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Wien 2006
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Vorbemerkung
Der Titel der ganzen Arbeit ist etwas irreführend: Ich komme erst nach der
Grundlegung der Geschichtlichkeit der Zeitwahrnehmung zum Zeitinhalt.
Die vorliegende Arbeit hat vielmehr ihren ersten Zweck in der Verbindung
der Grundlagenproblematik insbesondere der Geschichtsphilosophie mit
den Vorstellungen des Regressus in der Dialektik der reinen Vernunft der
Kantschen Transzendentalphilosophie, um die Irrtümer Simmels und
Mannheims bezüglich des transzendentalen Subjektes der
Geschichtsphilosophie oder Kultursoziologie hintanhalten zu können. Der
Irrtum besteht im Wesentlichen darin, die transzendentale Zeitbedingung
der Sinnlichkeit mit den Formen des Regressus des Erfahrungmachens zu
verwechseln, weshalb die Anwendung des Kategoriengerüsts aus der
Analytik des Verstandesgebrauches unangebracht ist.
Der andere Pol der Untersuchung des Geschichtlichen als Problem der
Zeitwahrnehmung ist die Kultursoziologie der Frankfurter Schule, dessen
Hegelianismus insbesondere bei Adorno anhand der Unterschiede der
Bereiche der Gesellschaft, die bei Adorno, Benjamin und Mannheim als
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Als Zeitinhalt steht aber in der Philosophie der Ästhetik seit Zimmermann
bis zu Adorno der Mensch, der zwischen individueller und
gattungsmäßiger Existenz das umrissene Feld Artefakt, Kulturausdruck des
Ensembles und Methexis zum Ausdruck wie zur Selbsterkenntnis benutzt.
— Nachdem die transzendentale Grundlegung der Zeitwahrnehmung als
Geschichtlichkeit (Abschnitt A) und die kultursoziologische Begründung
der Zeitwahrnehmung als Geschichtlichkeit, die über die philosophische
Ästhetik die Frage nach dem Gattungswesen und seinem historischen
Sinnhorizont aufzuwerfen beginnt (Abschnitt B), tritt die Überlegung in den
nächsten Fragekreis, der angesichts der Komplexität der
Zusammengesetztheit der Spontaneität, die sich der Spontaneität des
Betrachters letztlich aufprägt, mit dem Freiheitsproblem zu tun bekommt.
Die ganze Überlegung zwischen Individuum und Gattungswesen findet
notwendigerweise am Boden der Gesellschaftswissenschaften statt, wenn
die Geschichtlichkeit der Zeit wesentlich wird. So stellt sich Verbindung von
Freiheit des Individuums und Politik von selbst her (Abschnitt C).
4. Schließlich ist die Einspielung der Ökonomie nur als erste Skizze zu
verstehen, deren bereits geplante Ergänzung einerseits zwischen Carl
Mengers Grenznutzentheorie und deren psychologisch-ästhetischen
Komponenten zur Warenästhetik, andererseits zwischen Mengers Soziologie
und deren primitive Gruppentheorie zu Carl Schmitts politischer Theologie,
insbesondere was die Bestimmung des Feldes der Außenpolitik angeht,
jeweil eine Verbindung herstellt. Darüberhinaus wird eine Skizze der
wichtigsten Positionen in der Geschichte der ökonomischen Theorie wohl
für den Gesamtzusammenhang unverzichtbar bleiben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung:
Die Grundlagenproblematik der philosophischen Anthropologie und die
Universalgeschichte — 10
Bibliographie in Arbeit
10
Einleitung:
DIE GRUNDLAGENPROBLEMATIK DER PHILOSOPHISCHEN
ANTHROPOLOGIE UND DIE UNIVERSALGESCHICHTE
Gerade die Möglichkeit der Behauptung, daß Geschichte einen Zweck haben
soll, ohne daß damit behaupten worden ist, daß Geschichte einen Zwecke
haben müsse, gibt die Möglichkeit, zwischen Metaphysik als Naturteleologie
(Physik) und Metaphysik als heilsgeschichtliche Teleologie der Konvergenz
von Politik und Theologie zu unterscheiden. — Die alternative
Bestimmbarkeit der Notwendigkeit einer teleologischen Bestimmbarkeit von
Geschichtlichkeit, also als Naturphilosophie der Geschichte oder als
historische Phänomenologie einer Kulturanthropologie, ändert an der
formalen Struktur des Reflexionsganges nur wenig. Die fraglos
vorausgesetzte Einheit des Menschen sollte zuvor die verschiedenen Arten
der Praxis zur Einheit bringen können, und damit entweder einer
ontotheologischen Metaphysik das Schema ihrer Verwirklichung auch in der
Schöpfung durch den Menschen hindurch garantieren, oder allererst einer
nur transzendental ortbaren Gesamtmetaphysik die Denkbarkeit
ermöglichen. Jedoch wird eben in der Anthropologie gerade diese Einheit
selbst zum Gegenstand der Fragestellung, sodaß die philosophische Analyse
der Seinsbezüge des Menschen sowohl zur eigenen Grundlegung wie zur
Grundlegung ihrer systematischen oder teleologischen Einheit woanders
vorstellig werden muß.
Kant gibt in der »Metaphysik der Sitten« sowohl für die systematische, wie
für die teleologische Einheit einen Ansatz vor, welcher in zwei Schritten
verläuft. Zunächst wird die Bestimmung der Intelligenz außerhalb jeder
Anthropologie vorgenommen, und bezieht sich auf das transzendentale
Subjekt als Bedingungskatalog zur Erkenntnis in der theoretischen Vernunft.
Erst im Anschluß darauf wird die so bestimmte Vorstellung eines
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Öffentlichkeit aufhebt, damit die politischen Institutionen nach der Idee des
obersten Zweckes, eben die Ausbildung des sittlichen Charakters der
Menschen, was zwar eine Gattungsbestimmung, aber eben nicht eine
Bestimmung des Menschen als Naturwesen ist, gestaltet werden, und
fortwährend neu legitimiert werden können. Die Universalgeschichte soll
also erstens Einsicht geben, wie der höchste Zweck der Gesellschaft und des
Staates sich auch aus nicht eigens intendierten partiellen Zwecken sichtbar
macht, und gehört insofern zum Schema des anthropologischen Subjektes,
welches nunmehr auch berücksichtigt, daß der Mensch von Natur aus ein
komplexes Sozialwesen ist, dessen kommunikative Natur nicht
ausschließlich dialogisch verfasst ist. Zweitens aber soll die
Universalgeschichte ein anschauliches Beispiel sein, welches für die
Öffentlichkeit geeignet ist, denn gelehrte Geschichte oder
Religionsphilosophie zählt Kant nicht zu den kosmopolitischen
Darstellungsmethoden.
Nimmt man diese Kurzdarstellung als Grundlage für das, was aus der
Erörterung der Öffentlichkeit als politischer Teil der Anthropologie (als Teil
der vierten Natur) gewonnen werden kann, ist allerdings nur wenig mehr
erreicht. Zwar wird nun auch der empirische Sozialcharakter berücksichtigt,
was allein aus der Ableitung des anthropologischen Subjekts aus den
transzendentalen Subjekt nicht geglückt ist, aber Kant gelingt es auch nicht
(und macht konkret auch keinen ausdrücklichen Versuch dazu), den Ablauf
der Geschichte als notwendige Ideengeschichte der Entfaltung, welche die
Gattungsbestimmung des Menschen garantiert, noch als konsequent sich
fortbildende Tradition der Selbstschöpfung des Menschen darzustellen.
Dazu muß die Idee der Universalgeschichte selbst erst methodische Mittel
erschließen, was sofort wieder, wie anfangs bereits gezeigt, die
Begründungsproblematik außerhalb der transzendentalen Anthropologie
verlegt. So ist selbst nach einer etwaigen Lösung des Methodenproblems
zwischen Geschichte und Gesellschaftstheorie, und nach der Aufhellung des
Unterschiedes zwischen Wahrheit und Rechtmäßigkeit bzw. Gutheit eines
Urteils im Rahmen des transzendentalen Subjekts die Anthropologie nicht
auf die ganze Menschheit anzuwenden; jedoch immer individuell und
partiell.
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I.
Die transzendentale Ästhetik beginnt mit Setzung der Objektivität des
Raumes, welcher allerdings auf Erfahrung respektive wiederum deren
transzendentalästhetischen Erscheinungsformen a posteriori ihr Argument a
priori gründen kann. Die Geometrie als Wissenschaft wird hier noch nicht
als Argument gefordert, da der Raum als bloßes Auseinandersein weder
metrische noch dimensionale Eigenschaften voraussetzt. Diese Setzung ist
bekanntlich zunächst metaphysisch (erste metaphysische Erörterung des
Raumes) und schließt die transzendentale Differenz zwar ein, vermag diese
aber nicht selbst als transzendentale zu konstituieren. Wie schon an
verschiedenen Stellen, insbesondere zu Beginn dieser Arbeit ausgeführt,
überlagern sich hier eine ontologische und eine transzendentale Differenz:
Der Raum ist selbst kein Seiendes, etc.; der Raum ist bloße
Anschauungsform, etc.. Die Demonstration der ursprünglich
entscheidenden Differenz in der ersten metaphysischen Erörterung des
Raumes geschieht zwar selbst in zwei Schritten, in welchem schon die
Übertragung des Ortes des Subjekts und seiner Beziehung zu einem davon
verschiedenen Ort auf etwas in einem andern Ort und dessen Beziehungen
zu anderen Örtern stattfindet, und ist so nicht selbst einfach, kann aber
selbst konstitutiv betrachtet nur eine sythetisch-metaphysische Operation
der Vernunft sein, deren vorgängige Synthesis, von der die Notwendigkeit
nur a posteriori eingesehen werden kann, selbst unbekannt bleibt. Deren
Transzendentalität erweist trotz dieses pseudo-analytischen Beweises aus
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erstes Mal vorgestellt, und (c) in der ersten metaphysischen Erörterung des
Raumes ein absolutes Minimum an Erfahrung eingeführt, die für die
Widerlegung des Idealismus in den Empirischen Postulaten als
Ausgangspunkt zureicht; aber es wird auch (d) das Problem der
Erfüllbarkeit der damit verbundenen metaphysischen Hypothese vom
universalisierbarem Auseinandersein der transzendentalanalytischen
Untersuchung zugewiesen. Damit wird begründet die transzendentale
Differenz zwischen transzendentalem Subjekt (res cogitans) und seinem
Objekt (res extensa) inmitten unserer Leiblichkeit behauptet, aber gerade
nicht transzendentalanalytisch vollständig gerechtfertigt.
Insofern behaupte ich nach wie vor, daß die transzendentale Differenz in der
transzendentalen Ästhetik noch nicht konstituiert wird, obgleich gerade die
radikale Fassung des transzendentalen Idealismus in der transzendentalen
Ästhetik nicht nur eine deutliche »transzendentale Direktion« auf
selbstständige Existenzen aufweist, sondern selbst eine ziemlich radikale
Fassung der transzendentalen Differenz vorstellt. Die Urbildhaftigkeit dieser
ersten transzendentalen Differenz kann aber nicht daran hindern
einzusehen, daß die hier von mir eingeführte Verschärfung die Einseitigkeit,
von wo her die transzendentale Differenz gedacht wird, nicht länger gelten
kann, denn ab der transzendentalen Ästhetik ist der transzendentale
Unterschied bereits dem transzendentalen Subjekt zustellbar und der
Reflexion auf eine mögliche Ganzheit unterwerfbar: »Die Leibniz-Wolffische
Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den
Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt
angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen
bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transzendental ist, und nicht bloß
die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und
den Inhalt derselben betrifft« (B 61 f./A 44). Die Definition der
Transzendentalität, die dort zu finden ist, bezieht sich jedoch nicht selbst
konkret auf die Problemstellung der transzendentalen Ästhetik und bleibt
ihr gegenüber neutral, da es sich bei den Anschauungsformen von Raum
und Zeit zuerst nicht um Begriffe und nicht um Produkte der
Einbildungskraft im inneren Sinn handelt. Der Ursprung der
transzendentalen Differenz liegt sowohl synthetisch-metaphysisch wie
transzendentalanalytisch in der Differenz zwischen Intellektualität (nicht
dem Verstand selbst!) und Sinnlichkeit. Dies ist metaphysisch, weil
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In der transzendentalen Logik wird von einem Prinzip nur mehr erwartet
aufzuklären, »daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder
Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich seien, [damit
es] transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder Gebrauch
derselben a priori) heißen müsse« (B 80 f./A 56). Das scheint zwar deutlich
weniger zu sein als prinzipiell in der transzendentalen Ästhetik von einem
transzendentalen Prinzip verlangt, doch aber soll zumindest für die
»gewissen Vorstellungen« die Rechtfertigung aus einem Prinzip nach wie
vor die leitende Idee sein. Die Frage nach dem Ursprung der
transzendentalen Differenz scheint nicht berührt worden zu sein; es wird
also desweiteren der Geltungsbereich eines transzendentalen Prinzips
abgehandelt.
II.
Die Untersuchung des Verstandesbegriffs im kategorialen Gebrauch beginnt
mit der Untersuchung der Anwendungsbedingungen der reinen
Verstandesbegriffe gemäß ihrer Exposition und der logischen Erfassung der
transzendentalen Zeitbedingung. Der Vergleich der Reihen der
Erscheinungen mit den Reihen der Vorstellungen ist die argumentative
Grundlage der synthetischen Grundsätze der dynamischen Kategorien in
transzendentalanalytischer Hinsicht. In der selbst formalen Idee der
Vergleichung von Reihen liegt die transzendentale Rechtfertigung der
Anwendung der Varianzrechnung. Die Kantsche Untersuchung der
Differenz von mathematischen und dynamischen Kategorien führt aber
anhand der Kausalitätskategorie zur zweiten transzendentalen Differenz,
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I. Das Ding an sich als Artefakt logischer Intentionalität und der dogmatische
Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe. Die drei Psychologien der Urteilslehre und
die Ideenlehre
Die erste nachvollziehbare Einschränkung der reinen spekulativen Vernunft
geschieht nun auf Grund des Argumentes aus der Deduktion der
Kategorien, und ist insofern nicht selbstständig aus der reinen Vernunft
entnommen. Ein relativ selbständiges Moment dieser Einschränkung steht
jedoch in Verbindung mit dem rein theoretischen Ding an sich als
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Das dritte Mal geht es ebenfalls um eine Psychologie, die aber völlig
unabhängig von der gerade behandelten zu fundieren ist. Das Problem zu
beginnen besteht darin, daß in der Einteilung der Seelenvermögen die
Vernunft bereits als oberes Begehrungsvermögen vorgestellt wird, hier aber
noch eine Psychologie der reinen (theoretischen) Vernunft verlangt wird. Ich
unterstelle der Ideenlehre der Vernunft einen psychologischen Aspekt, der
durch die im Umkreis skizzierten alternativen Übergänge zur empirischen,
praktisch-philosophischen und transzendentalen Anthropologie nicht
erschöpft werden kann, weil es unweigerlich immer nur die Vernunft einer
individuellen Person sein kann, die in der transzendentalen Dialektik auf
ihre allgemeinen Formen hin kritisch untersucht wird. Ich behaupte damit
mitnichten, die Vernunftideen seien selbst Produkte transzendental
ursprünglicherer, phylogenetisch tieferliegender oder genetisch
präformierter psychologischer Strukturen oder dergleichen interessanter
Fragen, die zu entscheiden aber für die Transzendentalphilosophie zu ihrer
Fundierung nicht unbedingt notwendig sind. Vielmehr handelt es sich um
eine für die Aufgabenstellung angemessene, vom Entwurf her aber nur als
unvollständig veranschlagtes Konzept, das seine Richtigkeit ohne eine
andere Möglichkeit des Wahrheitsbeweises allein aus der
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II. Die Analogie der Diskursivität als Charakteristikum der Vernunft zur
Diskursivität als Ideal der Kommunikationswissenschaften
Die zweite Einschränkung durch die Kritik des Dogmatismus in der reinen
Vernunft (dergleichen ist nur als Doktrin der bestimmenden Urteilskraft
möglich) hält die Möglichkeit bereit, sich im Rahmen der transzendentalen
Methodenlehre anhand der Diskursivität philosophischer Beweise (wo nur
aus Begriffen erwiesen werden kann) eine Analogie zur
Vernunftphilosophie des »linguistic turn« denken zu können: Die
Diskursivität als Charakterisierung der Vernunft im Feld formaler
Spekulation und Kombinatorik bis in die formalontologische Auslegung der
reinen Vernunft (Christian Wolff) fordert dazu heraus, den Anspruch der
Sprachphilosophie zwischen intuitus und Diskursivität der Elemente der
»formalen« Logik Kantens einerseits und innerem Monolog Husserls
zwischen kommunikativer und darstellender Funktion andererseits noch
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Das Motiv ist die Frage nach der Wahrheit, was sowohl die theoretische wie
die praktische Vernunft betrifft, als daß die Beantwortung der Frage nach
der Wahrheit zwar aus beiden Gründen am propositionalen Gehalt der
Aussage primäres Interesse hat (insofern das Theoretische unter dem
konkret-praktischen Interesse), komplementär aber auch am illokutiven
Gehalt der Aussage Interesse hat. Als reale Handlung der Kommunikation
betrachtet ist eben beides in Rechnung zu stellen. Vermag man auch
zwischen Behaupten, Wünschen, Befehlen als für die weitere
Charakterisierung der Intentionalität (als Haltung) noch die Liebe zur
Wahrheit als weitere Leidenschaft in die Psychologie einzufügen, hat man
aber immer noch nicht die reine praktische Vernunft als Quelle der reinen
Willensphilosophie erfaßt, um die Reflexion des rationalen Sprechaktes auch
im postiv-konkreten Handlungssinne abschließen zu können (Franz
Fischer). Doch dürfte bisher deutlich geworden sein, daß die reine Liebe zur
Wahrheit zwar schon eine sittliche Haltung in der ideal verfaßten
Kommunikation erwarten lassen würde, aber selbst noch nicht eine Theorie
der Sittlichkeit impliziert. Die Wahl der idealen diskursiven
Kommunikationssituation impliziert nicht eine Theorie der Sittlichkeit; diese
Aussage behauptet aber nicht die Unmöglichkeit irgendeiner Art von
Theorie über die Sittlichkeit. Es ist also erstens festzustellen, daß das Motiv
der Wahl zwar eine ethische Frage, aber nicht die Frage nach einer Theorie
der Sittlichkeit selbst stellt, und zweitens, daß auch sonst nichts auf eine
transzendentale Differenz hinweist, die mit einer formalisierbaren Differenz
zwischen der diskursiven Verfaßtheit der reinen (theoretischen) Vernunft
und der idealen, aber immerhin als realmöglich gedachten
Kommunikationsstruktur verläßlich konstituiert werden könnte. Die einzige
transzendentale Differenz besteht zwischen der Idealität der diskursiven
Kommunikationsstruktur und deren wie auch immer beschränkten
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Die reine Vernunft ist als spekulative Vernunft zwar diskursiv verfaßt, aber
nicht nur an die selbst als monologisch verfaßt gedachte intelligible
Spontaneität der transzendentalen Apperzeption sondern auch an die
transzendentale Subjektivität der Leiblichkeit im Raum gebunden. Die
Erörterung bleibt in der Doppeldeutigkeit des inneren Monologs Husserls:
Schon mittels der bloßen Darstellungsintention wird das betrachtete
einzelne Subjekt letztlich zur möglichen Quelle der Interpretation durch
andere. Zum Schutz unserer Privatheit, aber auch zum Schutz der Intaktheit
der vermittelten Botschaft scheint es angezeigt zu sein, dennoch
Ausdrucksintention und Darstellungsintention systematisch zu
unterscheiden. Weiters ist es für die darstellende Intention kein
Widerspruch, im Rahmen des inneren Monologs widerstreitende
Standpunkte zu diskutieren. Der innere Monolog Husserls ist insofern als
eine sprachliche Fassung des inneren Sinnes, welcher nach Kant bei Bedarf
auch als Medium des Vergleiches empirischer Begriffe herzuhalten hat,
anzusehen. Daher ließe sich auch nachvollziehen, weshalb die empirische
kommunikative Verfaßtheit des Verhältnisses der Individuen untereinander
zwar als Analogie zur diskursiven Verfaßtheit des inneren Monologs
geeignet ist, aber auch, weshalb diese erkenntliche Differenz vielleicht eher
eine ontologische Differenz genannt werden dürfte als selbst eine
transzendentale Differenz. Eine transzendentale Differenz kann per
definitionem (ein transzendentales Prinzip ist eines der synthetischen
Urteile a priori und setzt so analytisch Erscheinungen existierender Dinge in
der inneren Erfahrung voraus) nur von einem
transzendentalsubjektivistischen Standpunkt aus bestimmt werden. M. a.
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W., hier kann aus anderen Gründen als vorher keine transzendentale
Differenz konstituiert werden: Es ist nicht anders als komplementär
möglich, reine Vernunft und ideale Kommunikationsstruktur zu denken; sie
liegen also nicht in einer einfachen und geraden Intentionsrichtung.1 Die
transzendentale Differenz kann aber nur primärintentional ausgebildet
werden, was sich auch an der Behandlung des transzendentalen
Schematismus und dessen Schwierigkeit der gleichzeitig zu
berücksichtigenden doppelten Intentionsrichtung gezeigt hat; dort aber war
eine Lösung des psychologischen Problems in der Urteilslehre möglich, weil
die Gegenwendigkeit von Objektintention und Handlungsintention in einer
Linie gelegen ist mit der doppelten Orientierbarkeit der Ausrichtung der
Subjekt-Objekt-Differenz, die wesensmäßig in der Affinität des Daseins
gegeben ist.
Ein Hinweis auf die Schwierigkeit in der dritten Antinomie der Kritik der
reinen Vernunft, den Einsatz der intelligiblen Ursächlichkeit in die Reihe der
Erscheinungen zu denken, vermag folgende Stellungnahme des späten
Kants zu geben (Benedikt: Deduktion von oben gegenüber dem
Doppelsystem von Empfindung und beweglichen Kräften als
Deduktionsansatz von unten). Die Schwierigkeit besteht näher darin, daß
die Weiterbestimmung des Ding an sichs beginnt, die Freiheit des
erkennenden Subjekts in die Schematen von Raum und Zeit einzusperren;
also neben der Absicht, ein verlässliches Instrumentarium zur Beurteilung
der Erscheinungen zu erlangen, damit auch begonnen wird, weitere
Prinzipien zur Beurteilung einer Handlung aus Gründen einer freien
Entscheidung auszuschließen: »In dem Erkenntnis eines Gegenstandes liegt
zweyerlei Vorstellungsart 1. des Gegenstandes an sich 2. dem in der
Erscheinung. Die erstere ist diejenige wodurch das Subject sich selbst
uranfänglich in der Anschauung setzt (cognitio primaria) [ — wohl aber
deshalb noch nicht selbst als Anschauung, vgl. erste metaphysische
Erörterung des Raumes — ] die zweyte da es sich mittelbar selbst zum
Gegenstand macht nach der Form wie er affiziert wird (cognitio secundaria)
[ — als psychologische und kosmologische Idee —], diese letztere ist die
Anschauung wodurch der Sinnengegenstand dem Subjekt gegeben wird ist
die Vorstellung und Zusammensetzung des Mannigfaltigen nach Raum/ u.
Zeitbedingung Das Objekt aber an sich = X ist nicht ein besonderer
Gegenstand sondern das bloße Princip der synthetischen Erkenntnis a priori
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Hier wird der Kosmotheoros durch das transzendentale Objekt ersetzt, das
den Kosmos und den Leib als Teil dieses Kosmos darzustellen beginnt,
während in der Deduktion von unten (Benedikt gibt S. 395 stellvertretend
eine Stelle aus AA XXII, p. 461) das »subjektive System« der
Wahrnehmungsorganisation nicht nur die immanente Schwierigkeit hat, wie
diese gänzlich unter die Regeln des Systems beweglicher Kräfte gebracht
werden kann, was doch zur Physik als doktrinales System der
Wahrnehmungen gefordert werden muß, sondern dazu noch gerade
deshalb — eben wie die »Deduktion von oben« — in Zweifel gerät, ob das
»subjektive System« überhaupt geeignet ist, einer kategorischen Pflicht
unterworfen zu werden. M. a. W., das Freiheitsproblem droht letzlich da wie
dort aus der Kosmologie der Welt gleich ganz in den Kosmotheoros, und
damit außer Reichweite anthropologischen Philosophierens verlegt zu
werden. Dieser aber ist von einem bloßen Demiurgen bald nicht mehr zu
unterscheiden.
Der Durchblick auf das intelligible Subjekt holt hingegen den gesamten
Regressus in seinen verschiedenen Varianten des Rückganges von
Vorstellungen auf oberste Ideen (wie dann auch die Prinzipien des
Progressus bis hin zum Wandel der Prinzipien a parte priori des konkret-
empirischen Erfahrungmachens) prinzipiell und theoretisch ein. Zuerst wird
das intelligible Subjekt in der Kritik der reinen Vernunft zur Voraussetzung
der transzendentalsubjektivistischen Letztbegründungsstrategien und deren
Kritik; schließlich zur Voraussetzung der Vereinigungsversuche der reinen
(theoretischen) und praktischen Vernunft. Obgleich das intelligible Subjekt
nicht unmittelbares Ergebnis der transzendentalen Analytik ist, nenne ich
diesen Durchblick mit Kant transzendental, gerade weil zwischen
»intellektuellem« Subjekt und empirischem Objekt zwar zweifellos eine
transzendentale Differenz der Vorstellungsart bestehen muß, damit wohl
aber auch erst recht eine ontologische Differenz zwischen dem Subjekt und
Objekt der formalontologisch von Wolff behaupteten Affinität behauptet
wird. Das intelligible Subjekt könnte als der Restbestand der synthetisch-
metaphysischen Philosophie angesehen werden, in dessen topos sich
allerdings nunmehr intellektuelle Spontaneität und intellektuelle
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sie sich selbst weiter bestimmt, versucht die Intellection in der rein
spekulativen Vernunft damit auch eine Identität der Bewegung dieser
Weiterbestimmung und zugleich die Totalität zu bestimmen. Deshalb kann
diese vorgängige »Vernunft« auch idealisch genannt werden (Ideal der
reinen Vernunft). Indem die Intelligibilität ihre Intellektualität zur reinen
Vernunft in Analogie zu möglichen Grundsätzen der Erfahrung
weiterbestimmt, bestimmt sie nicht sich selbst, vielmehr das andere in uns –
den inneren Sinn. Wir aber haben im Rückblick (von der abstraktiv
vorgehenden transzendentalen Analyse aus gesehen) reine Intelligibilität
(für uns zuerst als Intellektualität), inneren Sinn und Leiblichkeit zum
zusammengesetzten Substrat; nur als intelligibeles Wesen der rationalen
Psychologie sind wir ein einfaches Wesen. Insofern kann die reine
Selbstbestimmung des intelligiblen Subjekts mittels dessen Intellektualität
auch ein ervernünfteltes Artefakt der transzendentalen Analytik sein, die
erst im Begriff ist, über die Grenzen möglicher Bestimmungen des
Erfahrungsraumes (als mögliches Ganzes) hinauszugehen. Wenn von einem
solchen Wesen, von welchem die genaue Zusammensetzung und der Grad
der Verwirklichung seiner Möglichkeit zwar nicht bekannt ist, aber
zureichen soll, in der besagten dritten Antinomie der ersten Kritik die
Kausalität aus Freiheit in der Kausalität durch Freiheit mit der
Kausalitätskategorie zu verbinden, vermag man nicht nur die, vom
transzendentalen Subjekt unter eine Klammer gebrachte
Substratsmannigfaltigkeit desselben als, letztlich nach der transzendentalen
Analytik vorgegebenen Grenzen geordnete, synthetische Metaphysik in den
von der transzendentalen Analytik in der transzendentalen Psychologie
gezogenen Grenzen aufzufassen. Die Kausalität aus Freiheit garantiert,
insofern teils aus reiner Spekulation (wie etwa oben), teils bereits aus
architektonischen Gründen, das transzendentale Freiheitsproblem. Das
ergibt eine weitere Möglichkeit von synthetischer Metaphysik (metaphysica
specialis).
Es ist also festzuhalten, daß hier der Übergang von der Totalität der reinen
Vernunft zur praktischen Vernunft auf eine Weise vollzogen wird, daß
sowohl was den modalen Anspruch betrifft, wie auch was die Kontinuität
und Vollständigkeit der Darstellung angeht, die Konstitution der
transzendentalen Differenz innerhalb des transzendentalen Subjektes
zwischen intelligiblem Subjekt und empirischem Subjekt zunächst außer Frage
gestellt werden kann, gerade weil eben über das empirische Subjekt als
Erfahrung über sich selbst als erkennendes Subjekt vermittelt. Die bloße
Unterscheidung in rationale Psychologie und rationale Physiologie macht
nicht die transzendentale Differenz, doch kann sie darin gedacht werden,
wenn diese zuerst als philosophischer Begriff exponierte Differenz nicht nur
als Direktion, sondern auch als Konzept vorstellig wird, die den Kantschen
Kriterien genüge tut. Das erkennende Subjekt ist aber das intelligible Subjekt
und das empirische Subjekt im transzendentalen Subjekt, welches als bloßer
Zielpunkt der transzendentalen Analytik selbst die Vermittlung aber nicht
leisten könnte. Wenn nun das intelligible Subjekt aber womöglich nur das
Produkt der über die Grenzen möglicher Erfahrung gehenden
transzendentalen Analytik ist, bliebe nur das empirische Subjekt als Instanz
und Agent der Vermittlung in einem. Eben das konnte ausgeschlossen
werden. Hingegen kann das empirische Subjekt nicht einfach als
Pathologisch-Sinnliches regionalontologisch abgetrennt werden und als
Ganzes dem transzendentalen Subjekt oder einem auf Normativität
depotenzierten intelligiblen Subjekt zum Substrat dienen.
Das ist insgesamt die fünfte,2 aber erst die zweite für sich selbst vollständige
Fassung einer transzendentalen Differenz, die sowohl vom Ursprung her
selbstständig wie auch anhand eines Prinzipes darstellbar ist, worauf sich
ein Gebrauch des Begriffes von »Transzendentalität« stützen kann. Es ist
nun die Frage, inwieweit aus einem möglich scheinenden zweiten
transzendentalen Prinzip ein synthetisches Urteil a priori der reinen
Vernunft deduziert (gerechtfertigt) werden kann, was gemäß der Definition
eines transzendentalen Prinzips aus der transzendentalen Ästhetik der
Probierstein auch des zweiten transzendentalen Prinzips sein sollte.
I.
Vorhin habe ich ausgeführt, daß sich das intelligible Subjekt vom
transzendentalen Subjekt darin unterscheidet, daß die Spontaneität des
intelligiblen Subjekts den Zusammenschluß von Kausalität aus Freiheit und
Kausalität durch Freiheit bewerkstellige; schließlich daß im intelligiblen
Subjekt selbst der Topos der Zusammenstellung oder Gegenüberstellung
3 Rechtsphilosophie, § 13
4 Die verschiedenen logischen Argumentationsformen der Beispiele für den
kategorischen Imperativ (Lügenverbot, Veruntreuungsverbot eines Depositum,
Selbstmordverbot) sind damit allerdings nicht vollständig diskutiert worden.
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II.
Es konnte also herausgestellt werden, daß nur in einem spezifischen
»normativen« Sinn die Intelligibilität von der Sinnlichkeit nicht affiziert
wird (Vernunft als höheres Begehrungsvermögen), oder die Intelligibilität
nur vermittels der Formen des Verstandesgebrauches über die Sinnlichkeit
informiert wird (Vernunftprinzipien a parte priori), ansonsten keine
Apperzeption stattfinden könnte, was doch die Bedingung für ein
bestimmendes Urteil ist. Im nächsten Schritt ist demnach zu diskutieren, in
welchem Horizont der Übergang von der Kausalität aus Freiheit zur
Kausalität durch Freiheit stattfindet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß
der eigentliche Übergang von intellektueller Spontaneität zur
Naturkausalität in jenem Abschnitt geschieht, den Kant mit der Freiheit
durch Kausalität bezeichnet hat. Inwiefern der Begriff Ursache sein kann,
leuchtet zuerst im kommunikativen Bereich ein, so zum Beispiel, wenn
Aufforderungen im Imperativ befolgt werden. Wie ein intellektueller
Entschluß durch unsere Körperlichkeit zu einem Beginn einer
Naturdetermination werden kann, kann nicht mehr allein nach den
methodischen Möglichkeiten des Erfahrungsmachens befragt werden, und
wie die daraus gewonnenen Erfahrungen systematisch zum Erfahrung
anstellen genutzt werden können, sondern es wird eine qualitative Frage
gefragt, die schlicht und ergreifend die ist, wie wir einen Begriff oder einen
intellektuell begründbaren Entschluß des Willens als Ursache inmitten von
Naturursachen vorstellen sollen. Immerhin wird die Beantwortbarkeit, oder
doch eine Auflösung dieser Frage im Übergang von Erfahrung machen zum
Erfahrung anstellen vorausgesetzt. Wo ist der Ansatzpunkt? Etwa in den
Untiefen der Bestimmungsansätze zwischen rationaler Physiologie des
inneren Sinnes und empirischer Psychologie des Gemüts? Wie schon des
öfteren angeführt, verfolgt Kant im Opus postumum diesen Gedankengang
bis in die »physiologischen Gehirnbewegungen« hinein und kommt zu
einem doppelten System beweglicher Kräfte. Es muß Kant also bekannt
gewesen sein, daß die Basis der Willensphilosophie gegenüber der
Naturphilosophie sehr schmal ist; ich wage sogar noch mehr zu vermuten,
nämlich daß die von der Ganzheit der Transzendentalphilosophie
geforderte Vollständigkeit der Prinzipien der Naturphilosophie die
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Unabhängig davon und über das bisher Behandelte hinausgehend ist nach
wie vor analog zur Unterscheidung in eine transzendentale Einteilung und
in eine mathematische Einteilung des Kontinuums
(transzendentalpsychologisch der innere Sinn) zumindest die Möglichkeit
einer selbstständigen transzendentalen Differenz zwischen reiner
(theoretischer) und praktischer Vernunft als Ergebnis der Kritik an einer
Formalontologie in Nachfolge Christian Wolffs zu überlegen und
gegebenfalls zu widerlegen. Die Auflösung insbesondere der dritten
Antinomie führt aber zur Untersuchung der Verhältnisse von Regressus und
Progressus im Rahmen der Zeitordnungen vom empirischen Subjekt seines
Kosmos ausgehend. Das Ergebnis sind Zeitbedingungen von ganz anderer
Art als aus der Untersuchung des kategorialen Verstandesgebrauches in
sinnlicher Erfahrung bekannt, da hier die Sinnlichkeit nicht mehr die
Kontinuität der in der Gegenwart verfließenden Zeit garantiert. Also nicht
die relative Zeitlosigkeit der intellektuellen Reflexion und des Vergleiches
von empirischen und nicht-empirischen Begriffen im Gemüt (innerer Sinn)
wird zu einer zur Erkenntnisfrage komplementären synthetischen
Metaphysik der Psychologie oder zu einer Fundamentalontologie des
Daseins ausgebaut, sondern die Mannigfaltigkeit der Zeitstrukturen werden
in die Begrenzung des Horizontes des Daseins zurückgebogen.
Hingegen muß mit der vergangen gesetzten Zeit auch immer eine
durchgehende Reihe von einer hypothetisch in die Vergangenheit gesetzten
Gegenwärtigkeiten auf uns zu zu denken möglich sein, doch ist der in der
Zeit rückwärts schreitende Regressus gerade nicht durchgängig in
Konzepten der sinnlichen Kontinuität darstellbar. Erstens die
Objektivsetzung der Zeit als Vergangenheit als solche (nicht sofort deren
empirisch-konkreten Ereignisse), wie zweitens auch der Regressus auf das
Ding an sich selbst (das Ding an sich selbst als das Substrat der
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Ich will hier nur eine vorläufige Überlegung zur Grundlegung von
Geschichtsphilosophie selbst oder auch nur der Geschichtswissenschaften in
Anspruch nehmen; es soll unzweifelhaft sichergestellt werden, daß mit den
Untersuchungen des Regressus nicht nur indirekt, als die Zeit der rein
intellektuellen Verstandeshandlung im Zuge der Vereinfachung oder
Ausdifferenzierung der Ideen, oder in der Bestimmung des Regressus in der
Zeit als transzendentale Form einer notwendigen Reihenfolge des
Erfahrungmachens die Rede ist, sondern von der Geschichtlichkeit der Zeit
selbst. Dazu ist die transzendentale Betrachtung der Vorstellungsart des
Geschichtlichen Voraussetzung, bevor gewissermaßen zu metaphysischen
Anfangsgründen der Geschichtswissenschaften weiter gegangen werden
kann.
Es wird eine Wirkung behauptet, doch aber kann keine Ursache ausgemacht
werden, die aktuell auf uns einwirken würde. Es ist also so wie im
mechanischen Stoß, wo eine vergangene, nicht mehr wirkende Ursache eine
träge Bewegung zur Folge hat, die ohne weitere entsprechende Einwirkung
endlos andauern würde. In dieser nur bildlichen Redeweise wäre eine
strukturelle Fulguration oder ein Entschluß der Anstoß für eine
epistemische Veränderung, die gleichermaßen ohne vergleichbare
Beeinflussung endlos andauert. Wenn es aber die vorgestellte Kausation
»durch die Zeit hindurch« gibt, dann kann die Ursache als vergangene und
nicht mehr selbst wirkende nicht die fragliche Ursache der Kausation »durch
die Zeit hindurch« sein. Die Schwierigkeit der Überlegung wird noch
dadurch erschwert, daß auch diese Art von Dauer durch die nämliche
Beharrlichkeit der Erscheinung des Artefakts fundiert wird wie schon in der
transzendentalen Ästhetik der Substanzkategorie.
nachweislich existiert hat, sage ich, diese Dauer wurde durch den
Beobachter und Betrachter »aktualisiert«. Insofern die Artefakte
unmißverständlich genug sind, wird die Wirkung der Dauer des Artefaktes
als nicht alleinstehende symbolische Wirkung des erkennenden Subjekts
(Artefakt sinnlich, Hermeneutik vernünftig) als durchgehend aktualisiert
zumindest der Möglichkeit nach vorgestellt werden können, wie aber das
Beispiel der philosophia perennis zeigt, muß das nicht notwendigerweise
wirklich in durchgängigen Traditionen so sein, obgleich die Philosophen
sich wie die Wissenschafter, Techniker und Künstler durch die Zeit
hindurch erkennen können. Die Aktualisierung ist nun mit einer
Charakteristik ihres Schemas der Einbildungskraft leicht als vom Schema
der Einbildungskraft in der Deduktion der Kategorien unterschieden
festzuhalten: Nunmehr geht es nicht um die Vertauschung aktueller
Gegenwart des Entschlusses zur Interpretation des Ereignisses mit der
vergangenen Gegenwart als fortgesetzte Täuschung in der Identifikation
von (verweisender) Erscheinung und Ursache oder von Erscheinung und
Wirkung (wobei ersteres für Kant bekanntlich besonders problematisch ist)
in einer zusammenhängenden Reihe. Vielmehr soll die Einsicht in die
Vertauschung auch hier nicht einfach bei der Enttäuschung stehen bleiben,
denn damit hätte die Kritik einen »Erfolg ohne Absicht« (Robert
Zimmermann, Anthroposophie) erzielt, der die Aura des Kunstwerkes
vollends vernichten und das Kunstwerk als kulturelles Symbol auf das
physische Artefakt (bzw. die Kausalität selbst auf die Erscheinung)
reduzieren würde. Das Ziel dieser Reflexion, die immer schon auf das
kulturelle Symbol und dessen Mannigfaltigkeit der kontextuellen
Einbettbarkeit entlang der bekannten oder auch nur mitwirkenden
Überlieferungsstränge ausgerichtet war, erweitert sich gewissermaßen wie
von selbst, wie Simmel oder auch Adorno und Mannheim angezeigt haben,
eben darüber hinaus zur Reflexion des Verhältnisses zwischen Individuum,
Kulturraum und Gattungswesen. Das geschieht, dieser Überlegung weiter
folgend, vom Individuum ausgehend, das die Verbindung von unmittelbare
sinnliche Wirkung des physischen Artefakts mit dem Kontext, der zwischen
der Lebensgeschichte der betrachtenden Person und dem die
Kulturgeschichte repräsentierendenden Kunstwerk erst herstellt und damit
auch das Artefakt zum Kunstwerk erhebt. Offenbar muß die Kritik, die in
der Aufklärung der Vertauschung der Position von Künstler und Betrachter
liegt, als Anlaß gesehen werden, die Ähnlichkeit des Kunstwerkes zum
51
Entlang einer dazu querstehenden Achse kann ersichtlich werden, daß die
Vertauschung der Perspektive von Künstler und Betrachter (Leonardo da
Vinci) durch diese Kritik am Mythos im Kunstwerk zwar keinen
Widerspruch erzeugt, der Blick auf das Kunstwerk als Kultursymbol
insofern sogar dadurch erst ermöglicht worden ist, jedoch weder die
Reihenfolge für die inhaltliche Entwicklung der kontextuellen Potentialität
des Kunstwerkes (Methexis) durch die historische Zeit völlig gleichgültig
geworden ist, noch entschieden werden kann, inwieweit die Botschaft eines
Kunstwerkes, die über das Kunstwerk selbst als Hülle oder künstlerisch-
handwerkliche Überformung des Artefakts hinausweist, konkret schon als
solche, sei es als vollständige oder überhaupt schon vorhandene
angenommen werden kann. Damit wird die inhaltliche wie die zeitliche
Dimension wechselseitig miteinander verschränkt.
52
Mit Kierkegaard wurde aber schon der Standpunkt erörtert, daß zumeist das
Eigentliche die Botschaft sei und nicht die historischen Umstände der
Erzeugung oder der Wahrnehmung selbst. Insofern reicht das Schema der
Vertauschung ohne einen Begriff (Idee) der Botschaft nicht zu, die in Rede
stehende Aktualisierung bei aller Konjunkturalität als das Produkt einer
wirklichen Vermittlung anzusehen. Die Botschaft gibt die Kontinuität
zwischen den Aktualisierungen und entspricht dem Dritten, das gemäß dem
vorkritischen Kant die Kontinuität und Teilbarkeit sowohl des logischen
(zugleich primituiv des semantischen) wie des ausgedehnten Raumes
garantiert. Die Botschaft kann nur in der Einheit eines einzelnen
Bewußtseins gedacht werden, doch aber ist sie als Botschaft mehr als das,
indem erstens die Botschaft im einzelnen Bewußtsein nur eine Version der
Botschaft sein kann; zweitens kann diese Art von historischer Vermittlung
einer Botschaft als vollständige Interpretation derselben nicht gleich in die
Einheit eines einzelnen Bewußtseins verbracht werden; drittens kann nur
vermutet werden, daß es genau nur eine Botschaft überhaupt gibt, die
verschieden interpretiert werden kann. — Damit wird eine Eigenschaft des
53
Die zeitliche Dimension der Geschichtlichkeit wird mit der Dauer der
Möglichkeit nach beschrieben, die Kontinuität jedoch, wie im Übergang vom
Wechsel zur Sukzessivität die transzendentale Einheit der anhebenden und
vergehenden Erscheinungen eines Objektes durch die logische Regel des
Überganges von Non-B zu B ausgedrückt wird, durch die semantische Regel
der Einheit der Botschaft repräsentiert. Es bleibt aber nach wie vor offen,
welche Art von reiner Verstandesbegriff für die Geschichtsbetrachtung in
Frage kommt: Reichte für die transzendentale Zeitbedingung der
Geschichtsbetrachtung der Wechsel der Erscheinungen aus, so könnte der
semantische Inhalt der Regel als Vertreter des gesuchten Verstandesbegriffes
gelten; es würde sich dann um den Begriff der Beharrlichkeit oder Substanz
der Botschaft handeln. Oder aber es wird wie eben die transzendentale
Zeitbedingung als Sukzession beschrieben, dann ersetzt die semantische
Identitätsforderung an die vermittelte Botschaft die logische Regel der
Sukzession, und der gesuchte Verstandesbegriff wäre dann der der
Kausalität; allerdings mit der anhand von Zimmermann beschriebenen
Schwierigkeit behaftet, daß hier nicht der Begriff der Verbindung von
Ursache und Wirkung gesucht wird, sondern die vergangene intelligible
Ursache eine Wirkung gezeigt hat, die die eine Bedingung dafür ist, daß die
gegenwärtige intelligible Ursache eine ähnliche Wirkung besitzt wie die
54
völlig abstrakte Weise, unkenntlich machen. Die Einheit der Botschaft, oder
schwächer, die hinreichende Eindeutigkeit der Botschaft, ja selbst, ob es eine
mit der erhaltenen Botschaft inhaltlich verbindbare Botschaft überhaupt am
Beginn der Interpretationsarbeiten bereits gegeben hat, bleibt zunächst
fraglich. Inhaltlich betrachtet, bleibt auch unbestimmt, was alles die
Botschaft dieser ursprünglich menschlichen Geschichte sein kann: Neben
der analytisch enthaltenen philosophischen Anthropologie handelt es sich
offenbar immer auch um eine anthropomorphe Schöpfungsgeschichte und
Kosmologie. Eine eigene Naturphilosophie und Naturgeschichte bleibt
genetisch betrachtet eine spätere, sekundäre Entwicklung. Doch ist es diese
Unterscheidung in die Geschichte des Erzählens und Nacherzählens, das
selbst Schwerpunkte setzt, selektioniert und verbindet, und
Naturgeschichte, die nochmals den Gang der Reflexion über die
Konjunkturalität selbst epistemologischer Entscheidungen in einen
Regressus der Objektivierung zwingt. Derart wiederholt sich der Zwang zur
Selbstauslegung des Denkens gegenüber dem Bildhaften und im Zeichen
als Schrift oder Symbol im Sprachlichen gegenüber dem Bedeuteten selbst
wie gegenüber der Sprachgemeinschaft in der Reflexion des genuin
Geschichtlichen des reflektierenden Denkens der inhaltlichen
Selbstauslegung des Subjekts zwischen Individuum und Gattungswesen,
nur um nochmals am Prozess des Werdens in der Natur gemessen zu
werden. Dieser Hegelianismus ist nun transzendentalkritisch zu brechen,
und von der bloßen Notwendigkeit »reiner« und »nicht-reiner«
(angereicherter) Spekulation zur Bestimmbarkeit konkreter Möglichkeiten
herunterzubringen, bevor ein historisch konkreter dialektischer Prozess (sei
es in der Geschichte, sei es in der Natur) davon überhaupt unterschieden
werden kann. Ich möchte nochmals die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß
hier so oder so die vorwissenschaftliche Kenntnis der Natur immer schon
vorausgesetzt wird; mit Kant wird in aller Schärfe ein erstes Mal im Zuge
des Regressus des Erfahrungmachens systematisch deutlich, weshalb
wissenschaftliche Erkenntnis, bei aller bloß hypothetischen Notwendigkeit,
sich sowohl der eigenen Geschichtlichkeit wie letztenendes auch der
Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes zu stellen hat.
Appräsentationsfigur des Du’s des anderen wie (hierin doch näher) Kants
Ideal des Schönen als Ausdrucksmotivation sowohl der inneren
Gestimmtheit wie des Ideals des Gattungswesens aus der dritten Kritik
setzen diese Gegenüberstellung thematisch fort. Doch was bedeutet das für
das zunehmend als urwüchsig vorzustellende konkrete Individuum, wenn
das intelligible Subjekt als Idee vom reinen Ich die Notwendigkeit seines
reinen Willens aus der Allgemeinheit des Gattungswesen zu beziehen
beginnt? Hingegen wäre die Erkenntnis, ob die Reihe einer
Naturdetermination gemäß der Erläuterungen zur dritten Antinomie allein
von der Natur gewirkt worden, oder von intelligenter Absicht verursacht
worden ist, selbst transzendental, ist aber eben nicht mit Gewißheit a priori
zu entscheiden. Ich sehe diese Schwierigkeit, das Ich einer anderen Person
als transzendentalen Gegenstand zu denken, doch aber nicht mit Gewißheit
einsehen zu können, mit dem Freiheitsproblem verknüpft: Die Spontaneität
des Ichs des anderen kann nur abstrakt als Potentialität gedacht werden,
also nur als abstrakte Bestimmung über das Gattungswesen als vernünftiges
Wesen, aber nicht als konkreter Zustand der intelligiblen Spontaneität
individuell und zugleich dogmatisch bestimmt werden. Nur auf diese
intensional im Gattungsbegriff des Menschen allgemein vorausgesetzte
Vernünftigkeit und Verständigkeit bezieht sich also die reine Intelligibilität
als analytische Metaphysik.
Für das hier auch noch verfolgte methodische Interesse ist aber zunächst
ausreichend, daß eine modallogische Definition der zunächst nur
hypothetischen transzendentalen Zeitbedingung des Geschichtlichen mit
zwei voneinander relativ unabhängigen Erklärungen der Konjunkturalität
gesichert werden konnte. Die erste Erklärung der Konjunturalität setzt sich
aus dem ästhetisch-psychologischen Ansatz, den ich hier von Robert
Zimmermann ausgehend skizzert habe, und dem, hier von Kierkegaard
ausgehend angezogenen semantisch-hermeneutischen Ansatz zusammen.
Mit Zimmermann wird die Anschauung des Artefakts und die
Vertauschbarkeit der Situation von Produktion und Gebrauch als
Kunstwerk oder Erfindung als Geschichtlichkeit des Bewußtseins
ausgehend vom Kunstschönen, aber doch im Rahmen einer allgemeinen
philosophischen Ästhetik, vorgestellt. Dies bleibt bei Zimmermann kein im
Individuum abgeschlossener Akt, vielmehr setzt die Fähigkeit des
Gebrauchs der Regeln, um aus einem Artefakt ein Kunstwerk (eine
Maschine) machen zu können, »Gesinnungsgenossenschaften« bei den
Verständigen voraus. Bei Kierkegaard geht es bereits um eine zentrale
Botschaft der Zivilisation, in welcher sich das Ensemble der Kulturation
zusammenstellen lassen können soll. Beide Perspektiven zusammen geben
die individuelle und die gattungsmäßige (binnenkulturelle) Basis der
Epistemologie ab, von der wir ursprünglich bei der Untersuchung unserer
Erkenntnisvermögen auszugehen haben. Anschließend setzt die
Objektivierung des Geschichtlichen unseres Denkens anhand deren
Rückübertragung auf die Zeitlichkeit unserer sinnlich gegebenen
Erscheinungen ein, was die zweite Erklärungsart der Konjunkturalität der
geschichtlichen Zeit darstellt. Es kann sich deshalb in der epistemologischen
Fragestellung selbst (der semantisch-hermeneutische Ansatz) auch nicht
allein um eine ontologische Differenz der Zeitlichkeit des Geschichtlichen
59
Die erste Frage ist, wie gerät die Biographie überhaupt ins Blickfeld des über
sich nachdenkenden Menschen? Findet erst der über sich nachdenkende
Mensch seinen Lebenslauf, oder muß der Mensch allererst über sich
nachdenken, wenn er das Geschichtliche in sich entdeckt hat;
zufälligerweise oder aufgezwungenermaßen? Wohl kann beides richtig sein,
wenn auch angenommen werden muß, daß typischerweise erst ein Schock
und der Zwang im Auf-sich-zurückgeworfensein fulgurativ eine
vergangene bedeutsame Szene ins Bewußtsein springen läßt. Diese
vergangene Szene muß für sich bedeutsam genug sein, um präzise im
Gedächtnis behalten worden zu sein, aber ein neuer Zusammenhang von
Ähnlichem oder eine neue Bedeutung im bekannten Zusammenhang kann
der Grund sein für die Wiedererinnerung. In einer zentrale Interessen
berührenden Situation entsteht eine neue Bedeutung, welche ohne die alte
Bedeutung der wiedererinnerten Szene nicht hätte entstehen können, aber
nunmehr entsteht ein neues Verständnis der Situation sowohl der alten wie
der neuen Szene durch die Möglichkeiten, das spezifisch Allgemeine oder
Typische der Situation, die beide Szenen aufeinander beziehen läßt, zu
erfassen. Ich sage nicht, daß alle Wechselbeziehungen im System von
Retention und Protention in der Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins bei Husserl derart ablaufen, ich sage nur, daß hier in
diesem speziellen Fall der Miteinbeziehung des Schocks durch den Wechsel
zu einer neuen oder umfassenderen Perspektive eine semantische Wurzel
(Ursprünglichkeit) des Verständnisses für Geschichtlichkeit liegt; geht man
von der transzendentalsubjektivistischen Perspektive aus, handelt es sich
dabei um die entscheidende und transzendentale Ursprünglichkeit.
62
Geht man von der Auffassung Karl Mannheims aus, die zwischen
»flächiger«, bloß klassifizierender und typologisierender Soziologie und
Kultursoziologie unterscheidet, welche die dynamischen Gründe der
Veränderungen der Gesellschaft behandelt, setzt Benjamin der Konzeption
Mannheims das Auge des Gewissens ein, ohne auf einen (transzendentalen)
Subjektivismus der Geschichtsbetrachtung und Bewertung methodisch und
systematisch zurückkommen, nur um dann ausschließlich vom
vereinzelnden Individuum ausgehen zu müssen. Die Perspektivik in
Benjamins Passagen ergibt sich zuerst eher aus dem archeologischen
Zugang zu den Formen der Umgestaltung von Paris zur modernen Stadt im
Neunzehnten Jahrhundert. Dieser nicht deutlich als theoretische
Voraussetzung weiters konstituierte Subjektivismus erlaubt nicht nur, ohne
Abarbeitung von subjektiven Konstitutionsschichten unmittelbar auf das
eigentliche, spontane Individuum in seinem ganzen Erleben gewissermaßen
64
Offensichtlich hat man es hier in der Vorstellung des Flanierens als typische
Haltung des Stadtbewohners zu seiner Umgebung (Stadtarchitektur als
Innenarchitektur) mit einer radikalen Erweiterung des Begriffs vom
Lebenslauf oder einer Biographie zu tun. Zweifellos tritt das Historische der
Zeit in der eingangs geschilderten Weise auch durch die Beschleunigung der
Zeitwahrnehmung, etwa durch Verbreitung einheitlicher Zeitzonen (in den
USA zunächst entlang von Bahnlinien), oder der Mechanisierung der
Arbeitswelt (Taylorismus) im individuellen Lebenslauf auf, sei es private
Geschichte oder das Eingreifen von gesellschaftlichen Umwälzungen in die
individuelle Biographie. Nunmehr wird aber mehr gefordert, nämlich nichts
weniger als die Einsicht in den Motor der Geschichte und damit in die
Schuldfrage. Ohne diesen Forderung selbst etwas wegnehmen zu wollen,
will ich die Untersuchung des »Motors« der Geschichte von der
Untersuchung der Verpflichtung der späteren Generation nicht nur
gegenüber der unmittelbar vorangegangenen, sondern zumindest aller
Generationen der vorangegangenen Epoche gegenüber, letztlich allen
Generationen, also der Gattung gegenüber, zunächst so lange wie möglich
getrennt führen, weil diese Einsicht erst nach dem Verständnis der
Geschichte wirklich möglich ist, und als solche dasselbe nicht zuvor
begründen kann.
Daraus ergibt sich als erstes Teilergebnis, daß der Telos nicht vollständig
durch heilsgeschichtliche Formationen des Phantasmas der geheilten
Geschichte interpretiert werden kann. Vielmehr ist dies zunächst nur eine
Phantasmagorie unter anderen, wie z. B eben die Selbstdarstellung der
65
Von hier aus scheint mir eine geeignete Stelle gefunden zu sein, die erlaubt,
den Unterschied in der Herangehensweise von Andorno und Benjamin
möglichst deutlich herauszustellen. Wohl kann man Adorno nicht
vorwerfen, die Kultursoziologie mit dieser Fassung der philosophischen
Ästhetik auf dem Gebiet der schönen Künste und ihren Relevanzen schon
verlassen zu haben, doch aber wird diese Position nur als Gegengewicht
zum Ansatz des historischen Materialismus zu verstehen sein können. Die
Idee, der Versuch der Selbsterklärung der Kunst sei als Motor der
künstlerischen Produktion und vor allem Stilentwicklung zu verstehen,
bringt erstens nicht deutlich genug zum Ausdruck, daß ursprünglich die
Kunst selbst schon deutend sein muß, und erst damit auch verständlich
werden kann, weshalb die Kunst ein derart ausgezeichnetes Medium für die
Kultursoziologie ist, und bringt zweitens zu wenig Instrumentarium mit,
um diesen Hegelianismus, der vor dem vermeintlichen Ende der Geschichte
in der Zusammenziehung der Geschichte in einem Jetzt der Monade auftritt,
(etwa auf Umweg über einen Vergleich mit Alois Riegel in der Sezession im
Wien der Jahrhundertwende vom Neunzehnten zum Zwanzigsten
Jahrhundert) selbst kultursoziologisch aufzuklären. — Habermas hingegen
wechselt zur Sprachphilosophie als erste Basiswissenschaft und macht die
Distanz zum historischen Materialismus perfekt.
67
Inzwischen ist auch aufgefallen, daß die Rolle der Kunstkritik und
insbesondere der Kunstgeschichte auf die Produktivität und Stilentwicklung
in den Künsten selbst von diesem obersten Prinzip der Wahrheit ausgehend
noch nicht vollständig ins Blickfeld gelangt. Im Anschluß an diesem Teil
innerhalb des Abschnittes »Zum Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes« geht
Adorno gezielt ins Empirisch-opake der künstlerischen Erfahrung
überhaupt zurück: »Wohl entragt einer solchen Idee [des Wahrheitsgehaltes
in der Idee], in ihrer philosophischen Konstruktion, dem bloß subjektiv
Gemeinten« (S. 194). Aber: »Der Gehalt ist nicht in die Idee auflöslich
sondern Extrapolation des Unauflöslichen; von den akademischen
Ästhetikern dürfte Friedrich Theodor Vischer allein das gespürt haben.«
Adorno demonstriert diesen Unterschied anhand der offensichtlichen
Divergenz zwischen den Ideen des Künstlers und den Ideen des
(sachverständigen) Publikums. Die Wahrheit beginnt so auch für Adorno in
der verständigen Ausübung des Künstlers zu liegen, der aber selbst nicht
verstehen kann, was es genau bedeutet. Adorno läßt hier einen Überschuß
im Halbdunkel zwischen den Intentionen des Künstlers und den Intentionen
des Publikums liegen, von welchem er hofft, ihn als Kunst- und
Kultursoziologe zu erben. — Immerhin sieht Adorno ein, daß insofern die
Kultursoziologie ein Teil der Philosophie wird bleiben müssen; vermutlich
mehr noch: die traditionelle Philosophie wie die »positivistische«, den
Konventionalismus reflektierende Wissenschaftstheorie wird als
Gegenstand der Kultursoziologie wieder zu einer authentischen Philosophie
gemäß der Idee der Wissenschaftlichkeit und Wahrheit transformiert
werden müssen.
Bei Benjamin, aber auch bei Adorno sind also Instanzen zu erkennen, die
den selbst von Friedrich Engels eingeräumten Freiraum zwischen
kulturellen Überbau und ökonomischen Unterbau zur relativ
selbstständigen Interpretation und Umgestaltung des historischen
Materialismus nutzen. Die Kultursoziologie gerät dabei zunehmend von der
68
Ich werde an geeigneter Stelle den Gedanken wieder aufgreifen, daß die der
Mengerschen Marktheorie zugrundeliegenden Urteilstheorie gerade entlang der
rudimentären Gruppensoziologie Mengers auf komplementäre Weise nach der
Berücksichtigung der Ästhetik der Ware verlangt, wie sie schon von Marx
vorausgedacht worden ist. Andererseits Verbindung zur außenpolitischen Kategorie
Carl Schmitts.
hat ein Gewand, S. 270), aber zuvor ist auch zu bedenken: Religion ist
gegenüber dem Mythos auch als Rationalitätstypus zu verstehen
(Entgötterung der Welt gegenüber dem einzigen Gott, vgl. Picht). Dazu steht
einerseits das Bilderverbot des Monotheismus gegenüber der Kunst in
Konkurrenz, andererseits soll der durch die Religion ein erstes Mal
depotenzierte Mythos eben diese als erste Vorform von Theorie das
historische Verhalten Gottes auslegen lassen. — Ist der Mythos durch Kunst
ersetzbar? Dazu Hegel: Kunst übernimmt schließlich noch die Aufgabe der
Metaphysik (Jamme, S. 271). — Hegel zur Religion: Die Trinität ist nur im
Begriff, nicht im Bild (Kunst) bewahrbar. Hegel schränkt die Intelligenz
überhaupt (insofern noch Kants intelligible Ursächlichkeit) aber auf die
Grenzproblematik des bloßen Verstandes zur Vernunft ein (die
»dialektische« Vernunft in der Selbstbewegung des Begriffes will Logik
bleiben).
»Die Metaphysik von Kunst heute ordnet sich um die Frage, wie ein
Geistiges, das gemacht, nach der Sprache der Philosophie, ›bloß gesetzt‹ ist,
wahr sein könne. In Rede steht dabei nicht das vorhandene Kunstwerk
unmittelbar, sondern sein Gehalt. Die Frage nach der Wahrheit eines
Gemachten ist aber keine andere als die nach dem Schein und nach seiner
Errettung als des Scheins von Wahrem. Der Wahrheitsgehalt kann kein
Gemachtes sein. Alles Machen der Kunst ist eine einzige Anstrengung zu
sagen, was nicht das Gemachte selbst wäre und was sie nicht weiß: eben das
ist ihr Geist.« (S. 198)
Das Kollektive ist naturgemäß für sich eine amorphe Vorstellung, die
zwischen historisch Gewordenem und demnach wieder Veränderbaren und
einer besonderen Art anthropologischer Konstanz, die im Kollektiven
zwischen Kultur- und Naturwesen in der Varianz der kulturellen
Entwicklung als auffindbar betrachtet werden kann, wiederum
unentschieden bleibt. Geht es nur um das Kunstwerk, kann sich das
sogenannte »Kollektive« auf eine subkulturelle Strömung beziehen, deren
75
Code außerhalb der »in-groups« nicht mehr verstanden wird. Wohl ist das
ein extremes Beispiel, und auch da wird ein Teil ungeordnet für einen
aufgeschlossenen, aber unverständigen Betrachter ahnend nachvollziehbar,
aber eben nicht artikulierbar bzw. von einer Aussage noch weiter entfernt
sein als die philosophische Wahrheit in der schon bekannten Kunst. Die
Rezeption der archaischen Kunst Schwarzafrikas in der klassischen
Moderne ist wiederum ein beredtes Beispiel für transkulturelle
Transformationen, die eine Fassung des sogenannten »Kollektiven« auch
dann als Vermutung vorstellig machen, wenn der außerkulturelle Einfluß
auf die Stilentwicklung historisch nur als Anregung für den
Symbolisierungsprozess des Archaischen, nicht wirklich primär als
nachvollziehende Verständnissuche intendiert war. — Die Idiosynkratie der
Assoziationsstränge macht diese allein noch nicht zu einer kollektiven
Vorstellung im Sinne einer kulturell allgemeinen Konvention mit
Tabucharakter oder gar zu einer transkulturellen Vorstellungsformation, die
aus sich selbst freilich gar keinen Anspruch darauf hat, jeweils selbst
historisch im kollektiven Feld der Assoziationen vorzukommen, sondern
zuerst zur Subjektivität der Methode zuzurechnen ist. Auf diesem Wege
kann die Möglichkeit der Verbindbarkeit divergenter Argumente, auch auf
Grund vertauschter Analogien, oder auf Grund kohärenter Argumente wie
im regelmäßig eingerichtetem Handel oder militärischen Strategien als
Versuch der Beeinflußung der eigenen Zukunft verstanden werden, welche
eine solche transkulturelle Vorstellungsformation eben erst schafft. Es geht
offenbar nicht nur um das Archaische an (und in der Moderne in) der Kunst
sondern komplementär letztlich auch um die Plastizität des politischen
Handlungsspielraumes, der etwa anhand der Konfrontation des Publikums
mit Absurdität logischer oder epistemologischer Natur für sich selbst
Bedeutung gewinnen kann (Fulguration).
Vielmehr besteht die Objektivität der Mimetik gerade in der Form der
Regung, darin besteht aber nicht selbst ihre philosophische Wahrheit; hierin
muß ich Adorno widersprechen. Es steht allerdings jeweils erst zur
Diskussion, auf welche Weise man dem mimetischen Vorgehen des
Ausdruck suchenden Bewußtseins (Geistes?) einen haltbaren Formbegriff
zumuten kann. Eben dieser wird von der Kultursoziologie häufig in der
Kunst gesucht. Insofern muß die Schlußaussage auch als die eigentliche
kultursoziologische Ergänzung aufgefaßt werden, als daß zwischen Regung
und Form der Regung gerade individualpsychologisch ein gesellschaftlicher
Aspekt selbstverständlich berücksichtigt wird. Was Adorno nun als
»geronnenen Prozeß« zwischen der puren Regung und deren Form
bezeichnet, wäre also der gesellschaftliche Prozeß auch in der wahren Idee
vom Kunstwerk, und diese Idee wird abermals wie im Idealismus zur
Objektivität — diesmal aber schon mit einigen Anschlußstellen zu einer
kultursoziologischen Betrachtung der Kunst versehen.
Ardono eignet sich diese Schwierigkeit schrittweise anders an: »Worauf die
Sehnsucht an den Kunstwerken geht — die Wirklichkeit dessen, was nicht
ist — , das verwandelt sich ihr in Erinnerung. In ihr vermählt sich was ist,
als Gewesenes, dem Nichtseienden, weil das Gewesene nicht mehr ist.« (S.
200)
Zurück zur Ästhetischen Theorie Adornos: Man erinnert sich, es war die
Rede, daß die Wirklichkeit der Kunstwerke für die Möglichkeit des
Möglichen zeuge, und daß das Nichtsein des Absoluten im und um das
Kunstwerk in der Methexis sich zuerst als das Gewesene zeigt. Doch
bedenkt Adorno auch das Nichtsein der Zukunft: »Seit der Platonischen
Anamnesis ist vom noch nicht Seienden im Eingedenken geträumt worden,
das allein Utopie konkretisiert, ohne sie an ein Dasein zu verraten. Dem
bleibt der Schein gesellt: auch damals ist es nie gewesen. Der Bildcharakter
der Kunst aber, ihre imago, ist eben das, was unwillkürliche Erinnerung
nach der These von Bergson und Proust an der Empirie zu erwecken
trachtet, und darin freilich erweisen sie sich als genuine Idealisten. Sie
schreiben der Realität das zu, was sie erretten wollen, und was nur in der
81
Kunst um den Preis der Realität ist. Sie suchen, dem Fluch des ästhetischen
Scheins zu entgehen, indem sie dessen Qualität in die Wirklichkeit
versetzen.« (S. 200)
In Frage steht aber doch auch nach Nietzsche noch immer, was unter
Realität der Gesellsellschaft nun zu verstehen sei: Eine der Aufgaben der
Kultursoziologie sehe ich darin, die Bedingungen der Epoche ausfindig zu
machen, in welcher die transzendentale Ursprünglichkeit der Grundfragen
des Zusammenhanges von Vergesellschaftungsform und Urteilsvermögen
mit philosophischer und gesellschaftlicher (überindividueller) Relevanz
auch über unser fragliches Gattungswesen hinaus entdeckt werden kann.
Aber es ist natürlich auch nicht die eigentliche Aufgabe einer
Kultursoziologie, den soziologischen Einsatz der Transzendentalphilosophie
ausfindig zu machen. Die Aussage des zuletzt gegebenen Zitates von
Adorno zielt auf etwas anderes: Der Idealismus vertauscht die Ideenwelt der
Kunst mit der Realität und zitiert damit die barocke Idee des
Gesamtkunstwerks inmitten der offensichtlichen Umwandlung des
gesellschaftlichen Paradigmas einer ereichbaren Konkretisierung der
prästabilierten Harmonie zur Beschleunigung zwischen
Fortschrittsoptimismus und Endzeiterwartung. Hierin kann man auch eine
Portion Selbstkritik an einen kultursoziologischen Ansatz ersehen: Wenn
man nicht die lebensweltliche Dimension des Daseins als Adressat des
Ideals der Kunst ansieht, sonderen eben — kultursoziologisch — das
jeweilige Ideal der Kunst zum Beispiel als Charakteristikum einer
bestimmten Epoche, dann kann man auch gerade von der Kultursoziologie
des Kunstschönen verlangen, sich einer Befragung nach ihren Idealismus zu
stellen. Von hier aus dürfte sich gegenwendig, zumindest der Auffassung
Adornos nach, die Kultursoziologie von Proust und Bergson unterscheiden,
indem bei diesen Autoren der Adressat des Idealismus das Lebensweltliche,
letztlich sie selbst, und, wie Michael Benedikt dies einmal genannt hat, in
aller Behaglichkeit der Theophagie hingegeben sind. Der Idealismus ist so
oder so sowohl Quelle der Darstellung der Reflexion wie auch fortwährend
Anlass zur Kritik des transzendentalen Scheines. Doch aber bleibt ein Rest
inhaltlicher Kritik: Selbstredend ist auch eine Kultursoziologie jederzeit zu
verdächtigen, sich im vergleichbaren Sinn »idealistisch« gegenüber der
Mannigfaltigkeit der kultursoziologisch feststellbaren Strata zu verhalten,
indem (abgesehen vom formalwissenschaftlichen Idealismus gegenüber den
82
Adornos Idealismus findet gerade noch in der Negativität der Kunst, in der
Behandlung des ästhetischen Scheins, Platz: »Auf dieser Höhe der Kunst,
wo ihre Wahrheit den Schein transzendentiert, exponiert sie sich am
tödlichsten. Indem sie wie nichts Menschliches sonst ausdrückt, muß sie
lügen. Über die Möglichkeit, daß am Ende doch alles nur nichts sei, hat sie
keine Gewalt und ihr Fiktives daran, daß sie durch ihre Existenz setzt, [ist:]
die Grenze sei überschritten. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, als
Negation ihres Daseins, ist durch sie vermittelt, aber sie teilen ihn nicht wie
immer auch mit. Wodurch er mehr ist als von ihnen gesetzt, ist ihre
Methexis an der Geschichte und die bestimmte Kritik, die sie durch ihre
Gestalt daran üben. Was Geschichte ist an den Werken, ist nicht gemacht,
und Geschichte erst befreit es von bloßer Setzung oder Herstellung: der
Wahrheitsgehalt ist nicht außer der Geschichte sondern deren Kristallisation
in den Werken. Ihr nicht gesetzter Wahrheitsgehalt darf ihr Name heißen.«
(S. 200)
Einerseits die Untersuchung des Künstlers als Prediger und Prophet seiner
eigenen Epoche (vgl. den mit den Rücken in die Zukunft stürzenden Engel
Benjamins), andererseits aber auch die Untersuchung der
Rezeptionsgeschichte, die sich bekanntlich nicht unbedingt mit den
Intentionen des Künstlers decken muß. Zwar wird die Reaktion des
zeitgenössischen Publikums eine Auswirkung auf die Orientierung des
Künstlers haben, sodaß Zimmermanns geistesgenossenschaftliches Modell
auch in dieser Frage anwendbar wird. Zimmermann behandelt den Rapport
zwischen den bürgerlich-romantischen Künstler und seinen Schülern und
seinem Publikum, der für ihn vorbildhaft für alle
Gesinnungsgenossenschaften ist. Allerdings sind nicht nur in der Kunst und
Kunstgeschichte die Abweichungen gerade bei längerer Wirkgeschichte oft
beträchtlich. Letztenendes kann sowohl von Wissenschaftsgeschichte,
Philosophiegeschichte wie auch von der Literatur- und Kunstgeschichte
gleichermaßen gesagt werden, daß ein nicht unwesentlicher Teil des
sogenannten Wissenschafts- und Kulturfortschritts, nicht nur durch kritische
Brüche oder gar dialektische Umstülpungen, auch nicht allein durch
versehentliche und unwissentliche Fehldeutungen, sondern durch relativ
freihändige Wiederaufnahme neu positionierter Formationen, die nur
eventuell und erst allmählich die dem Historiker schon von früher
bekannten Bruchlinien mit sich bringen, geschieht. Popper hat auf dieses
Potential mit seiner Methode der Verfremdung hingewiesen, die allerdings
den einen Nachteil hat, daß die Kriterien, ob und inwieweit die jeweiligen
Verfremdungen auch auf das neue Anwendungsgebiet passen (fit sind),
weitgehend ausblendet. Daß philologisch und hermeneutisch die
Interpretation zumindest in wesentlichen Partien falsch sein könnte, spielt
keine Rolle mehr, wenn die Umprägung die neue Situation zu
charakterisieren hilft: Die Geschichte scheint dann die historische Wahrheit
überholt zu haben.
Adorno hat offenbar den ersten Weg gewählt, und so den bürgerlichen
Mythos der Hochkunst, man muß sagen, auch mit einigen guten Gründen,
letztendlich perpetuiert. Immerhin hatte es Adorno mit der klassischen
Moderne in der Kunst zu tun, während wir uns bereits, wenn auch noch
kaum im Zusammenhang verstanden, doch schon in der Postmoderne
befinden. Adorno macht das spezifische Charakteristikum der klassischen
Moderne deutlich; ja noch mehr: daß trotz der weiteren Umwandlungen
seiner Perspektive, die, obwohl ihr Augenmerk auf die geschichtliche
Methexis gerichtet ist, und bei Adorno ihre intentionale Erfüllung —
unvollkommen genug — nach wie vor im einzelnen Artefakt einfach
vorausgesetzt hat, die Methexis der kunsthistorisch erkundeten Stilepochen
zu der postmodernen Perspektive der Entwertung des Artefakts zugunsten
der Serie ein letztlich unaufgelöstes Verhältnis besitzt.
5. Die Negationen des Scheins und die Geschichtlichkeit als Negat der
Zeitform des Seienden. Der Übergang von philosophischer Ästhetik zu
Kultursoziologie zu Kulturphilosophie als Bearbeitungsstufen der
Kollektivität der Methexis
Das letzte Wort über Adorno ist noch nicht gesprochen; von verschiedenen
Seiten kann Adorno bereits kritisiert werden: So von Mannheim, von
Benjamin, nicht zuletzt von Seiten des historischen Materialismus wegen der
zunehmenden Distanz zur konkreten Kritik ökonomischer Verhältnisse,
obgleich schon Engels zugestanden hat, das der ökonomische »Unterbau«
nicht alle Angelegenheiten des kulturellen »Überbaus« erklären wird
können. Doch selbst in eine historisch-transitorische Gestalt verbracht,
vermag Adorno, zwar abermals kritisierbar, aber doch, ein wesentliches
Charakteristikum der Moderne wie der Postmoderne auszumachen. Das zu
näher zeigen will ich im nächsten Abschnitt der kommentierenden Lektüre
unternehmen.
»Die Kunstwerke sagen, was mehr ist als das Seiende, einzig, indem sie zur
Konstellation bringen wie es ist, „Comment c’est“.« (S. 200 f.)
Das scheint mir aus verschiedener Hinsicht eine maximal zur Widerlegung
exponierte Aussage zu sein. Unbedingt richtig nach der bisherigen Analyse
86
auch gerade Adornos ist die erste Teilaussage: »Die Kunstwerke sagen, was
mehr ist als das Seiende.« Dies ist schon aus der besagten Differenz
zwischen Artefakt und deren geschichtlichen, wenngleich auch letztlich
immer wieder von selbst innerepochalen Methexis klar. Doch wird damit
zugleich in der rückwärts gewandten Methexis das Utopische am
Kunstwerk degradiert und die geschichtliche Dimension — so weit wie auch
immer rekonstruierbar — allein zur Erklärung der jeweiligen Gegenwart
benutzt. Adorno greift hier ergänzend einen topos seiner Überlegungen auf,
nämlich, daß die Kunstwerke das bislang dem kulturellen Selbstverständnis
Ferne näher bringen könnten (vgl. Aura Benjamins). Das »In-Konstellation-
bringen« ist aber wiederum kein spezifisches Merkmal der modernen Kunst.
Wie schon ersichtlich geworden, bleibt Adorno dabei auch nicht stehen:
»Metaphysik der Kunst erheischt ihre schroffe Scheidung von der Religion,
in der sie entsprang. Weder sind die Kunstwerke selbst ein Absolutes, noch
ist es ihnen unmittelbar gegenwärtig. Für ihre Methexis werden sie
geschlagen mit einer Blindheit, die ihre Sprache, eine von Wahrheit, sogleich
verdunkelt: sie haben es und sie haben es nicht. In ihrer Bewegung auf
Wahrheit hin bedürfen die Kunstwerke eben des Begriffs, den sie um ihrer
Wahrheit willen von sich fernhalten.« (S. 201)
»Ob Negativität die Schranke von Kunst ist oder ihrerseits die Wahrheit,
steht nicht bei der Kunst. Negativ sind die Kunstwerke a priori durchs
87
Gesetz ihrer Objektivation: sie töten was sie objektivieren, indem sie es der
Unmittelbarkeit des Lebens entreißen. Ihr eigenes Leben zehrt vom Tod. Das
definiert die qualitative Schwelle zur Moderne.« (S. 201)
Hier hat Adorno Nietzsche und Heidegger versammelt. Baudrillard hat den
Akt der Tötung sowohl auf die musealen Sammlungen von Kunstwerken
wie auf die archeologischen Sammlungen außereuropäischer (außer U.S.-
amerikanischer, etc.) Museen auf die gesamte Soziologie und Ethnologie
angewandt. In dieser Tiefe betrachtet, ist diese Art von symbolischer Tötung
nicht mehr allein ein Kennzeichen der Moderne sondern vielmehr ein
Charakteristikum der ganzen Neuzeit, das im Übergang von der Aufklärung
zur Moderne bereits die Episteme der Postmoderne grundgelegt hat. Diese
vermeintliche Diskrepanz löst sich auf, wenn man bedenkt, daß Baudrillards
vorrangig die Ethnologie als soziologische Leitwissenschaft im Auge hat,
während Adorno bereits als Kultursoziologe des Kunstschönen hinreichend
charakterisiert werden konnte. Adorno behauptet auch, daß diese
Beziehung zum Tod dem künstlerischen Prozess (zumindest der klassischen
Moderne) innewohnt, und erstellt keine Theorien über das Museale als
Charakteristikum der systematisierenden Aufklärung. Diese Beziehung zur
Vergänglichkeit und deren Stationen von (i) relativer weltlicher
»Unsterblichkeit« des Künstler, Autors, Erfinders, (ii) der Zerstörbarkeit des
Objekts: zumal die Materialität selbst auch zur Qualität des Kunstwerkes,
nicht nur des Artefakts zählt, ist das Kunstwerk schließlich selbst bedroht,
den Tod der Degradierung zur Dinglichkeit des Artefakts vor dessen
Zerstörung zu erleiden, und (iii) die Doppelgesichtigkeit der Wirklichkeit im
aristotelischen Wechselspiel von wirklicher Realität und möglicher Realität
im modallogisch gefaßten Existenzbegriff, welche sich im Schein des
Kunstwerkes widerspiegelt, bezieht sich abermals nicht völlig auf den
individuellen Existenzialismus. Das Mimetische verführt die Idee ebenso ins
Materiale, wie es das Material dazu bringt, Ausdruck von etwas anderem zu
werden: Das Mimetische ist deshalb die erste notwendige Illusion. Die
Konkretisierung der Methexis im Kunstwerk als Fortsetzung der Mimesis ist
dann schon die zweite unverzichtbare Illusion; die Vertauschung von Schein
und Realität, sowohl was das Gewesene wie was das Utopische der
Ergänzungsbedürftigkeit des Kunstwerkes angeht, also bereits im Schein des
Kunstwerkes, ist die dritte und individuell-konkretisierende Illusion, die den
Kern der philosophischen Ästhetik wie auch der Kultursoziologie ausmacht.
88
Die angesprochene Verschiebung liegt auf der Hand und ist auch schon
vielfach aus verschiedensten Perspektiven dargestellt worden. Ich habe
bereits andernorts versucht, diesen Paradigmenwechsel anhand der
verschiedenen Lösungsansätze des Verhältnisses von Allgemeinwohl und
Eigeninteresse in der Ökonomie und einer über eine bloß »flächig«
vorgehenden Soziologie hinausreichende Gesellschaftslehre, oder anhand
einer Änderung im Verhältnis von Logik und Psychologie in der
Urteilstheorie; schließlich anhand der Änderung der Stellung des
Individuellen zum Allgemeinen überhaupt vorzustellen. — Das Messer der
Denkökonomie Ockhams setzt sich sowohl gegen das Allgemeine wie gegen
das Individuelle in Schwung. — Die Beachtung denkökonomischer
Grundsätze (gewissermaßen eine Wiederentdeckung Machs) bleibt nicht die
einzige Bezugnahme auf Ockham. Wie schon Zimmermann in dieser
Hinsicht Leibniz ganz recht verstanden hat, als er ihn als Logiker zu den
gemäßigten Konzeptualisten (Boethius) gerechnet hat, der zwischen den
Realisten (Anselm von Canterbury, Albert Magnus) und Nominalisten
(Ockham) zu stehen kommt, ist eben die Art und Weise wie Ockham
Existenz nur als Individuelles und Konkretes auffaßt zu unterscheiden vom
Konzept des Individuellen und Konkreten der Existenz der Leibnizianischen
Monade, sofern diese bereits mit dem Totum, oder dem Ganzen in
Beziehung gesetzt ist.
Weit entfernt davon, darin einen Schlüssel erblicken zu wollen, der alle
Fragen der Abstraktions- und Informationstheorie, wie der Ideengeschichte
und Wissenschaftsgeschichte aufschließt, sondern allein als Charakteristik
des angesprochenen Paradigmenwechsels aufgefaßt, erwarte ich von hier
91
Evolution auf. Das Individuum und sein Allgemeines wird aber da wie dort
zwischen Individuum, Mitwelt und Umwelt vermittelt. Die Aufklärung der
Aufklärung führt also nicht durchwegs von der Frage nach der Natur des
Menschen weg, sondern relativiert diese Frage historisch, soziologisch und
evolutionstheoretisch. Der klassische Humanismus als Emanzipation des
Menschen vom verfälschten Dogma einer äußerlich gewordenen Kirche
läuft in Gefahr, nach den Kritiken am Subjekt der rationalen Metaphysik der
Aufklärung letztlich jeweils bloß den einen Zwangscharakter gegen den
anderen getauscht zu haben. Nunmehr droht die unkritische
Vorbildhaftigkeit der mathematischen Naturwissenschaft in
erkenntnistheoretischer Hinsicht bei allen Verdiensten dieser Entwicklung
in Hinblick auf Methodengewißheit das Zentrum der philosophischen
Anthropologie aus dem Auge zu verlieren — der Mensch selbst als
vernünftiges (der Vernunft fähiges) Individuum wird derart nur abermals
zu einer bloßen Illusion der Metaphysik erklärt. Was fehlt, um dieser Falle
zu entgehen, ist in der erkenntnistheoretischen Fragestellung zuerst die
Bestimmung des Horizontes des jeweils als Grundlage der Epistemologie
angegebenen Zeitmodus (vgl. das Ungenügen der Darstellung des
Regressus durch Kant hinsichtlich Kosmologie, Phylogenetik und
Ontogenetik in den Diskussionen der Antinomien der theoretischen
Vernunft) und zweitens die Bestimmung des Verhältnisses der Stellung des
Menschen einmal als Voraussetzung von Wissenschaft und einmal als
Produkt der Gegenstandsbereiche dieser Wissenschaften. Allerdings führt
die Stärkung der Stellung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen
einer von wo anders als aus der historisch-empirischen Erfahrung als
Individuen hergenommenen Idee vom Gattungswesen mitnichten von selbst
zu einer dem Menschen zuträglichen Vorstellung der Gesellschaftlehre;
hierin den Konzepten einer substantialen Sittlichkeit ähnlich, die in den
Verallgemeinerungen des Gattungswesens als Sozialwesen ihrerseits nur
allzu leicht einer Tendenz zur Ideologisierung in der Tradition der
politischen Theologie oder des Bewegungsgedankens der pietistischen
Gemeinde aufsitzen, die dem Individuum die Norm zum Individuum-sein
positiv vorschreibt. Vielmehr hat diese Verrückung des Menschen ins
Zentrum der Aufmerksamkeit zur Vergegenständlichbarkeit im
systematischen Mittelsein sowohl der politischen wie der ökonomischen
Zweckrationalität geführt und erst seine Natur fraglich werden lassen.
100
2. PHILOSOPHISCHE POLITIK ?
Kommentar zum Aufsatz
»Vom Gattungswesen zum Geist. Metamorphose beim frühen Hegel und beim jungen Marx«
M. Benedikt, Wien 1992
Das erste Kapitel ist eigentlich keine Einleitung oder Einführung zur Lektüre des Aufsatzes von
Professor Michael Benedikt, sondern bloß das Verzeichnis meiner erst allmählich einsteigenden
Lektüre einerseits und der dazu ergänzend gemeinten Kommentare und aus meiner Sicht
weiterführenden Überlegungen andererseits. Da ich bislang nicht imstand war, eine wirklich bessere
Hinführung zu der m. E. zentralen Problemstellung zu verfassen, die hier erst ab dem zweiten
Kapitel (das Gattungswesen als Garant des vinculum substantiale) zur Diskussion gestellt wird, auf
eine Hinführung aber nicht verzichtet werden kann, habe ich es dabei belassen.
Wohl nicht: Die flüchtige Anerkenntnis der Liebe kann sich komisch-
satirisch auflösen (S. 100); nicht aber die Übernahme des Familiengutes in
den Populationsverband. Hier noch auf der Stufe des Clans vorgeführt als
Zwischenstufe vom Frieden auf den Krieg zu; also als Einsatz des
privilegierten Wohlstandes im Krieg (zuvor eben immer als Einsatz der
Mittel in den Kriegsvorbereitungen).
Hegel scheint hier romantisch das Hobbesche Diktum mit — der nunmehr
bürgerlichen — Ritterlichkeit (die verbleibende Erinnerung der bleibenden
Demütigung durch den Adel) auszuschmücken und positiv auffassen zu
wollen. Ein politisch-pragmatisches Prinzip der Staatenlehre — die
Anerkenntnis zwischen Souveränen — wird so zugleich zum Prinzip der
transzendentalen Anthropologie erhoben.
(S. 101) Vgl. den Hinweis auf M. Riedel: Eher Hobbes als Rousseau.
Benedikt: Gleichwohl bricht die Rousseausche Konzeption einer — von Kant
bis in den Charakter der Gattung weitergeführten — communio primavea
als Voraussetzung aller communio mei et tui originare vehement durch.
— Deshalb halte ich zunächst die communio primavea zwar als eben diese
ursprünglich bleibende Voraussetzung der Anthropologie, doch bleibt ja die
Grenzbestimmung derselben mit vielen Fragen behaftet. Zwei davon
vermag ich anzureissen: Erstens, die reine Selbstbezüglichkeit setzt sich
selbst als Identität und ihre Positionen von Ich und Nicht-ich als
innerpersonales Ich und Du nicht als wirklich voneinander unterschieden,
zweitens bleibt so die communio mei et tui originaria als Form einer jeweils
erlebbaren Innerlichkeit neuerlich abstrakt und — allerdings nur
vermeintlich — der Schlüssel zu jener Hintertür, durch welche sich die
Autarkie (wenn schon nicht individuell, dann als personalisiertes
Staatswesen) als Illusion wieder einstellt.
(S. 101 u.) Hegel: Eine polis, das Volk, repräsentiere das Ganze vor den
Teilen (vgl. hingegen die obige Skizze des Verhältnisses von communio
primavea und communio mei et tui originare). — Dazu denke ich, daß das
Ganze, wenn es das Volk sein soll, nicht Individuen als Teile hat, sondern
Volksteile oder zumindest Familien. Überhaupt ist zu zweierlei zu fragen:
erstens inwieweit hier der Begriff des Volkes, zumal unter der Idee der polis
stehend, von der Staatsidee und der territorialen Integrität abgetrennt
werden kann, und zweitens, ob die ideal zu erwartende Unabtrennbarbeit
bedeuten muß, daß die empirische Aquipollenz dieser Begriffe als bonum zu
fordern ist.
Pufendorf ist insofern ein Vertreter der Vertragstheorie, als er die Väter der
Familien und ihren Zusammenschluß in moderater Form der Hobbschen
Idee für die Legalität der zentralen Staatsgewalt voraussetzt. Damit erst
ergibt sich die Möglichkeit einer allgemeinen Rechtssphäre, die dann auch
das Individium aus dem Familienverband verteidigt (zunächst gegen andere
Familien, dann auch gegen Übergriffe in der Familie). Ob dies historisch so
gewesen ist oder nicht, berührt die Vertragstheorie selbst nicht. Worauf ich
damit hinweisen will, ist, daß auch von der Rechtsphilosophie aus der
Engpass einer zentralen Gewalt, die selbst in ihren Entscheidung
unabhängig von den Familien (unparteiisch) sein können muß, bewältigt
werden muß. Ohne Souveränität nach innen nicht nur bedrohte
Souveränität nach außen, sondern auch eine bedrohte Rechtslage im
inneren.
Die Vertragstheorie hat aber dazu noch die Schwierigkeit an sich, den
Grund einsichtig zu machen, weshalb die Söhne und Enkel der Zustimmung
ihrer Väter folgen sollten. Das ist aber nicht wenig paradox: zuerst wurde
die Vertragstheorie dazu benutzt, um den gefährdeten Frieden zwischen
zentraler Staatsgewalt und dem Volk durch die rationale Einsicht
gegenseitiger Abhängigkeit zu sichern, nunmehr wird die so oder so
historisch gewordene Vertragstheorie zur Absprungsbasis der Enkel, den
Gesellschafts- und Generationenvertrag zu bezweifeln. Das hat zwei
gegenläufige Gründe: Erstens ist die Stelle der »Väter« innerhalb der
»Familien« durch die Rationalisierung der zentralen Staatsautorität
inzwischen dem gleichen Rationalisierungsprozess ausgesetzt worden und
zweitens gehören die »Väter« nunmehr nicht länger allein zur »Familie«
sondern geraten, zumindest im Modell des Gesellschaftsvertrages, in die
Nähe zum Kabinett der Staatsautorität. D.h., die Interessen der »Väter«
decken sich nicht mehr (oder nicht mehr primär) mit den Interessen der
»Familien«, sondern sind selbst schon dem Allgemeininteresse unterworfen.
105
(S. 103) Kojève: Die Fixierung auf die abstrakte Tauschform abstrahiert von
den partikularen sozialen Figurationen. Benedikt fordert eine
Gleichbehandlung von Technik, Arbeitsteilung, Institutionen (etc.), um alle
Relationen des erweiterten Gattungswesen zu entwickeln und so auch das
urwüchsige Substrat des Gattungswesens zu zähmen.
(S. 114)
»Der Motor dieses Gattungswesens, als reale Begierde vom Marx der Jahre
1843-1845 mehrfach ambigue mit Genuß oder Geist angesprochen, gerät
allerdings in den logisch-strukturellen Alternativen der Entfremdung in eine
mißliche Lage: Die Strukturdifferenz im Sinne des Eigennutzes (Wir haben
jeder nur für uns produziert) und der Entschlüsselung und Überwindung
der Entfremdung (Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert) gerät
zwischen Extremen nochmals in die Fänge der real abgeleiteten
naturalistischen Logik und Dynamik des sich verkehrenden
gesellschaftlichen Genusses (Geistes). Marx dreht also Hegels redupliziertes
»Im-anderen-bei-sich-Sein« als Selbstgenuß des Geistes, Hegels Prinzip
107
»Es fehlte ihm also Methode und Konzept, die Differenz zwischen der
Darstellung gesellschaftlich-realer Verhältnisse, also den wirklichen
Verhältnissen (eben auch der sich der Darstellung des Ideals entziehenden
historischen Situation) einerseits und den Strukturen anthropologischer
Relevanz andererseits zur befreienden Gestaltung des Gattungswesens zu
exponieren.« (vgl. S. 115, 3. Abs.)
Insofern ist die Existenz des Marktes eine reduzierte Fassung des vinculum
substantiale, weil der abstrakte Tauschwert am Markt ebenfalls als Spiegel
dient, allerdings nicht des Gattungswesens, sondern des abstrakten
Tauschwertes als abstraktes Wesen des Wertes (pretium) einer strikt als
produzierend und tauschend organisiert gedachten Gesellschaft. Diese
Perspektive kann nicht wegen der an sich zu recht bestehenden Kritik an
den Beschränktheiten dieser Perspektive aus dem Modell der Gesellschaft
eliminiert werden; und das nicht nur, weil die realen politischen
Machtverhältnisse dies nicht erlauben würden (bzw. auch nach einer
Revolution nicht vollständig zerschlagen werden könnte), sondern weil die
Ökonomie ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Prozesses ist.
Daß diese selbst im wesentlichen eine kapitalistische Ökonomie ist, halte ich
für großflächige und komplexe urbane Gesellschaften noch für einige Zeit
nicht für veränderbar, wobei noch zu bedenken ist, daß die Modelle nicht-
kapitalistischer Ökonomie nicht nur kleinregional und nur mit geringem
Außenhandel denkbar sind, sondern auch die Tendenz besitzen werden, die
allgemeinen öffentlich-rechtlichen Strukturen über den ökonomischen
Bereich hinaus zu verengen.
Allerdings bedeutet diese reduzierte Fassung auch nicht mehr jenes »Wir
haben nur für uns produziert«, aber auch nicht das Ganze irgendeiner
Gesellschaft, sondern nichts anderes als nur das Ganze des Marktes. Die
Metaphorik Marxens beruht hier jedoch nicht auf Verhältnisse einer
entwickelten Industriegesellschaft, in der die Wahl zwischen verschiedenen
Produkten gleicher Gattung flächendeckend gewährleistet ist, sondern geht
von einem nur gedachten Modell, wo die produzierende Gemeinschaft ihr
Produkt im wesentlichen selbst konsumiert, aus. Die moderne Gesellschaft
scheint aber nicht als Gemeinschaft zu produzieren (»Gesetzt, wir hätten als
Menschen produziert«). Es ist also die Frage zu stellen, wie der Umstand
beurteilt werden kann, daß zwar diese Gesellschaft ökonomisch schon
längst nicht mehr nach dem Grundsatz »Wir haben nur für uns produziert«
110
funktioniert, aber gerade nicht nach dem Grundsatz »Gesetzt, wir hätten als
Menschen produziert« sondern nach den Prinzipien bloßer Marktgesetze.
Der bloß erweiterte Egoismus des Eigennutzes einer abgeschlossenen
Gemeinschaft wurde zunehmend vom vinculum substantiale ideale des
Marktes verdrängt, anstatt zur »moralischen Verbesserung« der Gesellschaft
zu führen.
Demgemäß kann die Tatsache, daß die Prinzipien des Marktes den als
Prinzip des erweiterten Eigennutzes interpretierten Grundsatz »Wir haben
nur für uns produziert« in der Ökonomie weitgehend verdrängt haben,
auch dahingehend interpretiert werden, daß es das dem realen
Gesellschaftsprozess angepaßtere Prinzip zur Organisation von Gesellschaft
ist. Darüber hinaus ist weder das vinculum substantiale ideale als
Relationsgefüge qualitativer Totalität widerlegt worden, noch endgültig
bewiesen, daß die Prinzipien des Marktes — als vinculum substantiale
111
Wie Benedikt also deutlich macht (und Castoriadis gezeigt hat) umfaßt das
vom philosophischen Marx umrissene vinculum substantiale des
Gattungswesens Produktion und Tausch, aber nicht die Bedingungen
gesellschaftlicher Institutionen überhaupt.
Will man sich noch bei der idealen Darstellung der anthropologischen
Prinzipien Marxens aufhalten, die das Ich des Formulierers als Lehrer, den
Gebraucher des Produktes als Schüler in Hinblick auf die Hinführung zum
Ausblick auf das Gattungswesen vorstellen lassen, so hätte sich Marx doch
anthropologisch nicht über Hegel hinausbewegt; also zwischen der Analyse
nicht nur der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern auch der
ökonomischen Gesetze, welche die lebensweltliche Wirklichkeit immer
schon bestimmt haben, einerseits und anthropologischen Anspruch
andererseits nur die Kluft sichtbar gemacht, nicht aber für dieses Dilemma
einen grundsätzlichen Lösungsansatz vorgeschlagen. Vielmehr geht Marx
desweiteren in die Analyse der Besitzverhältnisse der Produktionsmittel, die
zu einem System verschiedener Märkte führt. Für die Ökonomie — auch als
Gesellschaftswissenschaft — wird die Analyse deren Wechselbeziehungen
entscheidend; Marx dürfte anfangs die Bedeutung des Marktes von
Unternehmen (bereits als Einheit von Produktion und Marktbearbeitung)
und des Finanzmarktes unterschätzt haben, obgleich gerade die Analyse
der Entwicklung des Finanzmarktes später zu seinen bleibenden Arbeiten
zum Kapitalismus gebleiben sind.
Benedikt setzt die Untersuchung hier noch ein Stück weit fort und skizziert
die aufsteigende Reihe von individuellem Eigennutz und Gruppenegoismus
zum Gattungswesen: Sofern in Hegels Entwürfe von 1803-04 (den zum Staat
konservierten Volksgeist) »noch die Dynamik des Gattungswesens mit im
Spiele ist, handelt es sich für unsere Interpretation aber ein mehrfaches
Durchbrechen des Geistes als Selbstgenuß und dessen „wiederholte
Spiegelung“ in gesellschaftliche Bande der Geschlechterverbindung, der
Gemeinsamkeit eines Volkes in Territorialbesitz, Sprache, Arbeit und
Stammesgemeinschaft, sowie mit Bezug auf die Divergenzen und
Assoziationen der Rassen und Völker im Wettlauf wie immer gebrochen
113
der Idee der »realen Mitte« ein Kalkül der wechselseitigen Verbindlichkeit
zu geben: jeder nach seinen Fähigkeiten und jeder nach seinen Bedürfnissen.
Daß diese ideale Forderung von einer konkreten und strikten
Verbindlichkeit der Wechselseitigkeit absieht, muß doch heißen, daß
diejenigen, die geringe Bedürfnisse und große Fähigkeiten haben, von der
konkreten Erfüllung der Wechselseitigkeit, also von ihrem konkreten
Eigennutz, absehen. Freilich sehen sie nicht vom geistigen Genuß, für einen
anderen produziert zu haben, ab. Jedoch ist in der Tat abermals zu fragen,
ob die philosophische Kritik nicht die fatale Neigung hat, das individuelle
Tugendideal als eben bloß individuell bleibende Norm gelungener
Vergesellschaftung vorzustellen. Oder philosophiehistorisch gleich kritisch
formuliert: Zeigt nicht gerade die Interpretation des jungen Marx des
vinculum substantiale ideale als Gattungswesen jene Schwäche Leibnizens
auf, womöglich nicht verhindern zu können, daß eben das Optimum
zwischen felicitas publica und beatitudine erstens bloß bürgerlich im
objizierten Selbstgenuß der Erhabenheit seiner selbst als Verleiblichung des
ideal gesetzten Gattungswesens aufgeht, und zweitens nochmals andauernd
gefährdet ist, zum bloßen nationalen, regionalen, stammesgeschichtlichen
Gruppenegoismus zu degenerieren?
Die Schwierigkeit, die Benedikt im letzten Satz des obigen Zitats skizziert,
dürfte aber unhintergehbar sein: »Während sich darin „Gattungswesen“ in
„wirklichen Geist“ auflöst, bleibt das Substrat, die in Arbeits- und
Geschlechtslust zu befriedigende Begierde nun der Dialektik des bloß
einseitigen Werdens zu sich (ohne Logik des Von-sich-Absehens)
ausgeliefert.« (S. 13) Das heißt, daß das Individuum seine öffentlichen und
familiären Rollen nicht (mehr?) mit der Intimität der Vollzugsakte
zusammenbringt. Konnte aber jemals ohne Symbole die glückliche
Übereinstimmung von Tätigkeit und Betrachtung garantiert werden?
Vielmehr hat die Vereinzelung des durchschnittlichen Individuums,
eingeleitet durch sein nunmehr öffentliches Verhältnis als Bürger zum Staat,
nur ein immer bestehendes und auch immer bestehen bleibendes, also
existentielles Problem allgemein (kollektiv) zu Bewußtsein gebracht. Nur in
der Betrachtung greift der »wirkliche Geist« über das Individuelle in die
Gesellschaft hinaus, in der Tätigkeit bleibt das Individuum bei sich und
seinem Gegenstand; gleichgültig wie das Verhältnis zum Gebraucher des
Produkts reell auch immer hergestellt wird.
115
Nun ist bemerkenswert, daß Benedikt von den künstlichen Relationen von
Arbeit, Tausch und Anerkenntnis des Besitzes spricht (S. 112), die
transzendentalanthropologische Relationen aber mit abstrakter Arbeit,
abstraktem Tausch und abstrakter Technik bezeichnet worden sind (S. 96).
Abgesehen davon, daß einmal von Anerkenntnis des Besitzes und andermal
von abstrakter Technik (immerhin der Besitz von Vermögen, vgl. auch
Lockes Übergang vom Kollektivbesitz zum Privatbesitz durch Bearbeitung)
die Rede ist, ist der erste entscheidende Punkt die Ursprünglichkeit der
transzendentalanthropologischen Relationen gerade im Gegenverhältnis zu
der nunmehrigen Künstlichkeit (Allgemeinheit) der Relationen der
aufgestuften Formen sozialer Konfigurationen. Der zweite entscheidende
Punkt ist die Beobachtung, daß allem Anschein nach gerade mit der
Ablösung der einfachen Aufstufung der Gemeinschaftsformen in der
Reichsidee durch das künstliche Relationsgefüge in der Staatsidee das
letztere immer nur die jeweiligen Grenzen der Anwendung der abstrakten
Relationen der Transzendentalanthropologie im Rahmen der im Zuge der
künstlichen und damit auch der je historisch-empirisch verallgemeinbaren
Relationen ist.
I. Zu den Erfahrungsgrundlagen
Die Überlegungen gehen von zwei Ausgangslagen aus: Die erste ist
charakterisiert durch das Interesse an der Bewußtseinstheorie im Übergang
von Perzeption, Apperzeption und der Evidenz des Moralischen und
Sittlichen zwischen Empfindung und Urteil. Die zweite Ausgangslage ist
charakterisiert durch das Interesse an der Gesellschaftstheorie im Übergang
von Soziologie, Ökonomie und Politik. Beide Horizonte zeigen einen
Übergang in den Topoi der Werte, von welchen die genannten Systeme
bestimmt werden; insbesondere die jeweils letzte Ebene, Moral und Politik,
eröffnet einen Horizont der Diskussion jenseits der bloßen
Nützlichkeitserwägungen im Horizont des Rückflusses von Investitionen.
Schließlich ist der Wandel in der Auffassung Kantens bezeichnend, der sich
schließlich in den Neunzigern zumindest die Umsetzung des sittlich als
richtig Eingesehenen in der Gesellschaft ohne Gottes Hilfe nicht mehr
vorstellen konnte.
Derart stellt sich mir die traditionelle Aufgabe, aus der Psychologie der
Vermögenslehre die Prinzipien der Logik, Physik und Ethik abzuleiten, aber
auch die postidealistische Aufgabe, aus der Soziologie die Prinzipien der
Logik, Ökonomie und Politik abzuleiten.
Die Moral ist individuell und familiär, die Ethik ist sozial und
gattungsmäßig; diese Einteilung hat die Schwäche, daß die Ethik aus der
Psychologie stammt. Dort wurde die Moral idealistisch auf den
Gattungsbegriff hin abstrahiert; nunmehr muß der Regelbegriff des
Verhaltens nicht allein aus dem Verhältnis einerseits der Individuuen im
Rahmen der Generationenabfolge und andererseits untereinander als
»Peers« oder als Geschlechtergemeinschaft und potentielle soziale Keimzelle
einer Familie (noch zu ergänzen um die Frage der Erbfolge) zu einer
systematischen Erörterung gebracht werden, sondern es ist nun zu allererst
der Horizont der Soziologie in den Blick zu nehmen, der über eine
119
Die andere Frage ist: Was ist die Ursache der Entwicklung der feudalen
Reiche nach deren kriegerischen Gründung? Welche Entscheidungen tragen
zum Erfolg der Gesellschaftsentwicklung bei? Wirtschaft und Handel sind
jedenfalls im Zuge der Effizenzsteigerungsprogramme bis zum aufgeklärten
120
Ich glaube, daß die gesellschaftlichen Institutionen zwar von uns erzeugt
und erhalten werden, aber dennoch eine relative Selbstständigkeit besitzen
und gesetzmäßigen Prozessen unterworfen sind, die uns, zwar anders als
die physische Natur, aber doch ähnlich wie diese, im Rücken liegen.
Darüberhinaus glaube ich, daß diese Kräfte vorwiegend ökonomischer und
soziologisch einsehbarer Dynamik, uns erst — gewissermaßen als unser
gesellschaftlich Unbewußtes — in die Lage versetzt haben, uns aus
(angeblich gattungsmäßig selbstverschuldeter) Unmündigkeit in die
Position des aufgeklärten und abgeklärten Bewußtseins zu bringen, welche
uns erst befähigt, uns über die wirklichen Gründe der Aufklärung (d. i.
Aufklärung der Aufklärung) klar zu werden. Es ist m. E. diese Dynamik bis
heute ungebrochen, und zweifellos zu kritisieren, gerade weil die dieser
Dynamik zugrundeliegenden Lebensmächte auch auf die unteren
Begehrungsvermögen beruhen, die Kant in seinem Rigorismus schon als
121
III. Prinzipien der »sozialen« Anschauung und Prinzipien der Sittlichkeit als
Beurteilungsprinzipien
Meine abschließenden Fragen, bevor eine Ausweitungen des
Diskussionsrahmens die konstituierenden Differenzen endgültig
verwischen:
diese Art der Präzisierung die Wertvorstellung ausgehöhlt wie das Objekt
der qualitativen Einheit des Begriffes durch die Kriterien der Vielheit der
Folgen und deren Rückführbarkeit oder wird mit dem Wertbegriff bloß ein
»ens lucationis« (in freilich anderem Zusammenhang das ultimative Beispiel
Brentanos für ein ens rationis sine fundamento in re) kritisiert, welches sich
als Ersatzhandlung des eher vom Verlust der prästabilierten Harmonie als
vom Verlust des Ideals bedrohten Bewußtseins und dessen Ersatzprodukt
sich als nichts weiter als eine etwas abstraktere Sorte von Satyren oder
Einhörner herausgestellt hat?
Geltung der Behauptung, es sei das Bessere oder das Schlechtere des
Möglichen der Fall, sondern eine solche Behauptung verlangt eigens nach
einem Maßstab der Beurteilung.
Ist damit das Prinzip der Sittlichkeit zum »leeren Zeichen der Gesellschaft«
(Broch) geworden, das ohne Ausschöpfung aller philosophischen
Möglichkeiten, die Totalität der Vernunft als das Prinzip der Sittlichkeit a
priori enthaltend zu denken, nicht einmal mehr als solches bemerkt werden
würde? — Oder muß komplementär zum letzten Punkt der Überlegung
sogar gefragt werden, ob das Prinzip der Sittlichkeit nicht die Möglichkeit
des Erfolges hinsichtlich des dezenten (oder auch des nackten) Überlebens
schmälert: Wäre das ein Grund, auf diese »vernünftigerweise« zu
verzichten, und welche Quelle der Regeln des sozialen Verhaltens des total
vergesellschafteten Menschen wäre im ersten Fall dann aufzusuchen?
IV. Der Wert (pretium) als das Prinzip der Regeln des Spieles — ist demgegenüber
dignitas bloßer Stil und somit Ästhetik?
Die für Broch nicht gelungene Umwandlung des Wertehorizontes eines
sittlichen Gesellschaftsbegriffes in zivile Gesetze der nachrevolutionären
bürgerlichen Bühne und deren Helden (Unternehmer, Buchhalter, Erfinder)
sei also hauptsächlich deshalb mißlungen, weil die verbindliche
Vereinbarkeit von Regeln überhaupt verloren gegangen ist. — So könnte
man nach der Idee, daß Problem des Werteschwundes liege zuerst im
Verlust der prästabilierten Harmonie, immerhin vermuten. Die Axiomatik
der Werte wird damit im Zuge der daraufhin folgenden logischen
Formalisierung deren Verhältnisse entweder zu willkürlich gesetzten oder
zu historisch erklärbaren Annahmen herabgesetzt. Diese nur mehr
historisch aufgefaßten Erklärungsansätze können nun
geisteswissenschaftlich beginnen oder gesellschaftswissenschaftlich
(Ökonomie und Soziologie als empirische Kernwissenschaften) und finden
schließlich das Gleichgewichtstheorem als wertfreies Prinzip der Regelung.
Die erste — philosophische — Frage hätte nun zu untersuchen, ob mit der
Darstellung der historischen Umstände einer wertesetzenden Entscheidung
in der Tat auch eine wertebegründende Argumentation enthalten ist, oder
ob damit wenigstens einsichtig werden konnte, warum eine Epoche gerade
diese und nicht andere Werte in den Vordergrund gestellt hat bzw. warum
gerade diese und nicht eine andere Wertvorstellung »entdeckt« worden ist.
Die zweite philosophische Frage betrifft das Problem, ob es möglich sei, die
verschiedenen historisch gefundenen Werte nochmals (philosophisch) zu
kritisieren und in ein System der Werte zu bringen (Reich der Zwecke
überhaupt). Das zieht aber die nächste, völlig gegenläufige Frage nach sich:
Kann das Ideal des Menschen nunmehr nur als Gattungswesen, aber nicht
als Individuum vorgestellt werden?
Daß die »massa damnata« auf der bürgerlichen Bühne in Erscheinung tritt,
kann — im Gegenzug zur in Apokalypsen denkenden Todessehnsucht —
kein verläßliches Kennzeichen des Werteverfalls sein; vielmehr ist für die
bürgerliche Bühne nur neu, daß das Proletariat selbst auch zum Publikum
wird, an das man sich wendet. — Marx hat nun schon darauf insistiert, daß
in einer bürgerlichen Gesellschaft, die nur nach den Regel des Besitzes und
des Eigentums gespielt wird, der Besitz der Produktionsmittel angeblich die
einzige Garantie sei, als handelnde Person nicht nur in der revolutionären
Uraufführung auf der bürgerlichen Bühne in Erscheinung treten zu können.
Diese klare Analyse kann nicht durch die nebulose Forderung der
Vergesellschaftung der Produktionsmittel zunichte gemacht werden. Aber
129
auch dem Entwurf Marxens ist der Vorwurf zu machen, nur den
ökonomischen Ausschnitt aller gesellschaftlicher »Relevanzen« in Betracht
gezogen zu haben; und schließlich nichts als die Spiegelung der
Hauptpersonen des vorrevolutionären bürgerlichen Schauspiels in der
massa damnata vor unseren Augen entstehen lassen zu haben.
Einer so scharfen Zuspitzung will man nun nicht Vorschub leisten: Ich
wagte also zuvor in etwa die These, daß der eigentliche Grund der
Prophezeiung des Scheiterns der je partikularen Vernunft der vormalige
Verlust der prästabilierten Harmonie war, welche den verläßlichen Aufstieg
einer individuell oder gattungsmäßig überhaupt als notwendig erachteten
Einzelhypothese ins Reich universielle Gültigkeit — auch nicht zuletzt für
Werte — garantiert hat. Das hat sich nun so als nicht richtig herausgestellt:
Denn ist es nicht so, daß der Wert des beschränkten Spieles von
Unternehmer, Buchhalter und Erfinder gerade nicht an der
Verallgemeinerungsfähigkeit scheitert, also gerade durchaus nicht
Angelegenheit der bloß partikularen Vernunft ist?
Daß eine Maxime fähig ist, zum allgemeinen Gesetz zu werden, ist nur die
transzendentallogische Bedingung im Sinne einer Eigenschaft des sowohl
aktuell und historisch in der sozialen »Anschauung« vom gesellschaftlichen
130
V. Die »prästabilierte Harmonie« Leibnizens oder die »invisible hand« von Adam
Smith?
Die Beschränktheit der modernen Vernunft ist also nicht allein mit der
Gegenüberstellung von partikularer und allgemeiner Vernunft darzustellen
— dem wäre so, ginge man noch von ontologischen Affirmationen oder
Negationen innerhalb der prästabilierten Harmonie aus. Die Beschränktheit
der modernen Vernunft sieht sich einem noch viel schwierigeren Problem
gegenüber. Abgesehen von der Tatsache, daß unter gewissen (historisch
noch genauer zu nennenden) Umständen und begleitenden Bedingungen es
der These Adam Smith, daß die Laster der Individuen sich gemäß der
»invisiblen hand« zum empirischen Allgemeinwohl verwandeln, erst in der
zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts vergönnt war, sich (nicht
ohne Hilfe der USA nach dem Zweiten Weltkrieg) auch im kontinentalen
Europa umfassend zu bewähren, ermuntert uns die hereinbrechende Gestalt
eines »Notstaates« aufgrund globalen wirtschaftlichen Wettstreites nun zu
einer umfassenden Kritik an diesem Fortschritt. — Hat man sich nur
vergewissert, daß die Kapitalismuskritik und die Faschismuskritik bei aller
sachlichen Verschiedenheit der Aufgänge nicht nur mittels historisch
zufälliger Umstände zusammenhängen, so darf man auch die als solche zu
würdigenden »Fortschritte« desjenigen Umbruchs in der gesellschaftlichen
Entwicklung in die Kritik miteinbeziehen, dessen Ursprung einerseits als
politische (Frankreich) und industrielle (England) Revolution bezeichnet,
andererseits späterhin von mir gemeinsam als Verlust der prästabilierten
Harmonie gekennzeichnet worden ist. Dieser Verlust ist nicht zuletzt durch
die damit erfolgten ungleichzeitigen Beschleunigungen der Entwicklung der
verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche bemerklich geworden.
Allein das scheint schon Anlaß für den Glauben sein zu können, daß im
Rahmen der Frage, wie macht man sich die Plastizität des Menschen
zunutze, einstweilen Platz für die politisch gemeinte Frage bleibt, in welche
Richtung sich der Mensch als Gattungswesen entwickeln solle. —
Offensichtlich bleibt auch historisch zumindest die Diskussion um das
Menschenbild weiterhin in Mode.
Das gesuchte Schema der Idee, dem gegenüber hier eben das logische Ideal
zuerst als defizient weil bloß mit sich selbst ident, schließlich auch das
romantische Ideal (in der Form der anspruchslosen Ekstase des Im-anderen-
bei-sich-seins) als defizient gekennzeichnet wurde, soll aber als
Gleichgewichtstheorem im Rahmen der Konkurrenz der Arten
untereinander als Vorläufer des Altruismus verstanden werden können (vgl.
die Megatrope Leibnizens in der Darstellung von Pfersmann). Die Frage ist
da: gibt es einen Altruismus der Parasiten (Serres)? M.a.W., das abstrakte
Konzept des vinculum subtantiale als Kalkül könnte als solches invariant
gegenüber der Unterscheidung von »point de vue« (der eigenen
Vervollkommung oder der erfolgreichsten Strategie des »nackten
Überlebens«) und »place d‘autruy« (als von sich selbst und seiner
Vervollkommnung absehen können) bleiben. Es mag auch sein, daß das von
Kahle über Zimmermann transportierte Verständnisses des vinculum
substantiale als Kooperationsform inmitten der Konkurrenz der
Gesinnungsgenossenschaften im Sinne des jeweiligen »point de vue« über
strategische Überlegungen nicht wirklich herausgekommen ist; bzw. daß die
fünf ästhetischen Ideen der praktischen Vernunft Herbarts die Vermittlung
zwischen den Genossenschaften im Ausgleich nur zum nichtssagenden
Kompromiss der sich selbst nicht von der Stelle bewegenden Monade
zwischen je teilhabenden Individuum und gesellschaftlich legitimierter
Definition des Gattungswesens (und damit zum analytisch je erst zu
bestimmenden Anteilhabe am Produkt des vorausgesetzt gedachten Bandes)
geführt hat.
Wenn auch die Ästhetisierung der Werte (so durch Herbart und
Zimmermann im Österreich des 19. Jahrhunderts vorbereitet) letztlich nur
dem Versuch erkenntnistheoretischer Vergewisserung der ethischen Werte
entspringt, die nicht länger dem historischen Wechsel der konkreten
empirischen Gestalt des Gattungswesens unterworfen sein sollen, führt
dieser Weg nur zu drei Holzwegen: (a) zur Stabilisierung des status quo,
(b) zur Reduzierung der Konzepte auf die jeweils epochemachende
gesellschaftliche Dynamik, (c) zum Avantgardismus. — Das Programm der
Ästhetisierung schließt also die Konzepte des »point de vue« fraglos, die des
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»place d‘autruy«, wenn überhaupt, nur teilweise ein. Die Konzepte des
vinculum substantiale wären demnach unter zwei Gesichtspunkten zu
untersuchen: Erstens inwieweit sie nicht einfach die Doktrin der
transzendentalen Urteilskraft (das Schematismuskapitel in der K.r.V.)
ersetzen (30. Brief Leibnizens an Des Bosses), und zweitens inwieweit die
apperzepierende Monade doch erst von einem Schema des »place d‘autruy«
(einer anderen apperzipierenden Monade — der Blick des anderen bei Satre)
und nicht von der Intersubjektivität garantierenden Gemeinschaft aller
apperzipierender Monaden von ihrem Schattendasein als bloß gedachtes
Substrat der eigenen formalen Naturerkenntnis losgesprochen wird. Erst im
letzten Fall wird das vinculum substantiale das gewünschte Kalkül liefern
können. Dieses Kalkül sollte befähigt sein, die Hoffnung der Aufklärung
wenigstens hinreichend zu nähren, eine säkulare Form der schon auf
religiöse Weise ausgesprochene Hoffnung auf Befreiung vom bloß tierischen
Gattungswesen auffinden zu können. Das sollte (hier noch nicht von der
Einsicht, was Natur und Geschichte aus uns gemacht hat, entlastet) zuerst
aber auch noch gegenüber den Anmaßungen der Heroen, schließlich noch
gegenüber dem Übermaß der sich jenseits jeder »prästabilierten Harmonie«
verselbstständigenden Lebensmächte für die »invisible hand« oder List der
Vernunft des vermeintlichen »Weltgeistes« (selbst als Ausdruck einer Idee
vom Gattungswesen dechiffrierbar) beansprucht werden können.
Die Diskussion ist ausgegangen vom Verlust der Werte; dieser wurde
relativiert durch die Beschränkung auf Konzepte, die spieltheoretisch
gewinnbringende Strategien erlauben, weil sie auf die die Dynamik der
gesellschaftlichen Entwicklung hauptverursachenden Gründe (eben
ökonomischer und sozialer Natur) eingeschränkt worden sind.
Gewissermaßen erst als Reaktion auf diesen Erfolg werden die Werte, die
nicht zum Regelwerk des Erfolgreichen passen oder diesem bloß nicht
notwendig sind, überhaupt in Frage gestellt. In Frage steht demnach
gegenüber linkshändig oder rechtshändig vermittelte Ideologien der
Apokalypse erstens, welche Werte in den Menschenrechten verankert sind,
die nicht vom modernen bürgerlichen Schauspiel, das von der
Organisierbarkeit der Ökonomie und den Moden des Sozialen bestimmt
wird, von selbst sanktioniert werden. Das sollte einen ersten Überblick über
die Werte geben können, die von der historischen Kritik nicht als
widersprüchlich ausgesondert worden sind, aber doch nicht als
entscheidend im Prozess der beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung
anzusehen sind. — Zweitens, wie dieses geschrumpfte Erbe abgeklärter
Romantik im Zeitalter der vom Finanzmarkt verwalteten neuen Sachlichkeit
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zu bewähren ist. Auch wenn man mit Benedikt die noch auf Hegel
zurückgehende Interpretation des jungen Marx des vinculum substantiale
als Kette wechselseitigen Genusses im andern als defizient ansieht, dürfte
doch gerade eine eventuelle Behebung dieser Defizienz (womöglich aber
nur auf die Differenz zwischen selbst Produzieren und selbst Konsumieren
des Produkts zurückzuführen) nicht selbst die Frage nach dem vinculum
substantiale auf eine Weise stellen können, daß in der Fragestellung nach
der gesellschaftlichen Vermittlung des Individuums ans Gattungswesen
nunmehr im Rahmen der globalen Konkurrenz schon ein Hinweis auf eine
spezifische Antwort zu finden wäre.
❆
Die zweite Fragerichtung ergibt sich aus der Betrachtung der philo-
sophischen, geisteswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen
Aussagen, was wir von uns erwarten und hoffen dürfen. Das »Erkenne Dich
selbst« umfaßt aber außer der Hoffnung auch die Befürchtungen, daß das,
was wir unerkannterweise aus uns selbst in die Welt setzen, uns als
Monstren zeigt. Diese Spaltung in der letztlich philosophischen
Menschenerkenntnis gibt uns erste Hinweise, daß die moralische Frage nach
gut und böse durchaus immer wieder in eine relevante Fragestellung
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überführt werden kann und die beklagte Relativierung aller Werte nicht
notwendigerweise die Nivellierung zur völligen Gleichgültigkeit nach sich
zieht. Diese Relevanzen müssen neu entwickelt werden und werden
teilweise andere oder neu interpretierte Wertvorstellungen ergeben; vor
allem anderen ist eine neue Verknüpfung und ein anderes Verhältnis in der
Abstraktionslehre der Wertvorstellungen zu erwarten. Die Transformierung
in eine globale Massengesellschaft, die geänderten Produktions- und
Arbeitsbedingungen, die im Vergleich zu den anderen Säulen unserer
Gesellschaft zu weitgehende politische Selbstständigkeit des globalen
Finanzmarktes, fehlende globale Steuerungsmaßnahmen, schließlich die
Klimaänderung verlangen nach der Erweiterung des Aufgabenbereichs von
internationalen Institutionen, was aber die globale politische Willensbildung
in wichtigen Kernfragen voraussetzt. Dergleichen institutionelle
Änderungen ziehen im Anschluß auch eine Änderung der Denkungsart
nach sich; diese kritisch zu begleiten kann nicht das einzige Geschäft der
bürgerlichen Philosophie sein, will die Philosophie nicht das Schicksal der
Kunst in der Postmoderne erleiden.
Wie eingangs bereits gesagt, ist die vorliegende Arbeit als Grundgerüst zu
verstehen, welches noch einige Lücken hat, die ich im Vorwort bereits
skizziert habe. Zur Erstellung der Liste der Relevanzen und deren Kriterien
fehlt die genauere Ausarbeitung des Verhältnisses von Soziologie,
Ökonomie und nunmehr auch Ökologie, was die Aufgabe der nächsten
Jahre sein soll.
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