnliches regionalontologisch abgetrennt werden und als
Ganzes dem transzendentalen Subjekt oder einem auf Normativität
depotenzierten intelligiblen Subjekt zum Substrat dienen.

Betrachtet man das Individuum in seiner Zusammengesetztheit


verschiedener Naturen von Außen als Gegenstand, erst dann stellt sich die
Frage nach der transzendentalen Differenz zwischen unserer Vorstellung
des Anderen als objektive leibliche Existenz und als Person. Diese Frage aber
ist nicht einfach zu beantworten, da einerseits der Leib als Ausdruck der
inneren Gestimmtheit letztere nur durch Appräsentation für uns zugänglich
macht, aber nicht gleich die ganze Person. Das spricht für die Möglichkeit
einer transzendentalen Differenz, andererseits geht Kant vom Gemeinsinn
aus, weshalb in der praktischen Vernunft die Ausbildung einer
transzendentalen Differenz nicht vorgesehen ist. So bleibt für die
Transzendentalphilosophie die transzendentale Differenz im
transzendentalem Subjekt, letzteres ist jedoch nur eine Idee des urteilenden
empirischen Subjekts, das sich dieser Idee im Urteil zuerst unterwirft; und
36

die transzendentale Differenz von empirischen und intelligiblen Subjekt


bleibt ohne Erfahrung (Widerlegung des Idealismus) eine Hypothese bzw.
das intelligible Subjekt ohne Freiheit aus Kausalität und Freiheit durch
Kausalität eine transzendentalanalytisch als notwendig gesetzte Hypostase.
Diese Darstellung der Differenz ist nicht die, die der dynamischen Kategorie
der Kausalität vorausgesetzt ist (eben als transzendentale Bedingung der
Möglichkeit von Erfahrung ein transzendentales Prinzip); man befindet sich
hier bereits am Boden der reinen Vernunft im Übergang zur reinen
praktischen Vernunft, und ist, das ist das wichtigste der Argumente, die
Quelle unserer möglichen Autonomie und Heautonomie im Urteil und in
der geplanten Handlung.

Das ist insgesamt die fünfte,2 aber erst die zweite für sich selbst vollständige
Fassung einer transzendentalen Differenz, die sowohl vom Ursprung her
selbstständig wie auch anhand eines Prinzipes darstellbar ist, worauf sich
ein Gebrauch des Begriffes von »Transzendentalität« stützen kann. Es ist
nun die Frage, inwieweit aus einem möglich scheinenden zweiten
transzendentalen Prinzip ein synthetisches Urteil a priori der reinen
Vernunft deduziert (gerechtfertigt) werden kann, was gemäß der Definition
eines transzendentalen Prinzips aus der transzendentalen Ästhetik der
Probierstein auch des zweiten transzendentalen Prinzips sein sollte.

d) Der Übergang von reiner Vernunft zur reinen Willensphilosophie des


intelligiblen Subjekts. Das Reich der Zwecke

I.
Vorhin habe ich ausgeführt, daß sich das intelligible Subjekt vom
transzendentalen Subjekt darin unterscheidet, daß die Spontaneität des
intelligiblen Subjekts den Zusammenschluß von Kausalität aus Freiheit und
Kausalität durch Freiheit bewerkstellige; schließlich daß im intelligiblen
Subjekt selbst der Topos der Zusammenstellung oder Gegenüberstellung

2 Nach der transzendentalen Differenz der Ästhetik, der Kausalitätskategorie, der


formalen Analogien zwischen Diskursivität der reinen Vernunft und idealer
Kommunikationsgemeinschaften, und der möglichen transzendentalen Differenz
zwischen Individuuen (als Personen betrachtet), ist die Sicherung der Verbindbarkeit
von Kausalität aus Freiheit und Kausalität durch Freiheit die fünfte Fassung einer
transzendentalen Deduktion als bloße intentionale Direktion.
37

von intellektueller Spontaneität und intellektueller Rezeptivität das


Verhältnis von transzendentaler Apperzeption und innerem Sinn
(empirische Apperzeption) wiederholt und erst gegenwendig sich
synthetisch-metaphysisch als die ursprüngliche Fassung des Horizonts der
transzendentalen Freiheit herausstellen läßt. Dieser wiederum ist erstens als
Erweiterung des psychologisch verfaßten Verständnis vom Bewußtsein zur
Idee einer zusammengesetzten Welt und deren Hingeordnetheit auf die
Natur und zweitens modal vom Ergebnis der einseitigen Kritik der
Zufälligkeit (Kontingenz) im Rahmen der bloßen Naturdeterminationen
abhängig anzusehen und an sich und für uns Grundlage jeder weiteren
Willensphilosophie als wissenschaftliche, d. h. hier vor allem methodisch-
kritische Philosophie. Die notwendige Bindung an die Idee der Wahrheit,
um überhaupt das erste Kriterium einer erfolgreichen Willensbetätigung zu
erreichen, scheint völlig der Kantschen Auffassung der Willkür vom
intelligiblen Subjekt im Rahmen der transzendentalen Idee der Freiheit
entsprechen zu können: Kant verzeichnet zwar diesen Moment der Willkür,
die nicht an die Ideen der Wahrheit und Gutheit gebunden ist, doch er
unterwirft die zugleich unbestimmt-abstrakt vorgestellte Freiheit, anders als
Hegel,3 kommentarlos den obersten Prinzipien der Vernunft: der
Unbedingtheit und der Totalität (Ganzheit). Das bedeutet am Boden der
praktischen Vernunft einerseits die Einschränkung der dialektischen Idee
der Freiheit zur Autonomie und andererseits die Einschränkung der selbst
nur in Totalität zu denkenden reinen Freiheit zuerst der Streberichtungen
nach, dann im Vergleich der Konkretisierbarkeit teleologischer Zweck-
Mittel-Relationen, und schließlich deren abermalige Einschränkung im von
der Vernunft regierten Reich der Zwecke. Dieser sich schließende Bogen
steht unter der Spannung zwischen der reinen Intelligibilität des Subjekts
der praktischen Vernunft einerseits und andererseits der Zusammenfügung
der Transzendentalität des Empirischen am höchsten Gut und der
Transzendentalität der Idee von der Natur. Diese Zusammensetzung
geschieht anhand der Diskussion um die verschiedenen Grundformen des
kategorischen Imperatives und deren Gruppierungen (in: Kant-Studien 93,
2002, pp. 374-384, Georg Geismann: Die Formeln der kategorischen
Imperativs. Paton, Reich, Ebbinghaus).4

3 Rechtsphilosophie, § 13
4 Die verschiedenen logischen Argumentationsformen der Beispiele für den
kategorischen Imperativ (Lügenverbot, Veruntreuungsverbot eines Depositum,
Selbstmordverbot) sind damit allerdings nicht vollständig diskutiert worden.
38

Aber auch in der Ausarbeitung der Zusammenhänge im Fortgang der


systematischen Reflexion von theoretischer Vernunft, Vernunft als oberen
Begehrungsvermögen, ästhetische Urteilskraft, teleologischer Urteilskraft
technisch-praktische Vernunft und nochmals reiner praktischer Vernunft,
die streng gemäß der Einschränkung auf Erkenntnisvermögen (ratio
cognoscendi) noch in Frage kommt, ist modal sowohl das transzendentale
Subjekt wie das intelligible Subjekt an die Leiblichkeit gebunden, das zeigen
schon die Paralogismen in beiden Fassungen. Nun sagt Kant, daß der
intelligible Charakter jede Einflußnahme der Sinnlichkeit verbiete; ich habe
aber das intelligible Subjekt in den Erörterungen zur dritten Antinomie
vorwiegend im Feld des Überganges von der Kausalität aus Freiheit zur
Kausalität durch Freiheit betrachtet. — So beansprucht schon die klare und
deutliche Gegenüberstellung des Verstandesvermögens und der Sinnlichkeit
die Position der transzendentalen Apperzeption für den reinen
Verstandesgebrauch, ja selbst für die Konstitution des Verstandes, ohne
argumentativ auf ein transzendentales Prinzip der reinen Vernunft selbst
angewiesen zu sein. Die Intellection ist nicht der Verstand selbst, aber nichts
weniger schon reine Vernunft im Sinne der transzendentalen Dialektik
Kants und deren Einschränkungsweisen. Intellection ist in der Fassung des
intelligiblen Subjektes als gedachte Essenz und Existenz des
transzendentalen Subjektes nichts als die ursprüngliche intellektuelle
Rezeptivität; und der Verstand ist zunächst nichts als die ursprüngliche
intellektuelle Spontaneität. Der Bedeutungsbereich des intelligiblen
Subjekts, welcher aus der Dialektik der bereits auf die Analogie zu den
Kategorien eingeschränkten reinen Vernunft entspringt, geht aber einerseits
über das Erkenntnisvermögen hinaus, und schließt andererseits die
Sinnlichkeit (ein Teil des Erkenntnisvermögens) aus. Daß das »Ich denke«
im Übergang der Paralogismen zu den kosmologischen Ideen einen
empirischen Aspekt aufgrund der Selbsterfahrung im inneren Sinn
notwendig zugesprochen bekommt, dessen Basis noch schmäler ist, und
schon mit der bloßen »Wirkung« der intellektuellen Spontaneität des
Verstandes auf den inneren Sinn als produktive Einbildungskraft als erfüllt
angesehen werden kann, zeigt nur auf dem Gebiet der transzendentalen
Psychologie die notorische Schwierigkeit auf, einerseits der Spekulation
nicht entraten zu können, weil sie systematische Einheit möglich macht,
andererseits die Spekulation auch bei einer mehr oder weniger strengen
39

Bindung an die Grenzen des transzendentalen Idealismus eine ebenso


systematische Kritik nötig macht.

II.
Es konnte also herausgestellt werden, daß nur in einem spezifischen
»normativen« Sinn die Intelligibilität von der Sinnlichkeit nicht affiziert
wird (Vernunft als höheres Begehrungsvermögen), oder die Intelligibilität
nur vermittels der Formen des Verstandesgebrauches über die Sinnlichkeit
informiert wird (Vernunftprinzipien a parte priori), ansonsten keine
Apperzeption stattfinden könnte, was doch die Bedingung für ein
bestimmendes Urteil ist. Im nächsten Schritt ist demnach zu diskutieren, in
welchem Horizont der Übergang von der Kausalität aus Freiheit zur
Kausalität durch Freiheit stattfindet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß
der eigentliche Übergang von intellektueller Spontaneität zur
Naturkausalität in jenem Abschnitt geschieht, den Kant mit der Freiheit
durch Kausalität bezeichnet hat. Inwiefern der Begriff Ursache sein kann,
leuchtet zuerst im kommunikativen Bereich ein, so zum Beispiel, wenn
Aufforderungen im Imperativ befolgt werden. Wie ein intellektueller
Entschluß durch unsere Körperlichkeit zu einem Beginn einer
Naturdetermination werden kann, kann nicht mehr allein nach den
methodischen Möglichkeiten des Erfahrungsmachens befragt werden, und
wie die daraus gewonnenen Erfahrungen systematisch zum Erfahrung
anstellen genutzt werden können, sondern es wird eine qualitative Frage
gefragt, die schlicht und ergreifend die ist, wie wir einen Begriff oder einen
intellektuell begründbaren Entschluß des Willens als Ursache inmitten von
Naturursachen vorstellen sollen. Immerhin wird die Beantwortbarkeit, oder
doch eine Auflösung dieser Frage im Übergang von Erfahrung machen zum
Erfahrung anstellen vorausgesetzt. Wo ist der Ansatzpunkt? Etwa in den
Untiefen der Bestimmungsansätze zwischen rationaler Physiologie des
inneren Sinnes und empirischer Psychologie des Gemüts? Wie schon des
öfteren angeführt, verfolgt Kant im Opus postumum diesen Gedankengang
bis in die »physiologischen Gehirnbewegungen« hinein und kommt zu
einem doppelten System beweglicher Kräfte. Es muß Kant also bekannt
gewesen sein, daß die Basis der Willensphilosophie gegenüber der
Naturphilosophie sehr schmal ist; ich wage sogar noch mehr zu vermuten,
nämlich daß die von der Ganzheit der Transzendentalphilosophie
geforderte Vollständigkeit der Prinzipien der Naturphilosophie die
40

praktische Philosophie beim späten Kant zeitweise an den Rand logisch


unbedingt notwendiger Spontaneität eines daseienden verständigen Wesens
zurückgedrängt hat. So wird diese Frage vorzeitig mit einem noch später zu
erwartenden Problem im Zusammenhang der sittlichen Rigorosität Kants
bekannt gemacht, als daß Kant offenbar glaubt, nur mit sittlichen
Grundsätzen a priori die transzendentale Idee der Freiheit gegenüber der
Naturdetermination in totum auch beweisen zu können; vorläufig geht es
aber etwas weniger anspruchsvoll erstens sowohl um die Sicherung der
intellektuellen Spontaneität (Verstandesvermögen) wie um die Sicherung
der intellektuellen Rezeptivität (Intellection), und zweitens eben um die
Frage nach der Ursächlichkeit des Begriffes bzw. auf wie viele Arten man
diese Frage stellen kann. Sich aber nur im Rahmen objektiver und
subjektiver Zweckmäßigkeit eine Antwort auf die gestellte Frage zu
erwarten, verschiebt bereits auch die Grenze der ursprünglichen Frage nach
der intellektuellen Rezeptivität und Spontaneität, was das rein intelligible
Subjekt ausmachen soll. Daß diese Frage immer schon eingebettet ist in ein
System von Fragen nach gesellschaftlicher Organisiertheit, was auf den
kommunikativen Aspekt unserer Organisiertheit als Individuum und als
Gattungswesen verweist, vermag nicht den physisch-manipulativen Bereich
als einer der Quellen des Erkenntnisvermögens zu verdecken. Diese Quelle
der systematischen Erfahrung gibt uns zugleich die Sicherheit, daß Freiheit
durch Kausalität möglich ist, auch wenn eine unmittelbare Antwort wie in
der Widerlegung des Idealismus in dieser Fragerichtung, wie wir denn nun
in die Naturdeterminationen eingreifen, wenn wir schon offenbar eingreifen
können, a priori nicht zu erwarten ist, auch wenn Kant zunächst zu
beweisen vorhat, daß wir Naturdeterminationen beginnen können.

Nach einer ersten Eingrenzung des Untersuchungsbereiches, die offenbar


wegen des Ausgangspunktes des Unternehmens, nämlich eine
Untersuchung der Erkenntnisvermögen zu sein, selbst notgedrungen
gegenüber der Ganzheit der Seelenvermögen unvollständig bleiben muß,
findet ein Teil des gesuchten Übergangs im inneren Sinn oder im Gemüt
statt. Es kann vorsichtiger auch gesagt werden, daß es zwei konkurrierende
Hypothesen gibt, wovon die eine näher an die Leib-Seele-Problematik
herangeht, dortselbst, zumindest bei Kant, das vermittelnde Medium jedoch
in verschiedenen Funktionen des Vergleichens zerfällt, und dennoch als
Klammer der inneren Inkohärenz sowohl für die anti- und
41

außerakademische Kriterienlehre der Evidenzen, wie für die innere


Erfahrung letztlich doch als Basis der unmittelbaren Selbstgewißheit im Akt
der Identifikation der Spontaneität mit deren Folgen in der Einheit der
transzendentalen Apperzeption unverzichtbar bleibt. Die Übersetzung
nahezu notgedrungen unscharfer Definitionsabschnitte des inneren Sinnes
zum Medium innerer Erfahrung führen dazu, daß die rationale Physiologie
u. a. zuständig zu werden droht für den Vergleich von empirischen
Begriffen. Da es eben um Begriffe geht, kann das aber nicht Angelegenheit
der rationalen Physiologie sein, sondern es ist im Sinne der Vorstellung vom
transzendentalen Schematismus ein Mitwirken der intellektuellen
Spontaneität (Verstand) von nöten. Die weitere Verfolgung dieses Stranges
der Argumentation führte wieder in ein System der Einbildungskraft als
spezifischer Formenkreis der Wirkung der intellektuellen Spontaneität
gegenüber dem inneren Sinn. Das hat sicherlich nichts mit dem hier
aufgeworfenen Problem zu tun, zumal hier die reine Intellektualität des
intelligiblen Subjekts selbst mit der Wirkung auf den inneren Sinn per
definitionem schon verlassen worden ist. Diese kleine Beobachtung gewinnt
um so eher an systematischer Bedeutung, um so schwieriger die Lösung des
ursprünglichen Problems erscheint. Zur Beantwortung der ersten Fassung
der Frage ist uns auch nicht wirklich damit gedient, wenn wir uns
vergegenwärtigen, daß wir als Gattung in der Tat in der Lage waren, auf die
Umwelt und auch auf uns selbst Einfluß zu nehmen. Architektonisch
vermag ich aber daraus auch bei Nichtbeantwortbarkeit der ursprünglichen
Frage einen Grund zu ersehen, die Beantwortbarkeit der Frage nach der
mittelbaren Ursächlichkeit von Begriffen auf die Natur nicht auszuschließen;
vorläufig kann diese Frage als grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit
pragmatisch sogar als so gut wie beantwortet angesehen werden. Das läge
vorneweg in unserer Existenz als Gunst schon immer unbekannt
mitbeschlossen.

An Stelle von transzendentalsubjektiv immanenter Selbstevidenz reiner


Intellection oder als Ergebnis innerer Erfahrung im inneren Sinn selbst schon
empirisch gedacht, wie auch immer, aber eben immer jeweils mit dem
Gegebenen des Sinnlichen getrennt und koordiniert, beansprucht die
Evidenz bei Kant aber schließlich eine universale Position als ihr Kriterium;
sichtlich ein Erbe des Wolffianismus. Die Antwort ist nicht die erwartete, die
ursprünglich gestellte Frage wird nicht beantwortet, aber die gebbare
42

Antwort beantwortet die zuerst abhängig vom Physikalismus des


kategorialen Verstandesgebrauches gar nicht gestellte Frage nach Bedeutung
und Sinn dazu. Diese über das Individuum wie über die Gattung im
jeweiligen Zustand hinausführende architektonische Perspektive der
Fragestellung bleibt aber zu unserer Verfügung und kann nicht einer
Formalontologie a priori wie im ontologischen Horizont der Fragestellung
Christian Wollffs unterworfen werden. Da aber Philosophie nicht aus
Weltanschauungen bestehen kann, gibt es für die kritische philosophische
Anthropologie die Aufgabe, die ideengeschichtlichen Perspektiven und
andere Ursachen unserer Lebenswelt und deren autopoetischen Charakter
empirisch-historisch zu katalogisieren und nach Möglichkeit für eine
kritische Theorie der Gesellschaft, schließlich für eine allgemeine Theorie
der Vergesellschaftung des Menschen als Individuum und als Gattung
heuristisch zu nutzen. Das Potential der transzendentalen Idee der Freiheit
zur Willkür aber führt weiter zur Kritik an der Dogmatik der reinen
praktischen Vernunft. Diese ist sowohl in ihren
transzendentalphilosophischen Teilen wie in ihren metaphysischen Teilen
als eigentliche Grundlage der Willensphilosophie zu würdigen, die freilich
das von mir unbeantwortet gelassene Fünklein des intelligiblen Subjekts
voraussetzt, aber nach der Antizipation des Endes des bürgerlichen
Nationalstaates anhand der Verderbtheit der öffentlichen Sitten keine Idee
oder kein Schema für ein kritisches Verhältnis von philosophischer
Anthropologie und Soziologie (als allgemeine Gesellschaftslehre) mehr
zustande bringen kann. Andererseits beginnt die kosmologische Idee im
gegenwendigen Übergang zu den Paralogismen zwischen der
Körperoberfläche als naheliegende Grenze des Ichs und dem Ganzen des
Kosmos als eine Vorstellungsart der Welt als Natur zu oszillieren: Der Raum
als ein Gefühl der Allgegenwart.

10. Zur dritten relativ selbstständigen und konstitutiven


transzendentalen Differenz: Formalontologie, Kultursoziologie,
Geschichtsphilosophie?

a) Der Übergang von der Formalontologie des Daseins zur


Geschichtlichkeit des Daseins
43

Unabhängig davon und über das bisher Behandelte hinausgehend ist nach
wie vor analog zur Unterscheidung in eine transzendentale Einteilung und
in eine mathematische Einteilung des Kontinuums
(transzendentalpsychologisch der innere Sinn) zumindest die Möglichkeit
einer selbstständigen transzendentalen Differenz zwischen reiner
(theoretischer) und praktischer Vernunft als Ergebnis der Kritik an einer
Formalontologie in Nachfolge Christian Wolffs zu überlegen und
gegebenfalls zu widerlegen. Die Auflösung insbesondere der dritten
Antinomie führt aber zur Untersuchung der Verhältnisse von Regressus und
Progressus im Rahmen der Zeitordnungen vom empirischen Subjekt seines
Kosmos ausgehend. Das Ergebnis sind Zeitbedingungen von ganz anderer
Art als aus der Untersuchung des kategorialen Verstandesgebrauches in
sinnlicher Erfahrung bekannt, da hier die Sinnlichkeit nicht mehr die
Kontinuität der in der Gegenwart verfließenden Zeit garantiert. Also nicht
die relative Zeitlosigkeit der intellektuellen Reflexion und des Vergleiches
von empirischen und nicht-empirischen Begriffen im Gemüt (innerer Sinn)
wird zu einer zur Erkenntnisfrage komplementären synthetischen
Metaphysik der Psychologie oder zu einer Fundamentalontologie des
Daseins ausgebaut, sondern die Mannigfaltigkeit der Zeitstrukturen werden
in die Begrenzung des Horizontes des Daseins zurückgebogen.

Kant kann die streng transzendentalsubjektivistische Trennung der


cartesianischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa insofern
aufgeben, weil beides nach der transzendentalen Kritik nur mehr als
Ergebnis des Urteilens über Erscheinungen im inneren Sinn (Gemüt oder
auch empirische Apperzeption) des transzendentalen Subjekts behandelt
werden darf. Die Formalontologie aber kann nicht länger die Sinnlichkeit
und deren Abstraktionen heranziehen, um Kontinuität in den
Erscheinungen garantieren zu können, sie muß eine in sich selbst erzeugte
Gleichzeitigkeit eines Horizontes behaupten, der als Gleichursprünglichkeit
die ontologische Charakteristik der Ursprünglichkeit, und als gesetzte
Gleichursprünglichkeit die formale Charakteristik erst zu rechtfertigen hat.
Deren angebliche Zeitlosigkeit und angebliche Aufheblichkeit und
angebliche Überblickbarkeit formaler Konsequenzen wurde schon oftmals
kritisiert. Vorallem aber ist der innere Widerspruch von Formalität und
Ontologie schon unabhängig vom Unterscheid zwischen bloßer
44

widerspruchsfreier Denkmöglichkeit und rein formalwissenschaftlicher


Theorie, und erst recht vor der modernen Einsicht in die unumgänglichen
konventionalistischen Elemente jeder theoria einsehbar. Bevor der
konventionalistische Aspekt jedoch wirklich als Ausdruck der intelligiblen
Freiheit verständlich wird, muß schon in der selbst theoretischen Reflexion
auf den Unterschied bloßer logischer Denkmöglichkeit und aussagefähiger
Theorie in Formal- und Naturwissenschaften zurückgekommen werden.

Innerhalb formaler oder rein innermethodologischer Reflexion bleibt der


konventionalistische Aspekt gleichberechtigt mit den semantischen
Elementen, sodaß hier die Konjunkturalität der Formalwissenschaft
entspringt, ganz wie Kant in § 62 der Kritik der Urteilskraft die Mathematik
damit charakterisiert, daß sich die einzelnen Aufgaben nach den
Konstruktionsprinzipien der reinen Mathematik erst mit einen der
Mathematik selbst äußerlichen Zweck auswählen oder überhaupt erst
konstruieren lassen. Aber ist es dann doch erst das Prinzip (wie man noch
sehen wird letztlich nichts als das »idea est archetypus intellectus«), das in
der Konjunkturalität der bloß unbestimmt-abstrakt Affinität ausdrückenden
Formalontologie diejenige Einschränkung zustande bringen soll, welche
eine geregelte Verbindung systematisch herzustellen erlaubt. Dies kann als
Übergang von Bildersprache zu Schriftsprache verstanden werden, indem
die bloße Vorstellung von selbst unanschaulichen Elementen des
Bildverständnisses, also zum Beispiel Relationen zwischen sinnlichen
Elementen, seien sie nun als Ursachen oder als Regelbegriffe zu denken,
gerade in ihren Verhältnissen zueinander wiederum eine architektonische
Vorstellung einer Gruppierung erzeugen, die trotz der sprachlichen und
schriftlichen Linearität der Performation selbst nicht primär zeitlichen
Charakter hat.

Hingegen muß mit der vergangen gesetzten Zeit auch immer eine
durchgehende Reihe von einer hypothetisch in die Vergangenheit gesetzten
Gegenwärtigkeiten auf uns zu zu denken möglich sein, doch ist der in der
Zeit rückwärts schreitende Regressus gerade nicht durchgängig in
Konzepten der sinnlichen Kontinuität darstellbar. Erstens die
Objektivsetzung der Zeit als Vergangenheit als solche (nicht sofort deren
empirisch-konkreten Ereignisse), wie zweitens auch der Regressus auf das
Ding an sich selbst (das Ding an sich selbst als das Substrat der
45

Erscheinungen) in der Gegenwart der vergehenden Zeit des


Erfahrungmachens bis drittens zur objektiv intendierten Zeitbestimmung
des Zugleichseins führt die Zeitvorstellung dreimal über die bekannten
Grenzen der transzendentalen Ästhetik von Raum und Zeit als reine
Anschauungsform hinaus. Und das, ohne die antizipative Dimension der
Apperzeption, die Strebungen von unteren und oberen
Begehrungsvermögen in der Einteilung der Seelenvermögen (!) oder die
ästhetische und teleologische Urteilkraft zwischen reflektierender und
bestimmender Urteilskraft durchgängig berücksichtigt zu haben. Es gibt
keinen Grund, den transzendentalästhetischen Ansatz von Raum und Zeit
auf sinnliche Anschauung und inneren Sinn zu beschränken, außer den
Zweck, die Vorbereitungen für die vom Erkenntnissubjekt ausgehende
transzendentale Deduktion der Kategorien zu schaffen.

Keineswegs denke ich, die transzendentale Forderung Kants an die Einheit


des Bewußtseins sei deshalb in der Geschichtsphilosophie schon hinfällig,
weil für den historisch jeweils bedachten Zeitrahmen ein
naturwissenschaftlich nachprüfbarer Befund hinsichtlich Reihenfolge und
kalendarisch eindeutiger Datierbarkeit für entscheidend in methodischer
Hinsicht gehalten wird oder weil die nicht grundsätzlich bestrittene
Möglichkeit, aus dem strikten Subjektivismus ein Stück weit mittels
wissenschaftlichen Methoden und mit dem Ideal der Diskursivität
hinauszukommen, hermeneutisch zur möglichen Ganzheit historischer
Sinnfindungshorizonte wird, welche die Einheit des individuellen
Bewußtseins übersteigt. Insofern will ich hier nur die transzendentale
Subjektivität in der Geschichtsphilosophie, wie sie von so verschiedenen
Denkern wie Simmel und Mannheim eingeführt worden ist, dahingehend
präzisieren, daß es sich dabei allein um die Formulierung einer letztlich
geschichtsphilosophischen Position handeln kann, und keinesfalls, obwohl
es den Anschein hat, gleich um die Position von jemand, der im
Nachvollzug eines komplexen kultursoziologischen Stratums oder, gemäß
der zeitlichen Ausdehnung einer historischen Epoche, im Durchblick von
Material auf eine Idee oder eine Gruppe von Ideen zu bringen vor hat, was
die Vorstellung von einem System des vinculum substantiales als die
Gesellschaftskräfte zu einer, wie auch immer unvollkommenen Bündelung
(wie etwa die invisible hand von Adam Smith) in Richtung der empirischen
Konkretisierung der gedachten prästabilisierten Harmonie erst in einem
46

nächsten Schritt erlauben soll; immerhin eine Vorstellung, worin in der


rationalen Metaphysik urprünglich die meisten Denker nach Descartes (mit
Hobbes als Grenzfall und Gegenbild) in gewisse Übereinstimmung zu
bringen sind. Diese, obgleich philososophische, zugleich selbst aber auch
ästhetisch-praktische Vorstellung gewähre jedoch nur stellvertretenden,
nicht realen Genuß, weil eben bloße ästhetische Vorstellung; kann aber noch
in der radikalen Kritik als Bewältigung komplexer Mannigfaltigkeit
genossen werden. Insofern könnte dann im bloß ästhetischen Genusses des
gesellschaftlichen Bandes symbolisch von Theophagie und Anthropophagie
gesprochen werden. (Vgl. Walter Benjamin, Michael Benedikt)◊ƒ

b) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die ästhetische Dimension der


transzendentalen Zeitbedingung (Robert Zimmermann).
Zur Doppeldeutigkeit von Artefakt und kulturellem Symbol

Ich will hier nur eine vorläufige Überlegung zur Grundlegung von
Geschichtsphilosophie selbst oder auch nur der Geschichtswissenschaften in
Anspruch nehmen; es soll unzweifelhaft sichergestellt werden, daß mit den
Untersuchungen des Regressus nicht nur indirekt, als die Zeit der rein
intellektuellen Verstandeshandlung im Zuge der Vereinfachung oder
Ausdifferenzierung der Ideen, oder in der Bestimmung des Regressus in der
Zeit als transzendentale Form einer notwendigen Reihenfolge des
Erfahrungmachens die Rede ist, sondern von der Geschichtlichkeit der Zeit
selbst. Dazu ist die transzendentale Betrachtung der Vorstellungsart des
Geschichtlichen Voraussetzung, bevor gewissermaßen zu metaphysischen
Anfangsgründen der Geschichtswissenschaften weiter gegangen werden
kann.

Die Zeitlichkeit des Geschichtlichen ist verschieden von der Vorstellung


einer relativ abgeschlossenen Epoche. Gesucht wird deshalb weiterhin die
transzendentale Zeitbedingung der Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit. Die
Vorstellungsform dieser Zeitlichkeit ist keine der bislang
transzendentalästhetischen Anschauungsformen noch selbst teleologisch
verfaßt. Das quantitative Maß dieser Zeitlichkeit ist weder die Schnelligkeit
oder Langsamkeit ihres Verfließens noch deren Objektivierung in der
47

Messung an regelmäßigen Intervallen, auch nicht das Maß der Erwartung,


das innerhalb einer Epoche mit einem teleologischen Urteil verbunden sein
kann. Allen diesen Zeitformen kann auf verschiedene Weise Kontinuität
vorausgesetzt werden, die sowohl in den Horizonten des Gegenwärtigen
gültig sind wie auch immer über diese Horizonte hinausgehend als gültig
anzunehmen man verschiedene Gründe hat, je nach dem, ob es um die
regressive oder um die progressive Perspektive geht. Eben die Kontinuität
kann für das Geschichtliche der Zeit nicht vorausgesetzt werden, sondern
die Kontinuität ist bereits mit das Ergebnis der Untersuchung der
Geschichtlichkeit. — Das zweite Merkmal der Zeitlichkeit der
Geschichtlichkeit ist die Gegenüberstellung der Vorstellung von
epochenübergreifender »Wirksamkeit« von Ereignissen oder
Entscheidungen (offenbar ein Gedankengang aus dem Formenkreis von
Ursache und Wirkung) einerseits und dem konjunkturellen Charakter, dem
auch die Zeit der Naturgeschichte verfällt, andererseits. Der konjunkturelle
Charakter der geschichtlichen Zeit ist der Vorstellung der Determination
entgegengesetzt.

Es wird eine Wirkung behauptet, doch aber kann keine Ursache ausgemacht
werden, die aktuell auf uns einwirken würde. Es ist also so wie im
mechanischen Stoß, wo eine vergangene, nicht mehr wirkende Ursache eine
träge Bewegung zur Folge hat, die ohne weitere entsprechende Einwirkung
endlos andauern würde. In dieser nur bildlichen Redeweise wäre eine
strukturelle Fulguration oder ein Entschluß der Anstoß für eine
epistemische Veränderung, die gleichermaßen ohne vergleichbare
Beeinflussung endlos andauert. Wenn es aber die vorgestellte Kausation
»durch die Zeit hindurch« gibt, dann kann die Ursache als vergangene und
nicht mehr selbst wirkende nicht die fragliche Ursache der Kausation »durch
die Zeit hindurch« sein. Die Schwierigkeit der Überlegung wird noch
dadurch erschwert, daß auch diese Art von Dauer durch die nämliche
Beharrlichkeit der Erscheinung des Artefakts fundiert wird wie schon in der
transzendentalen Ästhetik der Substanzkategorie.

Robert Zimmermann hat in seiner kritischen Anthroposophie das Verhältnis


zwischen Autor (Künstler, Ingenieur) als historisch einmalige Ursache seines
andauernden Werkes, und dem Betrachter (Benützer), der das Artefakt
entziffert und so dessen Werkcharakter ins Leben zurückruft,
48

folgendermaßen beschrieben: »Zwar ist wie die Beseelung des Bildes


überhaupt, so auch seine Geistbeseelung nur Schein [...] Aber dieser Schein
ist unwillkürlich und nothwendig, er entspringt [...] aus dem Umstande,
dass der Geist für die Veränderung, die mit dem Bilde vor sich geht, indem
an die Stelle des Scheinbildes das wahre Bild tritt, eine Ursache sucht, und
diese, da er sich genöthigt findet, das Scheinbild zurückzunehmen, in das
Nöthigende, d.h. in das Bild selbst verlegt. Die Erhöhung des Eindruckes ist
nur die Folge des vorausgegangenen Scheines des Gegentheiles; da aber die
Ursache der Aufhebung des Scheines einmal in das Bild verlegt worden ist,
so wird nun auch diesen die Folge als beabsichtigter Erfolg, d.i. als Zweck
untergeschoben, zu dessen Erreichung der Schein des Gegentheiles
hervorgebracht wurde, es wird nicht nur Ursache, sondern zwecksetzende,
bewußte Ursache, Geist in das Bild gelegt.«5 Es ist also unsere Reaktion auf
das Artefakt, die wir dem Artefakt zuschreiben, womit dem Artefakt der
falsche Schein der Ursächlichkeit unterschoben wird. Als Artefakt wirkt es
zuerst trivial physikalisch, dann durch die Gestaltung des Materials
ästhetisch, schließlich im Kontext einer Geschichte bedeutungsvoll. Gerade
die letzte Wirkung des Artefakts wird bestritten, dies sei keine Wirkung des
Artefakts, dieses selbst sei nur eine weitere, die Aufmerksamkeit lenkende
Bedingung, welche der Betrachter als Mitglied der Kunstverständigen einer
Epoché (Einklammerung) selbst mitbringt. Die Bedeutung des Artefakts im
Kontext einer Geschichte wird vom Betrachter erzeugt, und dann in das
Artefakt verlegt.

Die Zeitbedingung der Zeitlichkeit von Geschichtlichkeit kann demnach


nicht als Reihenfolge des durchgehenden Wechsels oder als Sukzession
beschrieben werden, sondern ist die Dauer von Ideen der Möglichkeit nach,
so lange es Menschen gibt, die imstande sind, eine Mannigfaltigkeit der
Möglichkeit von Ordnung in den Ideen systematisch zu bedenken. Der
Versuch eines Schemas der Interpretation des reinen Verstandesbegriffs
gründet auf der Behauptung, daß bestimmte Fragestellungen nach Wahrheit
und Gutheit in vergleichbaren Varianten sich entwickeln, gleich wann eine
Kultur imstande war, solche Fragegänge systematisch zu einer
wissenschaftlich vorgehenden Philosophie zu machen; sie gründet also in
der Annahme einer gewissen Konstanz der menschlichen Natur als
Kulturwesen im Sinne einer literarischen Kultur. Dies wäre der logische

5 Robert Zimmermann, Anthroposophie, Wien 1882, § 292


49

Kern der philosophia perennis. Zur Demonstration der Behauptung der


Dauer der Möglichkeit nach ist die Idee von der philosophia perennis
ausgezeichnet geeignet; diese Dauer stellt sich nicht ohne Vermittlung ein,
aber auch nicht ohne eigene Erfindungskraft. Die Bedingung zur
Aktualisierung der Dauer der Möglichkeit nach sind physikalisch, ästhetisch
und hermeneutisch, wobei letzteres bekanntlich der selbst schon historische
Beitrag des involvierten Betrachters ist, der schließlich dem Artefakt
unterschoben wird. Die Bedingungen der Aktualisierung führen zu einem
zweiten Schema, das analog zu den Schematen der Einbildungskraft im
»Schematismuskapitel« der Kritik der reinen Vernunft gesehen werden
kann: Der verdeckte Wechsel der Position der Ursache, welcher in der
ästhetischen Vorstellung sich wechselseitig befördernd als lustvoll erlebt
wird, wäre formal die nämliche Vertauschung, hielte man das Ereignis oder
den Entschluß, welche unzweifelhaft für die historischen und vergangenen
Ursachen gehalten werden könnten, für die Ursache jener Wirkung »durch
die Zeit hindurch«, die im Grunde im ikonischen und schriftlichen, im
weiten Sinn also hermeneutischen Charakter des Artefakts liegt. Insofern
erfüllte dieser Positionswechsel abstrakt auch die Negation im reinen
Verstandesbegriff, wenn wir auch noch nicht wissen, ob, und wenn, welcher
Verstandesbegriff in diesem Fall vorliegen könnte.

c) Täuschung und Entäuschung: Individuum und Gattungswesen

Zwar vom Artefakt einsteils vermittelt, aber im Entschluß des Betrachters


zur Auslegung unmittelbar den involvierten Betrachter mit der gedachten
Dauer der Wirkung des ursprünglichen Ereignisses oder des Entschlusses
des Künstlers zum Werk (nicht mit diesem selbst, denn sie sind vergangen)
in Verbindung gebracht, aktualisiert andernteils der Entschluß zur
Auslegung erst die Wirkung der bloß gedachten Dauer. Diese Dauer hat
nichts mit der Beharrlichkeit des Artefaktes in den Erscheinungen durch die
historischen Epochen hindurch, oder mit der hypostasierten Dauer in der
Substanzmetaphysik noch in der Willensphilosophie zu tun, sondern wurde
vorhin schon als Dauer der Möglichkeit nach apostrophiert. Die Dauer der
Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit selbst wird nicht von der
Geschichtswissenschaft oder der Geschichtsphilosophie hergestellt sondern
nur wiederhergestellt, und da das Artefakt physisch existiert bzw.
50

nachweislich existiert hat, sage ich, diese Dauer wurde durch den
Beobachter und Betrachter »aktualisiert«. Insofern die Artefakte
unmißverständlich genug sind, wird die Wirkung der Dauer des Artefaktes
als nicht alleinstehende symbolische Wirkung des erkennenden Subjekts
(Artefakt sinnlich, Hermeneutik vernünftig) als durchgehend aktualisiert
zumindest der Möglichkeit nach vorgestellt werden können, wie aber das
Beispiel der philosophia perennis zeigt, muß das nicht notwendigerweise
wirklich in durchgängigen Traditionen so sein, obgleich die Philosophen
sich wie die Wissenschafter, Techniker und Künstler durch die Zeit
hindurch erkennen können. Die Aktualisierung ist nun mit einer
Charakteristik ihres Schemas der Einbildungskraft leicht als vom Schema
der Einbildungskraft in der Deduktion der Kategorien unterschieden
festzuhalten: Nunmehr geht es nicht um die Vertauschung aktueller
Gegenwart des Entschlusses zur Interpretation des Ereignisses mit der
vergangenen Gegenwart als fortgesetzte Täuschung in der Identifikation
von (verweisender) Erscheinung und Ursache oder von Erscheinung und
Wirkung (wobei ersteres für Kant bekanntlich besonders problematisch ist)
in einer zusammenhängenden Reihe. Vielmehr soll die Einsicht in die
Vertauschung auch hier nicht einfach bei der Enttäuschung stehen bleiben,
denn damit hätte die Kritik einen »Erfolg ohne Absicht« (Robert
Zimmermann, Anthroposophie) erzielt, der die Aura des Kunstwerkes
vollends vernichten und das Kunstwerk als kulturelles Symbol auf das
physische Artefakt (bzw. die Kausalität selbst auf die Erscheinung)
reduzieren würde. Das Ziel dieser Reflexion, die immer schon auf das
kulturelle Symbol und dessen Mannigfaltigkeit der kontextuellen
Einbettbarkeit entlang der bekannten oder auch nur mitwirkenden
Überlieferungsstränge ausgerichtet war, erweitert sich gewissermaßen wie
von selbst, wie Simmel oder auch Adorno und Mannheim angezeigt haben,
eben darüber hinaus zur Reflexion des Verhältnisses zwischen Individuum,
Kulturraum und Gattungswesen. Das geschieht, dieser Überlegung weiter
folgend, vom Individuum ausgehend, das die Verbindung von unmittelbare
sinnliche Wirkung des physischen Artefakts mit dem Kontext, der zwischen
der Lebensgeschichte der betrachtenden Person und dem die
Kulturgeschichte repräsentierendenden Kunstwerk erst herstellt und damit
auch das Artefakt zum Kunstwerk erhebt. Offenbar muß die Kritik, die in
der Aufklärung der Vertauschung der Position von Künstler und Betrachter
liegt, als Anlaß gesehen werden, die Ähnlichkeit des Kunstwerkes zum
51

Mythos (Adorno) zu brechen, indem die Produziertheit des Kunstwerkes,


die im Physischen des Artefaktes erkenntlich wird, das Kunstwerk nicht nur
was die Deutung, sondern auch was den Ursprung der Bedeutung angeht,
in den Bereich menschlicher Kreativität und Vernünftigkeit im weiten Sinn
verschiebt, während Mythos und Religion, wenn schon nicht immer auch
den Ursprung des Artefaktes, dann doch den Ursprung der Botschaft
außerhalb menschlicher Überlegungen sehen. Diese Perspektive der
Betrachtung weist die mit der Aufklärung des Kontextuellen der
literarischen Potentialität des Kunstwerkes befaßte Überlegung auf diesen
Übergang von Mythos, Religion und als vernünftig erkannte
Rationalitätstypen mit innerer Notwendigkeit ein (Christoph Jamme, Gott
hat ein Gewand. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-
Theorien der Gegenwart, Surkamp, Frankfurt/Main 1999, stw 1433), sodaß
die vom Individuum sowohl der Spontaneität wie dem ersten Inhalt nach
ausgehende Überlegung von dieser Seite her eine gattungsmäßig eingelegte,
aber in Freiheit zu unternehmende Reflexion auf das Kulturwesen zu
gewärtigen hat; und zwar unabhängig in welcher konkreten Kultur. In wie
weit weitergehende Brüche zwischen Rationalitätstypen als den als für
städtebauende Kulturen im Übergang vom Mythos zur Religion für
verbindlich angenommenen zu vergleichbaren Rationalitätstypen wie der
europäischen Aufklärung führen müssen oder sollte, darauf kann hier noch
nicht näher eingegangen werden, obgleich diese Frage im Zuge der
Globalisierung zu den entscheidenden gehört.

Entlang einer dazu querstehenden Achse kann ersichtlich werden, daß die
Vertauschung der Perspektive von Künstler und Betrachter (Leonardo da
Vinci) durch diese Kritik am Mythos im Kunstwerk zwar keinen
Widerspruch erzeugt, der Blick auf das Kunstwerk als Kultursymbol
insofern sogar dadurch erst ermöglicht worden ist, jedoch weder die
Reihenfolge für die inhaltliche Entwicklung der kontextuellen Potentialität
des Kunstwerkes (Methexis) durch die historische Zeit völlig gleichgültig
geworden ist, noch entschieden werden kann, inwieweit die Botschaft eines
Kunstwerkes, die über das Kunstwerk selbst als Hülle oder künstlerisch-
handwerkliche Überformung des Artefakts hinausweist, konkret schon als
solche, sei es als vollständige oder überhaupt schon vorhandene
angenommen werden kann. Damit wird die inhaltliche wie die zeitliche
Dimension wechselseitig miteinander verschränkt.
52

d) Die Zeitlichkeit der Geschichtlichkeit: Die hermeneutische Dimension


der transzendentalen Zeitbedingung (Sören Kierkegaard).
Die Epoche in Erzählung und Natur

Wie Kierkegaard in den Philosophischen Brocken festgestellt hat, wird der


Unterschied von unmittelbarer, das heißt zu Zeiten der Erscheinung des
Herrn bestehende Jüngerschaft, und von mittelbarer, also nur durch Bericht
und Belehrung in Kenntnis versetzter Jüngerschaft aber zumeist überschätzt.
In der Tat darf der Inhalt (die Botschaft) nicht hinter dem historisch
Ereignishaften zurücktreten. Die fragliche Aktualisierung der Dauer der
Möglichkeit nach zur Unmittelbarkeit geschieht durch die Einbildungskraft,
die offenbar unwillkürliche Vertauschung von historischer Ursache und
aktualisierender Ursache wird durch die Kritik nicht völlig
zurückgenommen, vielmehr erscheint der sinnliche Anteil vom Artefakt,
obgleich selbst ein subjektives Datum, als Unterpfand, die Vertauschung
gewissermaßen zu entschuldigen, schließlich als unumgänglich
anzuerkennen, wenn klar wird, daß die Kritik erst nach der Vertauschung
möglich wird, und die historische Kritik die ästhetische Wirkung erst von
der kultischen unterscheidet.

Mit Kierkegaard wurde aber schon der Standpunkt erörtert, daß zumeist das
Eigentliche die Botschaft sei und nicht die historischen Umstände der
Erzeugung oder der Wahrnehmung selbst. Insofern reicht das Schema der
Vertauschung ohne einen Begriff (Idee) der Botschaft nicht zu, die in Rede
stehende Aktualisierung bei aller Konjunkturalität als das Produkt einer
wirklichen Vermittlung anzusehen. Die Botschaft gibt die Kontinuität
zwischen den Aktualisierungen und entspricht dem Dritten, das gemäß dem
vorkritischen Kant die Kontinuität und Teilbarkeit sowohl des logischen
(zugleich primituiv des semantischen) wie des ausgedehnten Raumes
garantiert. Die Botschaft kann nur in der Einheit eines einzelnen
Bewußtseins gedacht werden, doch aber ist sie als Botschaft mehr als das,
indem erstens die Botschaft im einzelnen Bewußtsein nur eine Version der
Botschaft sein kann; zweitens kann diese Art von historischer Vermittlung
einer Botschaft als vollständige Interpretation derselben nicht gleich in die
Einheit eines einzelnen Bewußtseins verbracht werden; drittens kann nur
vermutet werden, daß es genau nur eine Botschaft überhaupt gibt, die
verschieden interpretiert werden kann. — Damit wird eine Eigenschaft des
53

Bewußtseins ersichtlich, die nicht von der Primordialität der


transzendentalen Subjektivität der sinnlichen Erfahrung erfaßt worden ist,
aber aus der Dialektik des intelligiblen Subjektes hervorgeht: nämlich, daß
das individuelle Bewußtsein nicht nur sinnliche (also andere Gegenstände
als den Leib voraussetzend) sondern auch soziale (also andere Individuen
voraussetzend) Eingaben benötigt, um das abstrakte Tableau des selbst
immer individuellen Bewußtseins zu errichten (Idee von der möglichen
Einheit des Bewußtseins). Uber die Gattungsgemäßheit dieser Bestimmung
wird das individuelle Bewußtsein auf eine soziale kommunikative Ebene
des innerartlichen Verhaltens gestellt, was ich abstrakt mit der
Intermonadologie aus den Cartesianischen Medidationen Husserls in
Verbindung bringe, dennoch bleibt es als Bewußtsein immer individuell und
an Körperlichkeit gebunden. In dieser Abstraktheit bleibt die Beschreibung
des egologischen Horizonts, gleich ob psycologisch oder
kommunikationswissenschaftlich formuliert, ohne determinierende
Zeitbedingung.

Die zeitliche Dimension der Geschichtlichkeit wird mit der Dauer der
Möglichkeit nach beschrieben, die Kontinuität jedoch, wie im Übergang vom
Wechsel zur Sukzessivität die transzendentale Einheit der anhebenden und
vergehenden Erscheinungen eines Objektes durch die logische Regel des
Überganges von Non-B zu B ausgedrückt wird, durch die semantische Regel
der Einheit der Botschaft repräsentiert. Es bleibt aber nach wie vor offen,
welche Art von reiner Verstandesbegriff für die Geschichtsbetrachtung in
Frage kommt: Reichte für die transzendentale Zeitbedingung der
Geschichtsbetrachtung der Wechsel der Erscheinungen aus, so könnte der
semantische Inhalt der Regel als Vertreter des gesuchten Verstandesbegriffes
gelten; es würde sich dann um den Begriff der Beharrlichkeit oder Substanz
der Botschaft handeln. Oder aber es wird wie eben die transzendentale
Zeitbedingung als Sukzession beschrieben, dann ersetzt die semantische
Identitätsforderung an die vermittelte Botschaft die logische Regel der
Sukzession, und der gesuchte Verstandesbegriff wäre dann der der
Kausalität; allerdings mit der anhand von Zimmermann beschriebenen
Schwierigkeit behaftet, daß hier nicht der Begriff der Verbindung von
Ursache und Wirkung gesucht wird, sondern die vergangene intelligible
Ursache eine Wirkung gezeigt hat, die die eine Bedingung dafür ist, daß die
gegenwärtige intelligible Ursache eine ähnliche Wirkung besitzt wie die
54

vergangene Ursache. Die andere Bedingung ist die Materialität des


Artefaktes, deren Charakter die ästhetische Wirkung mitbestimmt. Die
Materialität nimmt zuerst die Wirkung der ersten intelligiblen Ursache auf,
deren Gruppierung oder Form ist die materiale Seite der Wirkung der ersten
intelligiblen Ursache, die ästhetische Wirkung auf den Betrachter die zweite,
die kontextuelle und inter-kontextuelle Wirkung auf den Betrachter die
dritte Wirkung. Wenn man die Wechselwirkung zwischen Material und
Künstler, und dessen sich verändernde Position während der Ausführung
vernachlässigt, kann die Wirkung des Kunstwerkes an der Idee vom
Künstler selbst überprüft werden. Diese selbst idealisierte Konstellation
wird von einem anderen Betrachter teilweise durch Sehgewohnheiten schon
im ästhetischen Horizont, jedenfalls im kontextuellen Horizont durch die
Konjunkturalität der Geschichtlichkeit gegenüber der Vorstellung von
fixierbaren Epochen des Geschmacks durchbrochen: Die Ursache der
Wirkung des dritten Aspekts (teilweise auch des zweiten) bringen wir selbst
mit, wie auch immer gebrochen durch die selbst mitgebrachten Epoche,
gleich ob es sich dabei um verschiedene »Geschmacksgenossenschaften« zu
gleicher Zeit oder in verschiedenen Zeiten handelt. Die intelligible Ursache
dieser Wirkung (Aktualität) kann aber nicht nach einem universalisierbaren
Prinzip, d. h. nicht ein für alle Mal, von Naturursachen unterschieden
werden, die im Rahmen der rein ästhetischen Wirkung des Kunstschönen
ebenso zu einer Wirkung im Seelenleben kommen wie in der Betrachtung
des Naturschönen. Man sieht, daß es sich bei der Suche nach der die
Epochen verbindende zweite Bedingung spiegelbildlich um die nämliche
Schwierigkeit handelt, die zuvor als Leib-Seele-Problem die Vorstellung
intelligibler Ursächlichkeit begleitet hat. Insofern hat sich zumindest zeigen
lassen, daß die zweite Auffassung für das behandelte Problem die
geeignetere sein dürfte.

Die transzendentale Zeitbedingung der Geschichtlichkeit konnte also mit


der Formel der Dauer der Möglichkeit nach gefunden und modallogisch
durch die Einheit der Botschaft bestimmt werden; diese Definition umreißt
auch den Horizont der Geschichtlichkeit: Geschichtlich ist, inhaltlich
bestimmt, alles dasjenige zugängliche und aktuell unzugängliche Wissen,
was zugänglich gemacht werden kann, und deren historischen
Verbindbarkeitsmöglichkeiten. Deren Totalität würde allerdings die
Botschaft (das organisierbare Wissen), wenngleich auf spezifische und nicht
55

völlig abstrakte Weise, unkenntlich machen. Die Einheit der Botschaft, oder
schwächer, die hinreichende Eindeutigkeit der Botschaft, ja selbst, ob es eine
mit der erhaltenen Botschaft inhaltlich verbindbare Botschaft überhaupt am
Beginn der Interpretationsarbeiten bereits gegeben hat, bleibt zunächst
fraglich. Inhaltlich betrachtet, bleibt auch unbestimmt, was alles die
Botschaft dieser ursprünglich menschlichen Geschichte sein kann: Neben
der analytisch enthaltenen philosophischen Anthropologie handelt es sich
offenbar immer auch um eine anthropomorphe Schöpfungsgeschichte und
Kosmologie. Eine eigene Naturphilosophie und Naturgeschichte bleibt
genetisch betrachtet eine spätere, sekundäre Entwicklung. Doch ist es diese
Unterscheidung in die Geschichte des Erzählens und Nacherzählens, das
selbst Schwerpunkte setzt, selektioniert und verbindet, und
Naturgeschichte, die nochmals den Gang der Reflexion über die
Konjunkturalität selbst epistemologischer Entscheidungen in einen
Regressus der Objektivierung zwingt. Derart wiederholt sich der Zwang zur
Selbstauslegung des Denkens gegenüber dem Bildhaften und im Zeichen
als Schrift oder Symbol im Sprachlichen gegenüber dem Bedeuteten selbst
wie gegenüber der Sprachgemeinschaft in der Reflexion des genuin
Geschichtlichen des reflektierenden Denkens der inhaltlichen
Selbstauslegung des Subjekts zwischen Individuum und Gattungswesen,
nur um nochmals am Prozess des Werdens in der Natur gemessen zu
werden. Dieser Hegelianismus ist nun transzendentalkritisch zu brechen,
und von der bloßen Notwendigkeit »reiner« und »nicht-reiner«
(angereicherter) Spekulation zur Bestimmbarkeit konkreter Möglichkeiten
herunterzubringen, bevor ein historisch konkreter dialektischer Prozess (sei
es in der Geschichte, sei es in der Natur) davon überhaupt unterschieden
werden kann. Ich möchte nochmals die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß
hier so oder so die vorwissenschaftliche Kenntnis der Natur immer schon
vorausgesetzt wird; mit Kant wird in aller Schärfe ein erstes Mal im Zuge
des Regressus des Erfahrungmachens systematisch deutlich, weshalb
wissenschaftliche Erkenntnis, bei aller bloß hypothetischen Notwendigkeit,
sich sowohl der eigenen Geschichtlichkeit wie letztenendes auch der
Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes zu stellen hat.

Das historisch Unvordenkliche ist zwar in gewisser Weise auch geschichtlich


zu nennen (wie eben auch die Natur-»Geschichte« als enthülltes
Vorhandensein von Naturtechnik und Naturteleologie), aber nicht im
56

kontextuellen Sinn der Geschichte als ein System aus aufeinander


verweisende Geschichten von Verengungen und Erweiterungen der
Möglichkeiten der Interpretation der Zeitgenossen und der Nachfahren.
Insofern kann schon aus rein formalen Gründen, die mit einer literarischen
Epochenlehre verbunden sind, von einer möglichen Konvergenz der
verschiedenen in Frage kommenden zirkulären, linearen und endzeitlichen
Geschichtsvorstellungen im Umkreis eines Epochenbegriffes gesprochen
werden, obgleich der Verdacht, hiebei könnte es sich bloß um ein Artefakt
der Spekulation handeln, das vom jeweiligen Motiv bzw. Postulat der
Sinnfindungshorizontes bestimmt ist, nicht von der Hand zu weisen ist:
Trotzdem bleibt neben der schon angerissenen Zusammenführung der
abstrakteren Parallelen in den Charakterisierungen der Zeitvorstellungen in
der Vorläufigkeit des Epochenbegriffs das Unvordenkliche sowohl für den
transzendentalen wie für den metaphysischen Ansatz der Fundamentierung
des Geschichtsbegriffes in Stellung, und zwar in der nämlichen Doppeltheit
im Letztbegründungsproblem von Epistemologie und Metaphysik wie in
jeder Transzendentalphilosophie der Erfahrung (als Logik und Physik).
Insofern Transzendentalphilosophie als die Wissenschaft der Erfahrung zu
gelten hat (eben nicht als bloße Begriffsanalyse, was Metaphysik ergäbe),
muß es auch zumindest irgend eine transzendentalphilosophische, vielleicht
auch die eine eigentlich transzendentale Fragestellung nach der
Begründungsstrategie der Geschichtswissenschaften geben.

Wenn man auf die verschiedenen überkommenen Geschichtsvorstellungen


der Neuzeit zwischen plus ultra (F. Bacon) und ultima ratio (Richelieu)
eingeht, gerät man vom Vorfeld metaphysischer Anfangsgründe der
theologisch-philosophischen Spekulation bereits in die transzendentale und
subjektivistische Betrachtungsart der Geschichtswissenschaft — von da aus
aber wieder in den Zwiespalt von technisch-praktischer und ästhetisch-
praktischer Vernunft konkreter Vergesellschaftungsformen. Diese wiederum
verfallen gerade in einer durchorganisierten Massengesellschaft dem
Verdacht, nicht ohne — wenn schon nicht ontologischer (rassistischer), dann
quasi-transzendentaler (kulturrassistischer oder institutioneller) —
Differenzen auch zwischen den vergesellschafteten Individuen auskommen
zu können. Der Gemeinsinn Kantens steht noch in der universalitas und
universitas vereinigenden Forderung des kategorischen Imperativs der rein
logischen Form des Sittengesetzes schroff gegenüber; Husserls
57

Appräsentationsfigur des Du’s des anderen wie (hierin doch näher) Kants
Ideal des Schönen als Ausdrucksmotivation sowohl der inneren
Gestimmtheit wie des Ideals des Gattungswesens aus der dritten Kritik
setzen diese Gegenüberstellung thematisch fort. Doch was bedeutet das für
das zunehmend als urwüchsig vorzustellende konkrete Individuum, wenn
das intelligible Subjekt als Idee vom reinen Ich die Notwendigkeit seines
reinen Willens aus der Allgemeinheit des Gattungswesen zu beziehen
beginnt? Hingegen wäre die Erkenntnis, ob die Reihe einer
Naturdetermination gemäß der Erläuterungen zur dritten Antinomie allein
von der Natur gewirkt worden, oder von intelligenter Absicht verursacht
worden ist, selbst transzendental, ist aber eben nicht mit Gewißheit a priori
zu entscheiden. Ich sehe diese Schwierigkeit, das Ich einer anderen Person
als transzendentalen Gegenstand zu denken, doch aber nicht mit Gewißheit
einsehen zu können, mit dem Freiheitsproblem verknüpft: Die Spontaneität
des Ichs des anderen kann nur abstrakt als Potentialität gedacht werden,
also nur als abstrakte Bestimmung über das Gattungswesen als vernünftiges
Wesen, aber nicht als konkreter Zustand der intelligiblen Spontaneität
individuell und zugleich dogmatisch bestimmt werden. Nur auf diese
intensional im Gattungsbegriff des Menschen allgemein vorausgesetzte
Vernünftigkeit und Verständigkeit bezieht sich also die reine Intelligibilität
als analytische Metaphysik.

Im Versuch, die reinen Verstandesbegriffe des kategorialen


Verstandesgebrauchs auch für eine nicht selbst dynamisch
zusammenhängende Zeitbetrachtung in Stellung zu bringen, entpuppt sich
der Substanzbegriff abermals als Ergebnis einer Subreption; hier in der
uneinholbaren Vertauschung der historischen Umstände mit der Botschaft:
Im Falle Jesus Christus, indem schon die Sohnwerdung Gottes in
Menschengestalt als historischer Umstand mit der Liebesbotschaft
zusammenfallen könnte, oder in der uneinholbaren Vertauschung der
Ursache des Kunstwerks mit der Aktualisierung eines Artefaktes in der
Ästhetik des Kunstschönen. Die Aktualisierung der nach Möglichkeit
dauernden Wirkung bleibt im doppelten (sowohl materialen wie historisch
überlieferten) Bezug zur vergangenen Ursache, aber es bringt das
erkennende Subjekt die entscheidende Ursache der Aktualisierung mit sich,
um die Botschaft zu erfahren, was eben die Wirkung und ihre historische
Eigentlichkeit über dem zeitlich Ereignishaften hinausgehend ausmacht,
58

allerdings noch ohne die Vorstellung einer eindeutig zuschreibbaren


Ursächlichkeit, was den Ursprung der Botschaft selbst angeht, mit der
Kenntnis des Autors und seiner zeitgenössischen Umstände auch schon
besitzen zu müssen.

e) Die eigentliche und die uneigentliche transzendentale Differenz


der Zeit als Geschichtlichkeit

Für das hier auch noch verfolgte methodische Interesse ist aber zunächst
ausreichend, daß eine modallogische Definition der zunächst nur
hypothetischen transzendentalen Zeitbedingung des Geschichtlichen mit
zwei voneinander relativ unabhängigen Erklärungen der Konjunkturalität
gesichert werden konnte. Die erste Erklärung der Konjunturalität setzt sich
aus dem ästhetisch-psychologischen Ansatz, den ich hier von Robert
Zimmermann ausgehend skizzert habe, und dem, hier von Kierkegaard
ausgehend angezogenen semantisch-hermeneutischen Ansatz zusammen.
Mit Zimmermann wird die Anschauung des Artefakts und die
Vertauschbarkeit der Situation von Produktion und Gebrauch als
Kunstwerk oder Erfindung als Geschichtlichkeit des Bewußtseins
ausgehend vom Kunstschönen, aber doch im Rahmen einer allgemeinen
philosophischen Ästhetik, vorgestellt. Dies bleibt bei Zimmermann kein im
Individuum abgeschlossener Akt, vielmehr setzt die Fähigkeit des
Gebrauchs der Regeln, um aus einem Artefakt ein Kunstwerk (eine
Maschine) machen zu können, »Gesinnungsgenossenschaften« bei den
Verständigen voraus. Bei Kierkegaard geht es bereits um eine zentrale
Botschaft der Zivilisation, in welcher sich das Ensemble der Kulturation
zusammenstellen lassen können soll. Beide Perspektiven zusammen geben
die individuelle und die gattungsmäßige (binnenkulturelle) Basis der
Epistemologie ab, von der wir ursprünglich bei der Untersuchung unserer
Erkenntnisvermögen auszugehen haben. Anschließend setzt die
Objektivierung des Geschichtlichen unseres Denkens anhand deren
Rückübertragung auf die Zeitlichkeit unserer sinnlich gegebenen
Erscheinungen ein, was die zweite Erklärungsart der Konjunkturalität der
geschichtlichen Zeit darstellt. Es kann sich deshalb in der epistemologischen
Fragestellung selbst (der semantisch-hermeneutische Ansatz) auch nicht
allein um eine ontologische Differenz der Zeitlichkeit des Geschichtlichen
59

handeln, wie es das Merkmal der Konjunkturalität der Zeitlichkeit der


Naturgeschichte darin abstrakt-allgemein gegenüber der innerartlichen
Vorstellungsweise von Geschichtlichkeit ausdrücken läßt, daß Systeme der
Wechselwirkung altern. Es handelt sich also um eine transzendentale
Differenz, weil mit der antizipativen Vorstellung von Geschichtlichkeit die
Vorstellung von der Zeit selbst betroffen ist und eine jeweils individuelle
Einsicht nicht mit den realen und wirklichen Prozess langfristiger
Verschiebungen der Ausgangslage in der Natur (grob gesagt
Naturkonstante) und in der Gesellschaft (zentrale Episteme), oder in den
kurzfristigen »patterns« von Assoziationen in der Psychologie der
Einbildungskraft identifiziert werden kann. Die Konjunkturalität der
Formalontologie, der Ideengeschichte, der Geschichte selbst ist also
verschieden; aber so wie synthetisches Urteil a priori und transzendentales
Prinzip von einander unabhängige Quellen besitzen und so ein formales
Apriori denkbar ist, ohne daß dessen Prinzip auch transzendental sein muß,
ist eine als konjunkturell charakterisierbare Mannigfaltigkeit auch nicht
gleich eines Prinzipes fähig, das zu einem synthetischen Urteil a priori fähig
ist. Hier bleibt noch zu diskutieren, inwieweit es eine eigene historische
transzendentale Differenz gibt, die formal verschieden ist von der
transzendentalen Differenz zur Vorstellungsart der Naturgeschichte. Daß
die Datierung eine der Voraussetzungen für die Geschichtswissenschaft ist,
sehe ich als Indiz für eine grundsätzliche Abhängigkeit der innerartlichen
Entwicklungsgeschichte des erkennenden Subjekts von der Naturgeschichte
und als die eigentlich historische Differenz. Andererseits ist die Frage nach
der Natur des Menschen als Kulturwesen dieser Intentionsrichtung genau
entgegengesetzt, was als Analogie zu den entgegengesetzten
Intentionsrichtungen von transzendentaler Analytik und transzendentaler
Einbildungskraft zu verstehen ist. Dies ist analog zur relativen Abhängigkeit
der transzendentalen Differenz im Prinzip der Kausalität (welche
konstituiert werden kann) von der transzendentalen Differenz des strikten
transzendentalen Idealismus (welche selbst nur begründet behauptet, aber
nicht bewiesen werden kann) die sechste transzendentale Differenz; diesmal
aus der Rückwendung der Kritik der transzendentalen Dialektik auf die
transzendentale Ästhetik gewonnen. Und zwar handelt es sich um eine
relativ selbstständige, und weil modallogisch konstituierbar auch um eine
eigentliche transzendentale Differenz. Die sechs transzendentalen
Differenzen (drei eigentliche: Naturkausalität, intelligible Kausalität,
60

Naturgeschichte; drei uneigentliche: transzendentale Ästhetik,


Substanzbegriff, Kulturgeschichte) können schon deshalb nicht
gleichursprünglich genannt werden, weil die Anschauungsformen die
Bedingung der Konstitution der transzendentalen Differenz in der
Deduktion der Kategorien sind, und so die transzendentalen
Anschauungsformen mit ihrer spezifischen vorgeordneten transzendentalen
Differenz zwischen transzendentalem Idealismus und transzendentalem
Realismus selbst eine der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung
darstellt. Die transzendentalen Anschauungsformen gelten für die
Folgerungen aus der Deduktion der Kategorien genauso wie für die
Deduktion der Kategorien, obwohl die Form des inneren Sinnes
transzendentalpsychologisch als Produkt von Apprehension und
Reproduktion dargestellt wird und die Bestimmbarkeit der Schematen des
transzendentalen Schematismus teilweise darauf beruhen. Gerade das
verhindert eine eindeutige Rekonstruktionsmöglichkeit einer
denkmöglichen Gleichursprünglichkeit von Anschauungsform als
transzendentale Ästhetik und transzendentaler Zeitbedingung der
Kausalkategorie ein erstes Mal. Da bleibt es bei der Kluft des
transzendentalästhetischen Ansatzes der Anschaungsform und den
»transzendentalpsychologischen« Ansatz der Apprehension und
Reproduktion der Anschauungsform, wobei der psychologische Ansatz sich
zunächst auf die Analogie der transzendentalen Anschauungsform der
äußeren Sinnlichkeit mit der Form des inneren Sinnes beschränkt, bevor zur
Rekognition fortgegangen wird und das was ist und geschieht nach einer
Regel gemäß reiner Verstandesbegriffe apperzipiert wird. Insofern erscheint
es dann womöglich vielleicht sogar für leicht verständlich, weshalb auch die
weiteren konstituierbaren transzendentalen Differenzen nicht ohne weiteres
im Rahmen eines genetischen Konzeptes als Gleichursprünglichkeit aller
Differenzen gedacht werden können.
61

B. ZUR KULTURSOZIOLOGISCHEN BEGRÜNDUNG DER


ZEITWAHRNEHMUNG.
KULTURSOZIOLOGIE UND GESCHICHTE:
ADORNO, BENJAMIN, MANNHEIM

1. Der Schock, die monadische Konzentration (Methexis) und deren


Öffnung zu Lebenslauf und Geschichte.
Die Wahrheit der Geschichte ist die philosophische Wahrheit

Die erste Frage ist, wie gerät die Biographie überhaupt ins Blickfeld des über
sich nachdenkenden Menschen? Findet erst der über sich nachdenkende
Mensch seinen Lebenslauf, oder muß der Mensch allererst über sich
nachdenken, wenn er das Geschichtliche in sich entdeckt hat;
zufälligerweise oder aufgezwungenermaßen? Wohl kann beides richtig sein,
wenn auch angenommen werden muß, daß typischerweise erst ein Schock
und der Zwang im Auf-sich-zurückgeworfensein fulgurativ eine
vergangene bedeutsame Szene ins Bewußtsein springen läßt. Diese
vergangene Szene muß für sich bedeutsam genug sein, um präzise im
Gedächtnis behalten worden zu sein, aber ein neuer Zusammenhang von
Ähnlichem oder eine neue Bedeutung im bekannten Zusammenhang kann
der Grund sein für die Wiedererinnerung. In einer zentrale Interessen
berührenden Situation entsteht eine neue Bedeutung, welche ohne die alte
Bedeutung der wiedererinnerten Szene nicht hätte entstehen können, aber
nunmehr entsteht ein neues Verständnis der Situation sowohl der alten wie
der neuen Szene durch die Möglichkeiten, das spezifisch Allgemeine oder
Typische der Situation, die beide Szenen aufeinander beziehen läßt, zu
erfassen. Ich sage nicht, daß alle Wechselbeziehungen im System von
Retention und Protention in der Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins bei Husserl derart ablaufen, ich sage nur, daß hier in
diesem speziellen Fall der Miteinbeziehung des Schocks durch den Wechsel
zu einer neuen oder umfassenderen Perspektive eine semantische Wurzel
(Ursprünglichkeit) des Verständnisses für Geschichtlichkeit liegt; geht man
von der transzendentalsubjektivistischen Perspektive aus, handelt es sich
dabei um die entscheidende und transzendentale Ursprünglichkeit.
62

Die Entdeckung der Geschichtlichkeit durch oder in einem Schock steht im


Feld zahlreicher analoger Aufgänge, so etwa zur Entdeckung des anderen
durch Blickkontakt im Existenzialismus Satres, welche das monadische der
Weltwahrnehmung aufbricht. Da wie dort entsteht ein Momentum in einer
Krise der gewaltsamen Perspektivenverschiebung, das die Möglichkeit in
sich trägt, sich in Richtung Wahrheit und Objektivität zu entwickeln, die
nicht einfach in der besseren Einsicht in den schon bekannten Horizont
bestehen kann, sondern gerade in deren Erweiterung besteht. Im gewählten
speziellen Fall, von dem ausgegangen wurde, ist diese Erweiterung noch
damit zu verknüpfen, daß erst durch diese Erweiterung ein
sinnermöglichender Horizont überhaupt erst entstehen (desweiteren
wiedererstehen) kann, bzw. das bisherige Selbstverständnis entwertet wird.
Das muß nicht bei jeder Horizonterweiterung geschehen, aber der im
Zusammenhang genannte Schock wird nur dann eintreten, wenn die neue
Einsicht, mit welcher die Horizonterweiterung einhergeht, die bisherigen
Überzeugungen erschüttert und wie ich in diesem Zusammenhang sagen
will, die »Perspektive« verändert. Dabei ist nicht unbedingt zu erwarten,
daß die erste Perspektive, falls es möglich war, von einer solchen zu
sprechen, völlig verschwinden muß, als wäre sie zu falsifizieren, sondern in
anderer Gestalt aufgehoben wird und nach einer neuen Interpretation
verlangt.

Der Zusammenhang der Monade bekommt bei Walter Benjamin ebenfalls


eine zentrale Stellung zugewiesen: »Wo das Denken in einer von Spannung
gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen
Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische
Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da
heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. (702 f.)« (Rolf Tiedemann,
Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins,
Suhrkamp, Frankfurt/Main 1983, stw 445, S. 111) Verleiche dazu auch das
Erwachen aus den Mythos als »Aufblitzen«( S. 35); — ob als historischer
Materialist, der als Herold der unterdrückten Klassen den Messianismus der
religiösen Heilslehren nunmehr zu ersetzen hat, oder als Kultursoziologe,
der zunächst auch die verschiedenen Instrumente der Analyse (Kritik) und
Synthese (Produktion) sowohl ideell-formal als Methode wie auch
soziologisch als Institution selbst zum Gegenstand seiner Überlegungen hat.
Wie ich unter anderem zu zeigen vorhabe, ist dazu die
63

Transzendentalphilosophie und der ihr immanenter Ausgangspunkt des


cartesianischen Subjektivismus das einzig noch verbleibende Feld, um die
Thematisierung und Vergegenständlichung der Methoden und Instrumente
der Kultursoziologie nochmals einer kritischen Distanzierung zu
unterwerfen. Ich will mich ausdrücklich nur hierin in Gegensatz zu Walter
Benjamin stellen; wenn man will, kann man sagen, ich sorgte mich ein wenig
um das theoretische Rüstzeug des Herolds.

Die angesprochene monadische Struktur der Reflexion oder


Reflexionsvoraussetzung geht über die Gegenwart der sinnlichen
Kontinuität hinaus, besitzt aber in einer ausgezeichneten Einstellung
empirisches Konkretisierungspotential in eben der Gegenwart sinnlicher
Kontinuität; und zwar in der Kombination der Formen der inhaltlichen und
formalen Ästhetik, angewandt auf ein konkret existierendes Artefakt,
welches geeignet sein muß, zum Schlüssel einer eine Epoche umspannenden
Mannigfaltigkeit von miteinander verknüpfbarer Vorstellungsreihen zu
werden. Entscheidend bleibt aber wie Benjamin den »Stillstand der
Dialektik« mit dem Problem der Abgeschlossenheit und
Unabgeschlossenheit der Geschichte in Verbindung bringt. Eine Möglichkeit
wäre, in der Abgeschlossenheit der Monade das Unvollendete, und darin
sowohl dasjenige, das zu vollenden wert, wie auch das, was als Schuld an
der Idee vom frei geborenen Menschen zu tilgen wäre, zu erkennen.

Geht man von der Auffassung Karl Mannheims aus, die zwischen
»flächiger«, bloß klassifizierender und typologisierender Soziologie und
Kultursoziologie unterscheidet, welche die dynamischen Gründe der
Veränderungen der Gesellschaft behandelt, setzt Benjamin der Konzeption
Mannheims das Auge des Gewissens ein, ohne auf einen (transzendentalen)
Subjektivismus der Geschichtsbetrachtung und Bewertung methodisch und
systematisch zurückkommen, nur um dann ausschließlich vom
vereinzelnden Individuum ausgehen zu müssen. Die Perspektivik in
Benjamins Passagen ergibt sich zuerst eher aus dem archeologischen
Zugang zu den Formen der Umgestaltung von Paris zur modernen Stadt im
Neunzehnten Jahrhundert. Dieser nicht deutlich als theoretische
Voraussetzung weiters konstituierte Subjektivismus erlaubt nicht nur, ohne
Abarbeitung von subjektiven Konstitutionsschichten unmittelbar auf das
eigentliche, spontane Individuum in seinem ganzen Erleben gewissermaßen
64

umstandslos eine Beziehung zur Geschichte herzustellen, sondern erlaubt,


wie Benjamin der Überzeugung ist, allererst gesamthistorisch von einem
Telos zu reden. Auch Mannheim findet die Bedeutung der Geschichte erst
im Subjektiven und dürfte hier Simmels transzendentalen Subjektivismus
weiter folgen, aber ohne der Konkretisierung des Telos als affirmative und
dialektische Aufhebung der Ansprüche der vorangehenden Generationen an
die folgenden als Bedingung des Heilwerdens von Geschichte überhaupt,
wie es Benjamin anhand seiner Interpretation des historischen
Materialismus den Geschichtswissenschaften des subjektiven Idealismus
vorhält.

Offensichtlich hat man es hier in der Vorstellung des Flanierens als typische
Haltung des Stadtbewohners zu seiner Umgebung (Stadtarchitektur als
Innenarchitektur) mit einer radikalen Erweiterung des Begriffs vom
Lebenslauf oder einer Biographie zu tun. Zweifellos tritt das Historische der
Zeit in der eingangs geschilderten Weise auch durch die Beschleunigung der
Zeitwahrnehmung, etwa durch Verbreitung einheitlicher Zeitzonen (in den
USA zunächst entlang von Bahnlinien), oder der Mechanisierung der
Arbeitswelt (Taylorismus) im individuellen Lebenslauf auf, sei es private
Geschichte oder das Eingreifen von gesellschaftlichen Umwälzungen in die
individuelle Biographie. Nunmehr wird aber mehr gefordert, nämlich nichts
weniger als die Einsicht in den Motor der Geschichte und damit in die
Schuldfrage. Ohne diesen Forderung selbst etwas wegnehmen zu wollen,
will ich die Untersuchung des »Motors« der Geschichte von der
Untersuchung der Verpflichtung der späteren Generation nicht nur
gegenüber der unmittelbar vorangegangenen, sondern zumindest aller
Generationen der vorangegangenen Epoche gegenüber, letztlich allen
Generationen, also der Gattung gegenüber, zunächst so lange wie möglich
getrennt führen, weil diese Einsicht erst nach dem Verständnis der
Geschichte wirklich möglich ist, und als solche dasselbe nicht zuvor
begründen kann.

Daraus ergibt sich als erstes Teilergebnis, daß der Telos nicht vollständig
durch heilsgeschichtliche Formationen des Phantasmas der geheilten
Geschichte interpretiert werden kann. Vielmehr ist dies zunächst nur eine
Phantasmagorie unter anderen, wie z. B eben die Selbstdarstellung der
65

kapitalistischen Gesellschaft als sich selbst perpetuierende Erfolgsgeschichte


auch.

Theodor Adorno entwirft in seiner Theorie der Ästhetik einen notwendigen


Bezug zur Wahrheit im Kunstschönen von völlig anderer, ästhetischer, Seite
(S. 193). Zuvor zeigt er, an Kierkegaards unglücklichen Verstand
gemahnend, wie der Geist erst am Rätselhaften des Kunstwerkes tätig wird.
Der Verstand vermeint im Artefakt der Kunst etwas wiederzuerkennen, was
er selbst nicht zu sagen vermag; dies sei die eigentliche und prinzipielle
Rätselhaftigkeit der Kunst. Gleichwohl wendet sich der Künstler mit dem
Kunstwerk an die deutende Vernunft, weshalb Adorno hier grundsätzlich
und ganz richtig den Wahrheitsanspruch auch in der Hermeneutik der
Interpretationsversuche der kontextuellen Zusammenhänge des
künstlerischen Artefakts einfordert. — Offenbar ist Adorno an dieser Stelle
über den Standpunkt, den er gegenüber Husserl in der Arbeit »Metakritik
der Erkenntnistheorie« eingenommen hat, einen Schritt weiter gegangen,
denn zweifellos ist das als eine Rückbindung der philosophischen Ästhetik
an die Idee der Logik zu verstehen. Grundsätzlich steht nichts dagegen, der
Untersuchung der Phantasmagorie Benjamins und der Untersuchung des
Kunstwerks selbst schon als Artefakt der Interpretation kontextueller
Zusammenhänge eine vergleichbare Potentialität zur Erschließung der
kultursoziologischen Strata gesellschaftlicher Zusammenhänge
anzunehmen, allerdings ist die Stellung des Kunstwerkes innerhalb der
Kunst (bei Benjamin eben auch das, was man »städtebauliche
Innenarchitektur« nennen könnte), wie auch die Stellung der Artefakte zur
philosophischen Reflexion selbst zu berücksichtigen.

Adorno bündelt zuerst von Seiten der philosophischen Ästhetik den


Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ausgehend von der
Rätselhaftigkeit a priori, die dem künstlerischen Artefakt notwendigerweise
anhaftet, auf den Unterschied von Mimesis und Rationalität, der allererst in
der philosophischen Reflexion auffällt. Mit der magischen oder der
kultischen Funktion der Kunst ist aber auch eine archaische Rationalität
verloren gegangen, die Adorno gleich darauf in Rechnung stellt (S. 192).
Offenbar geht Adorno von einer vorrationalen Idee an sich aus, die er eben
nunmehr, diese seinerseits in der philosophischen Reflexion
unbekannterweise nachahmend, mit der Rätselhaftigkeit identifiziert. Aus
66

dieser Rätselhaftigkeit erklärt sich Adorno den immanenten Drang zur


Selbstartikulation in der (bürgerlichen?) Kunst.

Abgesehen davon, daß Benjamin einen breiteren Ansatz versucht ausfindig


zu machen, versucht er immer wieder ausdrücklich hinter dem Material
zurückzutreten und es selbst sprechen zu lassen; schließlich läßt er den
drohenden Kulturpessimismus des historischen Materalisten mit der
depotenzierten heilsgeschichtlichen Charakteristik der
Geschichtsphilosophie kollidieren. Adorno hält diejenige
Geschichtsauffassung für übereinstimmbar mit einem wissenschaftlichen
historischen Materialismus, welche die Geschichte ab einem gewissen Punkt
für abgeschlossen hält, während Benjamin an der Vorstellung festhält, wir
hätten, wenn auch kritisch, sich gewissen Erwartungen der vergangenen
Geschlechter zu stellen, die sich unter Umständen nicht alle restlos
transformieren, oder als uninterpretierbarer Rest allgemein menschlicher
Fulguration darstellen lassen.

Von hier aus scheint mir eine geeignete Stelle gefunden zu sein, die erlaubt,
den Unterschied in der Herangehensweise von Andorno und Benjamin
möglichst deutlich herauszustellen. Wohl kann man Adorno nicht
vorwerfen, die Kultursoziologie mit dieser Fassung der philosophischen
Ästhetik auf dem Gebiet der schönen Künste und ihren Relevanzen schon
verlassen zu haben, doch aber wird diese Position nur als Gegengewicht
zum Ansatz des historischen Materialismus zu verstehen sein können. Die
Idee, der Versuch der Selbsterklärung der Kunst sei als Motor der
künstlerischen Produktion und vor allem Stilentwicklung zu verstehen,
bringt erstens nicht deutlich genug zum Ausdruck, daß ursprünglich die
Kunst selbst schon deutend sein muß, und erst damit auch verständlich
werden kann, weshalb die Kunst ein derart ausgezeichnetes Medium für die
Kultursoziologie ist, und bringt zweitens zu wenig Instrumentarium mit,
um diesen Hegelianismus, der vor dem vermeintlichen Ende der Geschichte
in der Zusammenziehung der Geschichte in einem Jetzt der Monade auftritt,
(etwa auf Umweg über einen Vergleich mit Alois Riegel in der Sezession im
Wien der Jahrhundertwende vom Neunzehnten zum Zwanzigsten
Jahrhundert) selbst kultursoziologisch aufzuklären. — Habermas hingegen
wechselt zur Sprachphilosophie als erste Basiswissenschaft und macht die
Distanz zum historischen Materialismus perfekt.
67

2. Der Widerschein der Politik zwischen Künstler, Publikum und


Kunstkritik und die Ersetzung der politischen Kritik durch Kunstkritik.
Die Wiederentdeckung der philosophischen Wahrheit in der Kunst als
Brechung des Mythos

Inzwischen ist auch aufgefallen, daß die Rolle der Kunstkritik und
insbesondere der Kunstgeschichte auf die Produktivität und Stilentwicklung
in den Künsten selbst von diesem obersten Prinzip der Wahrheit ausgehend
noch nicht vollständig ins Blickfeld gelangt. Im Anschluß an diesem Teil
innerhalb des Abschnittes »Zum Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes« geht
Adorno gezielt ins Empirisch-opake der künstlerischen Erfahrung
überhaupt zurück: »Wohl entragt einer solchen Idee [des Wahrheitsgehaltes
in der Idee], in ihrer philosophischen Konstruktion, dem bloß subjektiv
Gemeinten« (S. 194). Aber: »Der Gehalt ist nicht in die Idee auflöslich
sondern Extrapolation des Unauflöslichen; von den akademischen
Ästhetikern dürfte Friedrich Theodor Vischer allein das gespürt haben.«
Adorno demonstriert diesen Unterschied anhand der offensichtlichen
Divergenz zwischen den Ideen des Künstlers und den Ideen des
(sachverständigen) Publikums. Die Wahrheit beginnt so auch für Adorno in
der verständigen Ausübung des Künstlers zu liegen, der aber selbst nicht
verstehen kann, was es genau bedeutet. Adorno läßt hier einen Überschuß
im Halbdunkel zwischen den Intentionen des Künstlers und den Intentionen
des Publikums liegen, von welchem er hofft, ihn als Kunst- und
Kultursoziologe zu erben. — Immerhin sieht Adorno ein, daß insofern die
Kultursoziologie ein Teil der Philosophie wird bleiben müssen; vermutlich
mehr noch: die traditionelle Philosophie wie die »positivistische«, den
Konventionalismus reflektierende Wissenschaftstheorie wird als
Gegenstand der Kultursoziologie wieder zu einer authentischen Philosophie
gemäß der Idee der Wissenschaftlichkeit und Wahrheit transformiert
werden müssen.

Bei Benjamin, aber auch bei Adorno sind also Instanzen zu erkennen, die
den selbst von Friedrich Engels eingeräumten Freiraum zwischen
kulturellen Überbau und ökonomischen Unterbau zur relativ
selbstständigen Interpretation und Umgestaltung des historischen
Materialismus nutzen. Die Kultursoziologie gerät dabei zunehmend von der
68

Position einer Hilfswissenschaft, die den Mangel des historischen


Materalismus, mit Hilfe des Unterbaus den Überbau einer Erklärung
zuführen zu können, ausgleichen helfen soll, in die Rolle einer
Leitwissenschaft, die aus verschiedenen Blickwinkel die verschiedenen
Ursachenklassen der Gesellschaftswissenschaften festzustellen, und auch
(den Lebensmächten Max Schelers an diesem Ende vergleichbar) die Stränge
ihrer zu erwartenden Verknüpfungen festzustellen hätte, was die Sinn- und
Bewertungsfrage notwendigerweise, womöglich als nächste Reflexionsstufe,
nach sich zieht. Man darf durchaus behaupten, die Distanzgewinnung
gegenüber dem historischen Materialismus sei bei Adorno wie bei Benjamin
unter dem Eindruck der Einsicht in das kultursoziologische Potential der
Kunst entstanden. Einerseits möchte ich aus systematischen Gründen diese
Distanzgewinnung noch durch einen Brückenschlag zu Karl Mannheim
verstärken, der noch deutlicher die Verflechtungen und epocheweisen
Zopfbildungen verschiedener ideengeschichtlicher Stränge, die
bildungssoziologisch, durch Briefwechsel, Rezensionen,
institutssoziologischen Untersuchungen, bibliographisch in verschiedenen
Graden eindeutig feststellbare Verweise, schlußendlich die verständige
Synopsys all dieser methodischen Ansätze, als eigentliches
Darstellungsproblem vor jeder Theoriebildung in der Kultursoziologie
angesehen hat (Moretti und Wickhoff in der Wiener kunsthistorischen
Schule vergleichbar). Hier kann die Materialgewinnung und Klassifikation
noch weniger von der Theoriebildung getrennt werden (wenn auch nach
wie vor diese Unterscheidung systematisch von Nutzen bleibt) als in der
Geschichte der Naturwissenschaften, wo die Selbstständigkeit der
Gegenstände und deren Verhältnisse untereinander definitiv über die
Sprachspiele der Lebenswelt und deren Artefakte hinausragen. Andererseits
aber wird die zunehmende Distanz zu den Thesen des historischen
Materialismus zum Problem; und zwar nicht wegen etwaiger
Verschiebungen im Rahmen einer Landkarte der
Weltanschauungsphilosophien, sondern wegen der zunehmenden Distanz
zur Ökonomie als lebensprägende Institution. Über dem Zweck der
existentiellen Beschreibung der gesellschaftlichen Umstände hinaus, in
welchen sich die Gesetze des Kapitalismus in der Lebenswelt widerspiegeln
sollen, hätte die Kultursoziologie eben noch die Aufgabe, das
Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, die gesellschaftlichen Prozesse
zu analysieren, was eben wiederum nur unter der Bedachtnahme auf
69

Methoden zur Objektivierung überhaupt denkbar ist, soll neben den


subjektiven Entscheidungshandlungen (vgl. etwa Carl Mengers
Wirtschafter) auch Strukturen und Institutionen behandelt werden, die man
allerdings selbst zwischen Lebenswelt und Institutionen derselben in der
öffentlichen Kommunikation erzeugt hat.

Ich werde an geeigneter Stelle den Gedanken wieder aufgreifen, daß die der
Mengerschen Marktheorie zugrundeliegenden Urteilstheorie gerade entlang der
rudimentären Gruppensoziologie Mengers auf komplementäre Weise nach der
Berücksichtigung der Ästhetik der Ware verlangt, wie sie schon von Marx
vorausgedacht worden ist. Andererseits Verbindung zur außenpolitischen Kategorie
Carl Schmitts.

Mag diese Forderung nach immanenter Selbstkritik auch nur ein


kontrafaktisch aufgestelltes Ideal sein, hat eine nachhaltige Politik eben
immer das Bestreben zu haben, in den Grundlagen der Einschätzung des
politischen Spielraumes, sowohl was die Beurteilung der Sachfragen, wie
auch was die Beurteilung der politischen Durchsetzbarkeit angeht, dem
Ideal der Objektivität zu folgen. Hier kann der erkenntnistheoretisch
unverzichtbare Subjektivismus zu viel zu weitreichenden Zugeständnissen
gegenüber jenen Interessensgruppen führen, welche die ersten Gewinner
des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses sind. Hier findet auch die von Max
Weber herausgestrichene calvinistische Wirtschaftsgesinnung ihre
Wirkgeschichte, wenn Hayek theoretisch vor den
»Selbstorganisationskräften« der Gesellschaft kapituliert; allem Anschein
nach, ohne zu bemerken, daß damit die historische Perspektive der
Beurteilung der Institutionsentwicklungen (regional, national, international,
global), weitgehend unbemerkt, wieder ihren Vorrang zurück erhält. Der
positivistisch gefärbte Fortschrittsoptimismus wird — derart indirekt
eingestandermaßen — nach dem ursprünglich eigenen Anspruch gemessen,
ins Irrationale der Geschichte entlassen. Das ist nunmehr das Selbsttätige in
der kapitalistischen Wirtschaftsform und die Fähigkeit der modernen
Gesellschaft zur Selbstorganisation; irrational im Sinne von Verdrängung
wird es erst dann, wenn beide Organisationsleistungen miteinander
verwechselt oder gar ident gesetzt werden.
70

Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die Beschäftigung mit der


Kultursoziologie über die Erwartung, dergleichen könnte eine Ordnung der
kulturellen Relevanzen entstehen, in welchen die verschiedenen Human-
und Gesellschaftswissenschaften zueinander orientiert werden, eine eigene
Dignität, indem die Eingrenzung auf das Kunstschöne, die Adorno
gegenüber Benjamin vornimmt, das Kollektive eben nicht (wie in extremer
Weise Alois Riegl auch) im Ensemble sucht, aber, obgleich die nämliche
Methexis, die in verschiedenen Fassungen der Kultursoziologie und
Ideengeschichtsentwürfen eine Schlüsselrolle einnimmt, gleichermaßen zum
Ausgangspunkt der Untersuchung des individuellen Verhältnisses zum
Artefakt genommen wird. Die Einbettung in die historische Methexis erfolgt
von Adorno selbst mit einer idealistischen Distanz zum Verhältnis
Publikum und Kunstkritiker. Die Einschränkung auf das individuelle
Verhältnis zur Kunst und ihrem Artefakt macht das Kollektive auf eine
eigentümliche Art und Weise in seiner Doppelgesichtigkeit kenntlich: An
der Oberfläche bleibt der Kunstbetrieb, wie die Börse in der Ökonomie wohl
auch, Ausdruck einer selbst teilweise begründeten, teilweise unbegründeten
subjektiven Entscheidung, die weniger das Kollektive, als die Deutung des
Individuellen im Verhältnis zum (wenn auch nur teilweise bewußten)
Kollektiven zum Gegenstand hat. Jedoch gerät auch hier (vgl. die Wandlung
Robert Zimmermanns) damit zunehmend das Irrationale nicht nur an der
Geschichte und deren nicht vollständig einsehbaren Motive schon in der
einfachen Nachverzählung, vielmehr gleich das Irrationale, das wir im
Individuum selbst als dem Kulturwesen gegenüberstehende Natur
entdecken, in Stellung. Insofern kommt in der nämlichen
Ununterscheidbarkeit zwischen kultureller Tradition (Überich) und Natur
(jetzt zuerst als phylogentisches Erbe im Phänotypus zu charakterisieren —
Es) ein Stück österreichischer Philosophiegeschichte als Platzhalter des
deutschen Idealismus zu stehen, obwohl es doch zweimal die
prostestantische Philosophie war, die in der Neuzeit zuerst die Frage nach
Unvernunft, Vernunft und Übervernunft systematisch gestellt hat. Für den
aufgeklärten Absolutismus in Deutschland war das zweifelsohne Leibniz.
Für der »Situation« der Moderne (bis hin zum Syndrom der Postmoderne)
trifft jedoch Hegel mehrfach den Nerv der bürgerlichen Philosophie; so auch
in der Frage nach den Ursprüngen der Irrationalität im Kunstschönen. Daß
im Kunstschönen über die bloße Verzierung und einfache Formgestaltung
hinausgegangen wird, wird eben dann deutlich, wenn vom Individuum
71

ausgegangen wird, in welchem schlußendlich die Gesamtwirkung erzielt


wird.
Seit Aristoteles, oder seit Descartes, oder spätestens ab Kant muß die
Urteilslehre den in ihrem Fortschreiten erkenntlich gewordenen
Logozentrismus komplementär mit abweichenden Urteilsformen ergänzen,
die freilich von Anbeginn jeweils auch von diesen Denkern dem
menschlichen Urteilsvermögen abverlangt worden sind, ohne diese
komplementären Urteilsformen, weil logisch als unvollständige
Schlußformen zu apostrophieren, abtun zu können. Trotz der
fortschreitenden Verwissenschaftlichung selbst der pilosophischen
Spekulation, oder gerade als Folge dieser Rationalisierung, tritt die Frage
nach verschiedenen, zueinander in Beziehung stehender Rationalitätstypen
im Zuge des sich erweiterenden Zusammenhanges der Themenkreise von
selbst ins Blickfeld der Erörterung. Hegels dialektische Überschreitungen
(ohne auf dessen Phänomenologie oder gar auf die Erfindung der Dialektik
als philosophische wie praktische Methode der Spekulation näher eingehen
zu wollen) bringen das Kollektive letztlich in drei verschiedenen
kontroversiell bleibenden Übergängen oder Brüchen vor die Gemeinde der
Kulturkritiker, gehen sie nun eher individuell oder eher historisch vor. Die
drei Brüche oder Übergänge finden jeweils im Verhältnis zur Kunst statt,
obwohl historisch verschiedene Epochen gemeint sind; es handelt sich um
die Übergänge von (i) Mythos und Kunst, (ii) Religion und Kunst, (iii)
Vernunft und Kunst. Offenbar hat hier die Kunst die Rolle des
Mittelbegriffes eines unvollständigen Schlusses zu übernehmen; und zwar
zuerst jeweils, dann aber auch zwischen Mythos, Religion und Vernunft.
Trotz des aufrecht bleibenden individuellen, ja individualpsychologischen
Bezuges, ist hier zuerst in weiten Zeiträumen zu denken, die sich spätestens
seit August Comte dank der Verwissenschaftlichung der
Weltanschauungsphilosophien soweit verbreitert haben, daß die Rede von
verschiedenen Rationalitätstypen auch in Verbindung mit groben
historischen Epochenbegriffen allgemein verständlich geworden ist
(common sense).

Gleichwohl kann es bei einer einfachen Rektifizierung nach


Rationalitätstypus und Epoche nicht bleiben, denn zwar übernimmt die
Kunst als Verdrängung des Mythos zugleich die Verständigungsmachung
des Mythos gegenüber den neuzeitlichen Rationalitätstypen (Jamme, Gott
72

hat ein Gewand, S. 270), aber zuvor ist auch zu bedenken: Religion ist
gegenüber dem Mythos auch als Rationalitätstypus zu verstehen
(Entgötterung der Welt gegenüber dem einzigen Gott, vgl. Picht). Dazu steht
einerseits das Bilderverbot des Monotheismus gegenüber der Kunst in
Konkurrenz, andererseits soll der durch die Religion ein erstes Mal
depotenzierte Mythos eben diese als erste Vorform von Theorie das
historische Verhalten Gottes auslegen lassen. — Ist der Mythos durch Kunst
ersetzbar? Dazu Hegel: Kunst übernimmt schließlich noch die Aufgabe der
Metaphysik (Jamme, S. 271). — Hegel zur Religion: Die Trinität ist nur im
Begriff, nicht im Bild (Kunst) bewahrbar. Hegel schränkt die Intelligenz
überhaupt (insofern noch Kants intelligible Ursächlichkeit) aber auf die
Grenzproblematik des bloßen Verstandes zur Vernunft ein (die
»dialektische« Vernunft in der Selbstbewegung des Begriffes will Logik
bleiben).

3. Die Verwandlung von Kunst in Metaphysik und deren Zerstörung als


Lichtung gegenüber der kollektiven Auflösung der
Weltanschauungsphilosophien ins Mimetische

Adorno bedenkt die philosophische Ästhetik anhand einer vereinfachenden


Umkehrung einer Schelling-Paraphrase als den eigentlichen Kern des
Idealismus: »Die hervortretende Unwahrheit des Idealismus kompromittiert
indessen retrospektiv die Kunstwerke. [...] Die Zerüttung seiner Autonomie
ist kein schicksalshafter Niedergang. Sie wird zur Verpflichtung nach dem
Verdikt über das, worin Philosophie der Kunst allzusehr glich.« (Theorie der
Ästhetik, S. 197) Allerdings beansprucht Adorno offenbar die idealistische
Position auch für seine Fassung der philosophischen Ästhetik: »Dem
gegenwärtigen Bewußtsein, fixiert ans Handfeste und Unvermittelte, fällt es
offensichtlich am schwersten, dies Verhältnis zur Kunst zu gewinnen,
während ohne es ihr Wahrheitsgehalt nicht sich eröffnet: genuine
ästhetische Erfahrung muß Philosophie werden oder sie ist überhaupt
nicht.« (S. 197)

Es bleibt einstweilen die begründete Vermutung, die Kultursoziologie sei


nunmehr das Medium, in welchem die Verwandlung der Ästhetik des
Kunstschönen zur Philosophie sich ereignet. Adorno bezeichnet den
73

»Moment von Allgemeinheit«, das die Konvergenz von Kunst und


Philosophie in der Sprache (oder im allgemeineren sprachlichen Charakter
des mittelbaren oder unmittelbaren Ausdrucks der Deutung) besitzt, als die
»Bedingung der Möglichkeit der Konvergenz von Philosophie und Kunst«.
Diese selbst sprachliche, aber über die Sprache abermals hinausweisende
Allgemeinheit sei kollektiv, »so wie die philosophische Allgemeinheit« (S.
198)

»Die Metaphysik von Kunst heute ordnet sich um die Frage, wie ein
Geistiges, das gemacht, nach der Sprache der Philosophie, ›bloß gesetzt‹ ist,
wahr sein könne. In Rede steht dabei nicht das vorhandene Kunstwerk
unmittelbar, sondern sein Gehalt. Die Frage nach der Wahrheit eines
Gemachten ist aber keine andere als die nach dem Schein und nach seiner
Errettung als des Scheins von Wahrem. Der Wahrheitsgehalt kann kein
Gemachtes sein. Alles Machen der Kunst ist eine einzige Anstrengung zu
sagen, was nicht das Gemachte selbst wäre und was sie nicht weiß: eben das
ist ihr Geist.« (S. 198)

Ist es nun dieser Geist, der das kultursoziologische Auge eingesetzt


bekommen hat, oder uns erst einsetzt, wie Hegels objektiver Geist das je
individuelle Bewußtsein zum wahrhaften Dasein überwältigt? Offenbar
nicht, die Dynamik des Geistesleben liegt im Widerstreit zwischen dem
Gemachten der Kunst (bis hin zur gezielt verwendeten Fraktur) und dem
Wahrheitsgehalt: Zu ihrem Wahrheitsgehalt stehen die Kunstwerke in
äußerster Spannung. Während er [der Wahrheitsgehalt essentiell als Geist,
W. C.], begriffslos, nicht anders als im Gemachten erscheint, negiert er das
Gemachte. Ein jedes Kunstwerk geht als Gebilde in seinem Wahrheitsgehalt
unter; durch ihn sinkt das Kunstwerk zur Irrelevanz hinab, und das ist allein
den größten Kunstwerken vergönnt.« (S. 199)

Man beachte die Parallele zu Robert Zimmermanns Auffassung vom


schönen Schein, der, wenn durch eine korrekte Vorstellung erzeugt, die eine
nicht-schöne Vorstellung ersetzt, wegen dieser Falschheit neuerlich nicht
gefällt, wodurch die Bewegung des Geisteslebens in der Allgemeinen
Ästhetik als Formalwissenschaften erklärt wird. Das Fortschreiten vom
Mißfallen zum falschen (gemachten) schönen Schein, und von da zum
Mißfallen an der Falschheit des Scheines wird von Zimmermann aber eben
74

nicht zur Beurteilung des Kunstschönen angewandt, sondern, obzwar


formal ästhetisch vorgehend, eben nur auf allgemeine soziale Regeln, die
unter anderen auch Regeln der Kunstproduktion betreffen können. — Für
Adorno wird die notwendige Falschheit des Gemachten schließlich doch
zum Untergang des Kunstwerks im Artefakt selbst, aber nicht nur weil als
Kunst nicht selbst philosophisch sondern mythisch — und weil Kunst doch
nicht nur Mythos; der letztlich philosophische Wahrheitsgehalt des
Kunstwerkes läßt die Falschheit des bloßen Gemachtseins in der
vermeintlichen Irrelevanz wie den glücklichen Verstand Kierkegaards in die
Absurdität des Daseins Gottes untergehen: Die industrielle Fertigung von
Symbolen (Ornamente) ist jedoch schon in der Ouvertüre der Kontrapunkt
zum »Geist« des äshetischen Idealismus.

Adorno hat neben der Argumentationslinie der philosophischen Wahrheit,


die durch die philosophische Fragestellung an das Kunstschöne erreicht
werden soll, eine zweite, eher kultursoziologisch zu nennende
Argumentationslinie nebenher laufen: »Aber an den ästhetischen Bildern ist
gerade, was dem Ich sich entzieht, ihr Kollektives: damit wohnt Gesellschaft
dem Wahrheitsgehalt inne. Das Erscheinende, wodurch das Kunstwerk das
bloße Subjekt hoch überragt, ist der Durchbruch seines kollektiven Wesens.
Die Erinnerungsspur der Mimesis, die jedes Kunstwerk sucht, ist stets auch
Antezipation eines Zustandes jenseits der Spaltung zwischen dem einzelnen
und dem anderen. [...] in seiner idiosynkratischen Regung zeigt die
kollektive Relationsform sich an. Nicht zuletzt darum muß die
philosophische Interpretation des Wahrheitsgehaltes ihn unverbrüchlich im
Besonderen konstruieren. Kraft ihres subjektiv mimetischen,
ausdruckshaften Moments münden die Kunstwerke in ihre Objektivität;
weder sind sie pure Regung noch deren Form sondern der geronnene
Prozeß zwischen beiden, und er ist gesellschaftlich.« (S. 198)

Das Kollektive ist naturgemäß für sich eine amorphe Vorstellung, die
zwischen historisch Gewordenem und demnach wieder Veränderbaren und
einer besonderen Art anthropologischer Konstanz, die im Kollektiven
zwischen Kultur- und Naturwesen in der Varianz der kulturellen
Entwicklung als auffindbar betrachtet werden kann, wiederum
unentschieden bleibt. Geht es nur um das Kunstwerk, kann sich das
sogenannte »Kollektive« auf eine subkulturelle Strömung beziehen, deren
75

Code außerhalb der »in-groups« nicht mehr verstanden wird. Wohl ist das
ein extremes Beispiel, und auch da wird ein Teil ungeordnet für einen
aufgeschlossenen, aber unverständigen Betrachter ahnend nachvollziehbar,
aber eben nicht artikulierbar bzw. von einer Aussage noch weiter entfernt
sein als die philosophische Wahrheit in der schon bekannten Kunst. Die
Rezeption der archaischen Kunst Schwarzafrikas in der klassischen
Moderne ist wiederum ein beredtes Beispiel für transkulturelle
Transformationen, die eine Fassung des sogenannten »Kollektiven« auch
dann als Vermutung vorstellig machen, wenn der außerkulturelle Einfluß
auf die Stilentwicklung historisch nur als Anregung für den
Symbolisierungsprozess des Archaischen, nicht wirklich primär als
nachvollziehende Verständnissuche intendiert war. — Die Idiosynkratie der
Assoziationsstränge macht diese allein noch nicht zu einer kollektiven
Vorstellung im Sinne einer kulturell allgemeinen Konvention mit
Tabucharakter oder gar zu einer transkulturellen Vorstellungsformation, die
aus sich selbst freilich gar keinen Anspruch darauf hat, jeweils selbst
historisch im kollektiven Feld der Assoziationen vorzukommen, sondern
zuerst zur Subjektivität der Methode zuzurechnen ist. Auf diesem Wege
kann die Möglichkeit der Verbindbarkeit divergenter Argumente, auch auf
Grund vertauschter Analogien, oder auf Grund kohärenter Argumente wie
im regelmäßig eingerichtetem Handel oder militärischen Strategien als
Versuch der Beeinflußung der eigenen Zukunft verstanden werden, welche
eine solche transkulturelle Vorstellungsformation eben erst schafft. Es geht
offenbar nicht nur um das Archaische an (und in der Moderne in) der Kunst
sondern komplementär letztlich auch um die Plastizität des politischen
Handlungsspielraumes, der etwa anhand der Konfrontation des Publikums
mit Absurdität logischer oder epistemologischer Natur für sich selbst
Bedeutung gewinnen kann (Fulguration).

Adorno streift das Freiheitsproblem, wenn er fordert, die philosophische


Wahrheit müsse ihren Gehalt im Besonderen konstruieren, meint aber
gleich: »Kraft ihres subjektiv mimetischen, ausdruckshaften Moments
münden die Kunstwerke in ihre Objektivität«, und das kann ich nur als das
Rätselhafte der Kunst verstehen, aber eben nicht als die philosophische
Wahrheit eines Kunstwerkes. Diese Art von Objektivität steht ihrerseits
unter Verdacht eine des »bloß Gemachten«, also gerade nicht die
Objektivität der philosophischen Wahrheit des Kunstwerks zu sein.
76

Vielmehr besteht die Objektivität der Mimetik gerade in der Form der
Regung, darin besteht aber nicht selbst ihre philosophische Wahrheit; hierin
muß ich Adorno widersprechen. Es steht allerdings jeweils erst zur
Diskussion, auf welche Weise man dem mimetischen Vorgehen des
Ausdruck suchenden Bewußtseins (Geistes?) einen haltbaren Formbegriff
zumuten kann. Eben dieser wird von der Kultursoziologie häufig in der
Kunst gesucht. Insofern muß die Schlußaussage auch als die eigentliche
kultursoziologische Ergänzung aufgefaßt werden, als daß zwischen Regung
und Form der Regung gerade individualpsychologisch ein gesellschaftlicher
Aspekt selbstverständlich berücksichtigt wird. Was Adorno nun als
»geronnenen Prozeß« zwischen der puren Regung und deren Form
bezeichnet, wäre also der gesellschaftliche Prozeß auch in der wahren Idee
vom Kunstwerk, und diese Idee wird abermals wie im Idealismus zur
Objektivität — diesmal aber schon mit einigen Anschlußstellen zu einer
kultursoziologischen Betrachtung der Kunst versehen.

Adornos Versuch zur Umstülpung der Metaphysik des Kunstschönen und


deren vermutliche Auflösung in die Kultursoziologie, um dem
philosophischen Begriff der Wahrheit des Kunstwerkes nachfolgen zu
können (entlang der Anlagerungen, die vom Gebotenen und Assozierten
produziert werden — das wäre das mimetische Moment), gelingt nur zum
Teil. Die philosophische Konstruktion bleibt dem mimetischen Moment
unvermittelbar, denn letzteres gehört ja zum Machen des Gemachten und
eben noch nicht unmittelbar zum Gewußten. Das Machen ist offenbar auch
deshalb unbewußt, weil das historisch Konkrete (das als geschichtlich
Seiende) als der Interpretation Bedürftiges »seine Ergänzung und Änderung
herbeizieht.« (S. 199) Das aber ist dann für Adorno immer nur gerade
»soviel an objektiver Wahrheit«, wie eben dem geschichtlich Seienden als
Figur des (der Interpretation) Bedürftig-seins gelingt, auch die geeignete
»Ergänzung und Änderung« herbeizuziehen. Mir fehlt die zureichende
Unterscheidung in Beschreibungen, wie man sich vorstellt, daß dergleichen
Anlagerungen und assoziativen Verknüpfungen entstehen, und in
Methoden, solche insgesamt klumpig-amorphe Vorstellungsmassen
überhaupt in ein Feld für die systematisch vorgehende Hermeneutik zu
verwandeln. Auch wenn der Ausdruck des Kunstwerkes selbst eingangs
von Adorno als das Nicht-sagbare per se festgehalten wurde, so meint die
Überschreitung in der Interpretation des Artefakts in die kontextuellen
77

Zusammenhänge doch noch nicht gleich die philosophische Wahrheit des


Kunstwerkes, und ist nur die — bei Adorno nur manchmal als
Hilfswissenschaft auftauchende — Kultursoziologie in ihrer »flächig«
vorgehenden Phänomenologie (nach Mannheim). Es fehlt die Erörterung
dieser weiteren Reflexionsaufstufung bislang völlig; Adorno beschränkt sich
hier auf eine formale Betrachtung der historischen Entstehung von
kulturellen Assoziationsfeldern, die für die eigentliche kultursoziologische
und philosophische Betrachtung nur das Material sein können.

4. Freiheit als historische Möglichkeit und Utopie?


Zur Kompexität und Spontaneität (Fulguration) der Methexis

Adorno macht eine interessante Wendung, um den Konsequenzen zu


entgehen, die sich aus der Unfaßbarkeit der philosophischen Wahrheit des
Kunstwerkes zwischen Mimesis und Kultursoziologie ergibt: Die Figur der
ins geschichtlich Seiende eingeschriebene Bedürftigkeit verlangt nun nach
Ergänzung und Änderung; dieses Andere wird in seiner Stellung zum
Kunstwerk näher bestimmt: »Die Elemente jenes Anderen sind in der
Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue
Konstellationen treten, um ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie
imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor.
Umzukehren wäre am Ende die Nachahmungslehre; in einem sublimierten
Sinn soll die Realität die Kunstwerke nachahmen. Daß aber die Kunstwerke
da sind, deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit
der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.« (S. 199 f.) Die
letzten zwei Sätze lassen sich wieder auf das Freiheitsproblem beziehen, das
spezifisch in der Geschichte und in den Geschichtswissenschaften eine Rolle
spielt. Daß aber daraus abzuleiten wäre, daß die Wahrheit in der Kunst
notwendigerweise eine bessere Anordnung der Elemente des Anderen
beinhalten würde, und auf diese Weise uns von der Utopie der Gesellschaft
Nachricht geben könnte, vermag ich nur als idealistischen Rest zu
bezeichnen, den Adorno implizite als einen Mythos der Vernunft selbst von
der deutenden Vernunft nicht mehr recht zu unterscheiden weiß. An dieser
Stelle geht Benjamin deutlich weiter im Versuch der Rückgewinnung des
Irrationalen zum Ganzen der Geschichte.
78

Ardono eignet sich diese Schwierigkeit schrittweise anders an: »Worauf die
Sehnsucht an den Kunstwerken geht — die Wirklichkeit dessen, was nicht
ist — , das verwandelt sich ihr in Erinnerung. In ihr vermählt sich was ist,
als Gewesenes, dem Nichtseienden, weil das Gewesene nicht mehr ist.« (S.
200)

Adorno stellt hier nochmals mit einer an Heidegger gemahnenden


Wendung die Historizität eines jeden, grundsätzlich auch eines
zeitgenössischen, Kunstwerkes heraus. Zwar wird die Bedeutsamkeit eines
Kunstwerkes wegen der sich durch die verschiedenen Rezeptionsansätze
verschiedener Epochen steigernde Lesbarkeit der kultursoziologisch
relevanten Zusammenhänge erst im Geschichtlichwerden der vergehenden
Gegenwart erkennbar, doch aber ist nach der Grundüberzeugung der
Kultursoziologie das Kunstwerk schon für die Zeitgenossen in einer
ähnlichen Funktion gestellt. Der Index, nach welchem ein kundiger Sammler
als Kunstliebhaber vorgeht, wird nur zum Teil dem Index eines
Kultursoziologen gleichen; abgesehen davon, daß das kultursoziologische
Interesse nicht nur Produkte der Hochkunst oder der Avantgarde einer
Epoche gelten darf, sondern mit guten Gründen auch daraufhin verpflichtet
werden muß, die Produkte der sogenannten Massenkultur bis in die
Naivitäten, Trivialitäten und den Kitsch deutend zu folgen, soll wirklich
eine Gesamtaufnahme eines Zeitausschnittes (»Epoche«) angestrebt werden.
Gerade da scheint das Verdikt gegen die bildende Kunst von Alois Riegl
gegenstandslos zu werden, der das Ornament und die Architektur der
bildenden Kunst und Plastik zur kunsthistorischen Epocheninterpretation
vorzog, weil er letzteres für zu individuell hielt, um daraus brauchbare
Rückschlüsse auf die epochemachende Idee der Kunst ziehen zu können.
Denn zweifellos ist die Trivialkunst reich an Stereotypen, die stereotyp
verknüpft werden, sodaß eine individuelle Handschrift eines Künstlers
kaum einer kunsthistorischen Interpretation des im Riegelschen Sinne
»Archetypischen« einer Epoche im Wege stehen wird. Überhaupt kann dem
Argument Alois Riegls, das zweifellos einiges für sich hat, entgegengehalten
werden, daß es auf den Bekanntheitsgrad und auf die Breite (oder Tiefe, wie
man will) der Rezeption ankommt (wie gut haben die an der Idee
Anteilhabenden diese verstanden, wie divergent kann die Idee aufgefaßt
werden, wie nachhaltig hat diese Idee die Phantasie und den Ausdruck
eines Genres bestimmt?), ob das »Kunstwerk« geeignet ist, das Artefakt
79

einer relevanten Methexis zu sein. Allerdings kann die Aufgabenstellung


der Kunstgeschichte bei aller methodischen Ähnlichkeit gerade der Wiener
Kunsthistorischen Schule zu einer philosophischen Ästhetik des
Kunstschönen im Dienste der Kultursoziologie nicht dieselbe sein: Sowohl
Benjamin wie Adorno nimmt im Wesentlichen die Moderne ins Zentrum der
Untersuchungen, die mehrere Epochen bis in die Gegenwart besitzt, und ein
Betrag zum Verständnis der modernen Kultur überhaupt leisten soll,
während Riegl vorwiegend mit historischen Epochen zu tun gehabt hat,
deren Quellenlage ganz andere Schwierigkeiten bieten. Vor allem kann die
Erfahrungsbasis etwa eines römischen Zeitgenossen Julius Caesars mit der
Erfahrungsbasis eines römischen Zeitgenossen von Mussolini weniger gut
von vorneherein als vergleichbar angesehen werden, wie etwa die kulturelle
Perspektive einer Figur aus den Les Miserables mit der Perspektive einer
Figur aus dem Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. —
Noch ein weiteres Argument wird die Analyse der Trivialkunst in ihrer
Brauchbarkeit auf ein jeweils erst zu ermittelnde konkrete Fragestellung
einschränken: So wird zum Beispiel die Methexis des Dienstbotenromans
des anbrechenden Neunzehnten Jahrhunderts zwar weit verbreitet sein,
sodaß über die Vorstellungen der Massen wie über die Lebensgewohnheiten
der Dienstgeber Aussagen getroffen werden können, aber nur in einzelnen
Fällen etwas über die weiterführende Dynamik der Gesellschaft
herausfinden lassen.

Ein Inhalt, der zu der sich herauskristallisierenden kontextuellen Ebene


einander zuordenbarer Inhalte gehört (etwa in den Passagen: von
Architektur über Baudelaire zur Dichtkunst — als Ausdruck der Kultur des
nachrevolutionären Frankreichs des Neunzehnten Jahrhunderts bei
Benjamin) kann man nach Adorno einen »kollektiven« Inhalt nennen, der
zunächst aber nur wegen des besonderen Modus, allgemein verfügbar, aber
nicht verstandesgemäß im Zusammenhang faßbar zu sein, seine formale
Ähnlichkeit mit einem Mythos besitzt. Zwar mag der Abgrund des
Erschreckens, blickt man der konkret gewordenen Geschichte, und ihrem
Ausdruck durch die Kultur der Menschen hindurch ins Gesicht, ans
Archaische gemahnen, aber es ist nicht die Primitivität einer ersten
menschlichen Archaik gegenüber der Natur — der Schrecken der Moderne
ist größer, weil inmitten der Gattung geschehend. Bleibt die Frage: ist die
angesprochene kontextuelle Ebene nur als kunstspezifisches Archiv der
80

Assoziationen aufzufassen, deren Gesamtumfang die wichtigsten


Geschichten, aus welche »die« Geschichte einer »Epoche« zusammengesetzt
ist, erst ablesbar macht, oder gehören doch die Stränge anderer
Wissenstraditionen und deren spezifischer Kultursoziologien
miteinbezogen, um die Aufgabenstellungen der Kultursoziologie erfüllen zu
können? Das Ziel muß selbstverständlich letzteres sein, doch besteht die
nicht unbedeutende Gefahr, den Vollsinn des Unvollständigen des
Kunstwerkes in der Zeit zu verfehlen, indem nur zu leicht übersehen
werden kann, daß der Ausdruck der Gesellschaft in der Kunst als Totalität
des Ausdrucks betrachtet wird. Diese angestrebte Totalität hat zwar auch
das Ornament und die Architektur bei Alois Riegl, aber in der Regel nicht
die massenhafte Trivialkunst: deren Totalität liege nur in der quantitativen
Verbreitung, dem Bekanntheitsgrad, und sonst nichts. Die ausdrückliche
Beachtung des Nicht-Qualitätsvollen in der Kunst wird so von Adorno
zurückgewiesen. Insofern bleibt die Beschränkung auf das Kunstschöne
schon gegenüber Benjamin problematisch, weil nur ein Teil des
Kulturausdrucks herangezogen wird. Überhaupt aber bleibt problematisch,
daß nicht klar wird, was von der Methexis an Verbindungsmöglichkeiten
fulgurativ dem deutenden Bewußtsein letztenendes an Bestand mit der
historisch gegebenen Perspektive aufgezwungen wird, und was vom
deutenden Bewußtsein an Urteil, zumindest an sich selbst zu verdankender
Entscheidung des Vorziehens und des Verwerfens, im spontanen Prozess
des Deutens und Sich-Einstellens auf das Artefakt und seiner Spurenlage
wiederzufinden ist.

Zurück zur Ästhetischen Theorie Adornos: Man erinnert sich, es war die
Rede, daß die Wirklichkeit der Kunstwerke für die Möglichkeit des
Möglichen zeuge, und daß das Nichtsein des Absoluten im und um das
Kunstwerk in der Methexis sich zuerst als das Gewesene zeigt. Doch
bedenkt Adorno auch das Nichtsein der Zukunft: »Seit der Platonischen
Anamnesis ist vom noch nicht Seienden im Eingedenken geträumt worden,
das allein Utopie konkretisiert, ohne sie an ein Dasein zu verraten. Dem
bleibt der Schein gesellt: auch damals ist es nie gewesen. Der Bildcharakter
der Kunst aber, ihre imago, ist eben das, was unwillkürliche Erinnerung
nach der These von Bergson und Proust an der Empirie zu erwecken
trachtet, und darin freilich erweisen sie sich als genuine Idealisten. Sie
schreiben der Realität das zu, was sie erretten wollen, und was nur in der
81

Kunst um den Preis der Realität ist. Sie suchen, dem Fluch des ästhetischen
Scheins zu entgehen, indem sie dessen Qualität in die Wirklichkeit
versetzen.« (S. 200)

In Frage steht aber doch auch nach Nietzsche noch immer, was unter
Realität der Gesellsellschaft nun zu verstehen sei: Eine der Aufgaben der
Kultursoziologie sehe ich darin, die Bedingungen der Epoche ausfindig zu
machen, in welcher die transzendentale Ursprünglichkeit der Grundfragen
des Zusammenhanges von Vergesellschaftungsform und Urteilsvermögen
mit philosophischer und gesellschaftlicher (überindividueller) Relevanz
auch über unser fragliches Gattungswesen hinaus entdeckt werden kann.
Aber es ist natürlich auch nicht die eigentliche Aufgabe einer
Kultursoziologie, den soziologischen Einsatz der Transzendentalphilosophie
ausfindig zu machen. Die Aussage des zuletzt gegebenen Zitates von
Adorno zielt auf etwas anderes: Der Idealismus vertauscht die Ideenwelt der
Kunst mit der Realität und zitiert damit die barocke Idee des
Gesamtkunstwerks inmitten der offensichtlichen Umwandlung des
gesellschaftlichen Paradigmas einer ereichbaren Konkretisierung der
prästabilierten Harmonie zur Beschleunigung zwischen
Fortschrittsoptimismus und Endzeiterwartung. Hierin kann man auch eine
Portion Selbstkritik an einen kultursoziologischen Ansatz ersehen: Wenn
man nicht die lebensweltliche Dimension des Daseins als Adressat des
Ideals der Kunst ansieht, sonderen eben — kultursoziologisch — das
jeweilige Ideal der Kunst zum Beispiel als Charakteristikum einer
bestimmten Epoche, dann kann man auch gerade von der Kultursoziologie
des Kunstschönen verlangen, sich einer Befragung nach ihren Idealismus zu
stellen. Von hier aus dürfte sich gegenwendig, zumindest der Auffassung
Adornos nach, die Kultursoziologie von Proust und Bergson unterscheiden,
indem bei diesen Autoren der Adressat des Idealismus das Lebensweltliche,
letztlich sie selbst, und, wie Michael Benedikt dies einmal genannt hat, in
aller Behaglichkeit der Theophagie hingegeben sind. Der Idealismus ist so
oder so sowohl Quelle der Darstellung der Reflexion wie auch fortwährend
Anlass zur Kritik des transzendentalen Scheines. Doch aber bleibt ein Rest
inhaltlicher Kritik: Selbstredend ist auch eine Kultursoziologie jederzeit zu
verdächtigen, sich im vergleichbaren Sinn »idealistisch« gegenüber der
Mannigfaltigkeit der kultursoziologisch feststellbaren Strata zu verhalten,
indem (abgesehen vom formalwissenschaftlichen Idealismus gegenüber den
82

eigenen Abstraktionstableaus) der eine oder der andere Strang der


Ideengeschichte z. B. aus ideologischen oder religiösen Motiven als
eigentliche oder wesentliche Ursächlichkeit der gesellschaftlichen
Entwicklung angegeben wird. Andere Partien der gesellschaftlichen
Entwicklung wären dann nur als Ausdruck eines Hauptgrundes zu
betrachten. Natürlich kann es es sein (und es ist bekanntlich so), daß eine
der Grundmotive unserer gesellschaftlichen Entwicklung sich vor andere
schiebt, wie es mit zunehmender Beschleunigung, nun auch von der
politischen Ökonomie unterstützt, die eben nicht mehr nur von Staaten
bestimmt wird, geschieht. Deshalb andere gesellschaftsbildende Kräfte
womöglich vollends in die Ästhetik oder als bereits falsifzierte Konzepte ins
politische Abseits schieben zu wollen, wird zur übertriebenen Kritik am
philosophischen »Idealismus«, und, zumal wenn der eigene
formalwissenschaftliche Idealismus der verstandesgemäßen
Methodengewißheit unkritisiert bleibt, zur unvernünftigen Anmaßung.

Adornos Idealismus findet gerade noch in der Negativität der Kunst, in der
Behandlung des ästhetischen Scheins, Platz: »Auf dieser Höhe der Kunst,
wo ihre Wahrheit den Schein transzendentiert, exponiert sie sich am
tödlichsten. Indem sie wie nichts Menschliches sonst ausdrückt, muß sie
lügen. Über die Möglichkeit, daß am Ende doch alles nur nichts sei, hat sie
keine Gewalt und ihr Fiktives daran, daß sie durch ihre Existenz setzt, [ist:]
die Grenze sei überschritten. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, als
Negation ihres Daseins, ist durch sie vermittelt, aber sie teilen ihn nicht wie
immer auch mit. Wodurch er mehr ist als von ihnen gesetzt, ist ihre
Methexis an der Geschichte und die bestimmte Kritik, die sie durch ihre
Gestalt daran üben. Was Geschichte ist an den Werken, ist nicht gemacht,
und Geschichte erst befreit es von bloßer Setzung oder Herstellung: der
Wahrheitsgehalt ist nicht außer der Geschichte sondern deren Kristallisation
in den Werken. Ihr nicht gesetzter Wahrheitsgehalt darf ihr Name heißen.«
(S. 200)

Die Negativität bleibt hier im ästhetischen Schein; dessen Negation führt in


die Methexis der Geschichte, in welcher sich subjektive Spontaneität und
Fulgurationen der kulturell vorgezeichneten Anlagerunggsstellen der in der
Interpretationsbedürftigkeit sich anbietenden Ergänzungen überlagern und
vermengen. Das aber bringt eine Zweiteilung der Untersuchung mit sich:
83

Einerseits die Untersuchung des Künstlers als Prediger und Prophet seiner
eigenen Epoche (vgl. den mit den Rücken in die Zukunft stürzenden Engel
Benjamins), andererseits aber auch die Untersuchung der
Rezeptionsgeschichte, die sich bekanntlich nicht unbedingt mit den
Intentionen des Künstlers decken muß. Zwar wird die Reaktion des
zeitgenössischen Publikums eine Auswirkung auf die Orientierung des
Künstlers haben, sodaß Zimmermanns geistesgenossenschaftliches Modell
auch in dieser Frage anwendbar wird. Zimmermann behandelt den Rapport
zwischen den bürgerlich-romantischen Künstler und seinen Schülern und
seinem Publikum, der für ihn vorbildhaft für alle
Gesinnungsgenossenschaften ist. Allerdings sind nicht nur in der Kunst und
Kunstgeschichte die Abweichungen gerade bei längerer Wirkgeschichte oft
beträchtlich. Letztenendes kann sowohl von Wissenschaftsgeschichte,
Philosophiegeschichte wie auch von der Literatur- und Kunstgeschichte
gleichermaßen gesagt werden, daß ein nicht unwesentlicher Teil des
sogenannten Wissenschafts- und Kulturfortschritts, nicht nur durch kritische
Brüche oder gar dialektische Umstülpungen, auch nicht allein durch
versehentliche und unwissentliche Fehldeutungen, sondern durch relativ
freihändige Wiederaufnahme neu positionierter Formationen, die nur
eventuell und erst allmählich die dem Historiker schon von früher
bekannten Bruchlinien mit sich bringen, geschieht. Popper hat auf dieses
Potential mit seiner Methode der Verfremdung hingewiesen, die allerdings
den einen Nachteil hat, daß die Kriterien, ob und inwieweit die jeweiligen
Verfremdungen auch auf das neue Anwendungsgebiet passen (fit sind),
weitgehend ausblendet. Daß philologisch und hermeneutisch die
Interpretation zumindest in wesentlichen Partien falsch sein könnte, spielt
keine Rolle mehr, wenn die Umprägung die neue Situation zu
charakterisieren hilft: Die Geschichte scheint dann die historische Wahrheit
überholt zu haben.

Eben diese Eigenschaft des Geschichtlichwerdens ist eigentümlich für die


Moderne: Die Umwertung der Vorlage geschieht nicht mehr nur
unwissentlich oder aus ideologischen Gründen allein, wie noch der
Aristotelismus des Mittelalters aus theologischen Gründen relativ gezielt
umgestaltet worden ist. Die Moderne hat vielmehr als eigentümliche
Charakteristik den Historismus als Vorankündigung des Ende des Wechsel
der Zeitalter, so wie er in der Vorrede zur Ästhetik von Hegel dargestellt
84

und zugleich kritisiert worden ist, zu bewältigen. Mit dieser vermeintlichen


Rückwendung wird die Geschichte der Kulturepochen umspannenden
Moden und der Monopolstellung der Stile aber beendet und im musealen
Archiv zum bloßen Material der freien Gestaltung — aus
kultursoziologischer Sicht — herabgewürdigt. Doch aber ist auch die
Kultursoziologie, wie es Mannheim deutlich gemacht hat, eine Form der
Gesellschaftswissenschaft, die deshab erst in der fortgeschrittenen Moderne
überhaupt möglich geworden ist; das wird ebenso für einen
kultursoziologischen Ansatz gelten, der sich auf die Symbolik des
Kunstschönen spezialisiert hat. Insofern steht eine solche Kultursoziologie
des Kunstschönen unter der gleichen kultursoziologischen Kritik wie die
sich von den Zwängen einer einheitlichen Epochenkunst befreienden
Kunstkritik. Dazu wäre von Seiten des Mannheimschen Ansatzes von
Kultursoziologie gegenüber Adorno noch zu bemerken, daß gerade diese
Aufspiltterung in eine diachrone Existenz verschiedener Stile, die sich
durchaus kultursoziologisch bedeutsam bemerkbar macht, die implizite
behauptete Einheit des Kunstausdruckes in der Kultursoziologie des
Kunstschönen untergräbt. Dieses Moment muß festgehalten werden, auch
wenn glaubhaft gemacht werden kann, daß die Kultursoziologie des
Kunstschönen gerade wegen dieser Aufsplitterung von Stilen imstand ist,
die verschiedenen Motivreihen, die eben nicht nur in der Kunst ihren
Ausdruck finden, zusammenzufassen. Dies kann grundsätzlich auf zwei
Weisen geschehen: Entweder durch Auswahl von besonders geeignet
erscheinenden Ereignisssen und Schulbildungen im historisch verzeichneten
Prozess der Kunstproduktion, oder durch flächendeckende Aufzeichnung
der verschiedenen Ideenströmungen und dem anschließenden Versuch der
Koordinierung der verschiedenen Ausdrucksarten in einem doppelten
Verfahren der Ausmittelung auf zu erwartende Gemeinsamkeiten einerseits
und auf die antizipative Synthesis von Antagonismen, bzw. deren
allmähliche Umbildung in Richtung synergetischer Kooperationsformen
andererseits, wobei letztere nicht einmal ein gemeinsames Zielbewußtsein
haben müssen sondern nur ein überlappendes Strukturbewußtsein und ein
zumindest mittelfristiges Strategiebewußtsein, das erst erlaubt, solche
synergetischen Momente zwischen eigentlich antgagonistischen
Interessenslagen wechselseitig wahrzunehmen.
85

Adorno hat offenbar den ersten Weg gewählt, und so den bürgerlichen
Mythos der Hochkunst, man muß sagen, auch mit einigen guten Gründen,
letztendlich perpetuiert. Immerhin hatte es Adorno mit der klassischen
Moderne in der Kunst zu tun, während wir uns bereits, wenn auch noch
kaum im Zusammenhang verstanden, doch schon in der Postmoderne
befinden. Adorno macht das spezifische Charakteristikum der klassischen
Moderne deutlich; ja noch mehr: daß trotz der weiteren Umwandlungen
seiner Perspektive, die, obwohl ihr Augenmerk auf die geschichtliche
Methexis gerichtet ist, und bei Adorno ihre intentionale Erfüllung —
unvollkommen genug — nach wie vor im einzelnen Artefakt einfach
vorausgesetzt hat, die Methexis der kunsthistorisch erkundeten Stilepochen
zu der postmodernen Perspektive der Entwertung des Artefakts zugunsten
der Serie ein letztlich unaufgelöstes Verhältnis besitzt.

5. Die Negationen des Scheins und die Geschichtlichkeit als Negat der
Zeitform des Seienden. Der Übergang von philosophischer Ästhetik zu
Kultursoziologie zu Kulturphilosophie als Bearbeitungsstufen der
Kollektivität der Methexis

Das letzte Wort über Adorno ist noch nicht gesprochen; von verschiedenen
Seiten kann Adorno bereits kritisiert werden: So von Mannheim, von
Benjamin, nicht zuletzt von Seiten des historischen Materialismus wegen der
zunehmenden Distanz zur konkreten Kritik ökonomischer Verhältnisse,
obgleich schon Engels zugestanden hat, das der ökonomische »Unterbau«
nicht alle Angelegenheiten des kulturellen »Überbaus« erklären wird
können. Doch selbst in eine historisch-transitorische Gestalt verbracht,
vermag Adorno, zwar abermals kritisierbar, aber doch, ein wesentliches
Charakteristikum der Moderne wie der Postmoderne auszumachen. Das zu
näher zeigen will ich im nächsten Abschnitt der kommentierenden Lektüre
unternehmen.

»Die Kunstwerke sagen, was mehr ist als das Seiende, einzig, indem sie zur
Konstellation bringen wie es ist, „Comment c’est“.« (S. 200 f.)

Das scheint mir aus verschiedener Hinsicht eine maximal zur Widerlegung
exponierte Aussage zu sein. Unbedingt richtig nach der bisherigen Analyse
86

auch gerade Adornos ist die erste Teilaussage: »Die Kunstwerke sagen, was
mehr ist als das Seiende.« Dies ist schon aus der besagten Differenz
zwischen Artefakt und deren geschichtlichen, wenngleich auch letztlich
immer wieder von selbst innerepochalen Methexis klar. Doch wird damit
zugleich in der rückwärts gewandten Methexis das Utopische am
Kunstwerk degradiert und die geschichtliche Dimension — so weit wie auch
immer rekonstruierbar — allein zur Erklärung der jeweiligen Gegenwart
benutzt. Adorno greift hier ergänzend einen topos seiner Überlegungen auf,
nämlich, daß die Kunstwerke das bislang dem kulturellen Selbstverständnis
Ferne näher bringen könnten (vgl. Aura Benjamins). Das »In-Konstellation-
bringen« ist aber wiederum kein spezifisches Merkmal der modernen Kunst.
Wie schon ersichtlich geworden, bleibt Adorno dabei auch nicht stehen:

»Metaphysik der Kunst erheischt ihre schroffe Scheidung von der Religion,
in der sie entsprang. Weder sind die Kunstwerke selbst ein Absolutes, noch
ist es ihnen unmittelbar gegenwärtig. Für ihre Methexis werden sie
geschlagen mit einer Blindheit, die ihre Sprache, eine von Wahrheit, sogleich
verdunkelt: sie haben es und sie haben es nicht. In ihrer Bewegung auf
Wahrheit hin bedürfen die Kunstwerke eben des Begriffs, den sie um ihrer
Wahrheit willen von sich fernhalten.« (S. 201)

Daraus ist abermals zweierlei zu ersehen: Erstens wird hier die


Kunstproduktion mit der Kunstkritik, nicht zuletzt mit den
kunsthistorischen Theorien, abermals antagonistisch zusammengespannt.
Zweitens gewinnt der originale, authentische Künstler durch die Selbstkritik
der Kunst in der Moderne (Duchamp) einige Themenkreise hinzu
(manchmal werden einige dieser Themenkreise bei Brauchbarkeit auch das
Medium thematisieren). Es bleibt zu vermuten, daß Adorno doch noch, wie
es in der klassischen Moderne auch noch möglich war, auf die dialektisch
genannte Anspannung zwischen Kunst und Kunstkritik aus war,
wenngleich auch schon in der nochmals übersteigerten Fassung des
Kunstkritikers, der allein die Theorien der Kunstgeschichte zum Maßstab
nimmt, nämlich als Kultursoziologe des Kunstschönen. Ich folge weiterhin
der Überlegung Adornos:

»Ob Negativität die Schranke von Kunst ist oder ihrerseits die Wahrheit,
steht nicht bei der Kunst. Negativ sind die Kunstwerke a priori durchs
87

Gesetz ihrer Objektivation: sie töten was sie objektivieren, indem sie es der
Unmittelbarkeit des Lebens entreißen. Ihr eigenes Leben zehrt vom Tod. Das
definiert die qualitative Schwelle zur Moderne.« (S. 201)

Hier hat Adorno Nietzsche und Heidegger versammelt. Baudrillard hat den
Akt der Tötung sowohl auf die musealen Sammlungen von Kunstwerken
wie auf die archeologischen Sammlungen außereuropäischer (außer U.S.-
amerikanischer, etc.) Museen auf die gesamte Soziologie und Ethnologie
angewandt. In dieser Tiefe betrachtet, ist diese Art von symbolischer Tötung
nicht mehr allein ein Kennzeichen der Moderne sondern vielmehr ein
Charakteristikum der ganzen Neuzeit, das im Übergang von der Aufklärung
zur Moderne bereits die Episteme der Postmoderne grundgelegt hat. Diese
vermeintliche Diskrepanz löst sich auf, wenn man bedenkt, daß Baudrillards
vorrangig die Ethnologie als soziologische Leitwissenschaft im Auge hat,
während Adorno bereits als Kultursoziologe des Kunstschönen hinreichend
charakterisiert werden konnte. Adorno behauptet auch, daß diese
Beziehung zum Tod dem künstlerischen Prozess (zumindest der klassischen
Moderne) innewohnt, und erstellt keine Theorien über das Museale als
Charakteristikum der systematisierenden Aufklärung. Diese Beziehung zur
Vergänglichkeit und deren Stationen von (i) relativer weltlicher
»Unsterblichkeit« des Künstler, Autors, Erfinders, (ii) der Zerstörbarkeit des
Objekts: zumal die Materialität selbst auch zur Qualität des Kunstwerkes,
nicht nur des Artefakts zählt, ist das Kunstwerk schließlich selbst bedroht,
den Tod der Degradierung zur Dinglichkeit des Artefakts vor dessen
Zerstörung zu erleiden, und (iii) die Doppelgesichtigkeit der Wirklichkeit im
aristotelischen Wechselspiel von wirklicher Realität und möglicher Realität
im modallogisch gefaßten Existenzbegriff, welche sich im Schein des
Kunstwerkes widerspiegelt, bezieht sich abermals nicht völlig auf den
individuellen Existenzialismus. Das Mimetische verführt die Idee ebenso ins
Materiale, wie es das Material dazu bringt, Ausdruck von etwas anderem zu
werden: Das Mimetische ist deshalb die erste notwendige Illusion. Die
Konkretisierung der Methexis im Kunstwerk als Fortsetzung der Mimesis ist
dann schon die zweite unverzichtbare Illusion; die Vertauschung von Schein
und Realität, sowohl was das Gewesene wie was das Utopische der
Ergänzungsbedürftigkeit des Kunstwerkes angeht, also bereits im Schein des
Kunstwerkes, ist die dritte und individuell-konkretisierende Illusion, die den
Kern der philosophischen Ästhetik wie auch der Kultursoziologie ausmacht.
88

Das Kunstsoziologische daran ist die Durchleuchtung der Methexis in ihrem


Gesamt (auch eine Art von Totalität), was sich im Destruktiven der
Moderne, insbesondere in der Postmoderne bereits in den Kunstwerken
selbst zu zeigen beginnt, weil sie den Schein der Totalität der Methexis
selbst kritisch zu kommentieren beginnen, und über die vorauszusetzende
subjektive Auswahl aus dem Bildungsangebot hinausgehend die inhärente
»Zerfranstheit« des kollektiven Gedächtnisses wieder auf die Partikularität
der Restvernunft zurückverweist. Über diese kunstsoziologischen und
kultursoziologischen Aspekte der Betrachtung des sich Verständig-machens
eines Kunstwerkes, und was überhaupt ein »Kunstwerk« ist, gerät die
philosophische Ästhetik geradewegs in die philosophische Betrachtung der
Kultur als Ausdruck der Gesellschaft, und wird so zu Kulturphilosophie.
Damit verläßt Adorno zugleich endgültig das Mehrdeutige des Überganges
von »flächig« vorgehender Soziologie zur eigentlichen Kultursoziologie im
Sinne der ersten Konzeptionen Karl Mannheims, dessen Unbestimmtheit
den Überlegungen zur Methexis notwendigerweise anhaftet. Das
Schlußwort gebührt hier Adorno:

»Ihre Gebilde überlassen sich mimetisch der Verdinglichung, ihrem


Todesprinzip. Ihm zu entfliehen, ist das illusorische Element an der Kunst,
das sie, seit Baudelaire, abzuwerfen trachtet, ohne doch resignativ Dinge
unter Dinge zu werfen. Die Herolde der Moderne, Baudelaire, Poe, waren
als Artisten die ersten Technokraten der Kunst. [...] Absorbierte seit dem
Beginn der Moderne Kunst kunstfremde Gegenstände, die in ihr Formgesetz
nicht gänzlich verwandelt eingehen, so zediert sich darin, bis zur Montage,
die Mimesis der Kunst an ihr Widerspiel. Während sie der Gesellschaft
opponiert, vermag sie doch keinen ihr jenseitigen Standpunkt beziehen;
Opposition gelingt ihr einzig durch Identifikation mit dem, wogegen sie
aufbegehrt. Das war bereits der Gehalt des Baudelairschen Satanismus, weit
über die Kritik an an der bürgerlichen Moral an Ort und Stelle hinaus, die,
von der Realität überboten, kindisch albern wurde. Wollte Kunst
unmittelbar Einspruch erheben gegen das lückenlose Netz, so verfinge sich
erst recht: darum muß sie, wie es exemplarisch in Becketts Endspiel
geschieht, die Natur, der sie gilt, aus sich eliminieren oder sie angreifen. Ihr
allein noch möglicher parti pris ist der für den Tod, ist kritisch und
metaphysisch in eins. Kunstwerke stammen aus der Dingwelt durch ihr
89

präformiertes Material wie durch ihre Verfahrensweisen; nichts in ihnen,


was ihr nicht auch angehörte, und nichts, was nicht um den Preis seines
Todes der Dingwelt entrissen würde. Nur Kraft ihres Tödlichen haben sie
Teil an der Versöhnung. Aber sie bleiben darin zugleich dem Mythos hörig.
Das ist das Ägyptische an einem jeden.« (S. 201 f.)
90

C. FREIHEIT UND POLITIK


1. Das Allgemeine an der Aufklärung und das emprische
Individuum als Wurzel der kritischen Vernunft.
Der endgültige Positionswechsel des Realismus und dessen
Bedrohung durch die daraus entstehende Indifferenz von
Totalitarismus und absolutem Individualismus

a) Der transzendentale Mangel in der Unerkennbarkeit der ratio essendi


des Gattungswesens: Freiheit als Grund von Sittlichkeit. Demgegenüber
die empirische Bestimmbarkeit des Gattungswesens in der ratio
cognoscendi: Sittlichkeit als Grund der Freiheit

Die angesprochene Verschiebung liegt auf der Hand und ist auch schon
vielfach aus verschiedensten Perspektiven dargestellt worden. Ich habe
bereits andernorts versucht, diesen Paradigmenwechsel anhand der
verschiedenen Lösungsansätze des Verhältnisses von Allgemeinwohl und
Eigeninteresse in der Ökonomie und einer über eine bloß »flächig«
vorgehenden Soziologie hinausreichende Gesellschaftslehre, oder anhand
einer Änderung im Verhältnis von Logik und Psychologie in der
Urteilstheorie; schließlich anhand der Änderung der Stellung des
Individuellen zum Allgemeinen überhaupt vorzustellen. — Das Messer der
Denkökonomie Ockhams setzt sich sowohl gegen das Allgemeine wie gegen
das Individuelle in Schwung. — Die Beachtung denkökonomischer
Grundsätze (gewissermaßen eine Wiederentdeckung Machs) bleibt nicht die
einzige Bezugnahme auf Ockham. Wie schon Zimmermann in dieser
Hinsicht Leibniz ganz recht verstanden hat, als er ihn als Logiker zu den
gemäßigten Konzeptualisten (Boethius) gerechnet hat, der zwischen den
Realisten (Anselm von Canterbury, Albert Magnus) und Nominalisten
(Ockham) zu stehen kommt, ist eben die Art und Weise wie Ockham
Existenz nur als Individuelles und Konkretes auffaßt zu unterscheiden vom
Konzept des Individuellen und Konkreten der Existenz der Leibnizianischen
Monade, sofern diese bereits mit dem Totum, oder dem Ganzen in
Beziehung gesetzt ist.
Weit entfernt davon, darin einen Schlüssel erblicken zu wollen, der alle
Fragen der Abstraktions- und Informationstheorie, wie der Ideengeschichte
und Wissenschaftsgeschichte aufschließt, sondern allein als Charakteristik
des angesprochenen Paradigmenwechsels aufgefaßt, erwarte ich von hier
91

aus Aufschlüsse zur Stellung des Allgemeinen zum Individuellen


überhaupt. Einerseits ist es ein Kennzeichen der Moderne, daß das
Individuelle vor der bloß abstrakt bleibenden Allgemeinheit in Stellung
gehalten wird, andererseits wird schon seit Saussure und Hegel das
Individuum abstrakt nur mehr als Form der Konkretisierung des
Allgemeinen behandelt. Der Utilitarismus, den Brentano in der Frage der
Sittlichkeit nicht verwirft, sondern nur alleinstehend als ungenügend
kritisiert, hat auch im Menschenbild der englischen Nationalökonomie des
Achtzehnten Jahrhunderts schon traditionell (von physiokratischer wie von
merkantilistischer Seite) eine wenn auch von verschiedenen Seiten
eingeschränkte Harmonievorstellung gepflogen (Bentham, A. Smith —
komplementär dazu Ricardo und Malthus als Vorläufer der sogenannten
Biopolitik). Hier wäre auf die Illusion des Humanismus des Achzehnten
Jahrhunderts im deutschen Sprachraum zurückzukommen, der für den
einen oder anderen Moment die Individualisierung (als Programm der
Aufklärung von oben nach unten) im Rahmen einander wechselseitig
steigernde Strebungen als grundsätzlich vereinbar mit der
Effizienzsteigerung des Staates angesehen hat. Während Leibniz den
Versuch unternimmt, die universielle Harmonie (ein gemeinsames
europäisches Erbe aus der Frühneuzeit) anhand eines Systems von
verschiedenen Modi des vinculums substantiales als Konkretisierbares
überhaupt zu denken, rechnet Adam Smith mit der »invisiblen hand«, die er
anhand der Naturgesetze der Ökonomie zumindest für eine größtmögliche
Zahl für optimierbar hält (hierin in Nachfolge Bethams). Eine zumindest
äußerliche Ähnlichkeit der »invisible hand« mit der List der Vernunft bei
Kant und Hegel halte ich für unübersehbar. Insofern glaubt auch Adam
Smith mit seiner wissenschaftlichen Ökonomie zur Konkretisierung der
universiellen Harmonie beigetragen zu haben; befleißigt sich aber in den
Untersuchungen zur Ökonomie über die menschliche Natur einer ähnlichen
Zurückhaltung wie Newton (vgl. das angebliche Adam Smith-Problem
zwischen der Theorie der moralischen Gefühle der Bewertung und der
Theorie der Ökonomie der Interessen).
Die ausgemachte Verschiebung in der Differenz von Individuum und
Allgemeinen, welche entlang der Linie von Naturwissenschaft zu Technik
zu Industrie zu Finanzkapitalismus das Allgemeine und die
Zweckrationalität die Auslegung der bürgerlichen Individualität politisch
zuerst erweitert und anschließend verengt hat, erzeugt einen realen
92

Widerspruch zwischen freien Bürger in der Idealvorstellung der politischen


(publizistischen) Öffentlichkeit einerseits und freien Wirtschafter (Carl
Menger) und der Idealvorstellung vom freien Markt andererseits durch die
Überwältigung der politischen Interessen durch die wirtschaftlichen
Interessen. Die einseitigen Wertsetzungen politischer Interessen ist der auf
Wirtschaftlichkeit beschränkten Zweckrationalität gewichen, was zwar die
Rationalität der Organisation von Naturwissenschaft, Technik, Industrie
und Volkswirtschaft folgt, aber damit schließlich alle anderen
Rationalitätstypen der Vermarktung des öffentlichen Raumes unterworfen
hat; eben auch jene Rationalitätsformen der Wertsetzung durch Interessen,
die nicht auf das Spiel des freien Marktes zielen. Nach diesem
Paradigmawechsel in Philosophie und Wissenschaft und nach deren
Positionswechsel hinsichtlich ihrer Stellung in der Vorstellung der
Organisation von Gesellschaft zwischen Neuzeit und Moderne, was
allgemein zu einer Zurückdrängung der Politik im Sinne eines an
Entscheidungsprozessen partizipierenden Staatswesens geführt hat, kann
eine allgemeine Moral nicht mehr von einer politologisch, soziologisch und
organisatorisch nach wie vor als notwendig erachteten Zentralgewalt
durchgesetzt werden, zumal jede soziologische Theorie mit einem gewissen
Grad der Selbstorganisation ihrer Gegenstände zu rechnen hat (Menger,
Hayek, ev. auch Kelsen), bevor ein Prinzip einer Theorie (Idee) überhaupt
angewandt werden kann. Diese materiale Vorausgesetztheit kann nun eine
Gesellschaft mit den utilitaristischen Normen einer »morale par provision«
(Descartes) sein. Ich halte nun ausgerechnet den kategorischen Imperativ
von Kant für einen geeigneten Ausgangspunkt, dem Schema der communio
mei et tui originara eine communio primavea in wissenschaftlicher Fassung
zu geben — daß heißt eben grosso modo nichts anderes als die
Durchführung von zwei Schritten:
1. Kann der Grundsatz meines Handelns ein allgemeiner Grundsatz sein
(historische Möglichkeit)
2. Kann ich wollen können, daß dieser Grundsatz ein allgemeiner Grundsatz
sei (ethische Möglichkeit)
Die erste Frage kann durchaus auch so verstanden werden, daß wir unser
Naturwesen und unser Kulturwesen befragen, ob wir durchschnittlich alle
dazu fähig sind, das subjektiv-individuelle Interesse zu sublimieren, wie in
der zweiten Frage verlangt wird. Aber erst das Wollen-können macht einen
Grundsatz, der im Sinne der ersten Frage allgemein möglich ist, zum
93

kategorischen Imperativ. In diesen Wollen-können liegt aber nicht mehr die


bloße technische und psychische Fähigkeit, sondern die Gewissensfrage, ob
der Grundsatz meines Handelns, als Grundsatz für alle genommen, die
Menschheit verbessert und ihre Glückseligkeit vermehrt. — Diese Frage ist
aber immer nur beschränkt zu beantworten. Ich halte insofern das Prinzip
des Bestmöglichen bei Brentano für eine modale Ergänzung des Kantschen
Imperativs und nicht für seine Widerlegung, wie Brentano angenommen
hat. Das ist m. E. aus der ausweichenden Behandlung des Gewissens bei
Kant deutlich zu ersehen.
Die Beantwortung der zweiten Frage führt also in eine Betrachtung der
Konsequenzen zurück, die Kant freilich vermeiden wollte, indem er seine
Ableitung darin gerechtfertigt sieht, als daß sie sich in ihrem Anspruch auf
Notwenigkeit (»Apriorität«) auf das Feld der Deduktion der Kategorien der
Freiheit zu beschränken hat. In der rechtsphilosophischen Interpretation des
kategorischen Imperativs handelt es sich noch um die eigene, angeblich
ursprüngliche, Vollkommenheit, die durch die Verbotsform dieser
Interpretationen gewährleistet werden soll. Kant hält seinen Entwurf des
kategorischen Imperativs für unfehlbar, weil er die Selbsterkenntnis des
Individuums mit der Erkenntnis des Gattungswesens in der Erkenntnis
unseres intelligiblen Subjekts zusammenfallen läßt. Unter welchen
Voraussetzungen diese Beschränkung das gewünschte leistet (nämlich die
historische Vernunft), soll hier nicht näher behandelt werden, entscheidend
für die vorliegenden Überlegungen bleibt, daß im Zuge der Untersuchung
des Kantschen Überganges im kategorischen Imperativ mehr zu leisten ist
als der bloß logische Übergang vom bedingten Imperativ zum unbedingten
Imperativ. Zwischen Rigorismus unbedingter Geltung des Obersten
Sittengesetzes (eigene Vollkommenheit) und unbedingter Geltung der
Fassung des kategorischen Imperatives in der Tugendlehre (empirische
Glückseligkeit des anderen als oberster Handlungsgrundsatz) ist in der
Ethik ein Mittleres zu suchen, worin das Gattungswesen aus dem Verhältnis
des handelnden Individuum zu allen anderen handelnden Individuen
bestimmt werden soll und nicht umgekehrt. In jedem Fall wird die
empirische Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt: wenn schon nicht
unbedingt teleologisch (weil die zweite Frage ohne jede Einschränkung auf
allgemeine Grundsätze der communio mei et tui originaria auf einen
höchsten Endzweck hin als die dem zum Narzissmus gesteigerten Egoismus
94

verfallene communio primavea bedacht werden kann, was durchschnittlich


Ideologie ergibt), dann empirisch-phänomenologisch in der ersten Frage.
Die empirisch gefasste Frage nach dem Wesen des Menschen bezieht sich
nun nicht nur auf die jeweils aktuelle Situation des gesellschaftlichen
Umgangs untereinander, sondern auf Geschichte und Zukunft; was nun die
Geschichte angeht — so hier meine These —, sowohl auf die Geschichte der
familiären und gesellschhaftlichen Traditionen wie auf die Naturgeschichte
(Evolutionstheorie). Betrachtet man zunächst die historische Dimension im
engeren Sinne (wie eben die klassische Soziologie ihren Gegenstand
historisch im Gegensatz zur positivistisch-konventionalistischen Haltung
gegenüber dem Historischen als empirisch Gegebenes, oder im Gegensatz
zur technischen Produzierbarkeit und Planbarkeit des Konstruktivismus
begreift), hebt Kant mit dem kategorischen Imperativ vom Utilitarismus der
je historisch-empirischen »morale par provision« ganz bewußt ab. — Der
vorgeschlagene Ausweg aus Kants Rigorismus (ein Erbe Spinozas) folgt also
der von mir formulierten allgemeinen Charakteristik des
Paradigmenwechsels insofern, als daß nicht das Allgemeine (der von
vorneherein zur Vernunft bestimmte Wesensbegriff des Menschen im
intensionalen Gattungsbegriff) das Individuum der Freiheit bestimmt,
sondern im abstrakten Verhältnis freier Individuen untereinander, aber in
Hinblick auf die Bestimmbarkeit des Gattungswesens (als transzendentaler
Mangel des Begriffes) erst ein Grundsatz des Sollens gefunden wird. {Vgl.
Abschnitt von Kant bei K.Cramer, stw.1223; Bedingung dieser Möglichkeit
allerdings erst in der reinen Moralphilosophie: Sittengesetz. Ist die Freiheit
Bedingung des Sittengesetzes (ratio essendi) oder ist das Sittengesetz
Bedingung der Freiheit (ratio cognoscendi). Ersteres sei für uns
unerkenntlich}

b) Das unvollständige Kalkül des Projekts der Aufkärung:


Prästabilierte Harmonie, »invisible hand«, List der Vernunft, Fulguration

Der transzendentale Mangel liegt in der Unerkennbarkeit der ratio essendi


des Gattungswesens: Freiheit als Grund von Sittlichkeit setzt mehr voraus
als bloß partiküläre Vernunft. Die (historisch-)empirische Bestimmbarkeit
als ratio cognoscendi des Gattungswesens ergibt für Kant hingegen:
Sittlichkeit als Grund der Freiheit. Adam Smith mutet nun dem einzelnen
95

freien Individuum Vergleichbares zu (bürgerliche Privilegien und


Verrechtlichung des Staatswesens), und rechnet noch (hierin Leibniz
ähnlich) wie seine Vorgänger mit dem Vorbild der Natur und mit deren
göttlichen Harmonie auch für die Gesetzmäßigkeit der Ökonomie, die von
den Entscheidungen der Individuuen relativ unabhängig sein sollte. Smith
sozialisiert gewissermaßen die Kosten der sittlichen
Verbesserungsmöglichkeit des Menschen, indem er diese (insofern wie Kant
auch in der Bestimmung des Menschen als ein der Vernünft fähiges Wesen
einen eigenen analytisch-metaphysischen Grund im Auge behält) als relativ
unabhängig vom einzelnen guten Willen der Menschen ansieht. Freilich hat
Smith dabei nicht vorwiegend die Sittlichkeit im Auge, auch nicht
unmittelbar die sittliche Verbesserung des Menschen überhaupt, sondern
die Verbesserung der materiellen Lebensumstände für die größtmögliche
Anzahl der Menschen einer Nation. Die »invisible hand«, die im Rücken des
individuellen Eigennutzes aller nach der Verbesserung materieller
Lebensumstände schließlich auch sekundär zur sittlichen Verbesserung der
proletarischen Massen in den Städten führen soll (allerdings unter der
Bedingung der Einhaltung ziviler Gesetze, die nicht allein aus der
Ökonomie abgeleitet werden, sondern eine naturechtliche
Begründungstrategie besitzen), entspricht meiner Auffassung nach der »List
der Vernunft« bei Kant und Hegel, auch wenn diese deutschen Denker ihre
Hoffnung auf den Geschichtsprozess nicht primär aus den Vorstellungen
zur Umgestaltung der Ökonomie heraus schöpfen.

Man kann von verschiedenen Vorstellungen selbstregelnder Kalküle


ausgehen. Ohne Vollständigkeit und in aller Vorläufigkeit wähle ich ohne
Angabe von Gründen folgende Gegenüberstellung:
1) Leibniz:
Monade und vinculum substantiale als Gleichgewichtssystem (nach
Herbart) und deren evolutionstheoretisches Gegenstück in den Megatropen,
die durch die innerartliche und zwischenartliche Evolution hindurch die
Verständigeren bevorzugt (Verständiger ist der, der weniger bei der
Aneignung der Umwelt vernichtet).
2) Smith:
Der Markt als die Produktionskräfte einschließendes Gleichgewichtssystem
unter bürgerlich-rechtlichen Bedingungen des Wirtschaftens unter dem
Gesichtspunkt (naturwissenschaftlich= wirtschaftlich) rationaler
96

komplementärer Organisation der sozialen nach Innen und


zwischenstaatlichen Unterschiede nach Außen. Wirtschaft wird so auch eine
gezielt gesellschaftlich und epistemisch gestaltende Kraft.
3) Kant:
a) Das reine Schema des kategorischen Imperativ (vom Individuellen zur
Gattungsbestimmung) — ahistorisch und transzendental {Hingegen Cramers
Darstellung des Verhältnisses von reiner Moralphilosophie zum Pflichtbegriff in der
Metaphysik: ahistorisch und analytisch-metaphysisch}
b) Das Reich der Zwecke und das (empirische) höchste Gut als
teleologisches System (vom System der Individuuen zur
Gattungsbestimmung oder vom Gattungswesen zum System der
Individuen) — historisch und synthetisch-metaphysisch oder analytisch-
metaphysisch
c) »List der Vernunft« — historisch und soziologisch

Ich versuche einen Horizont in das Blickfeld der Diskussion zu bekommen,


in welchem die Fulguration (Verhaltenstheorie und Evolutionstheorie),
invisible hand (Nationalökonomie), List der Vernunft (Politik) und die
Entwürfe zur Konkretisierung der universiellen Harmonie bei Leibniz
(rationale Metaphysik) Bausteine oder Elemente einer objektiven
Bestimmung des Begriffs von der realen Geschichte hergeben könnten
(während Heidegger nur subjektive Begriffe von der Geschichte
zustandebringt). Ein solcher Entwurf hätte in Konkurrenz zu den
Geschichtsmodellen des Historischen Materialismus einerseits und der
Abfolge von Rassen und Kulturen (etwa Gumplowic, Frobenius, tlw. auch
Dempf, letztlich auch Weber) andererseits zu treten, wobei zwischen
Soziologie und Verhaltensforschung Gehlen eine Sonderstellung einnimmt.
Doch bleibt die Soziologie (Schütz und die klassischen Soziologen
Durkheim, Weber, Simmel, Tönnies), die Ökonomie, Verhaltenforschung
und die Evolutionstheorie in ihren jeweiligen Bezug auf ein gemeinsames
Substrat in sich widersprüchlich genug, während die Soziobiologen, welche
die philosophische Anthropologie angeblich schon auf dem Müllhaufen der
Geschichte entsorgt haben, die Soziologie, Ökonomie und Geschichte aus
einer Wurzel zu erklären können glauben: Ich halte allein schon aus
wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen Gründen eine
kritische philosophische Anthropologie für unabdingbar. Der Verzicht auf
Regionalontologien aus daseinsanalytischen oder
97

wissenschaftstheoretischen Günden (dortselbst im Streit zwischen


mathematischer und semantischer Logik noch nicht entschieden) —
methodisch womöglich jeweils lokal begründbar — kann nicht bedeuten,
diese Relevanzen zu vernachlässigen, wenn auch einstweilen unterbestimmt
bleibt, wer oder was im Hin und Her zwischen Individuum und
Gattungswesen empirisch zu supponieren vermag. Einen strikten
methodischen Monismus halte ich ebenso unangebracht wie einen strikten
ontologischen Monismus.

c) Aufklärung und Humanismus: Wechselseitige Entwertung von


Allgemeinheit und Individuum und die Wiederkehr der Gespenster oder
das Studium der Werte und Relevanzen

Die Verwissenschaftlichung des Blicks wie auch der Arbeits- und


Lebenswelt selbst, und vor allem die Betrachtung des historischen
Gesellschaftsprozesses unter dem Gesichtspunkt der mathematischen
Naturwissenschaften in der Ökonomie im Zuge der Theorieentwicklung, die
mit den Physiokraten einsetzte, entsprechen einander hinsichtlich der
Methodenfrage in der Entwicklung der Naturwissenschaften und des
naturwissenschaftlichen Denkens. Die Alltagserfahrung kann nicht mehr als
Regulativ der Ergebnisse wissenschaftlich abgesicherter Verfahren
angesehen werden, dies gilt zuletzt für die Human- und
Gesellschaftswissenschaften ebenso wie für Naturwissenschaft.
Täuschungen nicht nur der Sinne, auch Irrtümer in den
Interpretationsregeln betreffs der Vorstellungen über das wirkliche
Geschehen sollen nicht nur in der empirischen Naturwissenschaft
(phänomenologisch oder klassifizierend) durch mathematische Prinzipien
der quantitativen Schematisierung ausgeschlossen werden; Täuschungen
und Irrtümer sollen gleichfalls in den Sozialwissenschaften durch eine
phänomenologische Beschränkung auf die Verhaltensformen
(Behaviourismus) ausgeschlossen werden, um Verwechslungen von
Beobachtung und Vermutung über unzugängliche Motive zu verhindern.
Die Dialektik in der Einsicht der zunehmenden Selbstproduziertheit der
Gesellschaftsform wird von der einseitigen Abstraktionstheorie reiner
(verstandesgemäßer) Bewußtseinslehre in die Selbstreferentialität der
Formalität der Abstraktionstableaus der verschiedenen
98

Wissenschaftsbereiche übertragen. Doch gerade die vernünftige


Organisierung nicht nur der einzelnen Wissenschaftsbereiche (z. B. Physik
und Chemie oder relativistische Astrophysik und Teilchenphysik) oder z. B.
Pareto im Entwurf einer Allgemeinen Soziologie als offenes System von
gesellschaftlichen Hilfswissenschaften, sondern auch der
Zusammenwirkung der verschiedenen Zwecke der Vergesellschaftung ist
eine der erkannten Aufgaben kritischer Philosophie. Das bedarf der
Interdisziplinarität nicht nur in wissenschaftsübergreifenden Großprojekten,
sondern auch in denjenigen Vorstellungen, die jeweils sowohl zur
zusammenfassenden Abrundung wie als Ausgangslage erster Heuristik
dienen, was in weiterer Folge zu einer mehrfachen Polarität eines
Horizontes möglicher gattungsrelevanter Positionen und eben nicht zu
einem methodologisch motivierten restontologischen Monismus führt. Das
ändert freilich nichts an der Bedeutung der primären Intentionalität auf die
Materialität der Erscheinungen, jedoch vermag eine daraus resultierende
Schichtenontologie nicht die gesamte Zusammenwirkung im Sinne der
entschränkten Kategorie der Wechselwirkung (Commercium), nur die
aneinanderliegenden Grenzen vorzustellen. — Auf die vernünftige
Organisation und zunächst wechselseitige Rangreihung gattungsrelevanter
Positionen einzuweisen, wäre eine würdige Aufgabe der Philosophie. Vor
allem anderen wird die Reflexion der Zwecke von
Gesellschaftswissenschaften außer Acht gelassen; rein formal betrachtet
muß auffallen, daß die Komplexitätsreduktion bei Problemen, die komplexe
Randbedingungen aufweisen, intern zu Redundanz und extern zur
Irrelevanz neigen.

Erst wenn die theoretischen Fragen betreffs der beabsichtigten


systematischen Reflexion der Naturerkenntnis deutlich genug gemacht
worden sind, kann die schwierigere Frage nach der Sittlichkeit und nach
dem ganzen Wesen des Menschen auch mit der nötigen Klarheit und
Nachhaltigkeit gestellt werden. Bemerkenswert ist, daß durchwegs das
Wesen nicht mehr analytisch das Einzelne bestimmt, sondern das Ganze als
in Raum und Zeit zusammengesetzt und als Produkt erscheint. Das
Allgemeine des Gattungswesens tritt so als Produktionsgesetz desselben
auf. Hegel und Marx haben dies jeweils primär gesellschaftlich (Staat und
Ökonomie) aufgefaßt, Lorenz und sein Kreis faßt dies (hierin eine Köpfung
der Naturphilosophie Schellings) allein als Produkt der natürlichen
99

Evolution auf. Das Individuum und sein Allgemeines wird aber da wie dort
zwischen Individuum, Mitwelt und Umwelt vermittelt. Die Aufklärung der
Aufklärung führt also nicht durchwegs von der Frage nach der Natur des
Menschen weg, sondern relativiert diese Frage historisch, soziologisch und
evolutionstheoretisch. Der klassische Humanismus als Emanzipation des
Menschen vom verfälschten Dogma einer äußerlich gewordenen Kirche
läuft in Gefahr, nach den Kritiken am Subjekt der rationalen Metaphysik der
Aufklärung letztlich jeweils bloß den einen Zwangscharakter gegen den
anderen getauscht zu haben. Nunmehr droht die unkritische
Vorbildhaftigkeit der mathematischen Naturwissenschaft in
erkenntnistheoretischer Hinsicht bei allen Verdiensten dieser Entwicklung
in Hinblick auf Methodengewißheit das Zentrum der philosophischen
Anthropologie aus dem Auge zu verlieren — der Mensch selbst als
vernünftiges (der Vernunft fähiges) Individuum wird derart nur abermals
zu einer bloßen Illusion der Metaphysik erklärt. Was fehlt, um dieser Falle
zu entgehen, ist in der erkenntnistheoretischen Fragestellung zuerst die
Bestimmung des Horizontes des jeweils als Grundlage der Epistemologie
angegebenen Zeitmodus (vgl. das Ungenügen der Darstellung des
Regressus durch Kant hinsichtlich Kosmologie, Phylogenetik und
Ontogenetik in den Diskussionen der Antinomien der theoretischen
Vernunft) und zweitens die Bestimmung des Verhältnisses der Stellung des
Menschen einmal als Voraussetzung von Wissenschaft und einmal als
Produkt der Gegenstandsbereiche dieser Wissenschaften. Allerdings führt
die Stärkung der Stellung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen
einer von wo anders als aus der historisch-empirischen Erfahrung als
Individuen hergenommenen Idee vom Gattungswesen mitnichten von selbst
zu einer dem Menschen zuträglichen Vorstellung der Gesellschaftlehre;
hierin den Konzepten einer substantialen Sittlichkeit ähnlich, die in den
Verallgemeinerungen des Gattungswesens als Sozialwesen ihrerseits nur
allzu leicht einer Tendenz zur Ideologisierung in der Tradition der
politischen Theologie oder des Bewegungsgedankens der pietistischen
Gemeinde aufsitzen, die dem Individuum die Norm zum Individuum-sein
positiv vorschreibt. Vielmehr hat diese Verrückung des Menschen ins
Zentrum der Aufmerksamkeit zur Vergegenständlichbarkeit im
systematischen Mittelsein sowohl der politischen wie der ökonomischen
Zweckrationalität geführt und erst seine Natur fraglich werden lassen.
100

Insofern ist auch für eine gelungene geschichtsphilosphische Analyse


Voraussetzung, die jeweilige Defizienz gegenüber den Ansprüchen einer
philosophischen Anthropologie relativ und universiell verschieden
bestimmen zu können. Die eigentliche Schwierigkeit bleibt allerdings auch
dann noch die Antwort auf die Frage nach der die Norm vorschreibende
Natur des Menschen vor dem Hintergrund der dem Menschen zunehmend
äußerlich bleibenden Bedingungen der Vergesellschaftung als Gattung —
zweimal gefragt: als Individuum (Mitwelt) und als Gattung (Umwelt) — zu
finden, bevor der Kreisgang mit der angemessenen Fragestellung nach der
Stellung des Menschen geschlossen werden kann: eben nicht allein als
kosmologische Frage nach dem Naturwesen sondern zuerst als historische,
dann als politische Frage. Erst diese letze Frage vermag den Horizont des
Menschen als freies Individuum innerhalb seiner eigenen Gattung
angemessen zu umreißen. — Die Hauptgründe der Dynamik der
überblickbaren Geschichte des Menschen sind nun in Politik und Religion,
Organisation der Verwaltung und der Ökonomie zu finden. Erst in dieser
vollständig äußerlichen Geschichte findet der Mensch seine ihm
eigentümliche Äußerlichkeit als Verhaltensform(=Soziologie); somit auch
erst die Bedingung der Möglichkeit einer konkreten Fragestellung nach
seiner und nur ihm eigentümlichen Natur gemäß des fortwährend näher zu
bestimmenden Gattungswesen zwischen Natur- und Kulturwesen, die in
seiner innerartlichen historischen Dimension jedoch nicht zwischen
Ontogenetik und Phylogenetik und deren ersten Verklammerungsformen in
der Entwicklungspsychologie oder gar Evolutionstheorie (trotz eines
gewissen Verfremdungspotentiales) aufgehen kann. Bevor man bei der
Einzigkeit des eigenen Individuums oder der eigenen Art angekommen ist,
müßte noch die historisch-verallgemeinbare Eigentümlichkeit des je
individuellen Verständnisses von Gesellschaft und der eigenen
Vergesellschaftung kultursoziologisch in den Blick genommen werden.
101

2. PHILOSOPHISCHE POLITIK ?
Kommentar zum Aufsatz
»Vom Gattungswesen zum Geist. Metamorphose beim frühen Hegel und beim jungen Marx«
M. Benedikt, Wien 1992

Das erste Kapitel ist eigentlich keine Einleitung oder Einführung zur Lektüre des Aufsatzes von
Professor Michael Benedikt, sondern bloß das Verzeichnis meiner erst allmählich einsteigenden
Lektüre einerseits und der dazu ergänzend gemeinten Kommentare und aus meiner Sicht
weiterführenden Überlegungen andererseits. Da ich bislang nicht imstand war, eine wirklich bessere
Hinführung zu der m. E. zentralen Problemstellung zu verfassen, die hier erst ab dem zweiten
Kapitel (das Gattungswesen als Garant des vinculum substantiale) zur Diskussion gestellt wird, auf
eine Hinführung aber nicht verzichtet werden kann, habe ich es dabei belassen.

a) Die Ideen von Gesellschaft und Gattungswesen:


Polis und communio primavea

»Der Verlust des vinculum substantiale im Sinne des Bandes achtungsvoller


Liebe wird durch die Dialektik der Anerkenntnis suppliert.« (S. 99) — Meint
Benedikt mit der Dialektik allein die Wechselseitigkeit der Anerkenntnis
zwischen wir und sie an Stelle der gemeinsamen, aber einfachen
Anerkenntnis eines uns, die auch bei aller Gemeinsamkeit subjektiv bleibt?
Oder ist die Dialektik doch schon zugleich der Titel der Überwindung der
objektiven Demütigung des einen, welcher der subjektiven Erhabenheit des
anderen schon in der achtungsvollen Liebe vorauszugehen habe und erst in
der Wechselseitigkeit wirklich zur Anerkenntnis des uns wird?

Wohl nicht: Die flüchtige Anerkenntnis der Liebe kann sich komisch-
satirisch auflösen (S. 100); nicht aber die Übernahme des Familiengutes in
den Populationsverband. Hier noch auf der Stufe des Clans vorgeführt als
Zwischenstufe vom Frieden auf den Krieg zu; also als Einsatz des
privilegierten Wohlstandes im Krieg (zuvor eben immer als Einsatz der
Mittel in den Kriegsvorbereitungen).

— Demnach ließe sich Demütigung wie Erhabenheit nur in der Liebe


komisch-satirisch auflösen. Hingegen wird die negative Anerkenntnis zum
102

Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Dynamik (Hegel). (Bd. 67 PhilBibl,.


246)

Hegel scheint hier romantisch das Hobbesche Diktum mit — der nunmehr
bürgerlichen — Ritterlichkeit (die verbleibende Erinnerung der bleibenden
Demütigung durch den Adel) auszuschmücken und positiv auffassen zu
wollen. Ein politisch-pragmatisches Prinzip der Staatenlehre — die
Anerkenntnis zwischen Souveränen — wird so zugleich zum Prinzip der
transzendentalen Anthropologie erhoben.

(S. 101) Vgl. den Hinweis auf M. Riedel: Eher Hobbes als Rousseau.
Benedikt: Gleichwohl bricht die Rousseausche Konzeption einer — von Kant
bis in den Charakter der Gattung weitergeführten — communio primavea
als Voraussetzung aller communio mei et tui originare vehement durch.

— Deshalb halte ich zunächst die communio primavea zwar als eben diese
ursprünglich bleibende Voraussetzung der Anthropologie, doch bleibt ja die
Grenzbestimmung derselben mit vielen Fragen behaftet. Zwei davon
vermag ich anzureissen: Erstens, die reine Selbstbezüglichkeit setzt sich
selbst als Identität und ihre Positionen von Ich und Nicht-ich als
innerpersonales Ich und Du nicht als wirklich voneinander unterschieden,
zweitens bleibt so die communio mei et tui originaria als Form einer jeweils
erlebbaren Innerlichkeit neuerlich abstrakt und — allerdings nur
vermeintlich — der Schlüssel zu jener Hintertür, durch welche sich die
Autarkie (wenn schon nicht individuell, dann als personalisiertes
Staatswesen) als Illusion wieder einstellt.

Es wird noch zu entscheiden sein, ob der Begriff vom Gattungswesen mehr


umfaßt als die jeweils erreichbare empirische Faktizität. Vermutlich ist auch
die Natur des Gattungswesens als urwüchsiges Substrat nicht bloß die
ursprüngliche Unzivilisiertheit des Neugeborenen, sondern gerade das, was
Natur und Geschichte aus uns gemacht hat. Nur fällt demnach nicht nur das
ewig gattungsmäßig Gleiche, welches die jeweiligen historischen Formen
der Konstitution anerkannt hat und mitzutragen imstand ist, sondern auch
jene jeweiligen Konstitutionsformen, die nicht nur in der Generationsfolge,
sondern auch quer zu dieser in der Einseitigkeit verharren, nichts destotrotz
aber aktuell mit konstituierend sind, unter das empirisch Allgemeine des
103

jeweiligen Begriffes vom Gattungswesen, muß aber gerade deshalb nicht


unbedingt schon unter dem Begriff natürlicher Vergesellschaftung fallen.

(S. 101 u.) Hegel: Eine polis, das Volk, repräsentiere das Ganze vor den
Teilen (vgl. hingegen die obige Skizze des Verhältnisses von communio
primavea und communio mei et tui originare). — Dazu denke ich, daß das
Ganze, wenn es das Volk sein soll, nicht Individuen als Teile hat, sondern
Volksteile oder zumindest Familien. Überhaupt ist zu zweierlei zu fragen:
erstens inwieweit hier der Begriff des Volkes, zumal unter der Idee der polis
stehend, von der Staatsidee und der territorialen Integrität abgetrennt
werden kann, und zweitens, ob die ideal zu erwartende Unabtrennbarbeit
bedeuten muß, daß die empirische Aquipollenz dieser Begriffe als bonum zu
fordern ist.

(S. 102) Castoriadis: Nach Hegel sei es (historisch) konsequenter, darüber


hinaus den gezähmten universiellen Gemeinsinn im Sinne Tocquevilles zu
bedenken. Das führe aber nur zur Anerkenntnis des Gattungswesens in der
»Konstitution« als Herrschaft der Gewalt. Benedikt: Das ist aber unter
Umständen weniger als die Anerkennung des Gattungswesen im Übergang
in den manifesten Gesellschaftsvertrag. — Damit hat Benedikt wohl recht,
doch: was bedeutet das? Zweifellos wird hier mit Tocqueville der
Unterscheidung in Gesellschaft und Staat ein Anlaß gegeben. Doch soll der
gezähmte universielle Gemeinsinn zumindest historisch die »Konstitution«,
also, im weiteren Sinne Hobbes verstanden, die Unterwerfung voraussetzen.
Und zwar nicht nur, um das Bewußtsein von lokalen Gewohnheiten zum
Bewußtsein von regionalen Gewohnheiten zu erweitern, sondern um erst
aus lokalen Gewohnheiten regionale Gewohnheiten (Charaktere) zu
machen. Dieser eher historischen Betrachtungsweise wird nun das Prinzip
der künstlichen Konstruktion einer Zentralgewalt gegenübergestellt, die
einerseits der natürlichen »Konstitution« eine Möglichkeit der
Rechtfertigung als Naturprozess, der als solcher in seiner Notwendigkeit
eingesehen werden kann, gibt, und andererseits aus dem natürlichen Sinn,
der der bloß empirischen »Konstitution« im Nachhinein abgewonnen
werden kann, der politischen Gewalt mit dem Prinzip ihrer Rechtfertigung
zugleich das Prinzip ihrer Beschränkung auf eben ihre überindividuelle
Bedeutung als sittlichen Maßstab vorhält. Dabei geht es auch um die
allmähliche Ersetzung der theologischen Legimitation durch rationale
104

Legitimation unter dem Mantel des äußerlich aufrechterhaltenen


Gottesgnadentums. Auch die Vertragstheorie als nächster Schritt dieser
Rationalisierung der Gewalt der Vergesellschaftung wurde zunächst nicht
konkret als historisch-empirische Faktizität aufgefaßt, sondern von
Pufendorf ganz bewußt als Konstrukt historischer Möglichkeit, um
Prinzipien der Staatswerdung zu demonstrieren.

Pufendorf ist insofern ein Vertreter der Vertragstheorie, als er die Väter der
Familien und ihren Zusammenschluß in moderater Form der Hobbschen
Idee für die Legalität der zentralen Staatsgewalt voraussetzt. Damit erst
ergibt sich die Möglichkeit einer allgemeinen Rechtssphäre, die dann auch
das Individium aus dem Familienverband verteidigt (zunächst gegen andere
Familien, dann auch gegen Übergriffe in der Familie). Ob dies historisch so
gewesen ist oder nicht, berührt die Vertragstheorie selbst nicht. Worauf ich
damit hinweisen will, ist, daß auch von der Rechtsphilosophie aus der
Engpass einer zentralen Gewalt, die selbst in ihren Entscheidung
unabhängig von den Familien (unparteiisch) sein können muß, bewältigt
werden muß. Ohne Souveränität nach innen nicht nur bedrohte
Souveränität nach außen, sondern auch eine bedrohte Rechtslage im
inneren.

Die Vertragstheorie hat aber dazu noch die Schwierigkeit an sich, den
Grund einsichtig zu machen, weshalb die Söhne und Enkel der Zustimmung
ihrer Väter folgen sollten. Das ist aber nicht wenig paradox: zuerst wurde
die Vertragstheorie dazu benutzt, um den gefährdeten Frieden zwischen
zentraler Staatsgewalt und dem Volk durch die rationale Einsicht
gegenseitiger Abhängigkeit zu sichern, nunmehr wird die so oder so
historisch gewordene Vertragstheorie zur Absprungsbasis der Enkel, den
Gesellschafts- und Generationenvertrag zu bezweifeln. Das hat zwei
gegenläufige Gründe: Erstens ist die Stelle der »Väter« innerhalb der
»Familien« durch die Rationalisierung der zentralen Staatsautorität
inzwischen dem gleichen Rationalisierungsprozess ausgesetzt worden und
zweitens gehören die »Väter« nunmehr nicht länger allein zur »Familie«
sondern geraten, zumindest im Modell des Gesellschaftsvertrages, in die
Nähe zum Kabinett der Staatsautorität. D.h., die Interessen der »Väter«
decken sich nicht mehr (oder nicht mehr primär) mit den Interessen der
»Familien«, sondern sind selbst schon dem Allgemeininteresse unterworfen.
105

Soviel zur immanenten Schwierigkeit der Vertragstheorie, die bis in die


Familie reicht. Unbestritten bleibt aber der Fortschritt, der von Pufendorf
gegenüber Hobbes gemacht worden ist.
Offensichtlich reicht die Kontrolle der Staatsautorität durch die Vernunft
aller Entscheidungsträger alleine nicht aus; es muß noch der Mechanismus
der Gesellschaft selbst entschlüsselt und unter die Kontrolle der Vernunft
gebracht werden:

(S. 103) Kojève: Die Fixierung auf die abstrakte Tauschform abstrahiert von
den partikularen sozialen Figurationen. Benedikt fordert eine
Gleichbehandlung von Technik, Arbeitsteilung, Institutionen (etc.), um alle
Relationen des erweiterten Gattungswesen zu entwickeln und so auch das
urwüchsige Substrat des Gattungswesens zu zähmen.

— Zwischenresumée: Die Kantsche »anthropologia transcendentalis« als


relationale Struktur von abstrakter Technik, abstrakter Arbeitsteilung und
abstrakter Tausch (S. 96) wäre so nicht als Zusammenfassung der Teile des
Volkes (des Staates) zu verstehen möglich (S. 101; eine polis, das Volk,
repräsentiere das Ganze vor den Teilen). Geht man nun nicht von einem
bereits durch ein überwertiges Individuum ursurpierten Ganzen der
Gesellschaft (der König als Mittler zwischen Gott und Volk), sondern von
der Normalidee eines Individuums aus (vor Gott sind alle Menschen gleich),
dann müßte zuerst ein als Konkretes denkbares allgemeines Gefüge des
Tausches, der Produktion und des technisch-praktischen Wissens im
Verhältnis zu allen anderen Wissensformen grundgelegt sein, was die
abstrakte Struktur des mit dem Menschen je mitzudenkenden
Relationsgerüstes bereits allgemein im Rahmen einer scientia generalis
bestimmen lassen würde. Ein solcher abstrakter Gedanke vom Universum
als Vermögen des Menschen wäre aber kein Begriff mehr, der im Rahmen
einer transzendentalen Anthropologie auf distributive Allgemeinheit
Anspruch erheben könnte. Wie dem aber auch immer sei, daß Kant mit den
die konkreten Beziehungen abstrahierenden Relationsarten gleich alle
Bedingungen der Möglichkeit ihrer institutionalisierten Form in die
transzendentale Anthropologie aufgenommen habe, muß ausgeschlossen
werden. Sicherlich sollte wohl gerade die transzendentale Anthropologie
nicht dafür geeignet sein, daß aus ihr, je nach empirisch feststellbarer
Defizienz, alle Gesellschafts- und Staatsformen deduziert werden könnten.
106

Insofern wäre gewissermaßen (frei nach Luhmann) die philosophische


Anthropologie nur die Umwelt aller möglichen komplexen sozialen
Systeme. Dies ist der erste Punkt, den ich festhalten möchte, bevor man zum
entscheidenden Argument (das Gattungswesen als Fundament des
vinculum substantiale) weitergeht.

b) Der Übergang von communio primavea zur communio mei et tui


originare reicht nicht zur Konstitution der Produktions- und
Tauschrelationen

Entscheidend ist also, daß nunmehr die Verfassung politischer


Machtverhältnisse nicht mehr allein zureicht, die Gesellschaft vernünftig zu
organisieren, sondern im Übergang von familiärer Struktur zu öffentlich-
rechtlicher Struktur befindlich, im Rahmen einer öffentlich und manifest als
arbeitsteilig organisierten Gesellschaft auch das Verhältnis der politisch
ursprünglich gegenüber der Staatsautorität gleich bedeutsamen Teile der
Gesellschaft untereinander in Betracht zu ziehen ist. Damit wird das
Verhältnis von communio primavea und communio mei et tui originare
selbst zwar nicht umgedreht, aber doch das Verhältnis des Individuums zur
Staatsautorität in den Hintergrund gedrängt. Nunmehr beginnt die
communio mei et tui originare über die Qualität der communio primavea zu
entscheiden, auch wenn dieser, sei sie zustandegekommen wie auch immer,
der ontologische Vorrang genetisch unbestritten bleibt.

(S. 114)
»Der Motor dieses Gattungswesens, als reale Begierde vom Marx der Jahre
1843-1845 mehrfach ambigue mit Genuß oder Geist angesprochen, gerät
allerdings in den logisch-strukturellen Alternativen der Entfremdung in eine
mißliche Lage: Die Strukturdifferenz im Sinne des Eigennutzes (Wir haben
jeder nur für uns produziert) und der Entschlüsselung und Überwindung
der Entfremdung (Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert) gerät
zwischen Extremen nochmals in die Fänge der real abgeleiteten
naturalistischen Logik und Dynamik des sich verkehrenden
gesellschaftlichen Genusses (Geistes). Marx dreht also Hegels redupliziertes
»Im-anderen-bei-sich-Sein« als Selbstgenuß des Geistes, Hegels Prinzip
107

naturalistischer Logik, selbst dann nicht um, wenn er das individuierende


geschichtsträchtige Ensemble des Gattungswesens aus der Dialektik des
Geistes herauslöst, um ihm seine praktische reale Dialektik zuzumuten und
zu retournieren. Das neue, von Hegel nur mehr geahnte, weil verratene und
von Marx neu statuierte Wechselverhältnis der logischen Strukturen von
gesellschaftlicher Selbstbezogenheit und gesellschaftlicher
Fremdbezogenheit bleibt ein Rollenspiel und verliert aus seiner Mitte sogar
die anthropologische Dimension, was Natur, auch Geschichte aus uns
gemacht hat. Das Schlußwort der gelungenen realen Mitte gegenüber den
beiden in sich differenzierten Potenzen des systematisch-dynamischen
Eigennutzes (...) hier und der universiellen menschlichen, weil überall
freigiebig im Tausch oder individuierenden Variationen des Gemeinnutzes
da, manifestiert und fixiert sich in der Spiegelmetaphorik gesellschaftlicher
Selbstbezogenheit: „In deinem Genuß hätte ich unmittelbar den Genuß (...)
Mittler zwischen Dir und der Gattung gewesen zu sein (...) Unsere
Produktion wären ebensoviel Spiegel, worin unser Leben sich
entgegenleuchtet“ (Pariser Manuskripte, S. 180).«

»Es fehlte ihm also Methode und Konzept, die Differenz zwischen der
Darstellung gesellschaftlich-realer Verhältnisse, also den wirklichen
Verhältnissen (eben auch der sich der Darstellung des Ideals entziehenden
historischen Situation) einerseits und den Strukturen anthropologischer
Relevanz andererseits zur befreienden Gestaltung des Gattungswesens zu
exponieren.« (vgl. S. 115, 3. Abs.)

— Benedikt scheint also auf die vorhin meinerseits angebrachten Bedenken


insofern Rücksicht zu nehmen, indem mit der letzten Unterscheidung
zumindest die Unterscheidung von transzendentaler Anthropologie und
Gesellschaftslehre auf ähnliche Weise wie vorhin von mir bedacht worden
ist, als daß die transzendentale Anthropologie nicht alle möglichen
Gesellschaftsformen (Institutionen, institutionalisierte Relationen) analytisch
enthalten kann. Allein damit ist aber eben nur abstrakt zwischen Ideal und
Wirklichkeit zu unterscheiden, vielmehr sollte im Fortgang deutlich werden,
wie jeweils die Bedingungen zur Darstellung des Ideals die wirklichen
Verhältnisse (ansonsten keine Möglichkeit der Beschreibung des Ideals
gegeben wären) und die Bedingungen zur Darstellung der wirklichen
Verhältnisse ein Ideal (ansonsten keine normierenden Vorschriften zur
108

Darstellung gegeben wären) voraussetzen. Das allerdings erfüllt noch nicht


das transzendentale Ideal, das die empirische Möglichkeit des bonum
behaupten kann.

Wie das Gattungswesen als vinculum substantiale zu denken sei, wird im


Schlußsatz des obigen Zitats von Benedikt angegeben, allerdings handelt
sich dies hier nicht um die gelungene »reale Mitte« gegenüber der beiden
sich differenzierenden Potenzen des Eigennutzes hier und des
Gemeinnutzes da, sondern um die selbst »formal« ideal bleibende Idee des
Substrates des individuierenden Gemeinnutzes (Gesetzt, wir hätten als
Menschen produziert). Das vinculum substantiale des Gattungswesens wäre
demnach zwar abermals auf den vorausgesetzten Eigennutz gegründet (vgl.
Pariser Manuskript, S. 180, 1, MB, S. 111), doch dieser Eigennutz ist ein
anderer als jener, für den gilt, wir haben nur für uns produziert, denn
nunmehr bedeutet Befriedigung erst gesellschaftlichen (geistigen) Genuß
und nicht den unmittelbaren materiellen (eventuell privilegierten
gemeinschaftlichen) Genuß des Produktes. Die Denunzierung des geistigen
Genusses, nicht nur die nicht geleistete Umkehrung der Verhältnisse des
Selbstgenusses bei Hegel ist Teil des Problems; die Frage nach den
konkreten Formen der Relationen und Institutionen wird damit aber so oder
so noch nicht gelöst. Damit ist wohl nicht selbst die »reale Mitte« gelungen,
doch aber die erste Vorbedingung erreicht, diese zumindest denken zu
können: Das heißt aber nur, daß damit überhaupt erst ein Beginn gesetzt
worden ist, der vorauszusetzten ist, auch die Wechselseitigkeit dieser
Beziehung im Selbstgenuß als Mittler zu bedenken, die erst in der realen
Auseinandersetzung der Klassen — also im Wechsel von Demütigung und
Erhabenheit — zum kollektiven Erfahrungsgegenstand wird.

Trotzdem halte ich den vom »philosophischen« Marx vorgestellte


Selbstgenuß im Geiste als eine gültige Interpretation des vinculum
substantiale. Aber während als vinculum substantiale ideale des
Gattungswesens der Produzent in den Genuß kommt, mittels seines
Produktes selbst am Mittler-sein zwischen Sich und den anderen, der das
Produkt genießt, einerseits und am Mittler-sein zwischen den anderen und
dem Gattungswesens andererseits, schließlich zwischen sich und dem
Gattungswesen eben dadurch Anteil zu haben (also alle Glieder selbst Teile
des vinculum substantiale sind; dieses also nichts anderes als die reale
109

Ganzheit des Gattungswesens in monadologischer Perspektive), ist das


vinculum substantiale ideale des reinen Marktes nichts als die Bestimmung
des für sich abstrakten Tauschwerts über die Summe der Abstimmungen,
die selbst jeweils über den subjektiven empirischen Gebrauchswert
stattfinden.

Insofern ist die Existenz des Marktes eine reduzierte Fassung des vinculum
substantiale, weil der abstrakte Tauschwert am Markt ebenfalls als Spiegel
dient, allerdings nicht des Gattungswesens, sondern des abstrakten
Tauschwertes als abstraktes Wesen des Wertes (pretium) einer strikt als
produzierend und tauschend organisiert gedachten Gesellschaft. Diese
Perspektive kann nicht wegen der an sich zu recht bestehenden Kritik an
den Beschränktheiten dieser Perspektive aus dem Modell der Gesellschaft
eliminiert werden; und das nicht nur, weil die realen politischen
Machtverhältnisse dies nicht erlauben würden (bzw. auch nach einer
Revolution nicht vollständig zerschlagen werden könnte), sondern weil die
Ökonomie ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Prozesses ist.
Daß diese selbst im wesentlichen eine kapitalistische Ökonomie ist, halte ich
für großflächige und komplexe urbane Gesellschaften noch für einige Zeit
nicht für veränderbar, wobei noch zu bedenken ist, daß die Modelle nicht-
kapitalistischer Ökonomie nicht nur kleinregional und nur mit geringem
Außenhandel denkbar sind, sondern auch die Tendenz besitzen werden, die
allgemeinen öffentlich-rechtlichen Strukturen über den ökonomischen
Bereich hinaus zu verengen.

Allerdings bedeutet diese reduzierte Fassung auch nicht mehr jenes »Wir
haben nur für uns produziert«, aber auch nicht das Ganze irgendeiner
Gesellschaft, sondern nichts anderes als nur das Ganze des Marktes. Die
Metaphorik Marxens beruht hier jedoch nicht auf Verhältnisse einer
entwickelten Industriegesellschaft, in der die Wahl zwischen verschiedenen
Produkten gleicher Gattung flächendeckend gewährleistet ist, sondern geht
von einem nur gedachten Modell, wo die produzierende Gemeinschaft ihr
Produkt im wesentlichen selbst konsumiert, aus. Die moderne Gesellschaft
scheint aber nicht als Gemeinschaft zu produzieren (»Gesetzt, wir hätten als
Menschen produziert«). Es ist also die Frage zu stellen, wie der Umstand
beurteilt werden kann, daß zwar diese Gesellschaft ökonomisch schon
längst nicht mehr nach dem Grundsatz »Wir haben nur für uns produziert«
110

funktioniert, aber gerade nicht nach dem Grundsatz »Gesetzt, wir hätten als
Menschen produziert« sondern nach den Prinzipien bloßer Marktgesetze.
Der bloß erweiterte Egoismus des Eigennutzes einer abgeschlossenen
Gemeinschaft wurde zunehmend vom vinculum substantiale ideale des
Marktes verdrängt, anstatt zur »moralischen Verbesserung« der Gesellschaft
zu führen.

Zur Verwendung dieser leibnizianischen Idee eines Relationgefüges muß ich


nachtragen, daß ich das vinculum substantiale hier als das Konzept von
Kalkülen des Optimums im Sinne der Berücksichtigung aller Teile gemäß
ihres Beitrags zum Ganzen betrachte. Wegen der Abstraktheit dieses
Konzeptes ist es aber auch möglich, den Markt formal als Ganzes zu
betrachten und dem vinculum substantiale aufgrund des formalen
Modellcharakters das »ideale« zuzusprechen. Wird die Unterscheidung
anhand des »ideale« zum vinculum substantiale reale aber dahingehend
verstanden, daß das Ganze als qualitative Totalität aufzufassen ist, rückt die
Konstruktion eines Kalküls wegen der Schwierigkeiten der Bewertung und
Messung in weite Ferne. Noch dazu führt die Beanspruchung qualitativer
Totalität des Ganzen zu einer weiteren Schwierigkeit: Der Beitrag eines
Teiles zum Ganzen ist dann auch in der idealen Betrachtungsweise real zu
nehmen und nicht ideal wie im Rahmen eines formal eindeutigen Modelles.
D.h., die Qualität des Ganzen wird auch durch jene Qualitäten der Teile
bestimmt, die nicht das Optimum des Ganzen befördern. Auch hier ist es
einfacher, sich diese Verhältnisse anhand eines formalisierbaren Beispieles
klar zu machen: so kann eine für die Aufrechterhaltung des
Systemgleichgewichts des Ganzen störende Eigenschaft eines Teiles real
durchaus dazu führen, daß dieses Ganze des Systems in Teilsysteme
auseinanderfällt.

Demgemäß kann die Tatsache, daß die Prinzipien des Marktes den als
Prinzip des erweiterten Eigennutzes interpretierten Grundsatz »Wir haben
nur für uns produziert« in der Ökonomie weitgehend verdrängt haben,
auch dahingehend interpretiert werden, daß es das dem realen
Gesellschaftsprozess angepaßtere Prinzip zur Organisation von Gesellschaft
ist. Darüber hinaus ist weder das vinculum substantiale ideale als
Relationsgefüge qualitativer Totalität widerlegt worden, noch endgültig
bewiesen, daß die Prinzipien des Marktes — als vinculum substantiale
111

ideale das Relationsgefüge formaler Totalität — nichts anderes als eine


Verfallsform der qualitativen Totalität sind. Die Einseitigkeit der
Marktprinzipien als Grundsätze der Organisation der Gesellschaft bleibt
zwar unbestritten, doch kann allein daraus die Möglichkeit zur weiteren
Entwicklung der Gesellschaft nicht beurteilt, sondern eben nur ein
Istzustand bewertet werden: womöglich ist die Abfolge Reichsbildung,
Imperialismus und Kapitalismus notwendig, um diejenigen Institutionen zu
entwickeln, die erst erlauben, vom Ganzen der Menschen nicht nur ideell
sondern überhaupt einmal reell zu denken. Das oben formulierte Problem
besteht doch auch darin, daß mit dem Gattungswesen im »Gesetzt, wir
hätten als Menschen produziert« nur das Ganze aller Menschen und nicht
nur eine Nation oder ein Kulturkreis gemeint sein kann. Als erstes Indiz für
die Annahme, die Prinzipien des Marktes würden bei aller Einseitigkeit
unter anderem doch auch im Sinne der Optimierung des Ganzen wirksam,
wird traditionell der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Handel und
von Öffentlichkeit und den künstlichen Formen politischer Willensbildung
genannt. Ob allerdings bloß das — selbst nur ideal zu denkende —
Verhältnis von Recht und Politik einerseits und von Markt und Politik
andererseits ausreicht, selbst schon das Konzept des vinculum substantiale
ideale im Sinne des Anspruches auf Optimum der qualitativen Totalität zu
einem Handlungskalkül zu entwickeln, muß bezweifelt werden.

Im Zusammenfallen von qualitativer Totalität und Optimum (ideal als


quantitas perfectionis) wird der ontologische Gottesbeweis im Hintergrund
sichtbar. Im Auseinanderfallen bleibt allerdings die unbeantwortete Frage
nach der Bestimmbarkeit eines Handlungskalküles selbst ohne
antwortendem Glauben, welcher über die bloß private Gelingbarkeit eines
Tausches, mit welchem der Produzent sich im Produkt als Mittler des
Gebrauchers mit dem Gattungswesen wiedererkennt, hinausreicht. Diese
private Gelungenheit aber war eben auch in der familiären Organisiertheit
einer Gemeinschaft — also nicht einmal innerhalb der Grenzen des
erweiterten Eigennutzes — durchaus nicht zu garantieren, sondern wurde
zur Angelegenheit einer selbst noch privat bleibenden Tugendlehre.
112

c) Der Mangel der Idee der Politik als gemeinschaftlicher


Willensausdruck und die Künstlichkeit der Relationen

Wie Benedikt also deutlich macht (und Castoriadis gezeigt hat) umfaßt das
vom philosophischen Marx umrissene vinculum substantiale des
Gattungswesens Produktion und Tausch, aber nicht die Bedingungen
gesellschaftlicher Institutionen überhaupt.

Will man sich noch bei der idealen Darstellung der anthropologischen
Prinzipien Marxens aufhalten, die das Ich des Formulierers als Lehrer, den
Gebraucher des Produktes als Schüler in Hinblick auf die Hinführung zum
Ausblick auf das Gattungswesen vorstellen lassen, so hätte sich Marx doch
anthropologisch nicht über Hegel hinausbewegt; also zwischen der Analyse
nicht nur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern auch der
ökonomischen Gesetze, welche die lebensweltliche Wirklichkeit immer
schon bestimmt haben, einerseits und anthropologischen Anspruch
andererseits nur die Kluft sichtbar gemacht, nicht aber für dieses Dilemma
einen grundsätzlichen Lösungsansatz vorgeschlagen. Vielmehr geht Marx
desweiteren in die Analyse der Besitzverhältnisse der Produktionsmittel, die
zu einem System verschiedener Märkte führt. Für die Ökonomie — auch als
Gesellschaftswissenschaft — wird die Analyse deren Wechselbeziehungen
entscheidend; Marx dürfte anfangs die Bedeutung des Marktes von
Unternehmen (bereits als Einheit von Produktion und Marktbearbeitung)
und des Finanzmarktes unterschätzt haben, obgleich gerade die Analyse
der Entwicklung des Finanzmarktes später zu seinen bleibenden Arbeiten
zum Kapitalismus gebleiben sind.

Benedikt setzt die Untersuchung hier noch ein Stück weit fort und skizziert
die aufsteigende Reihe von individuellem Eigennutz und Gruppenegoismus
zum Gattungswesen: Sofern in Hegels Entwürfe von 1803-04 (den zum Staat
konservierten Volksgeist) »noch die Dynamik des Gattungswesens mit im
Spiele ist, handelt es sich für unsere Interpretation aber ein mehrfaches
Durchbrechen des Geistes als Selbstgenuß und dessen „wiederholte
Spiegelung“ in gesellschaftliche Bande der Geschlechterverbindung, der
Gemeinsamkeit eines Volkes in Territorialbesitz, Sprache, Arbeit und
Stammesgemeinschaft, sowie mit Bezug auf die Divergenzen und
Assoziationen der Rassen und Völker im Wettlauf wie immer gebrochen
113

durch die künstlichen Relationen von Arbeit, Tausch und


Anerkenntnisses des Besitzes. Während sich darin „Gattungswesen“ in
„wirklichen Geist“ auflöst, bleibt das Substrat, die in Arbeits- und
Geschlechtslust zu befriedigende Begierde nun der Dialektik des bloß
einseitigen Werdens zu sich (ohne Logik des Von-sich-Absehens)
ausgeliefert.« (Benedikt, S. 113, Hvh. v. GWC)

Abermals bezeichnet Benedikt die Schwierigkeit genau: Die Schwierigkeit ist


nicht länger, die seit Leibniz standartisierte Aufstufung der Gemeinschaften
zum Optimum des Verhältnisses von felicitas publicas und beatitudino zu
führen (worauf sich wohl selbst der arkane Leibniz beschränkt haben
dürfte), sondern daß diese zuerst innerhalb der Nationen, schließlich auch
zwischen den Nationen, durch die »künstlichen Relationen von Arbeit,
Tausch und Anerkenntnis des Besitzes« gebrochen sind. Hier scheint sich
aber auch ein traditionelles Mißverständnis bemerkbar zu machen, indem
die »Künstlichkeit« der Relationen vielleicht zu sehr unter dem Aspekt der
Gegenüberstellung von Effizienzsteigerung des Staates des aufgeklärten
Absolutismus und Aufklärung als Emanzipation des Individuums in den
Blick genommen wird, während der Beitrag dieser (künstlichen)
Umgestaltung des Familiären zum Öffentlichen für die Verrechtlichung
unterbewertet scheint. Zwar ist die pädagogische Idee, daß die
Umgestaltung des veralteten Ständestaates im Zuge der Effizienzsteigerung
von Verwaltung und Wirtschaft zugleich die geistige Entwicklung des
Menschen als Teil des neuen Staates des aufgeklärten Absolutismus
befördere (während zuvor nur Familien Teile des Volkes sein konnten),
selbst von den Zeitgenossen nicht lang ernsthaft in Betracht gezogen
worden, aber ohne der Auflösung der ständischen Rechtsstruktur ist nicht
nur eine zentrale Verwaltung unmöglich (deren organisatorische Vorteile
für überregionale Wirtschaftsräume hier nicht nochmals eigens diskutiert
werden können), sondern auch die Errichtung einer republikanischen
Verfassung. Auch das Prinzip der Gewaltentrennung kann erst nach einer
Zentralisierung, zumindest aber Vereinheitlichung der Verwaltung
allgemein auf gleiche Weise für alle Bürger wirksam werden.

Allerdings enthält zumindest Marxens Darstellung des Geistes als


gesellschaftlicher Selbstgenuß doch, wenn auch nicht ausdrücklich, das
Moment des Von-sich-absehen-könnens, gerade indem er darauf verzichtet,
114

der Idee der »realen Mitte« ein Kalkül der wechselseitigen Verbindlichkeit
zu geben: jeder nach seinen Fähigkeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen.
Daß diese ideale Forderung von einer konkreten und strikten
Verbindlichkeit der Wechselseitigkeit absieht, muß doch heißen, daß
diejenigen, die geringe Bedürfnisse und große Fähigkeiten haben, von der
konkreten Erfüllung der Wechselseitigkeit, also von ihrem konkreten
Eigennutz, absehen. Freilich sehen sie nicht vom geistigen Genuß, für einen
anderen produziert zu haben, ab. Jedoch ist in der Tat abermals zu fragen,
ob die philosophische Kritik nicht die fatale Neigung hat, das individuelle
Tugendideal als eben bloß individuell bleibende Norm gelungener
Vergesellschaftung vorzustellen. Oder philosophiehistorisch gleich kritisch
formuliert: Zeigt nicht gerade die Interpretation des jungen Marx des
vinculum substantiale ideale als Gattungswesen jene Schwäche Leibnizens
auf, womöglich nicht verhindern zu können, daß eben das Optimum
zwischen felicitas publica und beatitudine erstens bloß bürgerlich im
objizierten Selbstgenuß der Erhabenheit seiner selbst als Verleiblichung des
ideal gesetzten Gattungswesens aufgeht, und zweitens nochmals andauernd
gefährdet ist, zum bloßen nationalen, regionalen, stammesgeschichtlichen
Gruppenegoismus zu degenerieren?

Die Schwierigkeit, die Benedikt im letzten Satz des obigen Zitats skizziert,
dürfte aber unhintergehbar sein: »Während sich darin „Gattungswesen“ in
„wirklichen Geist“ auflöst, bleibt das Substrat, die in Arbeits- und
Geschlechtslust zu befriedigende Begierde nun der Dialektik des bloß
einseitigen Werdens zu sich (ohne Logik des Von-sich-Absehens)
ausgeliefert.« (S.  13) Das heißt, daß das Individuum seine öffentlichen und
familiären Rollen nicht (mehr?) mit der Intimität der Vollzugsakte
zusammenbringt. Konnte aber jemals ohne Symbole die glückliche
Übereinstimmung von Tätigkeit und Betrachtung garantiert werden?
Vielmehr hat die Vereinzelung des durchschnittlichen Individuums,
eingeleitet durch sein nunmehr öffentliches Verhältnis als Bürger zum Staat,
nur ein immer bestehendes und auch immer bestehen bleibendes, also
existentielles Problem allgemein (kollektiv) zu Bewußtsein gebracht. Nur in
der Betrachtung greift der »wirkliche Geist« über das Individuelle in die
Gesellschaft hinaus, in der Tätigkeit bleibt das Individuum bei sich und
seinem Gegenstand; gleichgültig wie das Verhältnis zum Gebraucher des
Produkts reell auch immer hergestellt wird.
115

Nun ist bemerkenswert, daß Benedikt von den künstlichen Relationen von
Arbeit, Tausch und Anerkenntnis des Besitzes spricht (S. 112), die
transzendentalanthropologische Relationen aber mit abstrakter Arbeit,
abstraktem Tausch und abstrakter Technik bezeichnet worden sind (S. 96).
Abgesehen davon, daß einmal von Anerkenntnis des Besitzes und andermal
von abstrakter Technik (immerhin der Besitz von Vermögen, vgl. auch
Lockes Übergang vom Kollektivbesitz zum Privatbesitz durch Bearbeitung)
die Rede ist, ist der erste entscheidende Punkt die Ursprünglichkeit der
transzendentalanthropologischen Relationen gerade im Gegenverhältnis zu
der nunmehrigen Künstlichkeit (Allgemeinheit) der Relationen der
aufgestuften Formen sozialer Konfigurationen. Der zweite entscheidende
Punkt ist die Beobachtung, daß allem Anschein nach gerade mit der
Ablösung der einfachen Aufstufung der Gemeinschaftsformen in der
Reichsidee durch das künstliche Relationsgefüge in der Staatsidee das
letztere immer nur die jeweiligen Grenzen der Anwendung der abstrakten
Relationen der Transzendentalanthropologie im Rahmen der im Zuge der
künstlichen und damit auch der je historisch-empirisch verallgemeinbaren
Relationen ist.

Drittens aber setzt das als das vinculum substantiale fundierende


Gattungswesen heute bereits einen globalen gesamtgesellschaftlichen Willen
voraus (Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert) während a) gerade die
Aufstufung in soziale Gemeinschaftsformen die bloß symbolische
Organisation von Willensverhältnissen mit einschließt, b) es auch in der
absolutistischen Fassung der Staatsidee dann nur mehr um die
Willensverhältnisse zwischen Familien geht (Pufendorf), die um der Idee
der Objektivität des Rechtes willen sich einer zentralen Gewalt unterwerfen,
und c) schließlich erst eine demokratische verfaßte Republik die
Organisation des politischen Willens aller Individuuen in die Wege leitet;
das allerdings eben auch nur formal. Die Idee eines gemeinschaftlichen
Willens bleibt also selbst schon nichts als Idee, welche die Brücke zwischen
Gesellschaft und Gattungswesen mit der anthropomorphen Vorstellung
eines real existierenden gemeinschaftlichen Willens herstellen soll, die aus
den Verhältnissen der Familie, Gruppe, oder bestenfalls Gemeinde
entsprungren ist.
116

Nach alledem, was über die Natur in der fortgeschrittenen


Vergesellschaftung des Menschen gesagt worden ist, wird deutlich, daß es
sich um eine künstliche Natur handelt; insofern das Substrat eines immer
nur politisch imaginierten Willensausdruckes. — Benedikt (S. 212): »Was
fehlt, ist offenbar [...] die [...] gesuchte Strukturontologie der Übereinkunft,
des xynon symbolischer Vermittlung (das vinculum substantiale
Leibnizens).«

Der Gegenstand der Politikwissenschaft (vgl. hier Anmk. 14), bei Aristoteles


noch die Struktur der verschiedenen Arten von politischer Übereinkunft,
fehlt offenbar genau im Sinne Aristoteles, doch gilt es hier festzuhalten, daß
durch das Solonsche Ideal der griechischen polis die künstliche Natur der
Gesellschaft überhaupt nach wie vor verdeckt wird. Denn für die Soziologie
dürfte die künstliche Natur der Verwaltungsstrukturen (insbesondere im
Steuerwesen und in der Ökonomie) der eigentliche Gegenstand der
Reflexion sein. Die Frage nach den Formen der Übereinkunft als rethorische
Problemstellung wären demnach erst die Propädeutik der
Politikwissenschaft, welche die Rechtmäßigkeit von Gewalt wie die
Rechtmäßigkeit von Widerstand, hier also insgesamt als die Rechtmäßigkeit
der Normen der Handlungen der politischen Parteien untereinander, zu
klären hat. Die Politikwissenschaft hat aber auch die Fragen der
Institutionsformen zu regeln. Die Frage nach der gesetzgebenden Gewalt hat
naturgemäß hier das erste Interesse der Philosophie.

Meiner Auffassung nach zeigt sich gerade im Übersprung von


Naturontologie zu einer Gesellschaftsontologie, die an Stelle der Vorstellung
der Aufstufung in der »natürlichen« Vergesellschaftung nach deren
rationalen Umgestaltung nunmehr die Prinzipien des Marktes als ihre
Episteme ansieht, also selbst im Wechsel von einer biologischen zu einer
physikalischen Metaphorik stehen bleibt, wieder der Schattenriss des
Bandes zwischen Natur und Natur, wenn freilich auch die
Innendifferenzierung zumindest der Gesellschaftsontologie als Band
zwischen Individuen, welche ihr Substrat — das Gattungswesen —
gemeinsam frei produzieren können, mit der bloßen Auflösung familiärer
(patriachalischer) Strukturen nicht geleistet worden ist. Das aufdringlich
bleibende Problem hat so zwei Komponenten: erstens die bedenkliche
Vorherrschaft der Prinzipien des Marktes im Rahmen der epochal
117

vorherrschenden Episteme der politischen Ökonomie und zweitens die


Überforderung des aus seinen politisch irrelevant gewordenen privaten und
individuellen sozialen Verhältnissen herausgelösten Individuums, das so
seiner eigenen Symbolssprache bei der politischen Artikulation seiner
unmittelbaren Interessen weitgehend beraubt worden ist.
118

3. Metaphysische Anfangsgründe der


Gesellschaftswissenschaften zwischen zwei Ursprünge der
Beurteilungsprinzipien: Psychologie und Soziologie im
Rahmen der philosophischen Anthropologie

I. Zu den Erfahrungsgrundlagen
Die Überlegungen gehen von zwei Ausgangslagen aus: Die erste ist
charakterisiert durch das Interesse an der Bewußtseinstheorie im Übergang
von Perzeption, Apperzeption und der Evidenz des Moralischen und
Sittlichen zwischen Empfindung und Urteil. Die zweite Ausgangslage ist
charakterisiert durch das Interesse an der Gesellschaftstheorie im Übergang
von Soziologie, Ökonomie und Politik. Beide Horizonte zeigen einen
Übergang in den Topoi der Werte, von welchen die genannten Systeme
bestimmt werden; insbesondere die jeweils letzte Ebene, Moral und Politik,
eröffnet einen Horizont der Diskussion jenseits der bloßen
Nützlichkeitserwägungen im Horizont des Rückflusses von Investitionen.
Schließlich ist der Wandel in der Auffassung Kantens bezeichnend, der sich
schließlich in den Neunzigern zumindest die Umsetzung des sittlich als
richtig Eingesehenen in der Gesellschaft ohne Gottes Hilfe nicht mehr
vorstellen konnte.

Derart stellt sich mir die traditionelle Aufgabe, aus der Psychologie der
Vermögenslehre die Prinzipien der Logik, Physik und Ethik abzuleiten, aber
auch die postidealistische Aufgabe, aus der Soziologie die Prinzipien der
Logik, Ökonomie und Politik abzuleiten.

Die Moral ist individuell und familiär, die Ethik ist sozial und
gattungsmäßig; diese Einteilung hat die Schwäche, daß die Ethik aus der
Psychologie stammt. Dort wurde die Moral idealistisch auf den
Gattungsbegriff hin abstrahiert; nunmehr muß der Regelbegriff des
Verhaltens nicht allein aus dem Verhältnis einerseits der Individuuen im
Rahmen der Generationenabfolge und andererseits untereinander als
»Peers« oder als Geschlechtergemeinschaft und potentielle soziale Keimzelle
einer Familie (noch zu ergänzen um die Frage der Erbfolge) zu einer
systematischen Erörterung gebracht werden, sondern es ist nun zu allererst
der Horizont der Soziologie in den Blick zu nehmen, der über eine
119

Protosoziologie des Familiären und dessen unmittelbaren Umkreis


hinausgeht. Aber nicht die erste militärische Kategorie eines seßhaften
Gemeinwesens, im eigenen Territorium keine andere Machtentfaltung
zuzulassen, vielmehr die Bildung des Horizontes der Öffentlichkeit, wie
zuvor noch der Horizont der Variabilität der historischen Mannigfaltigkeit
der Organisation von politischer Macht, die jeweils selbst ihr eigenes
Interesse an Öffentlichkeit hat, ist nunmehr zu untersuchen.

Hobbes interfamilare Gesellschaftsform bleibt in der Negation des


Bürgerkrieges befangen, zeigt aber die angerissene Grenze an, wenngleich
eben nur tyrannisch als Wiederholung des familaren Patriachats, in der die
Öffentlichkeit im wesentlichen in der potentiellen Allgegenwart des
Patriarchen liegt, indem er grundsätzlich überall in seiner Familie das
Durchgriffsrecht hat. Das Verhältnis zwischen den Famillien ist die erste
Form von unstrukturierter und nicht einseitig beherrschter Öffentlichkeit,
die nur einfache, fraktal bleibende Regeln besitzt und von den Familien
selbst in die Hand genommen werden; eine zentrale Macht fehlt. Das
griechische Theater und andere Vorgeschichten der griechischen
Aufklärung verweisen auf eine kultische Form der Öffentlichkeit, die einer
präpolitischen Öffentlichkeit gegenübersteht. Vgl. dazu: (a) Häuptling und
Medizinmann, (b) eine Version der Doppelmasse Canettis, nur mit
weitgehend den selben Mitgliedern.

Die eine Frage an den Gesellschaftswandel ist: Was unterscheidet eine


politisch relevante Struktur der Öffentlichkeit von der unbeherrschten
Öffentlichkeit zwischen den Familien? Was von der einseitigen
Durchherrschtheit der Familie durch den Patriarchen? Die politische
Struktur der Öffentlichkeit des feudalen Reiches in den Bestätigungsakten
von Unterwerfung und Gegenverpflichtung kann als historische Bedingung
der Aufklärung, oder aber die Aufklärung als historische Bedingung der
politisch relevanten Öffentlichkeit des bürgerlichen Staates angesehen
werden.

Die andere Frage ist: Was ist die Ursache der Entwicklung der feudalen
Reiche nach deren kriegerischen Gründung? Welche Entscheidungen tragen
zum Erfolg der Gesellschaftsentwicklung bei? Wirtschaft und Handel sind
jedenfalls im Zuge der Effizenzsteigerungsprogramme bis zum aufgeklärten
120

Absolutismus als Strukturgeber öffentlichkeitsbildender Situationen


maßgeblich beteiligt, die zunächst vorwiegend nicht als bürgerliche
Öffentlichkeit, sondern als innerständische Öffentlichkeit im Rahmen der
ständischen Selbstorganisation analog zur feudalen Gesellschaftsordnung
stattfindet.

II. Ökonomie als Dynamik


Ich will hier zu Beginn ein Beispiel aus meiner Lektüre von Benedikts »Kein
Ende der Zukunft« einspielen: Bei aller berechtigten Kritik an Hegel und
dem parasitären objektiven Geist erscheint mir doch — über die vermutliche
Fehlinterpretation Hegels durch Dempf (S. 136) hinaus —, daß Dempf in
seinem Interpretationsentwurf ganz richtig die Bedeutung der
Verwaltungssoziologie herausstreicht, die letztlich bis in das Problem der
Gewaltentrennung im Rahmen einer republikanischen Verfassung
hineinreicht. Die technisch-merkantilen bzw. politisch-institutionellen
Rahmengerüste nur als Ergebnis des nackten Überlebenwollens unter
Vernachlässigung des dezenten Überlebens und des Lebens in Wahrheit zu
sehen, wie Benedikt es hier ausdrückt, scheint mir trotz der Beteiligung der
»unteren« Lebensmächte zur Bildung der gesellschaftlichen Umstände, die
(bürgerliche) Aufklärung erst ermöglicht hat, eine zu starke Behauptung zu
sein.

Ich glaube, daß die gesellschaftlichen Institutionen zwar von uns erzeugt
und erhalten werden, aber dennoch eine relative Selbstständigkeit besitzen
und gesetzmäßigen Prozessen unterworfen sind, die uns, zwar anders als
die physische Natur, aber doch ähnlich wie diese, im Rücken liegen.
Darüberhinaus glaube ich, daß diese Kräfte vorwiegend ökonomischer und
soziologisch einsehbarer Dynamik, uns erst — gewissermaßen als unser
gesellschaftlich Unbewußtes — in die Lage versetzt haben, uns aus
(angeblich gattungsmäßig selbstverschuldeter) Unmündigkeit in die
Position des aufgeklärten und abgeklärten Bewußtseins zu bringen, welche
uns erst befähigt, uns über die wirklichen Gründe der Aufklärung (d. i.
Aufklärung der Aufklärung) klar zu werden. Es ist m. E. diese Dynamik bis
heute ungebrochen, und zweifellos zu kritisieren, gerade weil die dieser
Dynamik zugrundeliegenden Lebensmächte auch auf die unteren
Begehrungsvermögen beruhen, die Kant in seinem Rigorismus schon als
121

pathologisch bezeichnet hat. Gleichwohl wäre einzusehen, daß wir gerade


auch den gesellschaftlich wirksam werdenden Kräften darunter jene
gesellschaftliche Konstellation verdanken, welche die Aufklärung allererst
ermöglicht hat.

Andererseits vermag ich jedoch auszumachen, daß die Umstrukturierungen


des Reiches zum Staat noch vor einer bürgerlichen Republik (also noch im
Zuge des aufgeklärten Absolutismus) unter der Bedingung der nationalen
(oder doch bloß aristokratischen) Konkurrenz jederzeit zur bloßen
Vorbereitung der »nationalen« Wirtschaft auf Kriegstüchtigkeit
herabgebracht werden kann, auch wenn es zwischendurch nur um
wirtschaftliche Konkurrenz gehen sollte. Das gibt denn doch dem Diktum
Benedikts, die Umgestaltungen der Gesellschaft im Zuge des aufgeklärten
Absolutismus seien bloß als Vorbereitungen auf einen »Notstaat« zu
verstehen, einige Berechtigung, die gerade im Gegenschein zur
ausgerufenen »Fitness« für alle nationalen Wirtschaften im Zuge des
globalen Wettbewerbs ihre angemessene Beleuchtung erhält.

Kann man diesem Dilemma entgehen? Die Wirtschaftsdynamik der Stadt


seit dem ausgehenden Mittelalter hat auch innerhalb von Reichsstrukturen
trotz des massiven Überwiegens agrarischer Wirtschaft wegen der damit
sich ergebenden neuen Möglichkeit der Finanzierung von vor allem Kriegs-
und Bauprojekten eine allmählich einsetzende Veränderung der
gesellschaftlichen Struktur bewirkt, die bis heute noch nicht zum Stillstand
gekommen ist. Diese Tendenzen in den europäischen Reichsentwicklungen
und die entstehende Bankenstruktur insbesondere in den Stadtstaaten der
oberitalienischen Renaissance hat schon früh die Veränderung der
gesellschaftlichen Strukturen in der Stadt das Modell einer nicht-feudalen
politischen Entscheidungsstruktur geliefert. Die Organisation von
Gesellschaft hat sich anhand der Urbanisierung einerseits und der
Vergrößerung der Wirtschaftsräume andererseits zunehmend vor die
Aufgabe gestellt gesehen, Strukturen zu finden, die nicht aus familären oder
gruppalen Organsisationsformen und deren Formen des Miteinander und
Gegeneinander unmittelbar zu entnehmen waren. Parallel dazu hat sich
sowohl das Versagen familär-patriachalischer Strukturen als sozialer und
wirtschaftlicher Schutz des Individuums wie auch eine, was die
vorgegebene Stellung im Kosmos und in der Welt betrifft, sich vorwiegend
122

negativ ausdrückende Befreiung des Individuums herausgestellt. — Die im


Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung allererst formulierten Positionen
der Aufklärung, deren Aufklärung wir nun heute in Angriff genommen
haben, lassen sich nicht von diesen ökonomisch und soziologisch
einsehbaren Prozessen des gesellschaftlich Unbewußten ablösen und
womöglich vom neu gefundenen Standpunkt der Aufklärung völlig
verwerfen, sondern nur in ihren Verfallsformen gegenüber den Potenzen
des »transzendentalen« Ideals kritisieren.

Auch wenn keineswegs gesagt werden kann, Benedikt hätte diese


Dimension der Lebensmächte übersehen, so befürchte ich, daß den
angesprochenen Umständen kultursoziologisch nicht regelmäßig die
Stellung zukommt, die ich der ökonomischen Wurzel der sich
verselbstständigenden Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung beilege.
— Ich denke nachwievor daran, daß die Regeln der Bürokratie (deren
vorgegebener Handlungsspielraum) und der Massenbeeinflussung
(Warenästhetik an Stelle der politischen Rethorik am Marktplatz als erstes
Paradigma der Polis) die Bühnengesetze des innenpolitischen Schauspiels
ähnlich bedingen, wie die Regel von der Einheit von Ort, Zeit und
Handlung die Bedingungen des klassischen Theaters waren. Das Handeln
des Unternehmers wie das Handeln des Politikers muß jeweils öffentlich
wahrgenommen werden. Die einzige Regel, die hier darüber hinaus
»wertfrei« gefunden werden kann, scheint folgende zu sein: Das Schauspiel,
welches der im großen Stil Handelnde bietet, sollte wenigstens mittelfristig
in den Grundsätzen dem entsprechen, wonach der Verwaltungsstab bzw.
die Bürokratie vorgeht. — Weiters wäre gemäß der Aufstufung der
Horizonte von Öffentlichkeit von einer gewissen Variabilität (Pluralismus
wäre im historischen Vergleich wohl zu weit gegriffen) in der Auffassung zu
sprechen, wie ein Unternehmer/Politiker seine repräsentative/politische
Rolle anlegt; und vor allem, nach welchen Regeln der Umgang der
verschiedenen Konkurrenten untereinander erfolgt. Gerade hierin möchte
ich dem Konzept der Offenen Gesellschaft von Karl Popper als einfache und
klare Interpretation der demokratisch-liberalen Gesinnung den
gebührenden Respekt nicht versagen, wenn auch getrachtet wird, die
ursprüngliche Motive der Handelnden zu rasch als irrational auszuscheiden.
123

Erst im Anschluß an die Erörterung der gesellschaftlichen Umstände des


politischen Handelns erscheint es mir sinnvoll zu sein, über die Grundlagen
der Moralität politischen Handelns neu zu verhandeln. Denn zweifellos
bleibt die Frage, zu welchen Prinzipien man über den Konsens über den
Modus der Konfliktaustragung hinaus noch imstand ist. Erst dann ließe sich
eine Ethik auf gesamtgesellschaftlicher Grundlage als Formalwissenschaft
neu begründen; ebensowenig reicht für ein solches Vorhaben die
Diskursethik aus. — Zu diskutieren wären also eigentlich die Grenzen des
kategorischen Imperatives in den Fassungen der Rechtslehre und die
Möglichkeiten dessen Interpretation gemäß der Tugendlehre, schließlich die
kategoriale Basis der geschichtlichen Erfahrung, die — auch bei Kant —
zwar mit dem Freiheitsproblem verknüpft bleibt, aber selbst nicht von der
Form kategorischer Imperative bestimmt sein kann.

III. Prinzipien der »sozialen« Anschauung und Prinzipien der Sittlichkeit als
Beurteilungsprinzipien
Meine abschließenden Fragen, bevor eine Ausweitungen des
Diskussionsrahmens die konstituierenden Differenzen endgültig
verwischen:

(1) Wie steht der Wertbegriff mit einer Motivationslehre des Handelns in


Verbindung (und zwar außerhalb der Grenzen der Grenznutzentheorie der
österreichischen nationalökonomischen Schule — dem »Kramladen«
Hermann Brochs)? Erwirbt man sich dignitas (Würde) durch ausgewogene
Entscheidungen, welchen Motiven man nachgibt, welche Zwecke man sich
setzt und welche Mittel man dafür einzusetzen bereit ist, oder weil man
dabei (womöglich nur vermeintlich) absoluten Prinzipien folgt? Und ist
nicht schon die Entscheidung nach Motiven im Rahmen der Zwecke der
planenden technisch-praktischen Vernunft nur mehr als die Bestimmung
zum pretium (Wert) zu verstehen, und nicht erst die Bestimmung des
Wertes am Markt?
(2) Beansprucht der Wert eine subjektive Anschauungsform, die selbst ohne
Handlungsplan nicht objektivierbar ist? Welche Formen negativer Freiheit
wird durch die Ersetzung von Werte durch Relevanzen freigesetzt — oder
wird da wie dort der freie Wille überflüssig? Woraufhin zielt die dabei
erreichte Präzisierung (oder: woran erfolgt die Anpassung)? Wird durch
124

diese Art der Präzisierung die Wertvorstellung ausgehöhlt wie das Objekt
der qualitativen Einheit des Begriffes durch die Kriterien der Vielheit der
Folgen und deren Rückführbarkeit oder wird mit dem Wertbegriff bloß ein
»ens lucationis« (in freilich anderem Zusammenhang das ultimative Beispiel
Brentanos für ein ens rationis sine fundamento in re) kritisiert, welches sich
als Ersatzhandlung des eher vom Verlust der prästabilierten Harmonie als
vom Verlust des Ideals bedrohten Bewußtseins und dessen Ersatzprodukt
sich als nichts weiter als eine etwas abstraktere Sorte von Satyren oder
Einhörner herausgestellt hat?

Wenn ich die Darstellung von Hermann Rauchenschwandtner in »Die


Kultur als Synthesis der Werte: Hermann Brochs Aufbau einer allgemeinen
Werttheorie« (in: Verdrängt ... und Verzögert..., Bd.4) richtigt verstanden
habe, wird von Broch selbst die Einseitigkeit der Auffassung kritisiert, die
Wertsetzung sei nichts als eine autarke Handlung eines absoluten
Bewußtseins oder ein rein logisches Urteilen. — So müßte Broch die logische
Vorstellung des Verhältnisses von Wertbegriff und Setzung, daß die Setzung
in ihrer Form als Akt den Wert bereits kategorial enthalten muß (S. 679 f.) als
einseitig kritisieren, weil damit die sachhaltigen Relevanzen (Zweck-Mittel-
Relational im teleologischen Urteil) keineswegs schon gegeben sind. Das
scheint nun auch zu geschehen: Der Wert in der Einheit der Geltung werde
nur in die abstrakte Gegenständlichkeit geschoben oder verlangt im
subjektiven Wertverleih die heroische Anstrengung zum Absoluten. (S. 680)
— Mit letzterem könnte Zimmermanns Auffassung vom Urbild des
Erhabenen als unvergleichliche Stärke des Willens getroffen sein (G.W.C.,
Bd. 3, »...zwischen Gesellschaftslehre und Psychologie«. Vgl. aber auch
meine Brentano-Arbeit im vierten Band: Auf das dort vorliegende Problem
des Ursprungs der Sittlichkeit angewandt muß die Charakteristik der
Evidenz der entscheidende Wert gewesen sein, obwohl nach der Richtigkeit
des Liebens gefragt worden ist). — Wem aber gilt der Vorwurf Brochs: »Die
beweislose Behauptung [ist] im tiefsten Sinn unmoralisch, ist, je lauter es
sich gebärdet, Werkzeug der Verstocktheit und des bösen Willens« (l. c.)?
Eine geregelte Vermittlung der platonisch gedeuteten Geltung und des
subjektiven Wertverleihes, worin dieser »Beweis« vermutet werden kann,
gelingt aber nicht (S. 681).
125

Das scheint auf einen historischen Relativismus hinauszulaufen, in dessen


Rahmen die innere logische Folgerichtigkeit der Wertvorstellungen und
deren soziologisch relevanten Umsetzung in einer Epoche immanent
beurteilt werden könnte, ohne über dieses betrachtend-ästhetische Moment
der soziologisierenden Geschichtswissenschaft der Ideenlehren
hinauszukommen. Allerdings ist unabhängig von genetischen Aspekten
doch eine Vorstellung der Reihe möglicher Komplexionsstufen
gesellschaftlicher Beziehungen zu geben, von denen allerdings die letzteren
den ersteren als fortgeschrittener vorgezogen werden (vgl. dazu auch die
Genossenschaftsgesellschaften in der Anthroposophie Zimmermanns, in:
Cernoch, Die in sich uneinige Philosophie, Bd. 4). — Hier ist eine
Schlußfolgerung entscheidend: Da es weder allein von der Zufälligkeit der
inneren Stimmigkeit des historischen Ensembles abhängt, ob ein historisches
Paradigma das eigentliche sittliche Apriori besser ausdrückt als ein anderes,
noch, ob die oder eine andere historische Abfolge anhand der zuerst als
bloße Normbilder der Möglichkeiten der Sozialisierung und
Vergesellschaftung des menschlichen Individuums verstandenen
Gesellschaftsformen zur historisch »folgerichtigen« Ableitung im Rahmen
empirischer Anthropologie (vergleichende Völkerkunde) erklärt werden
soll, bleibt es die Angelegenheit eines transzendentalen Aktes, das Prinzip
der Sittlichkeit a priori zu fordern. Das Prinzip der Sittlichkeit a priori läßt
sich aber weder aus dem Fortschrittsoptimismus noch aus der Furcht vor
dem Ende gewinnen.

Eine davon abhängige Vorstellung einer Gesellschaftsform ist zunächst nur


abhängig von den Vorstellungen, was dem Gattungswesen guttut oder
nottut, und nicht zuerst vom historischen Zustand der
Gedankenentwicklung oder von der Immanenz einer einklammerbaren
historischen Epoche. — Ist denn die Darstellung des gesellschaftlichen
Fortschrittes im Sinne der Aufklärung (Publizität) nicht schon von je her ein
Konstrukt, wie schon die bloße Annahme eines Urvolkes und Normalvolkes
bei Locke wie bei Fichte; oder vielleicht auch bei Hobbes und sicherlich bei
Pufendorf; und völlig unabhängig von einer empirisch-historischen
Faktizität sondern den Darstellungsprinzipien nach nur abhängig von der
empirisch-historischen Möglichkeit? Die bloße Möglichkeit historisch-
empirisch nachvollziehbarer Erfahrung des zivilisatorischen Fortschrittes
gemäß Prinzipien ist nun aber sicher nicht selbst schon der Grund der
126

Geltung der Behauptung, es sei das Bessere oder das Schlechtere des
Möglichen der Fall, sondern eine solche Behauptung verlangt eigens nach
einem Maßstab der Beurteilung.

Ist damit das Prinzip der Sittlichkeit zum »leeren Zeichen der Gesellschaft«
(Broch) geworden, das ohne Ausschöpfung aller philosophischen
Möglichkeiten, die Totalität der Vernunft als das Prinzip der Sittlichkeit a
priori enthaltend zu denken, nicht einmal mehr als solches bemerkt werden
würde? — Oder muß komplementär zum letzten Punkt der Überlegung
sogar gefragt werden, ob das Prinzip der Sittlichkeit nicht die Möglichkeit
des Erfolges hinsichtlich des dezenten (oder auch des nackten) Überlebens
schmälert: Wäre das ein Grund, auf diese »vernünftigerweise« zu
verzichten, und welche Quelle der Regeln des sozialen Verhaltens des total
vergesellschafteten Menschen wäre im ersten Fall dann aufzusuchen?

Kants erstes anthropologisches Paradigma ist nun zwar von einem


republikanisch gesinnten, aber im Sinne des aufgeklärten Absolutismus
geprägten Rationalismus her zu verstehen. Dieses historische Bewußtsein
reicht zwar zu, sowohl die Hoffnungen der politischen Revolution in
Frankreich zu teilen wie deren Auswüchse als Menetekel des Nationalismus
zu verurteilen, vermag aber die Bedeutung der industriellen Revolution
noch nicht richtig einzuschätzen. Nicht, daß Kant die Bedeutung der
Manufaktur und des Handwerks für den Staat übersehen hätte (er hat dem
sogar das Recht nach dinglicher Art auf persönliche Fähigkeiten
eingeräumt), aber er hat die Dynamik der Industrialisierung unterschätzt. —
Kants anthropologisches Paradigma bleibt zuerst der Rationalität der
fiktiven Bürgergesellschaft verpflichtet, welche dem Souverän, rechtmäßig
wie auch immer, die Treue geschworen hat. Als Kants zweites
anthropologisches Paradigma wäre die »Weltbürgerlichkeit« anzusehen,
welche bereits zumindest teilweise vom »nationalen« Interesse absehen
können sollte. So spricht einiges dafür, daß die individuelle wie
gattungsmäßige Realisierung des Weltbürgertums eben im Kreuz zwischen
Recht und Tugend einerseits und zwischen nationalem und internationalem
Recht andererseits zu stehen kommt.
127

IV. Der Wert (pretium) als das Prinzip der Regeln des Spieles — ist demgegenüber
dignitas bloßer Stil und somit Ästhetik?
Die für Broch nicht gelungene Umwandlung des Wertehorizontes eines
sittlichen Gesellschaftsbegriffes in zivile Gesetze der nachrevolutionären
bürgerlichen Bühne und deren Helden (Unternehmer, Buchhalter, Erfinder)
sei also hauptsächlich deshalb mißlungen, weil die verbindliche
Vereinbarkeit von Regeln überhaupt verloren gegangen ist. — So könnte
man nach der Idee, daß Problem des Werteschwundes liege zuerst im
Verlust der prästabilierten Harmonie, immerhin vermuten. Die Axiomatik
der Werte wird damit im Zuge der daraufhin folgenden logischen
Formalisierung deren Verhältnisse entweder zu willkürlich gesetzten oder
zu historisch erklärbaren Annahmen herabgesetzt. Diese nur mehr
historisch aufgefaßten Erklärungsansätze können nun
geisteswissenschaftlich beginnen oder gesellschaftswissenschaftlich
(Ökonomie und Soziologie als empirische Kernwissenschaften) und finden
schließlich das Gleichgewichtstheorem als wertfreies Prinzip der Regelung.
Die erste — philosophische — Frage hätte nun zu untersuchen, ob mit der
Darstellung der historischen Umstände einer wertesetzenden Entscheidung
in der Tat auch eine wertebegründende Argumentation enthalten ist, oder
ob damit wenigstens einsichtig werden konnte, warum eine Epoche gerade
diese und nicht andere Werte in den Vordergrund gestellt hat bzw. warum
gerade diese und nicht eine andere Wertvorstellung »entdeckt« worden ist.

Die zweite philosophische Frage betrifft das Problem, ob es möglich sei, die
verschiedenen historisch gefundenen Werte nochmals (philosophisch) zu
kritisieren und in ein System der Werte zu bringen (Reich der Zwecke
überhaupt). Das zieht aber die nächste, völlig gegenläufige Frage nach sich:
Kann das Ideal des Menschen nunmehr nur als Gattungswesen, aber nicht
als Individuum vorgestellt werden?

Hinsichtlich der Gesellschaftswissenschaften aber ist die erste —


soziologische — Frage die nach der Übereinstimmung der
ideengeschichtlich als Wert vorgestellten Ideale und der tatsächlich
funktionierenden Wertvorstellungen der fraglichen historischen Epoche.
Haben sich doch die Wertbegriffe der Handlungen in soziologischer
Hinsicht und hinsichtlich pragmatischer Nützlichkeit geändert. So gibt es
durchaus jeweils Wertvorstellungen, deren Befolgung durchschnittlich nützt
128

und deren Nichtbeachtung durchschnittlich schadet. Das sollte


spieltheoretisch leicht verständlich sein. Es handelt sich dabei um
Wertvorstellungen, welche die Strategie des Handelns bestimmen, insofern
sie aus den Regeln des Spiels gefolgert werden können oder aus Erfahrung
nahegelegt werden. Die Verknüpfung verschiedener Spieler läßt die Sache
nun auch für die mathematische Spieltheorie kompliziert werden:
Unternehmer, Buchhalter und Erfinder wären nun ein gutes Team, wenn
deren sonstige relevante Charakterisierung zusammenpaßt. Es spielen nun
verschiedene Teams am gleichen Spielfeld und müssen nicht unbedingt
auch Gegner sein. Das Spielfeld ist der Markt, der sich nun ähnlich einer
Analyse unterziehen läßt; auch um herauszufinden, welches Team ein
Gegner oder Verbündeter werden könnte, etc., etc..

Betrachtet man nur diesen Ausschnitt, so wird erkennbar, daß es durchaus


Wertvorstellungen innerhalb dieses Spieles gibt, die sich durchschnittlich
selbst sanktionieren. — Was nun komplementär erkennbar geworden ist, ist
die Einschränkung auf bestimmte Arten von »Teams« und einen möglichst
abstrakten Marktbegriff. Weiters wird erkennbar, daß dieser Wertbegriff nur
als pretium, aber nicht als dignitas betrachtet werden kann. Wie auch immer
anhand der Wertfrage erst die Krise der Gesellschaft ins Bewußtsein tritt, sie
wird letztlich nicht als Wirtschaftskrise verstanden, sondern die
Beschränkung des Regelbewußtseins der Gesellschaft auf die »real
existierenden Verfassung« der Wirtschaft ist die eigentliche Krisis. Bei Broch
sind aber offensichtlich Personen am Werk, die noch die eine odere andere
Beziehung zu anderen Werten besitzen, und auch gerade daran scheitern.

Daß die »massa damnata« auf der bürgerlichen Bühne in Erscheinung tritt,
kann — im Gegenzug zur in Apokalypsen denkenden Todessehnsucht —
kein verläßliches Kennzeichen des Werteverfalls sein; vielmehr ist für die
bürgerliche Bühne nur neu, daß das Proletariat selbst auch zum Publikum
wird, an das man sich wendet. — Marx hat nun schon darauf insistiert, daß
in einer bürgerlichen Gesellschaft, die nur nach den Regel des Besitzes und
des Eigentums gespielt wird, der Besitz der Produktionsmittel angeblich die
einzige Garantie sei, als handelnde Person nicht nur in der revolutionären
Uraufführung auf der bürgerlichen Bühne in Erscheinung treten zu können.
Diese klare Analyse kann nicht durch die nebulose Forderung der
Vergesellschaftung der Produktionsmittel zunichte gemacht werden. Aber
129

auch dem Entwurf Marxens ist der Vorwurf zu machen, nur den
ökonomischen Ausschnitt aller gesellschaftlicher »Relevanzen« in Betracht
gezogen zu haben; und schließlich nichts als die Spiegelung der
Hauptpersonen des vorrevolutionären bürgerlichen Schauspiels in der
massa damnata vor unseren Augen entstehen lassen zu haben.

Allein der nationale Held scheint nunmehr in der Lage, die


auseinanderstrebenden Werte in einer die Gemeinschaft relevant und
dauerhaft (?) bestätigenden Emotion gemäß des Problems der Vereinigung
von platonischer Wertsetzung und je subjektivem Werteverleih im Zuge
einer sich von jeder konkreten Gemeinde lösenden Bewegung zu einigen. —
Gerade das ist uns aber nicht mehr möglich und würde uns auch gerade
nicht aus der Beschränktheit herausholen. — Die Beschränktheit der
handelnden Personen im bürgerlichen Schauspiel ist vielmehr nicht einfach
auf die Beschränktheit der Liste der in den Stücken handelnden Personen
zurückzuführen, wie es den Anschein haben könnte. Das Scheitern der
partikularen Vernunft der Angehörigen der Besetzungsliste in der Frage, ob
die gesellschaftliche Entwicklung vernünftigen Gesetzen gehorche oder
nicht, ist nun auch bei Broch die Moral von der Geschichte. Damit bliebe von
hier aus selbst die karge Utopie der Offenen Gesellschaft Poppers ohne
Geleit.

Einer so scharfen Zuspitzung will man nun nicht Vorschub leisten: Ich
wagte also zuvor in etwa die These, daß der eigentliche Grund der
Prophezeiung des Scheiterns der je partikularen Vernunft der vormalige
Verlust der prästabilierten Harmonie war, welche den verläßlichen Aufstieg
einer individuell oder gattungsmäßig überhaupt als notwendig erachteten
Einzelhypothese ins Reich universielle Gültigkeit — auch nicht zuletzt für
Werte — garantiert hat. Das hat sich nun so als nicht richtig herausgestellt:
Denn ist es nicht so, daß der Wert des beschränkten Spieles von
Unternehmer, Buchhalter und Erfinder gerade nicht an der
Verallgemeinerungsfähigkeit scheitert, also gerade durchaus nicht
Angelegenheit der bloß partikularen Vernunft ist?

Daß eine Maxime fähig ist, zum allgemeinen Gesetz zu werden, ist nur die
transzendentallogische Bedingung im Sinne einer Eigenschaft des sowohl
aktuell und historisch in der sozialen »Anschauung« vom gesellschaftlichen
130

Prozess Erfahrbaren. Das beinhaltet einen Begriff vom historisch Möglichen


hinsichtlich eines bestimmbaren Modells, das grob gesagt aus
ökonomischen, soziologischen und ideengeschichtlichen Prinzipien gebildet
wird, der zunächst unabhängig bleibt von den Prinzipien derjenigen
Reflexion, ob dies eine mögliche Verengung oder Erweiterung des
jeweiligen moral possibile zum »empirischen Charakter« des
vergesellschafteten Menschen bedeutet. — Erst das Wollen-können und das
Gesollt sein dieses Wollens bestimmt, ob ein logisch möglich allgemeines
Gesetz (wobei bereits die mögliche historische Kontingenz einen
kategorialen Anspruch dieser Möglichkeit mit sich bringt), im Sinne dieses
»Sollen-Könnens« unmöglich ist. Insofern sind die Interpretationen des
kategorischen Imperatives nicht von vorneherein frei von Ideologie und
Weltanschauung, wenn festgestellt wird, die eigens herausgestellte
Bedingung des die Verallgemeinerung der Maxime meines Handelns
Wollen-könnens, weshalb es erst als Gesolltes erkennbar wird, sei auch
derart zu verstehen, daß sie den kategorischen Imperativ gar nicht mehr als
formal eigenständige logische Form erkennen läßt, indem die Entscheidung
zum Wollen-können eben eine Bedingung zur bloß logischen
Verallgemeinbarkeit der Maxime hinzu ist, und demnach der kategorische
Imperativ im Grunde logisch besehen nichts weiter als wieder ein bedingter
Imperativ wäre. Die eigentliche Besonderheit des Wollen-könnens des
Verallgemeinerns wäre aber erst, daß deren nachgeordnete Mittel-Zweck-
Relationen nicht partikularen oder nationalen Interessen, sondern dem
Interesse am Gattungswesen dienen sollen. Dieses Interesse geht aber
womöglich doch wieder nur jeweils von einer bestimmten empirischen
Charakterisierung und Vereinnahmung des Gattungswesen aus, und die
Entscheidung zur inhaltlichen Weiterbestimmung des höchsten Gut steht
noch aus? Diese Entscheidungen wären also in der Reflexion des Wollen-
könnens erst zu fällen. — Gleichwohl hat Kant den kategorischen Imperativ
beispielhaft mit eben dem Anspruch auf Geltung a priori für verschiedene
(wohl doch nicht in jedem Fall bloß für alle historisch möglichen)
Gesellschaftsformen interpretiert, der des weiteren zum Katalog der
Menschenrechte geführt hat. — Damit ist wohl auch die Quelle des pretium
von der Quelle der dignitas genügend deutlich unterscheidbar geworden.
131

V. Die »prästabilierte Harmonie« Leibnizens oder die »invisible hand« von Adam
Smith?
Die Beschränktheit der modernen Vernunft ist also nicht allein mit der
Gegenüberstellung von partikularer und allgemeiner Vernunft darzustellen
— dem wäre so, ginge man noch von ontologischen Affirmationen oder
Negationen innerhalb der prästabilierten Harmonie aus. Die Beschränktheit
der modernen Vernunft sieht sich einem noch viel schwierigeren Problem
gegenüber. Abgesehen von der Tatsache, daß unter gewissen (historisch
noch genauer zu nennenden) Umständen und begleitenden Bedingungen es
der These Adam Smith, daß die Laster der Individuen sich gemäß der
»invisiblen hand« zum empirischen Allgemeinwohl verwandeln, erst in der
zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts vergönnt war, sich (nicht
ohne Hilfe der USA nach dem Zweiten Weltkrieg) auch im kontinentalen
Europa umfassend zu bewähren, ermuntert uns die hereinbrechende Gestalt
eines »Notstaates« aufgrund globalen wirtschaftlichen Wettstreites nun zu
einer umfassenden Kritik an diesem Fortschritt. — Hat man sich nur
vergewissert, daß die Kapitalismuskritik und die Faschismuskritik bei aller
sachlichen Verschiedenheit der Aufgänge nicht nur mittels historisch
zufälliger Umstände zusammenhängen, so darf man auch die als solche zu
würdigenden »Fortschritte« desjenigen Umbruchs in der gesellschaftlichen
Entwicklung in die Kritik miteinbeziehen, dessen Ursprung einerseits als
politische (Frankreich) und industrielle (England) Revolution bezeichnet,
andererseits späterhin von mir gemeinsam als Verlust der prästabilierten
Harmonie gekennzeichnet worden ist. Dieser Verlust ist nicht zuletzt durch
die damit erfolgten ungleichzeitigen Beschleunigungen der Entwicklung der
verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche bemerklich geworden.

Wir haben also nicht nur unsere gesellschaftlichen Umstände zu kritisieren,


sondern wir beziehen die Tradition unserer Kritik im ersten Schritt des
Krebsganges der historischen Kritik auf eine Epoche zurück, die das Elend
des Kapitalismus nicht nur in als der nur sporadisch auf der bürgerlichen
Bühne erscheinende massa damnata, auch nicht allein indirekt im, zumeist
nur durch die eigene Beschränktheit der jeweiligen Hauptdarsteller
erzwungenem, »Mitleiden« thematisieren läßt, sondern gerade die
Beschränktheit aller in Frage kommenden Hauptdarsteller diese für die
Verführbarkeit zum Faschismus zurechtgemacht hat. — Genau diese
Beschränktheit, die in der Verführbarkeit sowohl der Elite wie der Masse
132

zum Faschismus liegt, ist inmitten der Auseinandersetzung zwischen den


Gesellschaftsfortschritt beschleunigenden Werten und »konservativen«
Werten das Maß der Negationen, woran im engen Gedränge der aktuellen
Geschäftigkeit noch das Gemeinsame am Erbe der humanistischen
Aufklärung für die je partikulare Vernunft gemessen werden kann, das
zumindest im Ansatz eine Vorstellung von der allgemeinen Vernunft zu
entwickeln erlaubt, die über die logische Allgemeinheit kybernetischer
Modelle von der Gesellschaft hinausgeht. — Die Kapitalismuskritik hat also
zur Kenntnis zu nehmen, daß einerseits — unter noch näher zu
untersuchenden Bedingungen — die These der »invisible hand« von Adam
Smith, die den Eigennutz ins Allgemeinwohl verwandelt, nach knapp
zweihundert Jahren regional in der Tat zur Vermehrung des Besitzes für alle
sozialen Schichten geführt hat (immerhin die bislang einzige These zum
empirischen Allgemeinwohl, die einigermaßen funktioniert hat), aber auch,
daß andererseits die Dynamik des Kapitalismus ein vorläufiges Maß für die
Verwertbarkeit von Kulturen und »Rassen« an die Hand gibt, die nach wie
vor, nicht nur historisch gesehen, den Kapitalismus eine Tendenz
innewohnen läßt, die faschistische Tendenzen innerhalb (buchhalterisch-
bürokratisch) und außerhalb der Wirtschaftsorganisationen (ministeriell-
bürokratisch) befördert. — Nur hoffnungslose Nostalgiker erblicken hier in
der Rückgängigmachung der Köpfung der Monarchie zur Republik ein
Heilmittel.

Nunmehr dürfte die hier schon öfters angesprochene Ambivalenz des


Kapitalismus gerade der einzige Ansatzpunkt sein, im Zuge der
Entwicklung der Gesellschaft, die ja bekanntlich von ökonomisch wie
soziologisch erfassbaren Ursachen dominiert wird, einen
ideologieübergreifenden politischen Konsens zu erreichen, wohin die
kapitalistisch dominierte Dynamik der Gesellschaft nicht führen soll. Ich
denke, daß hier zwar sowohl die Effizenz der Entscheidungsstrukturen und
der durchführenden Organisationen wie deren politische Akzeptanz gefragt
ist, aber die politische Akzeptanz nicht allein als Frage der Plastizität der
massa damnata und deren Bearbeitungskosten gestellt werden kann. Sei
auch die Architektur der Werte, die mit der prästabilierten Harmonie
versunken zu sein scheint, im Pluralismus bloß partikularer Vernunft nicht
mehr geschlossen rekonstruierbar; in diesem Resthumanismus ließe sich
noch eine Verbindung zwischen heutiger Kapitalismuskritik und
133

vormaliger, sowohl bürgerlicher wie marxistischer (vorrevolutionärer und


nachrevolutionärer) Kapitalismuskritik finden.

Zuletzt wurden im Rahmen dieser Diskussion hauptsächlich nur diejenigen


Merkmale herangezogen, die Einfluß auf die Ursache der Dynamik der
Entwicklung der Gesellschaft (also den Gründen der Beschleunigung) haben
könnten. Es bleibt ungeachtet der Kontroverse um die Verknüpfung von
Faschismuskritik und Kapitalismuskritik die Frage, ob die aus dem Erfolg
des Kapitalismus resultierende Restitution der calvinistischen Haltung zum
Wert, in welcher die göttliche Gnade sich in wirtschaftlichen Erfolg
niederschlägt, längerfristig auch sachlich gesehen die optimale Strategie sein
muß. Im Zuge der Globalisierung gilt nochmals die Verschärfung der
beschleunigten Gesellschaftsentwicklung, was hier den gesellschaftlich
ungezähmtem Kapitalismus und die demokratisch ungezähmte politische
»Willensbildung« als die Hauptursachen der beschleunigten
Gesellschaftsentwicklung nahelegt.

Ideengeschichtlich bleibt bemerkenswert, daß nunmehr die Positionen der


Kritiker wie der Kritisierten jeweils ihre Wurzel in der bürgerlichen
Aufklärung besitzen. — Ist der Verlust der prästabilierten Harmonie nicht
nur eine philosophiehistorische Metapher, sondern ist sie auch ein
Menetekel gewesen, so ist zunächst auf den Restbestand zu achten, der von
den Werten übrigbleibt. Der Fehler des Modernismus war immer schon,
dasjenige, was größte Beschleunigung verspricht, als den größten Wert zu
setzen (Avantgardismus). Dieser Stil, oder diese äußerliche Haltung,
verstärkt im Expressionismus die Verbindung der ästhetische Ideen mit den
Ursachen der Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung. — Nun:
Schon die Romantik dient der Beschleunigung der Betrachtungsweise. Wer
wessen Parallelaktion gewesen ist? Die Romantik oder der Taylorismus?
Gerade der Taylorismus wird von verschiedenen Seiten als letzte Ursache
der Veränderung der kulturellen Zeitwahrnehmung verantwortlich
gemacht. — Nehmen wir also nicht hin, den Wert allein empirisch-faktisch
an Erfolgen definiert zu sehen (sei es innerhalb von Strategien im
Wirtschaftsleben oder in der Evolution der Arten gemessen), sondern
bestehen wir darauf, das Allgemeinwohl nicht nur als Erweiterung
wirtschaftlicher Relevanzen auf gesellschaftliche Theorien gemäß der
systematisch verschobenen Erfüllung eines formalen
134

Gleichgewichtstheorem zu lesen, was als Lösungvariante des Problems der


Übergänge von Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft und Welthandel in der
Perspektive des internationalen Kapitals im Sinne der Grade von
Verwertbarkeit der jeweils bereitgestellten Infrastrukturen ohne Gegenwehr
geradewegs in einen kulturellen Rassismus führt? Was, wenn uns aber
jemand auf den Kopf hin zusagt, das Bestehen auf Werte, die nicht auf die
eine odere andere Weise in Verbindung mit dem Phänomens des »Erfolges«
stehen, sei selbst nichts als der traurige Rest der Romantik, der neben den
ökonomischen und sozialen Gründen die gesellschaftliche Entwicklung in
Europa als Verfallsform des Bürgerlichen noch in den politisch relevanten
Totalitarismus getrieben habe?

Es bleibt ein einziges: Wir beanspruchen anthropologische Konstanten.


Nicht wie die empirische Anthropologie im Rahmen von
Abstammungslehre und vergleichende Verhaltenstheorie anthropologische
Konstanten beansprucht, sondern aus den personalen und existentialen
Kategorien unseres Daseins. Die selbst nicht lückenlose Darstellbarkeit der
philosophia perennis als Fragenkatalog hängt zwar einerseits von der
Unabschließbarkeit der platonischen Ideenlehre, andererseits doch vom
sokratischen »Erkenne dich selbst« ab. — Es ist also erlaubt, sowohl aus
Gründen der Ideenlehre wie aus Gründen des sokratischen »Erkenne dich
selbst« Konstanten der philosophischen Anthropologie zu fordern. Diese
Konstanten sind als Forderungen an uns selbst und an unsere
Vergesellschaftungsformen zu denken, und zwar, in der modernen
Wissenschaftssprache ausgedrückt, biologisch, soziologisch und
individualpsychologisch, schließlich auch ökonomisch und politisch. — Ist
nun seit dem Menetekel des zunächst nur akademisch betrachteten
Verlustes der prästabilierten Harmonie die Ideenlehre etwa gleich obsolet,
daß nur mehr das »Erkenne dich selbst« zu befürchten ist (womöglich in der
Tat zugleich als Selbsterkenntnis des tierischen Gattungswesens?). Nein,
nichts als die garantierte prästabilierte Harmonie und den Glauben an den
garantierten Fortschritt wurde uns genommen. Das Chaos der
Empfindungen im Wartesaal ist allein die Folge des Verlustes der
prästabilierten Harmonie, die den Ausgang der zu erwartenden Operation
oder der Reise in die Fremde plötzlich ungewiss werden läßt und uns auf
die Fluktuationen des unmittelbaren Daseins zurückwirft. Diesem Chaos
sind die Relevanzen entgegenzusetzen, die sowohl im individuellen
135

empirischen Dasein des zwischenmenschlichen Mitseins, in der die


Soziologie politisch relevant ergänzende philosophisch-kultursoziologisch-
empirischen Anthropologie samt deren unvermeidlichen Existenzialismus
für alle (Psychologie der Affekte), wie schließlich in der transzendentalen
Anthropologie eines Gattungswesens überhaupt zu finden sind. Letzteres
sollte mit den metaphysischen Anfangsgründen der
Gesellschaftwissenschaften (bezogen auf die Gestalt der Vergesellschaftung
des endlichen — mit Verstand und Sinnlichkeit begabten — Individuums)
für die Deduktion der Kategorien der Freiheit ein (historisch-logischer)
Leitfaden sein. In dieser Vorausgesetztheit sind die Falsifikationen bloß
normativer soziologischer Theorien im Zuge des Verlustes der
prästabilierten Harmonie einer bestimmten Epoche aber nicht von der Kraft,
die konstituierende Relevanz beanspruchenden Relationsformen der
transzendentalen Anthropologie eben in jenem Moment aufzuheben, wo
diese gerade einer Gesellschaftstheorie der sich verselbstständigenden
gesellschaftlichen Instanzen gegenübersteht.

Allein das scheint schon Anlaß für den Glauben sein zu können, daß im
Rahmen der Frage, wie macht man sich die Plastizität des Menschen
zunutze, einstweilen Platz für die politisch gemeinte Frage bleibt, in welche
Richtung sich der Mensch als Gattungswesen entwickeln solle. —
Offensichtlich bleibt auch historisch zumindest die Diskussion um das
Menschenbild weiterhin in Mode.

VI. Die unbekannten Alternativen anhand der gemeinsamen Betrachtung von


Relevanzen und Werte
Im Zuge der verschiedenen Ansätze einer eigenständigen, aber selbst
bürgerlichen Kritik des Kapitalismus wurde der Vorwurf erhoben, daß die
einseitige Entwicklung des Bürgertums vor allem in ökonomisch wie
organisationssoziologisch beschreibaren Dimensionen dem Ideal einer
»prästabilierten Harmonie« der Ideen widersprechen. Die Frage war auch,
ob man darunter im Rahmen des kategorialen Problems der historischen
Erfahrung bloß eine Falsifizierung aller damit zu verbindenden Werte
verstehen sollte.
136

Wenngleich auch die bei aller abstrakt vorausgesetzter Wechselwirkung


gegenüber der Zeitordnung evolutionärer Veränderungen der Gesellschaft
einerseits und der Idee des Gattungswesens andererseits statisch bleibende
Vorstellung einer prästabilierten Harmonie für die Darstellung der Dynamik
der gesellschaftlichen Entwicklung von vorneherein nicht als besonders
geeignet erscheint, so sollte doch ein Kalkül gefunden werden können,
welche alle für die philosophische Anthropologie relevanten Teile des
Prozesses der fortschreitenden Vergesellschaftung erfaßt, und nicht nur
diejenigen, welcher in der fraglichen Epoche technisch-wirtschaftlichen
Erfolges die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung dominieren.
Zwischen (a) der Antinomie Kantens, der die alternativen Grundsätze der
Ideen der Kosmologie und der Gesellschaftslehre (noch im Rahmen von
psychologischer, kosmologischer und theologischer Idee) erst nach der
grundsätzlicheren Berücksichtigung der Amphibolie des Noumenons in der
Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur und in der Welt als
historisches Schauspiel a posteriori vor den Gerichtshof der Vernunft ins
Gehege der Aporien treten läßt, und (b) der Dialektik Hegels, welche in der
Phänomenologie des Schrumpfkopfes (des objektiven Geistes) gegenüber
der Enzyklopädie das eingesetzte Auge des sich selbst als Setzendes
Gesetzte Fichtes noch verliert, scheint gerade (c) das vinculum substantiale
Leibnizens das Heilmittel zu sein, den Verlust der prästabilierten Harmonie
angemessen behandeln zu können. Zumal dem vinculum substantiale der
Ruf vorauseilt, bereits die Fensterlosigkeit der Monade zu sprengen; oder
auch gerade diese Sprengung aufzufangen.

Das letztere dürfte uneingeschränkt gelten; ob das vinculum substantiale


mehr umfaßt, als den Anspruch, die notwendige Ausgleichsleistung einer
aus dem Gleichgewicht zu fallen drohende Monade zu supponieren, muß
aber von Fall zu Fall diskutiert werden. Aber schon dem
Gleichgewichtstheorem ist sowohl aus der Sicht der Monade des jeweils
Besitzenden wie auch aus deren Gegenperspektive jeweils einiges
abzugewinnen, wenn die Kluft zwischen Armut und Reichtum nicht
Ausmaße annimmt, die den sozialen Frieden nur mittels militärischen
Einsätzen aufrecht zu erhalten möglich macht (ein Widerspruch in sich; also
eine Grenzbestimmung). — Wie damit angedeutet, gibt es zweifellos auch
eine defiziente Interpretation des vinculum substantiale, welche nicht den
erfrischenden Durchbruch durch die Fensterlosigkeit der bürgerlichen
137

Monade vertritt, sondern die Fensterlosigkeit und deren Mit-sich-selbst-


Gleichheit im Schein des Mitleidens erst garantieren soll.

Das gesuchte Schema der Idee, dem gegenüber hier eben das logische Ideal
zuerst als defizient weil bloß mit sich selbst ident, schließlich auch das
romantische Ideal (in der Form der anspruchslosen Ekstase des Im-anderen-
bei-sich-seins) als defizient gekennzeichnet wurde, soll aber als
Gleichgewichtstheorem im Rahmen der Konkurrenz der Arten
untereinander als Vorläufer des Altruismus verstanden werden können (vgl.
die Megatrope Leibnizens in der Darstellung von Pfersmann). Die Frage ist
da: gibt es einen Altruismus der Parasiten (Serres)? M.a.W., das abstrakte
Konzept des vinculum subtantiale als Kalkül könnte als solches invariant
gegenüber der Unterscheidung von »point de vue« (der eigenen
Vervollkommung oder der erfolgreichsten Strategie des »nackten
Überlebens«) und »place d‘autruy« (als von sich selbst und seiner
Vervollkommnung absehen können) bleiben. Es mag auch sein, daß das von
Kahle über Zimmermann transportierte Verständnisses des vinculum
substantiale als Kooperationsform inmitten der Konkurrenz der
Gesinnungsgenossenschaften im Sinne des jeweiligen »point de vue« über
strategische Überlegungen nicht wirklich herausgekommen ist; bzw. daß die
fünf ästhetischen Ideen der praktischen Vernunft Herbarts die Vermittlung
zwischen den Genossenschaften im Ausgleich nur zum nichtssagenden
Kompromiss der sich selbst nicht von der Stelle bewegenden Monade
zwischen je teilhabenden Individuum und gesellschaftlich legitimierter
Definition des Gattungswesens (und damit zum analytisch je erst zu
bestimmenden Anteilhabe am Produkt des vorausgesetzt gedachten Bandes)
geführt hat.

Wenn auch die Ästhetisierung der Werte (so durch Herbart und
Zimmermann im Österreich des 19. Jahrhunderts vorbereitet) letztlich nur
dem Versuch erkenntnistheoretischer Vergewisserung der ethischen Werte
entspringt, die nicht länger dem historischen Wechsel der konkreten
empirischen Gestalt des Gattungswesens unterworfen sein sollen, führt
dieser Weg nur zu drei Holzwegen: (a) zur Stabilisierung des status quo,
(b) zur Reduzierung der Konzepte auf die jeweils epochemachende
gesellschaftliche Dynamik, (c) zum Avantgardismus. — Das Programm der
Ästhetisierung schließt also die Konzepte des »point de vue« fraglos, die des
138

»place d‘autruy«, wenn überhaupt, nur teilweise ein. Die Konzepte des
vinculum substantiale wären demnach unter zwei Gesichtspunkten zu
untersuchen: Erstens inwieweit sie nicht einfach die Doktrin der
transzendentalen Urteilskraft (das Schematismuskapitel in der K.r.V.)
ersetzen (30. Brief Leibnizens an Des Bosses), und zweitens inwieweit die
apperzepierende Monade doch erst von einem Schema des »place d‘autruy«
(einer anderen apperzipierenden Monade — der Blick des anderen bei Satre)
und nicht von der Intersubjektivität garantierenden Gemeinschaft aller
apperzipierender Monaden von ihrem Schattendasein als bloß gedachtes
Substrat der eigenen formalen Naturerkenntnis losgesprochen wird. Erst im
letzten Fall wird das vinculum substantiale das gewünschte Kalkül liefern
können. Dieses Kalkül sollte befähigt sein, die Hoffnung der Aufklärung
wenigstens hinreichend zu nähren, eine säkulare Form der schon auf
religiöse Weise ausgesprochene Hoffnung auf Befreiung vom bloß tierischen
Gattungswesen auffinden zu können. Das sollte (hier noch nicht von der
Einsicht, was Natur und Geschichte aus uns gemacht hat, entlastet) zuerst
aber auch noch gegenüber den Anmaßungen der Heroen, schließlich noch
gegenüber dem Übermaß der sich jenseits jeder »prästabilierten Harmonie«
verselbstständigenden Lebensmächte für die »invisible hand« oder List der
Vernunft des vermeintlichen »Weltgeistes« (selbst als Ausdruck einer Idee
vom Gattungswesen dechiffrierbar) beansprucht werden können.

Hingegen umfaßt gerade die verengte Sozialisierungsform der


atomistischen Innerlichkeit allein anhand der Sprachform die Idee der
Verselbstständigung (Monologisierung und Atomisierung) wie die der
Zugehörigkeit zu anderem (als Massenrethorik und Massenpsychologie)
gleichermaßen. Nunmehr wird aber schon im Zuge der Passendheit dieser
gedanklich-entwerfenden Strategie einer in methodischen Fragen
linguistisch fundierten Soziologie zur realen gesellschaftlich-ökonomischen
Entwicklung die Sozialisierungsform der Innerlichkeit zugleich der
Möglichkeit wirklicher Verselbstständigung beraubt. Das Individuelle
scheint als Wesenskern des Subjektiven nunmehr für die
Gesellschaftswissenschaften im Allgemeinen des empirisch
charakterisierbaren und damit letztendlich trotz der erkenntlich
gewordenen Beschränktheit der Plastizität verfügbar gewordenen
Gattungswesens aufzugehen. Die Motive sind in der Theorie rational mit
Reaktionen verbindbar; im Rapport mit den designten Massensymbolen
139

stehend wird das Evidenzerlebnis als Innerlichkeit des Individuellen in


einer Umwelt der reinen Warenästhetik selbst nochmals fraglich. — Es kann
nicht verhehlt werden, daß das Individuuum des »place d‘autruy« im
Rahmen des Herbartianisch-Zimmermannschen Ästhetiszismus auch bloß
subjektivistisch das Ergebnis einer von einer wohlgefälligeren Vorstellung
verdrängten Vorstellung sein kann. Im Ausgleich, weil diese Verdrängung
nicht gefällt, sollte im Sinne des rationalen ästhetischen Universalismus das
Individuum des »place d‘autruy« wieder veredelt auftauchen müssen. Die
partikulare Vernunft findet in der universalen Ästhetik aber nicht den
garantierten Ausgleich: Was kann das Konzept des vinculum substantiale
leisten, wenn entweder erstens das Individuum des »place d‘autruy« selbst
nie auf eine sozial und auch für das vereinzelte Individuum relevante Weise
als das Ideal im Gattungswesen vorgestellt wurde, oder wenn zweitens der
»place d‘autruy« bereits vom vergesellschafteten »man« anhand »historisch
konkretisierter Gemeinbilder« okkupiert worden ist? Was kann das
vinculum substantiale leisten, wenn der ästhetische Ausgleich schon
mangels einer gehabten Vorstellung, die zugleich konkret und allgemein ist,
mißlingt?

Die Diskussion ist ausgegangen vom Verlust der Werte; dieser wurde
relativiert durch die Beschränkung auf Konzepte, die spieltheoretisch
gewinnbringende Strategien erlauben, weil sie auf die die Dynamik der
gesellschaftlichen Entwicklung hauptverursachenden Gründe (eben
ökonomischer und sozialer Natur) eingeschränkt worden sind.
Gewissermaßen erst als Reaktion auf diesen Erfolg werden die Werte, die
nicht zum Regelwerk des Erfolgreichen passen oder diesem bloß nicht
notwendig sind, überhaupt in Frage gestellt. In Frage steht demnach
gegenüber linkshändig oder rechtshändig vermittelte Ideologien der
Apokalypse erstens, welche Werte in den Menschenrechten verankert sind,
die nicht vom modernen bürgerlichen Schauspiel, das von der
Organisierbarkeit der Ökonomie und den Moden des Sozialen bestimmt
wird, von selbst sanktioniert werden. Das sollte einen ersten Überblick über
die Werte geben können, die von der historischen Kritik nicht als
widersprüchlich ausgesondert worden sind, aber doch nicht als
entscheidend im Prozess der beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung
anzusehen sind. — Zweitens, wie dieses geschrumpfte Erbe abgeklärter
Romantik im Zeitalter der vom Finanzmarkt verwalteten neuen Sachlichkeit
140

zu bewähren ist. Auch wenn man mit Benedikt die noch auf Hegel
zurückgehende Interpretation des jungen Marx des vinculum substantiale
als Kette wechselseitigen Genusses im andern als defizient ansieht, dürfte
doch gerade eine eventuelle Behebung dieser Defizienz (womöglich aber
nur auf die Differenz zwischen selbst Produzieren und selbst Konsumieren
des Produkts zurückzuführen) nicht selbst die Frage nach dem vinculum
substantiale auf eine Weise stellen können, daß in der Fragestellung nach
der gesellschaftlichen Vermittlung des Individuums ans Gattungswesen
nunmehr im Rahmen der globalen Konkurrenz schon ein Hinweis auf eine
spezifische Antwort zu finden wäre.

❆

Der Aufgabenkatalog ist damit keineswegs schon umrissen. Zwar ist


deutlich geworden, daß es sehr wohl auch um unser Selbstverständnis geht:
So sind die Grenzen unserer Plastizität schon für die Pädogogik des
Achzehnten Jahrhunderts eine der Hauptfragen gewesen, geschweige denn
von den Belastungsproben, denen die Menschen durch das neue
mechanische Zeitmaß, das sich in der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt
durchzusetzen begonnen hat, der Straffung der Verwaltung, insgesamt mit
der seit damals einsetzenden Effizienzsteigerungsprogramme, durch die
Verhetzung vom romantischen Nationalismus des Neunzehnten und
Zwanzigsten Jahrhundert, den regelmäßigen Umstürzen der industriell-
kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung, und schließlich durch die neuen
Schrecken des technisierten Krieges, ausgesetzt worden sind und weiter
ausgesetzt werden. — Die erste Fragerichtung muß also sein: Was ist dem
Menschen durchschnittlich zumutbar hinsichtlich Belastung und Leistung
unter welchen sozialen Umständen?

Die zweite Fragerichtung ergibt sich aus der Betrachtung der philo-
sophischen, geisteswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen
Aussagen, was wir von uns erwarten und hoffen dürfen. Das »Erkenne Dich
selbst« umfaßt aber außer der Hoffnung auch die Befürchtungen, daß das,
was wir unerkannterweise aus uns selbst in die Welt setzen, uns als
Monstren zeigt. Diese Spaltung in der letztlich philosophischen
Menschenerkenntnis gibt uns erste Hinweise, daß die moralische Frage nach
gut und böse durchaus immer wieder in eine relevante Fragestellung
141

überführt werden kann und die beklagte Relativierung aller Werte nicht
notwendigerweise die Nivellierung zur völligen Gleichgültigkeit nach sich
zieht. Diese Relevanzen müssen neu entwickelt werden und werden
teilweise andere oder neu interpretierte Wertvorstellungen ergeben; vor
allem anderen ist eine neue Verknüpfung und ein anderes Verhältnis in der
Abstraktionslehre der Wertvorstellungen zu erwarten. Die Transformierung
in eine globale Massengesellschaft, die geänderten Produktions- und
Arbeitsbedingungen, die im Vergleich zu den anderen Säulen unserer
Gesellschaft zu weitgehende politische Selbstständigkeit des globalen
Finanzmarktes, fehlende globale Steuerungsmaßnahmen, schließlich die
Klimaänderung verlangen nach der Erweiterung des Aufgabenbereichs von
internationalen Institutionen, was aber die globale politische Willensbildung
in wichtigen Kernfragen voraussetzt. Dergleichen institutionelle
Änderungen ziehen im Anschluß auch eine Änderung der Denkungsart
nach sich; diese kritisch zu begleiten kann nicht das einzige Geschäft der
bürgerlichen Philosophie sein, will die Philosophie nicht das Schicksal der
Kunst in der Postmoderne erleiden.

Wie eingangs bereits gesagt, ist die vorliegende Arbeit als Grundgerüst zu
verstehen, welches noch einige Lücken hat, die ich im Vorwort bereits
skizziert habe. Zur Erstellung der Liste der Relevanzen und deren Kriterien
fehlt die genauere Ausarbeitung des Verhältnisses von Soziologie,
Ökonomie und nunmehr auch Ökologie, was die Aufgabe der nächsten
Jahre sein soll.
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