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Prävention
von Jugend-
gewalt
Autoren
Manuel Eisner, Denis Ribeaud und Stéphanie Bittel
Herausgeberin
Eidgenössische Ausländerkommission EKA
Quellenweg 9
3003 Bern-Wabern
031 325 91 16
eka-cfe@bfm.admin.ch
www.eka-cfe.ch
Titelbild
Foto Ursula Markus
(Ausstellung «La Suisse plurielle»)
Mai 2006
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 1
Prävention
von Jugend-
gewalt
Wege zu einer evidenzbasierten Präventionspolitik
inhalt
Prävention von Jugendgewalt
3
Inhalt
Vorwort 5
Einleitung 8
3 Evidenzbasierte Gewaltprävention 25
4 Familienbasierte Prävention 33
5 Schulische Prävention 41
Zitierte Literatur 61
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vorwort
Prävention von Jugendgewalt
5
Vorwort
«Gewalt von Jugendlichen» ist ein Thema, über die Zunahme von Gewaltakten bei Ju-
das sowohl in den Medien als auch in der gendlichen ausländischer Herkunft. Zwar stellt
Politik wiederholt aufgegriffen wird. Im Zen- die soziale Lage vieler ausländischer Jugend-
trum der Reden darüber steht oft die uns licher gewissermassen einen Risikofaktor dar.
präsentierte Zunahme von Gewaltakten, die Aus Untersuchungen ist aber auch bekannt,
beklagt wird. Der Ruf nach griffigen Mass- dass die Anzeigebereitschaft aus der Bevölke-
nahmen folgt auf dem Fusse. Dabei wird auf rung bei Delikten dieser Gruppe erhöht ist.
jene Gruppe von Jugendlichen verwiesen, die
in den Statistiken besonders auffallen: Es sind Forscherinnen und Forscher, die den Phä-
Jugendliche ausländischer Herkunft. nomenen Gewalt und Kriminalität nachgehen,
bemängeln denn auch seit Jahren, dass die
Was lässt sich daraus schliessen? Sind Datenlage ungenügend und ungenau ist und
Jugendliche ohne Schweizer Pass anfälliger dass eine differenziertere Statistik dringend
für Gewaltausübung? Müssen für junge An- vonnöten ist. Erste Schritte in diese Richtung
gehörige spezifischer Herkunft besondere wurden gemacht; es wird aber noch einige Zeit
Programme zur Prävention von Gewalt und dauern, bis entsprechende bereinigte Daten-
Kriminalität bereitgestellt werden? grundlagen zur Verfügung stehen werden.
vorwort
Prävention von Jugendgewalt
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sind. Dies insbesondere auch in Berücksichti- wird, besteht kein absoluter Konsens. Ist es
gung der Tatsache, dass für die Jahre 2004 bis lediglich physisch ausgeübte? Wie steht es mit
2007 ein Schwerpunkteprogramm vorliegt, psychischer Gewaltausübung oder gar mit
das für fünf Förderbereiche bereits eine Prio- gesellschaftlichen Dispositionen, die zu struk-
risierung vornimmt. tureller Gewalt führen, indem bestimmte
Personengruppen systematisch benachteiligt
Der Bund, der seit 2001 Projekte finan- werden? Wie wird mit der Frage umgegan-
ziell unterstützen kann, versteht Integrations- gen, dass gewalttätiges Verhalten eine Reak-
förderung in einem breiten Sinn. Integra- tion auf Frustration und Diskriminierung sein
tionsprojekte tragen zum einvernehmlichen kann? Wie wirken sich sozialräumlich schwie-
Zusammenleben zwischen der einheimischen rige Verhältnisse auf den zwischenmensch-
und der zugewanderten Bevölkerung bei. Im lichen Umgang aus? Welcher Einfluss ist jenen
weitesten Sinne trägt dies zum sozialen Medienerzeugnissen zuzuschreiben, in wel-
Zusammenhalt bei. Es werden Perspektiven chen Darstellungen von Gewalt zur Erzeu-
eröffnet, es werden Möglichkeiten der Parti- gung von Publikumsaufmerksamkeit und
zipation und der Begegnung geschaffen. Befriedigung von Sensationslust eine zentrale
Rolle spielen?
Das Anliegen, für spezifische Gruppen
der ausländischen Bevölkerung besondere Die EKA vertritt die Ansicht, dass die Ent-
Projekte zu realisieren, ist nicht unumstritten. stehung von Gewalt sowohl gesellschaftlich
Damit wird der Annahme Vorschub geleistet, bedingte Ursachen hat als auch auf individuell
dass es für eine bestimmte, nach Herkunft schwierige lebensgeschichtliche Zusammen-
oder Nationalität definierte Gruppe beson- hänge zurückzuführen ist. Vor diesem Hinter-
dere Massnahmen brauche. Herkunftsspezifi- grund ist die EKA überzeugt, dass nur ein
sche Projekte sind unter Umständen sinnvoll; mehrdimensionaler Ansatz Gewalt verhindern
tatsächlich weisen langjährige Erfahrungen in oder bekämpfen kann. Eine dieser Dimen-
der Integrationsarbeit jedoch aus, dass das sionen ist, dass ein gesellschaftliches Klima ge-
Herkunftsspezifische allein kein Kriterium sein schaffen wird, in welchem Perspektiven eröff-
kann, um ein Problem zu lösen. In den aller- net werden, eine Art Willkommenskultur, die
meisten Fällen zeigt ein vertiefter Blick auf jungen Menschen (ausländischer Herkunft)
eine spezifische Situation, dass es sich jeweils die Botschaft vermittelt, dass sie ihren Platz in
um Sachverhalte handelt, bei denen verschie- unserer Gesellschaft haben und dass sie ihre
denste soziale, ökonomische und psychologi- Zukunft aktiv mitgestalten können.
sche Faktoren zusammenkommen. Dies trifft
auch für den Bereich der Prävention von Ge- Bezogen auf die Integration ausländi-
walt und Straffälligkeit bei Ausländern zu. scher Jugendlicher zeigt es sich immer
wieder, dass es für junge Menschen, die die
Vielfältige Ursachen – mehrdimen- Erfahrung machen, dass man sie als Bürge-
sionaler Ansatz rinnen und Bürger zweiter Klasse behandelt –
Die Literatur über das Phänomen Gewalt etwa indem man sie lediglich als Ausländer-
ist äusserst umfangreich. Forscherinnen und innen und Ausländer wahrnimmt, indem
Forscher, die dazu Untersuchungen durchfüh- man sie als fremd abstempelt oder als Pro-
ren, sind sich auch bei unterschiedlichen theo- blemgruppe bezeichnet –, oft sehr schwierig
retischen Ansätzen einig, dass eine Vielzahl ist, ein Zugehörigkeitsgefühl zur Schweiz zu
von Faktoren dazu führt, dass Gewalt ent- entwickeln. Wie können sie sich integrieren,
steht. Als eine der wichtigen Erkenntnisse ist wenn sie beim Zugang zu Bildung, Arbeit
hervorzuheben, dass die Ausübung und die und Wohnung immer wieder diskriminiert
Erleidung von Gewalt in allen Gesellschaften werden?
vorkommt. Gewalt gibt es seit Menschenge-
denken; deren Ausprägungen, Charakter und Die EKA hat wiederholt darauf hin-
Deutung sind jedoch je nach gesellschaft- gewiesen, dass die Eröffnung von Perspek-
lichen Rahmenbedingungen unterschiedlich. tiven und die Ermöglichung von Partizipation
Unterschiedlich ist auch, was als legitime Ge- Grundbedingungen sind, damit Integrations-
walt (der Mächtigen) akzeptiert und welches prozesse erfolgreich verlaufen können. In
Verhalten unter illegitime Gewalt (und damit ihren Empfehlungen – etwa zu «Integration
zu verurteilende und zu bestrafende Tat) zu und Arbeit» oder zu «Integration und Habi-
zählen ist. Folglich ist die Art und Weise, wie tat» – hat sie aufgezeigt, dass der diskrimi-
in einer Gesellschaft mit Gewalt umgegangen nierungsfreie Zugang zu gesellschaftlichen
wird, keineswegs einheitlich, und über die Ressourcen Voraussetzung für ein einvernehm-
Frage, was überhaupt als Gewalt bezeichnet liches Zusammenleben und soziale Bindekraft
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vorwort
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ist. Dazu gehört auch, sich angstfrei in der Öf- der allgemeinen Förderung von Lebensqua-
fentlichkeit bewegen zu können und Freiräu- lität in Verbindung zu bringen. Ein solcher
me zur Verfügung zu haben. Public-Health-Ansatz ermöglicht es, Gewalt-
prävention nicht als isolierte Aktivität zu
Eine weitere zu verfolgende Dimension betreiben, sondern in die Förderung von Inte-
wäre die Etablierung einer Kultur der Wert- gration generell einzubeziehen.
schätzung. Damit ist nicht nur gemeint, dass
Zugewanderte als Menschen respektiert wer- Um Missverständnissen vorzubeugen:
den. Vielmehr sollen Leistungen von Migran- Die EKA ist nicht der Ansicht, dass gesellschaft-
tinnen und Migranten und Beispiele gelunge- liche Defizite allein über Gesundheitsförde-
ner Integration öffentlich gewürdigt werden. rung, die sich auf das Individuum ausrichten,
So ist etwa bekannt, dass dies nicht nur einen beseitigt werden können. Soziale Ungleich-
positiven Einfluss auf die Haltung der Einhei- heiten und damit verbundene unerwünschte
mischen hat, sondern dass die Darstellung von Begleiterscheinungen wie etwa die Ausübung
Erfolgsbiografien Zugewanderter auf junge von Gewalt sollen nicht «pathologisiert» und
Migrantinnen und Migranten motivierend damit dem vermeintlichen Unvermögen der
und ermutigend wirkt, sich für das eigene betroffenen Menschen zugeschrieben werden.
Fortkommen nach Kräften einzusetzen. Wert- Die in dieser Studie vorgestellten möglichen
schätzung beinhaltet aber auch, dass das be- Massnahmen, von denen man weiss, dass sie
sondere Engagement von Kantonen, Gemein- erfolgreich waren, sollen vielmehr dazu beitra-
den und Privaten zugunsten Zugewanderter gen, den Blick dafür zu öffnen, dass eine früh
anerkannt wird. einsetzende, langfristig angelegte, verschiede-
ne Altersstufen und mehrere Lebensbereiche
Neben diesen vor allem auf gesellschaft- umfassende Präventionspolitik gefragt ist.
liche Rahmenbedingungen und die öffentli-
che Meinung zielenden Massnahmen gibt es Die Erkenntnisse der Studie legen nahe,
eine Reihe von Ansätzen, die sich mehr auf dass die Konzentration auf Projekte mit
das einzelne Individuum und seine lebensge- der spezifischen Zielgruppe «ausländische Ju-
schichtliche Entwicklung konzentrieren. gendliche» verkürzt ist. Die Autoren zeigen,
dass die Prävention von Gewalt bei Jugend-
Die Studie «Prävention von Jugend- lichen mit einem Migrationshintergrund keine
gewalt» grundsätzlich anderen Massnahmen erfordert
Die Studie, die vom Kriminologen als bei Schweizer Jugendlichen. Die erfolgrei-
Manuel Eisner unter Mitarbeit von Denis che Umsetzung von Projekten, die sich nicht
Ribeaud und Stéphanie Bittel verfasst wurde, ausschliesslich auf diese Altergruppe konzen-
orientiert sich – ohne die diversen gesamtge- trieren sollte, erfordert allerdings vertiefte
sellschaftlichen Risikofaktoren ausblenden zu Überlegungen, wie sozio-ökonomische, aber
wollen – an einem Ansatz, der das Individuum auch sprachlich und bezüglich unterschied-
stärker ins Zentrum stellt. Vor dem Hinter- licher Wertsysteme bedingte Schranken über-
grund, besondere Projekte, die der Prävention wunden werden können.
von Jugendgewalt dienen sollten, zu etablie-
ren, ist das Autorenteam im Auftrag der EKA Die zentralen Aussagen des Berichts,
und des Bundesamts für Migration der Frage dass eine erfolgreiche Prävention möglichst
nachgegangen, welche Projekte als wirkungs- früh einsetzen, den verschiedenen Lebensbe-
voll zu betrachten sind und in welchen Berei- reichen Rechnung tragen und familiäre, schu-
chen anzusetzen ist, um mit den zur Verfü- lische und nachbarschaftliche Umfelder be-
gung stehenden, eher beschränkten Mitteln, rücksichtigen soll, bestätigen denn auch das
ein sinnvolles Vorgehen wählen zu können. Verständnis von Integration als einem Prozess,
der sowohl den einzelnen Menschen betrifft
So gesehen handelt es sich bei der als auch eine Aufgabe für die gesamte Gesell-
vorliegenden Darstellung weder darum, die schaft ist. Integration heisst Partizipation. Für
verschiedenen existierenden Theorien zum alle. Und in allen Bereichen. Gewaltprävention
Phänomen der Gewalt bei Jugendlichen mit- soll deshalb nicht Symptombekämpfung sein.
einander zu vergleichen, noch die gesamte Sie soll Integrationsprozesse so unterstützen,
Palette möglicher Interventionen aufzulisten. dass sie einem einvernehmlichen Zusammen-
Die vorgeschlagenen Massnahmen einer evi- leben aller Bevölkerungsgruppen dient.
denzbasierten Gewaltprävention schreiben
sich in eine Präventionspolitik ein, die ver- Simone Prodolliet
sucht, erprobte und nachweislich wirksame Eidgenössische Ausländerkommission
Projekte und Programme mit einem Ansatz
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einleitung
Prävention von Jugendgewalt
8
Einleitung
Die seit Jahren anhaltende Beunruhi- Auftreten von unerwünschten Verhaltenswei-
gung über Jugendgewalt hat dazu geführt, sen zu verhindern, welche ohne diese Mass-
dass heute in der Schweiz ein breit gefächer- nahme mit einiger Wahrscheinlichkeit einge-
tes institutionelles Angebot an Fachstellen treten wären.
und Massnahmen zur Prävention und Inter-
vention im Gewaltbereich besteht. Hinzu Allerdings stellt sich die Frage, ob eine
kommen mannigfache Projekte und Program- bestimmte Präventionsmassnahme tatsächlich
me, welche von spezialisierten Anbietern die angestrebte Wirkung erzielt. Ist sie nicht
durchgeführt werden. Allerdings ist auch vielmehr wirkungslos? Oder hat sie gar nega-
deutlich, dass nach wie vor erhebliche Defizite tive Auswirkungen? Überraschenderweise
bestehen. Sie lassen sich in vier Bereiche zu- wurde diese Frage bis vor kurzem weder in
sammenfassen: der Schweiz noch in anderen westeuropäi-
schen Ländern mit dem notwendigen Nach-
Das Wissen über die WIRKSAMKEIT DER druck gestellt. Daher gibt es in der Schweiz
BESTEHENDEN PRÄVENTIONSMASSNAH- zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein einziges
MEN ist äusserst lückenhaft. Programm zur Gewaltprävention, welches
sich auf wissenschaftlich abgestützte Befunde
Gewaltprävention ist nur ansatzweise in bezüglich der Wirksamkeit stützen könnte.
eine U M F A S S E N D E U N D L A N G F R I S T I G
ANGELEGTE GESUNDHEITSFÖRDERUNG Dieser Bericht ist der Auffassung verhaf-
integriert. tet, dass sich Gewaltprävention stärker als
bisher von Prinzipien der evidenzbasierten
Präventionsmassnahmen für VERSCHIE- Prävention leiten lassen sollte. E V I D E N Z -
D E N E A LT E R S S T U F E N , L E B E N S B E R E I C H E B A S I E R T E P R Ä V E N T I O N heisst, Programme
UND BEVÖLKERUNGSGRUPPEN sind mittels sorgfältig angelegter Forschung so zu
kaum aufeinander abgestimmt. prüfen, dass mit möglichst grosser Sicherheit
eine schädliche Wirkung ausgeschlossen und
WENIG INTEGRIERTE BEVÖLKERUNGS- eine positive Wirkung nachgewiesen werden
GRUPPEN werden nur teilweise erreicht. kann. Diese Leitidee hat in der Schweiz erst
vor wenigen Jahren Fuss gefasst und entspre-
Der vorliegende Bericht zeigt Ansätze, chende Forschungsprojekte werden erst in
mit denen diese Probleme angegangen wer- den nächsten Jahren Ergebnisse liefern. Aller-
den können. Ein besonderes Augenmerk dings liegen auf internationaler Ebene, vor
schenkt er der Frage, wie Bevölkerungsgrup- allem basierend auf amerikanischen Studien,
pen mit einem Migrationshintergrund besser bereits bemerkenswert viele Erkenntnisse vor.
für Anliegen der Prävention von Jugendge- Dieser Bericht stellt daher ausgewählte evi-
walt erreicht werden können und inwiefern denzbasierte Programme vor, um Anstösse für
hierfür besondere Überlegungen angestellt die Diskussion in der Schweiz zu geben.
werden müssen.
Gewaltprävention als Teil einer
Wirksamkeit von Präventions- umfassenden Gesundheitsförderung
massnahmen
Es ist seit Langem bekannt, dass Gewalt
In den vergangenen 20 Jahren ist Jugend- zu einem Komplex von jugendlichem Prob-
gewalt und ihre Prävention in der Schweiz ein lemverhalten gehört, der Suchtverhalten (z.B.
zentrales gesellschaftliches Problem geworden. Drogen- und Alkoholkonsum), schulische und
Parallel dazu sind die verschiedensten prä- berufliche Probleme, verschiedene Arten risi-
ventiven Ideen und Programme öffentlich koreichen Verhaltens (z.B. «Rasen» im Stras-
diskutiert und teilweise praktisch realisiert senverkehr, ungeschützter Sexualverkehr) so-
worden. Ihre Verbreitung wurde dadurch wie instabile Paarbeziehungen einschliesst.
erleichtert, dass Prävention ein Anliegen ist, Viele dieser Verhaltensprobleme haben ge-
dem sich kaum jemand verschliessen kann. Sie meinsame Ursachen und verlangen ähnliche
bezweckt, durch geeignete Massnahmen das präventive Massnahmen.
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Prävention von Jugendgewalt
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World Health Organisation Violence Prevention Alliance: Building Global Commitment for Violence Prevention, Geneva.
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Gewalt von Jugendlichen
in der Schweiz
Eine realistische Einschätzung der Prob- Die Zahl der Gewaltdelikte von Jugend-
lemlage ist eine wichtige Voraussetzung für lichen, die in der Polizeilichen Kriminalstatis-
wirksame Prävention. Um hierfür eine Grund- tik erfasst werden, hat seit etwa 1990 stark
lage zu schaffen, schildern wir im Folgenden zugenommen. Abbildung 1 zeigt die Entwick-
ausgewählte Indikatoren zu Entwicklung von lung für drei Tatbestände der PKS, nämlich
Jugendgewalt sowie zur Belastung von Bevöl- KÖRP E R V E R L E T Z U N G , R A U B , sowie D R O -
kerungsgruppen mit Migrationshintergrund. H U N G , N Ö T I G U N G U N D E R P R E S S U N G zu-
Mit J U G E N D G E W A LT meinen wir die Aus- sammengefasst. Bei den gezeigten Werten
übung oder Androhung von körperlicher Gewalt handelt es sich jeweils um die Kriminalitäts-
durch Personen im Alter von 12 bis 18 Jahren. raten pro 100 000 Personen der altersgleichen
Allerdings findet man in amtlichen Statistiken Bevölkerung (d.h. 7 bis 17 Jahre von 1982 bis
auch etwas andere Altersabgrenzungen, denen 1995 und 7 bis 15 Jahre von 1996 bis 2004).
wir bei der Auswertung folgen müssen.
Die Daten lassen während der vergan- Zunahme der
Entwicklung genen 20 Jahre einen markanten Anstieg erfassten
erkennen. Bei Raub und Körperverletzung Gewaltdelikte
Verfügbare Zur Beurteilung der Entwicklung von werden Jugendliche heute mehr als dreimal
Daten Jugendgewalt über die vergangenen 20 Jahre häufiger als Tatverdächtige registriert als in
steht im Wesentlichen die P O L I Z E I L I C H E der Mitte der 1980er Jahre, bei Drohung und
K R I M I N A L S T A T I S T I K D E R S C H W E I Z zur Nötigung zeigen die Zahlen eine Veracht-
Verfügung. D I E S C H W E I Z E R I S C H E S T A T I S - fachung. Die Zunahme der ermittelten jugend-
T I K D E R J U G E N D S T R A F U R T E I L E ist erst lichen Täter verläuft ungefähr parallel zu
seit 1999 verfügbar und daher zu jung, um zu- einer entsprechenden Zunahme bei den er-
verlässig Trends zu beurteilen. D I E S C H W E I - wachsenen Tätern.
Z E R I S C H E O P F E R B E F R A G U N G (Killias und
Lamon 2000) schliesst die gesamte Wohnbe- Im Bereich der Eigentumsdelikte weist
völkerung ein und erlaubt nur sehr einge- die PKS weder bei Jugendlichen noch bei
schränkt Aussagen über Jugendliche. Zeitrei- Erwachsenen eine Zunahme aus. Die Daten
hen von spezialisierten Jugendbefragungen zeigen im Gegenteil bei verschiedenen Delik-
über selbst berichtete Gewalt und Opferer- ten, besonders bei Fahrzeugdiebstahl und Ein-
fahrungen – mit identischem Studiendesign bruch, einen klaren Rückgang.
über mehrere Zeitpunkte durchgeführt – gibt
es hingegen bis heute nicht. Polizeiliche Daten verzerren die
tatsächliche Entwicklung
Die Polizeiliche Kriminalstatistik der
Schweiz (PKS) führt seit ihrem Bestehen (d.h. Würde der Anstieg der polizeilich er- Gründe für Vor-
seit 1982) bei allen Delikten neben der Ge- fassten jugendlichen Gewalttäter einer tat- sicht gegenüber
samtzahl der polizeilich ermittelten Täter sächlichen Zunahme entsprechen, dann wäre der Zunahme
auch die Zahl der ermittelten minderjährigen dies eine wahrhaft Besorgnis erregende in der Polizei-
Täter auf.2 Bis 1995 wurden hierunter Täter im Entwicklung. Es gibt jedoch etliche Gründe statistik
Alter von 7 bis unter 18 Jahren erfasst, seit dafür, dass die Zunahme der registrierten Ju-
1996 bezieht sich die Statistik auf Täter bis gendgewalt zu einem wesentlichen Teil die
unter 16 Jahren. Folge einer grösseren Anzeigetendenz in der
Bevölkerung sowie einer umfassenderen Re-
gistrierung durch die Polizei ist.
2
Genauer ist die polizeiliche Kriminalstatistik eine Statistik der «Tatverdächtigen». Die Daten werden in aller Regel dann erfasst, wenn gemäss polizeilichen Abklärungen ein Tatverdacht
erhärtet ist und der Fall an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet wird.
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1. Seit Anfang der 1990er Jahre kam es auch in Eltern deutlich gestiegen ist. Dies gilt insbe-
den Niederlanden und Schweden zu einer sondere, wenn ausländische Täter deutsche
explosionsartigen Zunahme von polizeilich Jugendliche angreifen (Wilmers, Enzmann,
registrierter Jugendgewalt. In beiden Ländern Schaeffer, Herbers, Grewe, und Wetzels 2002).
existieren allerdings Zeitreihen, welche auf
Befragungen von Jugendlichen basieren und 3. Eine massive tatsächliche Zunahme des Um-
damit von der Polizei unabhängig sind. Sie fangs von Jugendgewalt müsste sich auch in
beruhen entweder auf Angaben zu Opfer- einem Anstieg von Gewaltdelikten mit gravie-
erfahrungen oder über selbst berichtete Ge- renden Folgen für die Opfer niederschlagen.
waltausübung. Diese Befragungsdaten zeigen Gerade hier gibt es aber keinerlei Anzeichen
aber weder bei den Opferzahlen noch bei den für einen zunehmenden Trend. Abbildung 2
Angaben zu Tätern eine Zunahme. Studien, zeigt die Entwicklung von drei Formen von
welche Polizeistatistik und Befragungsdaten schwerster Gewaltausübung: vollendete Tö-
vergleichen, kommen übereinstimmend zum tungsdelikte, Raubüberfälle mit Schusswaffen
Schluss, dass die Angaben der Jugendlichen und Körperverletzungen mit Hieb- und Stich-
selbst eine bessere Quelle zur Beurteilung der waffen. Gemäss der Schweizerischen Kriminal-
realen Entwicklung sind (Estrada 1997). statistik haben alle drei Formen von massiver
Gewalt die höchste Häufigkeit um 1991 erreicht.
2. Zwischen 1998 und 2005 hat in Deutschland Seither ist ihre Häufigkeit um etwa einen Drittel
das Kriminologische Forschungsinstitut Nie- zurückgegangen. Polizeistatistiken gelten bei
dersachsen (KFN) mehrere Befragungen zu schwerer Gewalt als zuverlässige Gradmesser
Jugendgewalt in Städten durchgeführt. Die und wir halten es für unwahrscheinlich, dass
Daten zeigen während dieses Zeitraumes in Jugendgewalt ausschliesslich bei wenig gravie-
allen deutschen Städten sowohl gemäss Anga- renden Formen zugenommen hat.
ben der Opfer wie bei den Tätern einen aus-
geprägten Rückgang von Gewalt. Gleichzeitig Insgesamt gehen wir aus diesen Grün-
ist die polizeilich registrierte Jugendgewalt den davon aus, dass Jugendgewalt in den letz-
gemäss deutscher PKS weiter gestiegen. Gemäss ten 10 bis 15 Jahren nicht massiv zugenom-
Analysen des KFN ist hierfür mindestens teil- men hat.
weise verantwortlich, dass seit Ende der 1990er
Jahre die Anzeigebereitschaft der Jugend-
lichen selbst, der Lehrpersonen, aber auch der
Abbildung 1: Polizeilich registrierte jugendliche Tatverdächtige bei Gewaltdelikten, 1982 bis 2005,
pro 100 000 der altersgleichen Bevölkerung
120
Körperverletzung
Raub
100
Drohung, Nötigung
Erpressung
80
pro 100 000
60
40
20
Gewalt nach Nationalität im Bild oder zum Geschlecht der ausländischen Tat-
amtlicher Kriminalstatistiken verdächtigen aufgeführt werden. Seit 1988
wird einzig zwischen Ausländern M I T und
Die PKS enthält nur unzureichende O H N E Wohnsitz in der Schweiz unterschieden,
Daten zur Nationalität und zum Aufenthalts- wobei nicht weiter spezifiziert ist, welches
status der Tatverdächtigen. Dazu gehört, dass Wohnsitzkriterium zugrunde gelegt wird.
keine Informationen zur Staatsangehörigkeit, Tabelle 1 zeigt für einzelne Delikte den Anteil
zum Aufenthaltsstatus (z.B. Niedergelassene, ausländischer Täter mit Wohnsitz in der Schweiz
Jahresaufenthalter, Asylsuchende), zum Alter am Total aller in der Schweiz wohnhaften Täter.
Abbildung 2: Schwere Gewaltdelikte in der Schweiz, 1982 bis 2004, pro 100 000 Einwohner
10
8
Raub mit Schusswaffe
7
Körperverletzung mit
6 Hieb- und Stichwaffe
pro 100 000
5 Vollendete Tötung
Tabelle 1: Anteil ausländischer Tatverdächtiger mit Wohnsitz in der Schweiz an allen in der Schweiz wohnhaften
Tatverdächtigen, 1988, 1994 und 2004
Die Gewalt- Die Auswertungen zeigen, dass es be- Die Tabelle vermittelt ausserdem einen
belastung hängt züglich der Gewaltausübung K E I N E G E N E - Eindruck davon, wie stark sich die Lebenser-
mit der sozialen R E L L E Übervertretung von Jugendlichen mit fahrungen und familiären Hintergründe die-
Lage und den Migrationshintergrund gibt. Jugendliche, ser Gruppen unterscheiden. Beispielsweise
Lebenserfahrun- deren Eltern aus westlichen Industriestaaten haben 40 Prozent der türkischen Jugendlichen
gen von immi- in die Schweiz gekommen sind (vor allem aus kein eigenes Zimmer, während dies bei 6 Pro-
grierten Grup- Deutschland, Österreich, USA – meistens mit zent der Schweizer Jugendlichen der Fall ist.
pen zusammen hoher Bildung und hohen beruflichen Quali- 60 Prozent der türkischen Väter hatten keine
fikationen) haben eine T I E F E R E Belastung Berufsausbildung und 25 Prozent der Mütter
als schweizerische Jugendliche. Hingegen wei- haben keinen Schulabschluss, beides Phäno-
sen Jugendliche, deren Eltern oft mit wenig mene, die Schweizer Jugendliche praktisch
Bildung aus dem ehemaligen Jugoslawien, nicht aus eigener Familienerfahrung kennen.
aus Italien, der Türkei und anderen südeuro-
päischen Staaten (Spanien, Portugal, Grie- Insgesamt zeigt die Tabelle einen wichti-
chenland) in die Schweiz gekommen sind, eine gen Sachverhalt: Unterschiede in der Gewalt-
E R H Ö H T E Belastung auf. wahrscheinlichkeit zwischen Gruppen von
Immigrierten sind im Wesentlichen eine Funk-
tion der sozialen Lage der immigrierten Be-
völkerungsgruppe.
Tabelle 3: Selbstberichtete Gewalt nach Nationalität, 15-jährige Jugendliche im Kanton Zürich, 1999
Vier Kernaussagen
2
Lebenslauf und Gewalt
Wenn in Medien oder Politik von Gewalt Wir zeigen in diesem Kapitel, weshalb
die Rede ist, richtet sich der Blick fast immer eine L E B E N S L A U F P E R S P E K T I V E eine wesen-
zuerst auf «die Jugend». Das hat insofern seine tliche Grundlage für nachhaltige Gewaltprä-
Berechtigung, als viele strafrechtlich verfolgte vention ist, welche Faktoren in verschiedenen
und für die Opfer besonders folgenschwere Lebensphasen auf die Gewaltwahrscheinlich-
Formen der Gewaltausübung (Raub, Verge- keit einwirken, und in welchen Bereichen
waltigung, Körperverletzung, Mord) im Ver- Jugendliche mit Migrationshintergrund durch
lauf der Adoleszenz mit zunehmender Häu- Risikofaktoren erhöht belastet sind.
figkeit begangen werden und eine Spitze im
Alter von etwa 17 bis 24 Jahren erreichen. Abnahme von körperlicher
Aggression als normale Entwicklung
Allerdings verstellt eine solche Einen-
gung den Blick auf Realitäten, die für eine Die Lebenslaufforschung kann inzwischen
wirksame Prävention entscheidend sind. Dazu die Entwicklung von körperlicher Aggression
gehört, dass Gewalt und Aggression Verhal- vom Säuglingsalter bis ins Erwachsenenalter
tensweisen sind, die sich in jeder Altersphase gut nachzeichnen. Sie zeigt, dass sich Gewalt
beobachten lassen und dass Jugendgewalt in verschiedenen Altersphasen unterschiedlich
nur ein Ausschnitt aus einer biographischen manifestiert und dass ihre Manifestationsfor-
Entwicklung ist (vgl. z.B. Loeber und LeBlanc men mit alterstypischen Aktionsfeldern und
1990; Tremblay, Nagin, Séguin, Zoccolillo, Veränderungen in den Entwicklungsaufgaben
Zelazo, Boivin, Pérusse, und Japel 2004). Dem in Zusammenhang stehen (vgl. z.B. Loeber und
entspricht, dass viele Faktoren, welche auf Hay 1997) (Tabelle 4).
Jugendgewalt einwirken, ihre Wurzeln im
Kindheitsalter und teilweise sogar noch früher
in der Entwicklung eines Menschen haben.
Körperliche Forschungen über die Verbreitung von ben Individuen betreffen, mit anderen Worten:
Aggression körperlicher Aggression in unterschiedlichen inwiefern Aggressivität ein stabiles Merkmal
wird mit Altersphasen zeigen, dass physische Aggres- in der Entwicklung eines Menschen ist.
zunehmendem sion in der frühen Kindheit bis zu einem
Alter seltener gewissen Ausmass ein normales Konfliktver- Die Ergebnisse zeigen, dass Unterschiede
halten ist und bei der Mehrheit von Kindern zwischen Individuen im Lebenslauf R E L A T I V
beobachtet werden kann. Etwa ab dem 3. Al- S T A B I L sind – Personen mit einer hohen
tersjahr und während der gesamten Primar- Gewaltbereitschaft in einer früheren Lebens-
schulzeit werden Wutausbrüche und das phase sind mit höherer Wahrscheinlichkeit
Austragen von Konflikten mit körperlicher auch später gewalttätig (Tolan und Gorman-
Aggression bei den meisten Kindern immer Smith 1998). Durch neutrale Beobachter als
seltener (Tremblay et al. 2004). aggressiv eingeschätzte Kleinkinder sind bei-
spielsweise auch in der Primarschule über-
Der Trend hin zu weniger Gewalt setzt durchschnittlich häufig in Prügeleien verwickelt;
sich im Jugendalter fort. In einer niederländi- Aggression im Alter von 6 bis 11 Jahren ist ein
schen Studie beispielsweise sank die soge- Prädiktor für Gewalt und schwere Delinquenz
nannte Prävalenz – der Anteil der Gewalt aus- im Alter von 15 bis 25 Jahren; und Gewalt im
übenden Personen – von Gewalt gegen Jugendalter ist ein Prädiktor für die Wahr-
Personen von 26% im Alter von 14 bis 15 Jah- scheinlichkeit, im Erwachsenenalter Gewalt
ren auf 20% bei 16-Jährigen und 17% bei auszuüben. Über Zeiträume von 2 bis 4 Jahren
20-Jährigen (Terlouw und Bruinsma 1994). können hohe Korrelationen von rund 0.60 bis
0.70 beobachtet werden, über längere Zeit-
Dieselbe Entwicklung zeigt auch eine von räume sinken die Zusammenhänge (Moffitt,
uns durchgeführte Befragung von 400 Lehr- Caspi, Rutter, und Silva 2001; Olweus 1979).
personen in der Stadt Zürich im Jahr 2002
(Eisner, Manzoni, Ribeaud, und Schmid 2003). Das heisst auch, dass über verschiedene
Hier wurden die Lehrpersonen gefragt, wie Altersstufen hinweg ein erhebliches Ausmass
häufig sie in ihrer Klasse aggressives Verhalten an Veränderung stattfindet. Gewalt und Ag-
beobachten. Die Auswertungen ergeben, dass gression sind kein biographisch vorgeprägtes
die meisten Formen von verbaler und körper- Schicksal, sondern werden durch den Fluss von
licher Aggression im Kindergarten am häufig- Ereignissen in allen Lebensphasen beeinflusst.
sten sind. Im Verlauf der Primarschule und der Lebenslauforientierte Prävention kann dazu
Oberstufe werden sie von Lehrpersonen immer beitragen, dass in verschiedenen Lebenspha-
seltener beobachtet. sen aggressive Potentiale abgebaut werden
und dass die Entwicklung eines Individuums
Hieraus ergibt sich die wichtige Folge- positiv beeinflusst wird.
rung, dass Gewaltprävention im Lebenslauf
eigentlich nicht etwas verhindert, was vorher Gewalt und andere Formen von
nicht vorhanden war. Vielmehr stützt und Problemverhalten im Lebenslauf
fördert sie eine normale Entwicklung, in
deren Verlauf Kinder zunehmend S O Z I A L E Körperlich aggressives Verhalten ist in Gewalt und
K O M P E T E N Z E N erwerben, welche es ihnen allen Lebensphasen mit einer Reihe von an- andere Verhal-
ermöglichen, aggressive Impulse unter Kon- deren Verhaltensproblemen korreliert (sog. tensprobleme
trolle zu halten und welche in täglichen Inter- Komorbidität) (Tabelle 5). hängen
aktionen als Alternativen zum Einsatz von Ge- zusammen
walt dienen (Loeber und Hay 1997). Gewalttätige Jugendliche üben beispiels-
weise häufig Eigentumsdelikte wie Laden-
Kontinuität von Gewalt im diebstahl oder Einbruch aus, haben oft einen
Lebenslauf übermässigen Alkohol- oder Drogenkonsum
und schwänzen häufig die Schule. In der
Wie stabil sind Gleichwie, ob man Säuglinge, Kleinkinder, Zürcher Jugendbefragung zeigte sich etwa,
aggressive Jugendliche oder Erwachsene betrachtet: In dass unter denjenigen Jugendlichen, welche
Tendenzen im jedem Altersabschnitt bestehen zwischen mindestens einmal im vorangehenden Jahr
Lebenslauf? Individuen ausgeprägte Unterschiede in physische Gewalt ausgeübt hatten, 72% auch
aggressiven Verhaltenstendenzen, wobei ein ein Eigentumsdelikt verübt hatten, 67% auch
kleiner Prozentsatz jeweils durch besonders illegale Drogen konsumierten und 53% auch
hohe Aggressionsneigung auffällt. Die Längs- mindestens einmal pro Monat Alkohol konsu-
schnittforschung ist der Frage nachgegangen, mierten (vgl. Eisner, Manzoni, und Ribeaud
in welchem Ausmass diese Unterschiede über 2000). Diese Werte sind klar höher als in
verschiedene Lebensphasen hinweg die sel- der nicht-gewalttätigen Referenzgruppe. Die
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 18
Überlappung mit anderen Formen von Prob- Die Alterskurve von strafrechtlich
lemverhalten verstärkt sich noch, wenn man verfolgter Gewalt
den Vergleich auf jene Jugendlichen ein-
schränkt, welche mehrfach Gewalt ausgeübt Strafrechtlich verfolgte Gewalt (d.h. Tö-
haben. Ähnliche Zusammenhänge sind aus tungsdelikte, Körperverletzung, Raub, Ver-
vielen empirischen Studien belegt (vgl. die gewaltigung) hat in allen westlichen Gesell-
Übersicht in Huizinga und Jakob-Chien 1998). schaften einen typischen Verlauf über die
Altersentwicklung hinweg (Abbildung 3). Wir
Der Befund, dass Gewalt und Aggression illustrieren diese sogenannte A LT E R S K U R V E
in allen Lebensphasen Teil eines Syndroms anhand von Daten des Kantons Zürich. Sie
von Verhaltensproblemen sind, hat wichtige zeigen die Rate der polizeilich registrierten
Implikationen für die Prävention. Er bedeutet, Täter, bezogen auf die jeweilige Wohnbevöl-
dass wirksame Gewaltprävention in der Regel kerung im Durchschnitt der Jahre 1999 bis
auch positive Auswirkungen auf andere 2004. Man sieht, dass die Täterraten ab etwa
Lebensbereiche hat, dass Gewaltprävention dem 12. Altersjahr steil ansteigen und im
mithin Teil einer breiteren Förderung von Alter von etwa 20 Jahren die maximale Häu-
Lebenschancen ist. figkeit erreichen.
800
Leib und Leben
700
Vergewaltigung (x 20)
600
Raub (x 2)
pro 100 000
500
200
100
10 20 30 40 50 60 70 80
In der Jugend- Wie bereits diskutiert, ist dieser Anstieg Etwa ab dem 20. Altersjahr sinkt die Die meisten
phase verändert in der Jugendphase nicht so sehr eine Zunah- Häufigkeit von Gewaltdelikten wieder all- Gewaltdelikte
sich der Charak- me der Anzahl von Individuen, die Gewalt mählich ab. Dies darf allerdings nicht darüber werden von
ter von Gewalt ausüben. Vielmehr signalisiert er eine Verän- hinwegtäuschen, dass die weit überwiegende Erwachsenen
derung der Qualität von Gewalt und eine zu- Zahl von Delikten durch Erwachsene began- verübt
nehmende staatliche Sanktion in dem Masse, gen wird. Beispielsweise sind Erwachsene für
in dem das Individuum für seine Taten verant- rund 80 Prozent aller Delikte gegen Leib und
wortlich gemacht wird. Leben sowie rund 85 Prozent aller Vergewal-
tigungen verantwortlich.
So steigt in diesen Lebensjahren das Risi-
ko – teilweise infolge der zunehmenden kör- Die kriminologische Lebenslauffor-
perlichen Kraft, teilweise infolge Zugang zu schung hat mehrfach Zusammenhänge zwi-
Waffen –, dass Gewalt auch massive Formen schen strafrechtlich relevanter Gewalt im
annimmt. Ausserdem verlagern sich Gewalt- Jugendalter und aggressivem Verhalten in der
ereignisse von der Schule, dem Schulweg und Kindheit untersucht. Die Ergebnisse zeigen,
dem Umfeld des Zuhause in anonyme Räume dass die Intensität von Gewalt im Jugendalter
(z.B. Jugendhaus, Stadtzentrum), wo eine An- grösser ist, wenn während der Kindheit in
zeige bei der Polizei wahrscheinlicher wird. erheblichem Umfang altersinadäquates ag-
Des weitern wird in diesem Alter Gewalt zu gressives Verhalten festgestellt wurde (vgl.
einem Gruppenphänomen, so dass Schläge- z.B. Loeber und Hay 1997).
reien zwischen verfeindeten Gruppen oder
Raubüberfälle alterstypische Erscheinungsfor- Ursachen und Risikofaktoren
men von Gewalt sind. Und schliesslich steigt
nun das Gefälle zwischen den Geschlechtern Abbildung 4 zeigt ein für die Präven-
an, so dass die weit meisten Gewaltakte von tionsforschung hilfreiches Modell, um das Zu-
männlichen Jugendlichen begangen werden. sammenspiel verschiedener Wirkungsebenen
Und obwohl sich in der Jugend wie in der bei der Entstehung von Gewalt zu veran-
Kindheit die meiste Gewalt unter Angehöri- schaulichen. Es hebt drei Dimensionen hervor:
gen desselben Geschlechts abspielt, nimmt der
Anteil von Gewalt zwischen Geschlechtern – Erstens wird sichtbar gemacht, dass ein Situation und
vor allem sexuelle Gewalt von Knaben gegen konkretes Gewaltereignis das Ergebnis des Disposition
Mädchen – zu. Zusammenspiels von Individuum und Situa-
Familie
be
ns
al
Schule
te
r
Gleichaltrige, Lebenslauf
tion ist. Das Individuum bringt Vorstellungen, Einflüsse, welche als wissenschaftlich relativ
Erwartungen, Absichten in eine Situation. Die gut abgesichert gelten können (für Übersich-
Situation (z.B. die Provokation durch ein Klas- ten vgl. Eisner und Ribeaud 2003; Farrington
senmitglied, die fehlende soziale Kontrolle in 1998; Hawkins, Herrenkohl, Farrington,
einer leeren Strasse nachts, die Rückweisung Brewer, Catalano, und Harachi 1998; Loeber
durch den Türsteher vor der Disco) bietet und Dishion 1983; Lösel und Bliesener 2003).
Gelegenheiten, um sich gewalttätig zu ver-
halten. Prävention kann auf beiden Ebenen – Ursachen und Risikofaktoren
der Situation und der individuellen Disposi- bei Jugendlichen mit Migrations-
tion – ansetzen. In diesem Bericht beschränken hintergrund
wir uns allerdings auf Massnahmen, welche
auf die Entstehung von aggressiven Disposi- Wir haben in Kapitel 1 gezeigt, dass Ju-
tionen im Lebenslauf einwirken möchten. gendliche aus benachteiligten sozialen Lagen
Eine Darstellung situativer Massnahmen würde und mit einem Migrationshintergrund sowohl
eine zusätzliche Analyse verlangen. gemäss polizeilicher Statistik wie auch gemäss
Befragungsdaten im Durchschnitt eher Ge-
Verschiedene Zweitens trägt das Modell der Vorstellung walt ausüben als schweizerische Jugendliche.
Wirkungsebenen Rechnung, dass in jeder Phase des Lebenslaufs Zwei Fragen sind hier in Zusammenhang mit
verschiedene Ebenen auf ein Individuum ein- Prävention zentral: Gelten in verschiedenen
wirken. Für die Präventionsforschung hat sich Kulturen dieselben Risikofaktoren für Ag-
hier die Unterscheidung zwischen Individuum gression, so dass man im Grundsatz die selben
(das auch auf sich selbst rückwirkt), Familie, Präventionsansätze zur Anwendung bringen
Schule, Gleichaltrigen / Freizeit sowie Nach- kann – oder benötigen wir für Angehörige
barschaft als nützlich erwiesen, weil jede die- verschiedener Kulturen jeweils andere Erklä-
ser Ebenen andere präventive Herangehens- rungsansätze und daher andere Programme?
weisen nahe legt. In verschiedenen Lebens- Welche Risikofaktoren sind dafür verantwort-
phasen sind jeweils andere Ebenen von grös- lich, dass einzelne Gruppen überdurchschnitt-
serer Bedeutung. In der ersten Lebensphase lich belastet sind – und können diese durch ent-
stehen die Bezugspersonen der Familie im sprechende Massnahmen beeinflusst werden?
Vordergrund. Ab dem 5. bis 6. Lebensjahr
kommt die Schule hinzu. Später sind ausser- In den letzten Jahren wurden mehrfach Risikofaktoren
schulische Kontakte mit Gleichaltrigen und kulturvergleichende Studien durchgeführt, in verschiedenen
ein erweiterter Aktionsraum von Bedeutung. welche die Determinanten von jugendlichen Kulturen
Verhaltensproblemen etwa in osteuropäi-
Allerdings sollte man sich die Ebenen schen, asiatischen oder afrikanischen Gesell-
nicht als voneinander getrennt vorstellen. schaften untersuchten. Deren Ergebnisse zei-
Beispielsweise können schon in den ersten gen, dass in verschiedenen Kulturen im
Lebensjahren Merkmale eines Quartiers (z.B. Wesentlichen ähnliche Mechanismen für die
mangelndes Vertrauen, fehlende Netzwerke) Entstehung von Gewalt verantwortlich sind
Auswirkungen auf das Zusammenleben in der (vgl. z.B. Jessor, Turbin, Costa, Dong, Zhang,
Familie haben, welche dann die Entwicklung und Wang 2003; Orpinas 1999; Vazsonyi,
des Kindes beeinflussen. Nützlich erweist sich Pickering, und Junger 2001).
hierbei die Unterscheidung zwischen P R O X I -
M A L E N U N D D I S TA L E N R I S I K O FA K T O R E N . Das bedeutet, dass Unterschiede zwi- Viele Risiko-
sind Ursa-
P R O X I M A L E R I S I K O FA K T O R E N schen Gruppen von Jugendlichen nicht auf faktoren wirken
chen und Mechanismen, die unmittelbar vom völlig A N D E R E Ursachen zurückzuführen sind, in verschiedenen
Kind oder Jugendlichen erfahren werden (z.B. sondern auf Unterschiede in der B E L A S T U N G Kulturen ähnlich
elterlicher Erziehungsstil). D I S T A L E R I S I K O - durch die selben Risikofaktoren (beziehungs-
F A K T O R E N hingegen sind weiter von der weise das Fehlen von Schutzfaktoren). Man
Lebenswirklichkeit der Person entfernt und braucht daher für Jugendliche mit Migra-
wirken mittelbar – über proximale Faktoren – tionshintergrund nicht grundsätzlich andere
auf den Lebenslauf ein (z.B. sozio-ökonomi- Prävention. Es braucht Prävention, welche
scher Status). zuerst diejenigen Risikofaktoren identifiziert,
bei denen eine besondere Belastung besteht
Ein Überblick Tabelle 6 stellt für jede Wirkungsebene und bei denen eine Beeinflussung durch Prä-
über Risiko- die zentralen Risikofaktoren zusammen, über vention möglich ist, und die dann wirksame
faktoren die gemäss aktuellem Forschungsstand weitge- Massnahmen ergreift.
hende Einigkeit besteht. Es handelt sich hier
nicht um eine vollständige Liste von relevanten
Einflüssen, sondern um eine Auflistung jener
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 21
Persönlichkeit
Geringe soziale Kompetenzen* +++ + +
Gewalt befürwortende Normen* +++ ++ 0
Familiäres Umfeld
Streit zwischen Eltern + + 0
Wenig emot. Unterstützung durch Eltern +++ + 0
Elterliche Gewalt +++ + 0
Schule
Schulische Aspirationen 0 ++ 0
Geringe Unterstützung durch Eltern +++ +++ +
Schulischer Erfolg +++ +++ ++
Hinweise:
1
Anzahl Beobachtungen (m / f): Schweizer 1830 (854 / 970); Türkei 89 (42 / 47); Ehem. Jugoslawien 243 (119 /
123); Westlicher Mittelmeerraum 275 (136 / 139). Da die Studie auf Daten des Kantons Zürich basiert und
aus dem Jahr 1999 stammt, sind die Angaben nur als Näherungen zu verstehen.
2
Italien, Spanien, Portugal.
Mit * gekennzeichnete Risikofaktoren wurden nur für die männlichen Jugendlichen berechnet.
Die Auswertungen basieren auf Unterschieden der Mittelwerte der Migrationsgruppe gegenüber der
schweizerischen Vergleichsgruppe ausgedrückt in Standardabweichungen und entsprechen Cohen’s
Effektstärke d.
+++ Stark höhere Belastung durch Risikofaktor (d > .60)
++ Mittel höhere Belastung durch Risikofaktor (.40 < d < .60)
+ Wenig höhere Belastung durch Risikofaktor (.20 < d < .40)
0 Keine erhöhte Belastung durch Risikofaktor (d < .20)
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 23
Drei Kernaussagen
Gewalt und Aggression sind ein Teilaspekt eines Bündels von exter-
nalisierendem Problemverhalten. Viele Risikofaktoren und Schutz-
faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit von Gewalt beeinflussen,
gelten in ähnlicher Weise für viele Formen von externalisierendem
Problemverhalten. Die Prävention von Jugenddelinquenz, von Dro-
genkonsum und von Gewalt sollten als Einheit im Rahmen einer För-
derung von Lebenskompetenzen betrachtet werden.
evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
25
3
Evidenzbasierte Gewaltprävention
Insgesamt ist das Problem in der Schweiz barschaft und der Gesellschaft, welche dem
nicht, dass es zu wenig Gewaltprävention aktuellem Wissensstand zu Folge mit grosser
gibt. Das Problem ist, dass man nicht weiss, Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Entste-
ob die vorhandenen Massnahmen nützen, hung von Gewalt einwirken. R I S I K O F A K T O -
schaden, oder wirkungslos sind. Um allerdings R E N sind Faktoren, deren Vorhandensein die
glaubwürdig zu sein, muss Gewaltpräven- Wahrscheinlichkeit von Gewalt erhöht. S C H U T Z -
tion auch tatsächlich Gewalt reduzieren kön- F A K T O R E N hingegen sind Merkmale, die da-
nen. Dieser Bericht geht davon aus, dass ein zu führen, dass ein Individuum trotz Vorliegen
P U B L I C - H E A LT H - Ansatz, welcher die Erkennt- von Risikofaktoren kein Problemverhalten
nisse der Lebenslaufforschung berücksich- entwickelt.
tigt und auf Prinzipien der evidenzbasierten
Prävention beruht, einen wesentlichen Bei- Risiko- und Schutzfaktoren unterschei-
trag zu einer effektiveren Präventionspolitik den sich von blossen I N D I K A T O R E N . Indika-
leisten kann (Sherman, Farrington, Welsh, und toren sind Klassifikationsmerkmale, nach denen
MacKenzie 2002). Personen unterschieden werden können, wel-
che aber keinerlei Erklärungskraft zum Ver-
Prinzip der Evidenzbasierte Prävention beruht auf ständnis von Gewalt haben. Beispiele hierfür
evidenzbasier- dem Grundsatz, dass die Wirksamkeit von Prä- sind Alter, Geschlecht und Nationalität. Es ist
ten Prävention vention durch gut fundierte empirische For- beispielsweise richtig zu sagen, dass Männer
schung überprüft werden kann und dass häufiger Gewalt ausüben als Frauen. Damit
durch den Zusammenzug der Forschungser- ist aber keine Erklärung geleistet, warum das
gebnisse zuverlässige Kenntnisse darüber ge- so ist. In gleicher Weise ist Nationalität ein
wonnen werden können, blosser Indikator, der keinen erklärenden
Wert hat. Es gibt keinen rationalen Grund,
welche Präventionsmassnahmen wirksam warum die Farbe des Passes einen Einfluss auf
sind, die Gewaltwahrscheinlichkeit haben sollte.
welche Massnahmen wirkungslos sind,
welche Massnahmen schädlich sind, Um Aussicht auf Erfolg zu haben, muss Drei Grundtypen
wie Massnahmen, welche sich in der For- Prävention entweder Risikofaktoren reduzie- von Prävention
schung als wirksam erwiesen haben, wirk- ren, welche Gewalt verursachen, oder aber
sam in die Praxis umgesetzt werden können, Schutzfaktoren aufbauen, welche der Entste-
wie wirksame Massnahmen auf die Bedürf- hung von Gewalt entgegenwirken. Präven-
nisse unterschiedlicher Bevölkerungsgrup- tionsmassnahmen lassen sich nach verschiede-
pen angepasst werden können, nen Kriterien unterscheiden. Besonders hilfreich
welche Aspekte der praktischen Umset- ist die Unterscheidung zwischen universeller,
zung von Präventionsmassnahmen dafür selektiver und indizierter Prävention.
verantwortlich sind, dass positive Wirkun-
gen erzielt werden können. U N I V E R S E L L E P R Ä V E N T I O N zielt auf eine Universelle,
Gesamtgruppe, ohne dass in der Gruppe ins- selektive und
Evidenzbasierte Prävention fusst dabei gesamt besondere Risikofaktoren vorliegen indizierte
auf der korrekten Identifikation von Risiko- müssen. Sie bietet dieselben Massnahmen Prävention
faktoren und Schutzfaktoren, welche mit allen Mitgliedern der Gruppe an. Beispiele
Gewalt in Zusammenhang stehen; auf der hierfür sind etwa Kurse für schwangere Frau-
Umsetzung von Massnahmen, welche entwe- en oder schulbasierte Programme zur Förde-
der Risikofaktoren reduzieren oder Schutz- rung von sozialen Kompetenzen. Universelle
faktoren stützen, sowie auf dem Nachweis der Programme sind unterstützend und proaktiv.
Wirkung durch methodisch durchdachte Eva- Ein wichtiger Vorteil universeller Prävention
luationsstudien. ist, dass niemand aufgrund der Massnahme
stigmatisiert wird und dass durch sie eine gros-
Risiko- und Risikofaktoren und Schutzfaktoren sind se Breitenwirkung erzielt werden kann. Dem
Schutzfaktoren Eigenheiten des Individuums, der Situation, steht der Nachteil gegenüber, dass universelle
des familiären Umfeldes, der Schule, der Nach- Massnahmen oft mit grossem Aufwand einher
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evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
26
gehen, die verfügbaren Mittel über eine grosse eine möglichst gleich zusammengesetzte Kon-
Anzahl von Personen verteilt werden und die trollgruppe, welche die Intervention / Mass-
Wirkungen oft gering sind. nahme nicht erhält. Dies ist notwendig, weil
nur so geprüft werden kann, ob sich bei der
S E L E K T I V E P R Ä V E N T I O N zielt auf beson- «behandelten» Gruppe Veränderungen im
dere Teilgruppen oder Individuen, die durch erwünschten Sinne ergaben, welche sich bei
eine erhöhte Belastung durch Risikofaktoren der Kontrollgruppe nicht beobachten lassen.
gekennzeichnet sind. Diese Teilgruppen stehen Idealerweise wird die Zuteilung zu Kontroll-
somit unter einem gesteigerten Risiko, gewalt- und Interventionsgruppe nach dem Zufalls-
tätiges Verhalten zu zeigen. Um herauszufin- prinzip vorgenommen. Ist das nicht möglich,
den, welche Gruppen dies sind, ist in der Regel werden die Gruppen nach einer Reihe von Kri-
eine genaue Problembeschreibung und eine terien so zusammengesetzt, dass sie einander
Kenntnis möglicher Ursachen nötig. Program- möglichst ähnlich sind (sogenanntes M AT C H E D
me, welche auf belastete Risikogruppen aus- G R O U P D E S I G N ).
gerichtet sind, haben den Vorteil, dass sie die
Mittel gezielt dort einsetzen, wo eher Wir- N A C H H A LT I G E W I R K U N G : Ein zweites Kri-
kungen hervorgebracht werden können. Dem terium ist der schlüssige Nachweis der ange-
steht der Nachteil gegenüber, dass unter Um- strebten Wirkung. Dies erfordert in der Regel,
ständen soziale Gruppen als gewaltgefährdet dass unterschiedliche Beobachter eine Wir-
stigmatisiert werden können. kung feststellen können. Beispielsweise sollten
bei einer schulischen Präventionsmassnahme
INDIZIERTE P R Ä V E N T I O N sind Präven- sowohl die Kinder selbst, die Lehrpersonen als
tionsprogramme für jene Individuen, bei auch unabhängige Beobachter eine Reduktion
denen bereits Manifestationen von Problem- von Gewalt feststellen können. Ausserdem
verhalten festgestellt werden können und bei wird meist gefordert, dass die Wirkungen nicht
denen durch die Massnahmen eine Verbesse- nur unmittelbar nach der Intervention, son-
rung ihrer zukünftigen Entwicklung ange- dern auch noch über einen Zeitraum danach
strebt wird. Dies können beispielsweise thera- feststellbar sind.
peutische Programme für bereits delinquente
Jugendliche sein. BESTÄTIGUNG DURCH WEITERE STU-
D I E N : Damit ein Präventionsprogramm als
Wie kommt die Forschung zu evidenzbasiert gelten kann, muss es sich in
«Evidenzen»? mehreren Studien als wirksam erwiesen haben.
DIE BLUEPRINTS OF VIOLENCE PREVEN-
Forschungs- In der heutigen Präventionspraxis wer- T I O N zum Beispiel fordern, dass ein Pro-
designs zur den viele Projekte von Evaluationen begleitet, gramm sich in mindestens drei Feldversuchen
Überprüfung die in der Regel auch Aussagen über die ver- als wirksam im Sinne der angestrebten
der Wirkung mutete Wirksamkeit der getroffenen Mass- Effekte erweist, bevor es als «evidenzbasiert»
von Prävention nahmen machen. Meistens handelt es sich ent- empfohlen wird. Oftmals wird hierbei ange-
weder um qualitative Prozessevaluationen – strebt, dass mindestens eine Studie von einer
also Einschätzungen darüber, wie das Projekt Forschergruppe realisiert wird, die nicht selbst
umgesetzt wurde und wie zufrieden die Be- das Programm entwickelt hat.
nutzer mit dem Programm sind – oder aber
um Vorher-Nachher-Messungen von ausge- I D E N T I F I K AT I O N D E R M E C H A N I S M E N :
wählten Zielvariablen. Beide Vorgehen wer- Präventionsmassnahmen können aus ganz ver-
den allerdings in der Forschung zu evidenz- schiedenen Gründen dazu führen, dass man
basierter Prävention N I C H T als Nachweis für nachträglich einen positiven Effekt nachwei-
Wirksamkeit betrachtet. sen kann. Aus diesem Grund wird inzwischen
oft gefordert, dass eine Studie zeigen kann,
Vielmehr besteht weit herum Einigkeit welche Mechanismen dazu geführt haben,
darüber, dass für einen wissenschaftlich abge- dass eine Wirkung erzielt wurde. Beispiels-
stützten Nachweis von positiven Wirkungen weise sollte man idealerweise zeigen können,
höhere Ansprüche an die Forschungsanlage dass eine Massnahme zur Verbesserung des
gestellt werden müssen. Vier zentrale Erfor- Klassenmanagements tatsächlich dazu führt,
dernisse sind (Sherman, Farrington, Welsh, dass Kindern die Regeln des Zusammenlebens
und MacKenzie 2002): besser bekannt sind und sie sich daher eher
daran halten.
Kriterien für G L E I C H W E R T I G E K O N T R O L L G R U P P E : Um
evidenzbasierte die Wirkung einer Massnahme bei einer
Prävention bestimmten Gruppe nachzuweisen, braucht es
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 27
evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
27
Evaluationsforschung Grundlagenforschung
findet wirksame, wirkungslose identifiziert wichtige Risiko-
und schädliche Programme und Schutzfaktoren im Lebenslauf
Systematische Übersichten
stellen aktuelles Wissen der
Praxis zur Verfügung
Umsetzung
nutzt aktuelles «best practice»-Wissen, um geeignete
Massnahmen auszuwählen und zu realisieren; prüft
Wirksamkeit in einem konkreten Kontext
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evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
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Leben gerufen worden, welche der Förderung aktuellen Wissens um wirksame Kriminalitäts-
evidenzbasierter Prävention verpflichtet sind prävention vorzunehmen. Der Bericht enthält
und systematische Übersichten über den 10 Kapitel von herausragenden Forschenden
aktuellen Wissensstand erstellen. Drei Projekte mit systematischen Übersichten über den
werden im Folgenden kurz vorgestellt. Wissensstand zu wirksamer Kriminalitätsprä-
vention in den Bereichen Familie, Schule, Ge-
Weltweite Schritte zu einer evi- meinschaft / Quartier, Arbeitsmarkt, Situation,
denzbasierten Kriminalitätsprävention Polizei, Strafen. Insgesamt wurden 675 Pro-
gramme untersucht, davon wurden 28 als wirk-
Die B L U E P R I N T S O F V I O L E N C E P R E V E N - sam beurteilt.
T I O N stellen den bisher grössten Versuch dar, Adresse: Neben der publizierten Buchversion
wissenschaftliche Evidenzen zur Wirksamkeit gibt es eine elektronische Fassung beim US
von Gewaltpräventionsprogrammen zu sam- Department of Justice unter www.cjcentral.
meln und zusammenzufassen. Das Projekt hat com/sherman/sherman.htm
1996 begonnen und wird unterhalten vom
Center for the Study and Prevention of Vio- Weder in der Schweiz noch im benach- Notwendigkeit
lence der Universität Colorado. Im Rahmen barten Ausland (Frankreich, Deutschland, eines Informa-
dieses Projektes wurden bisher in den USA Österreich, Italien) gibt es bislang vergleich- tionspools
über 600 Präventionsprogramme erfasst und bare Übersichten über evaluierte Präventions-
auf wissenschaftliche Befunde zu ihrer Wirk- projekte oder Fachstellen, die kompetent die
samkeit hin überprüft. Bisher erfüllen nur Entwicklungen in der internationalen Präven-
11 Programme die Kriterien, um das Prädikat tionsforschung beobachten und die Ergeb-
«wirksam» zu erhalten und somit als soge- nisse für die Praxis aufbereiten (dies hängt
nannte Modellprogramme empfohlen zu unter anderem damit zusammen, dass in Kon-
werden. Weitere 18 Programme werden als tinentaleuropa bislang kaum systematische
«vielversprechend» eingestuft. Für die Modell- und qualitativ hochwertige Forschung zur
programme können umfangreiche Broschüren Wirksamkeit von Gewaltprävention betrieben
bestellt werden, welche theoretischen Hinter- wurde). Bestehende Angebote in der Schweiz
grund, Wirksamkeit, Kosten und Massnahmen (etwa die D R E H S C H E I B E G E W A LT P R Ä V E N -
zur Qualitätssicherung detailliert beschreiben. T I O N der Bildungsdirektion des Kantons
www.colorado.edu/csvp/blueprints Luzern) sind in dieser Hinsicht klar unzurei-
chend. Gerade angesichts der kleinräumigen
Die C A M P B E L L C O L L A B O R A T I O N ist eine Organisation der Gewaltprävention in der
internationale Stiftung, die im Jahr 2000 mit Schweiz (Gemeinden, Schulen, Quartiere) wäre
dem Ziel gegründet wurde, weltweit Wissen es hier wichtig, Strukturen zu schaffen, wel-
über evidenzbasierte und wirksame Präven- che lokalen Akteuren den Zugang zu den
tion und Intervention zu sammeln und für Ak- Ergebnissen der praxisorientierten Forschung
teure in Praxis und Politik aufzubereiten. Das erleichtern.
Leitmotto ist: «Was nützt? Was schadet? Ge-
stützt auf welche Evidenzen?» Die Campbell Die Umsetzung von Prävention
Collaboration erstellt Übersichten zum aktuel-
len Stand der Forschung in den Bereichen «Kri- Zu wissen, welche Programme funktio- Umsetzungs-
minalität und Justiz», «Erziehung», sowie «So- nieren und welche nicht, ist allerdings nur ein qualität ist
zialstaat und Gesundheit». erster Schritt. Für die Praxis stellt sich dann die entscheidend
Aufgabe, eine Analyse der lokalen Problem-
Es gibt inzwischen Evaluationsberichte zu ei- situation (z.B. Risikofaktoren, bestehende An-
ner Vielzahl von Themen. Hierzu gehören bei- gebote) vorzunehmen und Massnahmen um-
spielsweise Reviews über die Wirksamkeit von zusetzen, welche auf die Problemsituation
Videokameras zur Kriminalitätskontrolle, von zugeschnitten sind.
Kompetenztrainings für Kinder, oder von
gruppenbasierten Trainingsprogrammen für Allerdings erzielen in der Forschung gut
Eltern von 0- bis 3-jährigen Kindern mit Ver- bewährte Programme in der Praxis oft nicht
haltensauffälligkeiten. die erhoffte Wirkung. Um die Ursachen für
www.campbellcollaboration.org dieses Problem zu verstehen, hat man sorg-
fältige P R O Z E S S E V A L U A T I O N E N durchge-
SHERMAN REPORT – EVIDENCE-BASED führt. Sie zeigen, dass die fehlende Wirkung
C R I M E P R E V E N T I O N : Dieser einflussreiche oftmals auf eine U N V O L L S T Ä N D I G E U N D
Bericht ist das Ergebnis eines 1996 von MANGELHAFTE UMSETZUNG DES PRO-
Lawrence Sherman geleiteten Projektes mit GRAMMS zurückzuführen ist. Die Forschung
dem Auftrag, eine kritische Beurteilung des der letzten Jahre hat daher Kriterien heraus-
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 29
evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
29
gearbeitet, die für eine erfolgreiche Umset- sche Anpassung etwa eines bewährten
zung in die Praxis entscheidend sind (Mihalic Elternbildungsprogramms notwendig und
und Irwin 2003).3 angebracht ist, um auch Eltern einer Minder-
heitengruppe anzusprechen und zum Mit-
Kriterien für eine gute Umsetzung denken zu motivieren.
und kulturspezifische Faktoren
Präventionsmassnahmen müssen jene Erreichen der
Bedürfnis- und Auch gut bewährte evidenzbasierte Prä- Personen und Gruppen zur Teilnahme be- Zielpopulation
Ressourcen- ventionsprogramme sind keine Allerweltsre- wegen, bei denen man eine Wirkung erzielen
analyse zepte, die unbesehen übernommen werden möchte. In der Praxis erweist sich dies oft als
können. Jedem Präventionsprojekt muss eine ein erhebliches Problem. Eine sorgfältige
Analyse der Problemsituation (vor allem Iden- Abklärung der Frage, wie eine Zielpopulation
tifikation von Risikofaktoren und Schutzfak- erreicht werden kann, ist eine notwendige
toren), der bereits bestehenden Ressourcen Voraussetzung für wirksame Prävention.
und Massnahmen sowie der zu erwartenden
Schwierigkeiten vorangehen. Überall in Europa wird hierbei die Erfah-
rung gemacht, dass Zielgruppen umso weni-
Eine solche Bedürfnis- und Ressourcen- ger für Präventionsanliegen gewonnen werden
analyse ist besonders für Programme, welche können, je geringer ihre sozialen und wirt-
Gruppen mit Migrationshintergrund errei- schaftlichen Ressourcen sind und je grösser die
chen möchten, absolut entscheidend, da sich kulturelle Distanz zwischen der Migranten-
bestehende Kenntnisse und Erfahrungen aus gruppe und ihrem gesellschaftlichem Umfeld ist.
der Mehrheitsgesellschaft nur bedingt über-
tragen lassen. Kenntnisse über kulturell ver- Die Frage, wie diese Hemmschwellen
ankerte Wertvorstellungen z.B. bezüglich der überwunden werden können, ist nicht gelöst.
Rolle der Familie oder des Verhaltens von Ein vielversprechender Ansatz basiert auf dem
männlichen Jugendlichen, über bestehende Konzept der community readiness (vgl. z.B.
lokale Organisationen und Vereine sowie der Edwards et al. 2000). Gemeint ist damit der
sozialen und wirtschaftlichen Situation der Grad, in dem eine (lokale oder kulturelle)
Zielgruppen können helfen, Präventionspro- Gemeinschaft dafür vorbereitet ist, eine Prä-
gramme auf die Bedürfnisse der Zielgruppen ventionsmassnahme zu akzeptieren und um-
anzupassen. zusetzen. Diese Bereitschaft (beispielsweise
für Elternbildung) wurde in westlichen Ge-
Auswahl Hierzu gehört auch die Auswahl geeig- sellschaften über viele Jahrzehnte aufgebaut
geeigneter neter Präventionsprogramme: Ein kurzer Blick und verankert. In immigrierten Gemeinschaf-
Präventions- auf die obige Liste von Risikofaktoren ge- ten mit durchschnittlich wenig Bildungsres-
programme nügt um zu erkennen, das Gewaltprävention sourcen hingegen ist sie anfänglich kaum
Bereiche tangiert (z.B. Erziehung, Gewalt gegeben. Einige Gemeinschaften mögen etwa
zwischen Ehepartnern, Regeln in der Schule, Gewaltprobleme völlig leugnen, einige mögen
Zusammenleben in einer Gemeinschaft), in Probleme wahrnehmen, aber nicht zu Mass-
denen vielfältige kulturelle oder religiöse Vor- nahmen bereit sein. Der Ansatz von commu-
stellungen verankert sind. Obwohl davon aus- nity readiness geht davon aus, dass der Um-
gegangen werden kann, dass Präventionspro- setzung einer Präventionsmassnahme eine
gramme im Prinzip universelle Ziele verfolgen gute Abklärung der bestehenden Problem-
und wesentliche Risikofaktoren für Gewalt in wahrnehmung vorausgehen muss (in der
allen menschlichen Gesellschaften gelten, sind Regel durch Interviews mit Vertreterinnen
kulturelle Besonderheiten in der Gewaltprä- oder Vertretern der Gemeinschaft), der dann
vention zu beachten. zunächst Strategien folgen, mit denen ein
Bewusstsein für das Problem geschaffen wird.
Allerdings mangelt es weitherum an
gesichertem Wissen darüber, welche evidenz- Präventionsprojekte treffen auf ein Um- Vernetzung mit
basierten Programme in unterschiedlichen feld bereits bestehender Massnahmen, Insti- bestehenden
kulturellen Kontexten gleichermassen wirk- tutionen und Akteure. Um Wirkung erzielen Strukturen und
sam sind und bei welchen Programmen die zu können, müssen Interventionen auf dieses Akteuren
Wirkungen verschwinden (oder sich gar in Umfeld abgestimmt werden und von allen
negative Effekte umkehren). Und es fehlt an Beteiligten mitgetragen werden. Eine sorg-
Erfahrungen darüber, wie viel kulturspezifi- fältige Vorbereitung und Information ist
3
Vgl. auch die Berichte unter: http://www.colorado.edu/cspv/publications/otherblueprints.html.
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 30
evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
30
daher in jedem Fall wichtig. Sie hat aber bei Evidenzbasierte Projekte
Projekten mit immigrierten Minderheiten ein in der Schweiz
besonderes Gewicht. Beispielsweise ist es in
ethnisch-kulturell durchmischten Quartieren In der Schweiz ist evidenzbasierte und
entscheidend, dass Minderheitenorganisatio- im Rahmen von breit verstandener Gesund-
nen von Beginn an über die Planung und Um- heitsförderung betriebene Gewaltprävention
setzung eines Projektes informiert – und al- erst in den letzten Jahren breiter bekannt
lenfalls aktiv beteiligt – werden. geworden.
Gute Programm- Selbst kleine Präventionsprojekte über- Gegenwärtig sind in der Schweiz vier
organisation fordern oft die Programmverantwortlichen, wissenschaftliche Grossprojekte in Bearbei-
weil die Organisation der Umsetzung nur un- tung, welche einem evidenzbasierten Ansatz
zureichend geplant wurde oder keine Res- verpflichtet sind und die sich mit Gewalt oder
sourcen bestehen, um eine organisatorische Delinquenz beschäftigen.
Begleitung sicherzustellen. Wirksame Projekte
verfügen in der Regel über ausreichende BERNER PRÄVENTIONSPROGRAMM GE-
Mittel, um eine Massnahme kompetent pla- G E N G E W A LT I M K I N D E R G A R T E N U N D I N
nen und realisieren zu können. Für Projekte, D E R S C H U L E B E - P R O X (Françoise Alsaker,
welche sich auch oder spezifisch an Gruppen Universität Bern): Zweck der Studie ist es, die
mit Migrationshintergrund wenden, ist hierbei Wirksamkeit eines Präventionsprogramms ge-
von einem erheblich erhöhten Zeit-, Planungs- gen Bullying (d.h. Plagen und Drangsalieren)
und Organisationsaufwand auszugehen, um im Kindergarten und der Grundstufe der
Wirkung zu erzielen. Primarschule zu überprüfen. Die wichtigsten
Elemente des Programms sind: 1) Sensibilisie-
Umsetzungs- Wirksame Programme fussen meistens rung und Früherkennung (inkl. Differenzieren),
treue auf umfangreichen Überlegungen, wie die 2) Thematisieren: Schweigen brechen und regel-
Programmelemente zusammengehören und mässige Kommunikation, 3) Erarbeiten von
weshalb sie ins Programm aufgenommen Verträgen oder Verhaltenskodex mit den Schü-
wurden. Eine wirksame Umsetzung in der lerinnen und Schülern, 4) Konsequentes Han-
Praxis erfordert, dass die Programme auch so deln und bewusstes positives und negatives
realisiert werden, wie sie von den Entwicklern Sanktionieren, 5) Förderung von sozialen Fer-
konzipiert wurden. tigkeiten und Zivilcourage und 6) Einbezug
der Eltern, Verbesserung der Kommunikation
Angemessene Je nach Zielpopulation und Typus der zwischen Schule und Elternhaus. Eine erste
Programm- Prävention (universelle, selektive oder indi- Studie wurde 1998 in 16 Kindergärten (8 Inter-
intensität zierte Prävention) sind unterschiedlich inten- vention und 8 Kontrollgruppe) umgesetzt und
sive Programme notwendig, um Wirkungen zeigte positive Wirkungen. Gegenwärtig läuft
zu erzielen. Es daher notwendig, sich zu eine erweiterte Studie mit 1000 Kindern in
Beginn einer Umsetzung darüber im Klaren zu 60 Kindergärten.
sein, wie intensiv ein Projekt sein wird und die
Betroffenen (z.B. Lehrpersonen) hierauf vor- Ein beträchtlicher Teil der teilnehmenden Kinder
zubereiten. Programme, die nur teilweise hat einen Migrationshintergrund. Die Studie
umgesetzt werden, erweisen sich in der Regel wird daher gut abgesicherte Aussagen darüber
als wirkungslos. ermöglichen, wie die getroffenen Massnah-
men bei Kindern aus bildungsfernen Migra-
Enthusiasmus Die Realisierung von Präventionspro- tionsmilieus wirken. Mit Ergebnissen ist gegen
und Ausbildung grammen, sei dies nun in der Schule, im Rah- Ende 2006 zu rechnen.
bei Umsetzungs- men von Elternbildung oder in Nachbar-
verantwort- schaften, erfordert eine möglichst aktive und Z Ü R C H E R P R O J E K T Z U R S O Z I A L E N E N T-
lichen überzeugte Mitarbeit von gut ausgebildeten WICKLUNG VON KINDERN Z-PROSO
Projektvermittlern. Denn bei ungenügender (Manuel Eisner, Universität Zürich): Das Pro-
Ausbildung und fehlender Begeisterung er- jekt untersucht die Entwicklung von rund
zielen auch evidenzbasierte Programme keine 1250 Kindern, welche nach den Sommerferien
Wirkung. 2004 in die Primarschule der Stadt Zürich ein-
getreten sind. Ein zentrales Ziel des Projektes
ist es, das Zusammenspiel von Persönlichkeit,
Familie, Nachbarschaft und Schule in Bezug auf
das Heranreifen von prosozialen Kompeten-
zen – wie zum Beispiel Einfühlungsvermögen –
auf der einen Seite und sozialem Problemver-
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evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
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halten – wie zum Beispiel Stören des Unter- hingegen absolvieren ein Triple-P-Training (für
richts – auf der anderen Seite zu bestimmen. Im Informationen vgl. oben), welches ihre Erzie-
Rahmen des Projektes werden nach einem ran- hungskompetenz steigert. Die Ergebnisse der
domisierten Kontrollgruppenprinzip versuchs- Erhebungen werden 2006 vorliegen.
weise zwei Programme eingeführt, welche
darauf abzielen, die sozialen Fähigkeiten von S U P R A - F - S T U D I E (Bundesamt für Gesund-
Kindern nachhaltig zu stärken. Triple P (Positive heit): Dieses multizentrische Programm zur
Parenting Programme) ist ein Kursprogramm Suchtprävention und Gesundheitsförderung
für Eltern, in welchem den Eltern Techniken bei gefährdeten Jugendlichen im Alter von
zur Unterstützung bei alltäglichen Erziehungs- 11 bis 20 Jahren in Gemeinden basiert auf
aufgaben vermittelt werden. PFAD (Programm Prinzipien der evidenzbasierten Prävention. Es
zur Förderung alternativer Denkmuster) be- besteht aus 12 ambulanten supra-f-Zentren in
steht aus einer Reihe von Lektionen, die in den der deutschen und französischen Schweiz. Mit
Schulklassen umgesetzt werden und die sozia- schulischen, sozialpädagogischen und psycho-
len, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten logischen Interventionen sollen Jugendliche in
von Kindern unterstützen, – d.h. sie darin för- schwierigen Lebenssituationen dahingehend
dern, mit Konflikten umsichtiger umzugehen, unterstützt werden, dass sich ihre Situation in
ihre Gefühle besser zu verstehen und Probleme Schule oder Berufslehre stabilisiert. Die ersten
angemessener wahrzunehmen. Ergebnisse zeigen eine gute Wirkung der
Massnahmen der supra-f-Studie.4
Entsprechend der kulturell heterogenen
Zusammensetzung von Familien in der Stadt Unter den der supra-f-Studie zugewiesenen
Zürich haben über die Hälfte der an der Studie Jugendlichen sind knapp die Hälfte ausländi-
teilnehmenden Kinder einen Migrationshin- scher Nationalität. Die supra-f-Studie ermög-
tergrund. Die Studie wird zu Kenntnissen da- licht empirisch gut abgestützte Aussagen über
rüber führen, ob Kinder mit Migrationshinter- die Wirksamkeit von intensiven Massnahmen
grund für Massnahmen der Frühprävention bei gefährdeten Jugendlichen mit Migrations-
erreicht werden können – und ob die Mass- hintergrund.
nahmen Wirkungen zeigen. Mit Ergebnissen
ist gegen Ende 2006 zu rechnen.
E LT E R N U N D S C H U L E S T Ä R K E N K I N D E R
ESSKI (Fachhochschule Aargau Nordwest-
schweiz FHA; Institut für Familienforschung
und Beratung der Universität Fribourg; Päda-
gogische Hochschule Zürich PHZH; und Fach-
stelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme
SFA): Das Projekt richtet sich an Kinder der
ersten bis fünften Primarklasse aus den Kanto-
nen Aargau, Basel-Stadt, Basel-Landschaft,
Schaffhausen, Thurgau und Zürich, die 52 Lehr-
personen dieser Schulklassen sowie die etwa
1000 Eltern bzw. Erziehungsberechtigten der
teilnehmenden Schülerinnen und Schüler.
Mit Hilfe eines randomisierten Kontrollgrup-
pendesigns werden die Wirkungen von zwei
Interventionen überprüft. Die Lehrpersonen
besuchen einen Stress- und Selbstmanage-
mentkurs, bei dem in ca. 20 Stunden die fünf
Kursbausteine Grundlagen, Spannung und
Entspannung im (Schul-)Alltag, der innere
Dialog als Ressource, Engagement und Distanz
im Lehrberuf sowie eine Einführung in den
Gebrauch des Lehrmittels F I T U N D S T A R K
F Ü R S L E B E N behandelt werden. Die Eltern
4
Vgl. Berichte unter http://www.suchtundaids.bag.admin.ch/themen/sucht/praevention/unterebenen/00414/index.html.
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evidenzbasierte gewaltprävention
Prävention von Jugendgewalt
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Vier Kernaussagen
familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
33
4
Familienbasierte Prävention
Die Familie ist ein zentraler Angelpunkt Verhalten. Dieser Zusammenhang ist mit gros-
für die Prävention von Fehlentwicklungen bei ser Wahrscheinlichkeit in Defiziten der Sozia-
Kindern und Jugendlichen. Hierfür gibt es lisation begründet. Fehlende emotionale
zwei Gründe: Zum einen sind F A M I L I Ä R E Unterstützung durch die Eltern erschwert den
R I S I K O F A K T O R E N für die Entstehung von Aufbau von pro-sozialen Kompetenzen (z.B.
Verhaltensproblemen in Kindheit und Jugend Empathie, Vertrauen, Umgang mit Konflik-
mitverantwortlich. Familienbasierte Präven- ten), welche ihrerseits wiederum die Wahr-
tion versucht, auf diese Risikofaktoren einzu- scheinlichkeit von Gewalt in der Jugend ver-
wirken. Zweitens kann niemand besser als die ringern.
Eltern die emotionale und soziale Entwick-
lung des Kindes fördern. Sie in ihren erziehe- Fehlende Erziehungskompetenzen von Erziehungs-
rischen Aufgaben zu unterstützen, ist daher Eltern bilden eine dritte Gruppe von Einfluss- kompetenzen
auch dann sinnvoll, wenn die Ursachen für das faktoren. E R Z I E H U N G S K O M P E T E N Z E N meint der Eltern
Problemverhalten nicht in der Familie zu suchen ein Bündel von Techniken und Fähigkeiten,
sind, sondern beispielsweise in der Persönlich- um ein Kind seinen Möglichkeiten gemäss zu
keit, der Schule oder bei Gleichaltrigenkon- unterstützen und auf Probleme angemessen
takten. Familienbasierte Prävention kann daher zu reagieren. Inkonsistentes Reagieren auf
dem Ziel dienen, S C H U T Z F A K T O R E N gegen Problemverhalten, fehlende Unterstützung
problematische Entwicklungen aufzubauen. von Aktivitäten, mangelnde Betreuung und
elterliche Gewalt sind Ausdrucksformen
Familiäre Risikofaktoren fehlender Erziehungskompetenz und in vielen
Studien als Risikofaktoren für späteres
Familiäre Risikofaktoren haben von der Problemverhalten bestätigt (vgl. z.B. Pfeiffer,
Schwangerschaft bis zur Adoleszenz Auswir- Wetzels, und Enzmann 1999; Smith und
kungen auf die Wahrscheinlichkeit von Ge- Thornberry 1995). Besonders in Kombination
walt und Delinquenz im Jugendalter (Loeber mit geringer elterlicher Wärme und Liebe
und Stouthamer-Loeber 1986; McCord 1991; scheint der Mangel an Erziehungskompetenzen
Utting, Bright, und Henricson 1993). Sie lassen zu Jugendgewalt zu führen (Farrington 1998).
sich vier Gruppen von Phänomenen zuordnen.
Schliesslich sind B E Z I E H U N G S P R O B L E M E Beziehungsqua-
Körperliche Es gibt empirisch gut abgesicherte Risi- Z W I S C H E N D E N E LT E R N T E I L E N ein Risiko- lität zwischen
und psychische kofaktoren, welche mit der Schwangerschaft faktor. Jugendliche, welche als Kinder regel- Elternteilen
Risiken während und der Phase unmittelbar nach der Geburt mässig Zeugen von gewaltsamen Konflikten
und nach verknüpft sind. Zu den wichtigsten Risikofak- zwischen den Ehepartnern waren, üben über-
Schwangerschaft toren während der Schwangerschaft gehören durchschnittlich häufig selbst Gewalt aus (vgl.
ALKOHOL-, NIKOTIN- UND DROGENKON- auch Gelles und Strauss 1988). Dies wird in der
S U M und dessen Auswirkungen auf die Ent- Regel auf Lernprozesse im Umgang mit Kon-
wicklung des Fötus. Ebenfalls vielfach nach- flikten zurückgeführt (Bandura 1973). Zum
gewiesen sind langfristige Auswirkungen der Beispiel haben Jugendliche, welche in der
PSYCHISCHEN BELASTUNG DER MUTTER Kindheit Gewalt zwischen Eltern erlebt haben,
vor oder auch nach der Geburt sowie des Aus- eher gewaltbefürwortende Einstellungen.
masses, in dem sie sich in den ersten Lebens- Zudem gehen sie überdurchschnittlich häufig
monaten des Säuglings massiv überfordert davon aus, dass Mitmenschen ihnen gegen-
fühlt und keine positive emotionale Bindung über feindlich oder aggressiv gesinnt sind
aufbauen kann. (Pfeiffer, Wetzels, und Enzmann 1999).
familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
34
von Problemverhalten im Jugendalter. Aller- Das erfolgreichste und am besten evaluierte Beispiel I:
dings sollte nicht vergessen werden, dass ein Programm, welches sich an die erste Lebens- The
beträchtlicher Teil derjenigen Jugendlichen, phase richtet, ist das von David Olds und sei- Prenatal / Early
welche in sehr schwierigen familiären Ver- nem Team (National Center for Children, Fa- Infancy Home
hältnissen aufwachsen, kaum Verhaltensauf- milies and Communities at the University of Visitation by
fälligkeiten aufweist. Colorado) entwickelte P R E N A T A L / E A R LY Nurses Program
I N F A N C Y H O M E V I S I TA T I O N B Y N U R S E S
Grundtypen familienbasierter P R O G R A M . 5 Das in den späten 1970er Jahren
Prävention entwickelte Programm wurde in drei rando-
misierten Versuchen geprüft und wird heute in
In den vergangenen 30 Jahren wurden den USA in vielen Staaten eingesetzt.
viele erzieherische und therapeutische Pro-
gramme entwickelt, welche familiäre Risiko- Das Programm richtet sich an gefährdete, Zielgruppe &
faktoren zu reduzieren und elterliche Res- einkommensschwache junge Schwangere und Zweck
sourcen zu stärken suchen. In Anlehnung an ihr werdendes Kind. Es setzt sich zum Ziel, un-
Farrington und Welsh (2002) unterscheiden ter Einbezug bestehender sozialer Netzwerke
wir drei Grundtypen (Tabelle 8). Sie wenden Verhaltensweisen vorzubeugen, welche die
sich jeweils an unterschiedliche Altersgruppen physische, psychische und soziale Entwicklung
und können gut abgestützte Evidenzen vorle- des Kindes belasten können. Während der
gen, dass sie wirksam die Wahrscheinlichkeit Schwangerschaft stehen gesundheitsrelevante
von Gewalt und Delinquenz reduzieren. Verhaltensweisen wie Alkohol-, Drogen- und
Nikotinmissbrauch im Vordergrund. Nach der
Schwangerschaft und Geburt konzentriert sich das Programm auf die
frühkindliche Erziehung Förderung von Erziehungskompetenzen, auf
die Verhinderung von Kindsmisshandlung und
Eine erste Gruppe von Präventionspro- -vernachlässigung sowie auf die weitere Le-
grammen sind Massnahmen während der bensplanung der betroffenen Eltern.
Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren
des Kindes. Evidenzbasierte Präventionspro- Das Angebot umfasst 1 bis 4 Hausbesuche Inhalt
gramme zielen darauf ab, durch intensive pro Monat durch eine hierfür besonders aus-
Unterstützung während der Schwangerschaft gebildete Hebamme, welche in der Schwan-
gesundheitliche Risiken zu reduzieren und gerschaft beginnen und fortgesetzt werden,
Erziehungskompetenzen von gefährdeten bis das Kind zwei Jahre alt ist. Die Hebamme
Müttern aufzubauen. unterstützt das Gesundheitsverhalten der wer-
denden Mutter und zeigt den Eltern Wege zu
einem positiven Umgang mit dem Säugling
und allfälligen Problemen; sie bietet aber auch
Berufs- und Erziehungsberatung an und infor-
miert darüber, wo weitergehender Rat gefun-
5
Für weitere Informationen vgl. die offizielle Website: http://www.nursefamilypartnership.org
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 35
familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
35
den werden kann. Schliesslich hilft sie der Mut- wie sie die kognitiven, emotionalen und
ter im Aufbau von Beziehungen mit Angehö- sozialen Kompetenzen ihres Kindes fördern
rigen und nahen Freunden. können.
Wirksamkeit Die erste Studie zur Messung der Wirkun- Programme mit einem positiven Wir-
gen des Programms begann 1977 (Olds, kungsnachweis sind zudem Programme, wel-
Henderson, Chamberlin, und Tatelbaum 1986). che nicht bloss Wissen vermitteln, sondern
15 Jahre nach der Intervention konnten so-
wohl bei den Müttern selbst wie bei den Kin- mit den Eltern Fähigkeiten konkret ein-
dern positive Wirkungen nachgewiesen werden. üben und umsetzen,
Bei den behandelten Müttern wurde eine
deutliche Abnahme von sozialem und gesund- die Eltern darin unterstützen, sich Grund-
heitlichem Problemverhalten (44% weniger lagen einer positiven Erziehung dauerhaft
mit Alkohol- und Drogenkonsum zusammen- zu eigen zu machen,
hängendes Problemverhalten, 69% weniger
Verhaftungen) sowie weniger (31%) weitere eine minimale Intensität von mehreren
Schwangerschaften und ein längerer Zeitraum Kurseinheiten durch qualifizierte Trainer,
(+2 Jahre) bis zu einer allfälligen weiteren unterstützendes Material in Form von
Schwangerschaft nachgewiesen. Während in Videos und / oder Merkblättern sowie nach-
der Kontrollgruppe in 19% der Fälle Kinds- folgende Betreuung aufweisen,
misshandlung oder -vernachlässigung festge-
stellt wurde, betrug diese Rate bei den Behan- bei Vorliegen von schweren Erziehungs-
delten nur 4%. Die behandelten Familien und Verhaltensproblemen intensive Pro-
nahmen weniger Sozialhilfe in Anspruch, unter grammvarianten aufweisen, welche auch
anderem, weil eine höhere Rate der behan- die Paarbeziehung einschliessen.
delten Mütter später eine Stelle fand. Die
behandelten Kinder erwiesen sich als schulisch Seit Beginn der 1990er Jahre wurden
erfolgreicher. Als 15-Jährige liefen sie auch verschiedene standardisierte Elternbildungs-
weniger von zu Hause weg (56%), wurden programme entwickelt. Einige umfassen in-
weniger polizeilich angehalten (56%) und zwischen Kurse für verschiedene Altersstufen
konsumierten seltener Alkohol (56%) als Ju- wie auch unterschiedlich intensive Angebote
gendliche in der Vergleichsgruppe. je nach Bedürfnissen und bereits bestehenden
Problemen.6
Elternbildungsprogramme
Unter den wissenschaftlich evaluierten El- Beispiel II:
Eine zweite Gruppe von Programmen ternbildungsprogrammen ist in der Schweiz Positive Paren-
mit einem positiven Wirkungsnachweis sind T R I P L E P am besten bekannt. Das P O S I - ting Program
standardisierte Elternbildungsprogramme, T I V E P A R E N T I N G P R O G R A M wurde (Triple P)
welche problematische Erziehung reduzieren vom australischen Psychologen Mathew San-
und positive Erziehung stärken wollen. In Pro- ders entwickelt und wird in der Schweiz durch
grammen, welche Wirkungen nachweisen das Institut für Familienforschung in Freiburg
können, erhalten Eltern in der Regel Anlei- vertrieben.7 Triple P ist ein kognitiv-behaviora-
tung darin, les Programm, das auf Erkenntnissen über die
familiären Risiko- und Schutzfaktoren basiert,
wie sie das Verhalten des Kindes beobach- welche mit der Entstehung von Verhaltens-
ten und mögliche eskalierende Konflikte problemen bei Kindern und Jugendlichen ver-
im Voraus erkennen können, bunden sind. Das Interventionsmodell von
Triple P basiert auf 5 Prinzipien:
wie sie klare, verhaltensbezogene Ziele set-
zen und konsistent auf Probleme reagieren Sorgen Sie für eine sichere und interessante
können, Umgebung.
Regen Sie Ihr Kind zum Lernen an.
wie sie positives Verhalten verstärken und Verhalten Sie sich konsequent.
mit ihrem Kind eine unterstützende emo- Erwarten Sie nicht zu viel.
tionale Beziehung aufbauen können, Beachten Sie Ihre eigenen Bedürfnisse.
6
Ein Pionier ist allerdings das Gordon Familientraining, das bereits in den 1970er Jahren eingeführt wurde.
7
Für weitere Informationen vgl. die Website von Triple P Schweiz: www.triplep.ch
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familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
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Angebot Triple P umfasst heute ein ganzes Paket von nen (Aufbau positiver Beziehungen, Umgang
Programmen, welche gemäss dem Grad ihrer mit Problemen im Klassenzimmer, Unterrich-
Intensität (von Informationsbroschüren bis zu ten von emotionalen und sozialen Kompe-
intensiven Therapien) und nach Altersgruppen tenzen) sowie eines für Kinder (Emotionen,
(Kinder von 0 bis 11 Jahren; Teenager) abge- Empathie, andere Kinder verstehen, Umgang
stuft sind. mit Ärger, Regeln in der Schule, mit Erfolg
lernen) enthält. Das Programm ist inzwischen
Bei den in der Schweiz verbreiteten Triple-P- ausser in Englisch auch in Französisch, Spanisch,
Kursen (Stufe 4) sollen die Eltern in vier ca. Norwegisch und Schwedisch – aber nicht in
zweistündigen Sitzungen befähigt werden, Deutsch – verfügbar.
mit bereits komplexen und andauernden Prob-
lemsituationen umzugehen. Anschliessend In Deutschland erfreut sich das vom Starke Eltern –
haben die Eltern in den folgenden Wochen die deutschen Kinderschutzbund angebotene Starke Kinder
Möglichkeit zu vier telefonischen Beratungen Elternbildungsprogramm S T A R K E E LT E R N –
mit einem Triple-P-Trainer. S T A R K E K I N D E R seit einigen Jahren einer
steigenden Beliebtheit.9 Es soll helfen, Erzie-
Triple-P-Kurse wurden in der Schweiz bis vor hungsstress zu reduzieren, Gewalt zu verhin-
kurzem ausschliesslich in Deutsch angeboten. dern und Problemlösungskompetenzen auf-
Seit wenigen Monaten sind im Rahmen von zubauen. Es ist aber hinsichtlich seiner Wirkung
Pilotversuchen auch Kurse in Albanisch, Portu- auf Verhaltensprobleme noch nicht evaluiert.
giesisch und Türkisch möglich.
Familientherapie bei delinquenten
Wirksamkeit Triple-P-Kurse zur Förderung von Erziehungs- Jugendlichen
kompetenzen haben sich in randomisierten
Feldversuchen bei Familien mit einem erhöhten Für bereits gewalttätige oder delin-
Risikoprofil mehrfach als wirksam erwiesen quente Jugendliche verspricht nach aktuellem
(vgl. z.B. Sanders 1999). Positive Effekte wur- Kenntnisstand indizierte Prävention mit The-
den hinsichtlich des verbesserten Erziehungs- rapieprogrammen am ehesten Erfolg. Unter
verhaltens, des positiveren Familienklimas und den verschiedenen Ansätzen können bisher
der Abnahme des beobachteten Problemver- kognitiv-behaviorale Programme der Fami-
haltens bei Kindern im Vorschulalter und im lientherapie, welche gleichzeitig das soziale
Primarschulalter gefunden. Auch bei chinesi- Umfeld (Schule, Lehre, Gleichaltrige, Nach-
schen Eltern mit Erziehungsproblemen in barschaft) einbeziehen, die beste Wirkung
Hongkong sowie bei Minderheiten in Austra- vorweisen. Wir skizzieren im Folgenden einen
lien konnten positive Ergebnisse beobachtet Ansatz, der in der bisherigen Forschung gute
werden. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, Ergebnisse erbracht hat, nämlich die funktio-
dass auch das neu entwickelte Triple-P-Pro- nale Familientherapie.
gramm für Eltern mit Teenagern (12 bis 14 Jah-
re, Kurs mit 8 Einheiten) zu deutlich verbesser- Die funktionale Familientherapie (FFT) Beispiel III:
tem Erziehungsverhalten, besserer psychischer richtet sich an 11- bis 18-jährige, gefährdete Funktionale
Befindlichkeit der Eltern, sowie weniger Kon- oder bereits gewalttätige, delinquente oder Familientherapie
flikten zwischen Partnern sowie gegenüber suchtmittelabhängige Jugendliche und ihre
dem Teenager führt (Sanders 1999). Familien. Dabei wird berücksichtigt, dass der
ethnische und kulturelle Hintergrund dieser
Varianten Im Grundanliegen ähnlich ist das Pro- Population äusserst vielfältig ist.10
Incredible Years gramm I N C R E D I B L E Y E A R S , das von der
amerikanischen Psychologin Carolyn Webster- Es lassen sich fünf aufeinanderfolgende
Stratton entwickelt wurde. Es richtet sich an Hauptziele formulieren: Zunächst geht es
Eltern von Kindern mit Problemverhalten im darum, die Jugendlichen und ihre Familien zu
Alter zwischen 3 und 8 Jahren und wird durch erreichen, zur Teilnahme zu motivieren und
sehr starke Evaluationsergebnisse in sechs einen frühzeitigen Abbruch zu verhindern
randomisierten Feldversuchen gestützt.8 Eine («Engagement»). Zweitens wird versucht, die
besondere Qualität von Incredible Years ist, für diese Familien oft typische Negativität ab-
dass es neben Programmen zur Förderung zumildern, inadäquate emotionale Reaktionen
elterlicher Erziehungspraktiken und sozialer und Einstellungen zu ändern sowie die Bin-
Kompetenzen auch ein Modul für Lehrperso- dung an das Programm, das Vertrauen in den
8
Für weitere Informationen vgl. www.incredibleyears.com
9
Für weitere Informationen vgl. www.starkeeltern-starkekinder.de
10
Für weitere Informationen vgl. die Website der Functional Family Therapy: http://www.fftinc.com
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Therapeuten und die Hoffnung und Motiva- allerdings die Elternbildung durch die öffent-
tion für dauerhafte Veränderungen zu stärken liche Hand in sehr bescheidenem Ausmass ge-
(«Motivation»). Nachdem eine befriedigende fördert. So kommt der Schweizerische Bund
Anbindung an das Programm gewährleistet für Elternbildung (SBE) in seinem 2004 publi-
ist, wird – drittens – die Verflechtung des be- zierten Bericht zum Schluss, dass die Elternbil-
troffenen Jugendlichen und seiner Familie in dung in der Schweiz nach wie vor «ein Schat-
verschiedenen Netzwerken untersucht. Dabei tendasein fristet, kaum finanziell unterstützt
werden die zwischenmenschlichen Funktionen wird und mehrheitlich ehrenamtlich realisiert
von Verhaltensweisen und ihr Bezug zu Ver- wird».11 Nur in einem Viertel der Kantone der
haltensänderungstechniken eruiert («Prob- Schweiz existieren Dachorganisationen, wel-
lemeinschätzung»). Viertens soll die Kommu- che die Elternbildung im Bildungs- und Sozi-
nikation und gegenseitige Unterstützung in alwesen vernetzen und Informationsarbeit
der Familie verbessert werden. Parallel dazu betreiben können.
gilt es, mögliche Lösungen für Verhaltensprob-
leme zu identifizieren und wirkungsvolle Stra- Regional bestehen grosse Unterschiede
tegien der Verhaltensänderung zu erarbeiten in der Verbreitung von Elternbildungsange-
(«Verhaltensänderung»). Fünftens werden boten und der Verankerung von Elternbil-
vorhandene nachbarschaftliche Ressourcen in dung im weiteren Feld des Sozial- und Bil-
die Strategie miteinbezogen, um die Erhal- dungswesens. Dank der Verankerung der
tung und Verallgemeinerung von positiven Elternbildung im Jugendhilfegesetz mit re-
Änderungen in der Familie zu sichern («Gene- gionalen Geschäftsstellen für Elternbildung
ralisierung»). und einem attraktiven Kursangebot ist der
Kanton Zürich auf diesem Gebiet führend. An-
Angebot Das Programm wird von Familientherapeuten dere Kantone verfügen über ein sehr viel be-
geleitet, die jede Familie in einem klinischen grenzteres Angebot.
Rahmen individuell betreuen. Neuerdings wur-
den auch FFT-Programme entwickelt, die eine Gemäss dem Schweizerischen Bund für
Behandlung zu Hause vorsehen und sich spe- Elternbildung besuchten im Jahr 2004 rund
ziell an mehrfach belastete Familien mit mul- 48 000 Personen eine der rund 2500 Elternbil-
tiethnischem Hintergrund richten. In der Regel dungsveranstaltungen in der Schweiz. Das An-
werden nur rund 10 Stunden eigentliche The- gebot erstreckt sich von Kursen zu Schwan-
rapiearbeit je Familie aufgewendet, bei schwe- gerschaft und Säuglingsalter über Angebote
ren Fällen (z.B. nach der Rückkehr aus einer sta- zu Kinderziehung und Umgang mit Problemen
tionären Massnahme) höchstens 26 Stunden. während der Adoleszenz bis hin zu Veranstal-
tungen über Partnerschaft, Adoption oder die
Wirksamkeit Klinische Versuche zeigen, dass die FFT eine Situation von Kindern in der Scheidung. In den
wirkungsvolle Behandlung Jugendlicher mit letzten zehn Jahren kann vor allem eine Zu-
Verhaltensstörungen und Jugendlichen mit nahme von standardisierten Kursen und Pro-
Sucht- oder Gewaltproblemen ermöglicht. Sie grammen beobachtet werden, welche in der
verhindert auch, dass solche Jugendliche in res- Regel einer gewissen Qualitätskontrolle unter-
triktivere (und teurere) Behandlungen gelan- liegen. Jedoch wurde unseres Wissens ausser
gen oder andere Sozialdienste in Anspruch Triple P keines der angebotenen Programme –
nehmen müssen. Bezüglich der Rückfallquote sei es im Ausland oder in der Schweiz – hin-
wurde je nach Programm und Studie eine Re- sichtlich der Wirksamkeit evaluiert.
duktion zwischen 25% und 50% nachgewiesen.
Die Programmeffekte hielten auch 5 Jahre Die universelle Elternbildung in der Es braucht mehr
nach der Intervention an. Schweiz hat ihr präventives Potential noch evidenzbasierte
nicht ausgeschöpft. Sie benötigt allerdings Elternbildung
Familienbasierte Prävention in zusätzliche finanzielle und organisatorische
der Schweiz Ressourcen, um ein flächendeckendes Ange-
bot aufzubauen, innovative Projekte zu för-
Elternbildung Dass Eltern in die Prävention einbezo- dern, die Öffentlichkeitsarbeit zu intensi-
wird wenig gen und ihre Erziehungskompetenzen durch vieren und die Zusammenarbeit mit der
unterstützt Fachpersonen unterstützt werden sollten, ist Forschung zu verbessern.12 Hierzu gehört eine
ein altes Postulat der schweizerischen Fami- vermehrte Orientierung an evidenzbasierten
lienpolitik. Im Gegensatz zu anderen Berei- Programmen, die auf verschiedene Altersstu-
chen des Sozial- und Bildungswesens wird fen abgestimmt sind.
11
Auf der Website des Schweizerischen Bundes für Elternbildung unter «Über uns»: http://www.elternbildung.ch.
12
Vgl. Elternbildung in der Schweiz, S. 5, unter: http://www.elternbildung.ch/images/4_Elternbildung_Schweiz.pdf
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 38
familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
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Schliesslich bestehen auch im Bereich keit auch nur ansatzweise einschätzen lassen.
von indizierter familienbasierter Prävention Es scheinen daher generell alle Anstrengun-
mit bereits auffälligen Jugendlichen Angebote gen sinnvoll, die Massnahmen im Bereich der
in der Schweiz. Insbesondere wurden seit Elternunterstützung und -bildung vermehrt
Ende der 1980er Jahre in verschiedenen Kan- bezüglich ihrer Wirkungen evaluieren.
tonen (vor allem in der deutschsprachigen
Schweiz) sowie durch die Pro Juventute Familiäre Prävention und Eltern
Angebote der S O Z I A L P Ä D A G O G I S C H E N mit Migrationshintergrund
F A M I L I E N B E G L E I T U N G aufgebaut. Die Sozial-
pädagogische Familienbetreuung besteht aus Immigrierte Eltern mit geringen Bil- Familien mit
zeitlich befristeten Interventionen in Familien, dungsressourcen sind eine wichtige Zielgrup- Migrations-
die sich in einer akut schwierigen Lebens- pe für familienbasierte Gewaltprävention – hintergrund
situation befinden. verstanden als Teil einer breiten Förderung werden zu
der psycho-sozialen Entwicklung von Kindern wenig erreicht
Wie aber bereits in der kollektiven Ex- und Jugendlichen. Allerdings gibt es überall in
pertise des Bundesamtes für Gesundheit der Schweiz zu wenig Programme und Akti-
(2004) über Prävention zu Gunsten gefährde- vitäten, welche auf die Bedürfnisse von immi-
ter Kinder und Jugendlicher festgestellt wurde, grierten Eltern ausgerichtet sind und die
sind bisher ganz wenige dieser Angebote so angestrebten Zielgruppen T A T S Ä C H L I C H zu
evaluiert, dass sie sich bezüglich ihrer Wirksam- erreichen vermögen.
Standardisierte Programme
Triple P (Matthew Sanders)
Starke Eltern – Starke Kinder (Deutscher Kinderschutzbund, in
der Schweiz im Aufbau)
Was Eltern wissen sollten / Ce que les parents devraient savoir
(Rerrez, Minsel & Wimmer)
STEP – das Systematische Training für Eltern (Dinkmayer, McKay
& Dinkmeyer)
Gordon Familientraining / Familienkonferenz (Thomas Gordon)
Etre parents aujourd’hui (Don Gordon)
familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
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Nicht-medizini- So haben Migrantinnen einen deutlich Unsere eigenen Erfahrungen im Rahmen Ansätze zum
sche Geburts- schlechteren Zugang zur peri- und postnatalen des Präventionsprojektes Z I P P S ( Z Ü R C H E R Erreichen
vorbereitung Versorgung in der Schweiz.13 Dies betrifft vor INTERVENTIONS- UND PRÄVENTIONSPRO- bildungsferner
und Betreuung allem nicht-medizinische Angebote (etwa JEKT AN SCHULEN) zeigen jedoch, dass immigrierter
Geburtsvorbereitungskurse), die kaum in An- langfristig angelegte Informations- und Moti- Eltern
spruch genommen werden. Angesichts der vationsstrategien notwendig sind, um Eltern-
Bedeutung von Prävention in dieser ersten Le- bildung unter bildungsfernen immigrierten
bensphase für die spätere psycho-soziale Ent- Eltern bekannter zu machen und stärker zu
wicklung besteht hier ein erhebliches Defizit. verankern. So ist es im Zürcher Interventions-
und Präventionsprojekt an Schulen, zipps,
Gegenwärtig sind von verschiedenen trotz kostenlosem Kursbesuch, fremdsprachi-
Seiten – beispielsweise im Rahmen der gen Kursen, Kinderhütedienst und aufwändi-
Bundesstrategie M I G R A T I O N U N D G E S U N D - ger Werbung nur sehr beschränkt gelungen,
H E I T 2 0 0 2 B I S 2 0 0 6 – Bemühungen im Gan- die Angehörigen von wenig integrierten
ge, diese Lücken zu füllen.14 So hat in Basel die fremdsprachigen Minderheiten zum Besuch
S C H W E I Z E R I S C H E K O O R D I N AT I O N S S T E L L E der Kurse zu bewegen.
F Ü R M I G R AT I O N U N D R E P R O D U K T I V E G E -
S U N D H E I T mit dem Aufbau eines Angebots Neben anderen Faktoren scheint ein we-
zur Geburtsvorbereitung für Migrantinnen in sentlicher Grund zu sein, dass für eine grössere
mehreren Regionen begonnen.15 Es wäre für Akzeptanz solcher Elternbildungsangebote
eine langfristige Prävention von Verhaltens- langfristige Informationsarbeit nötig ist, weil
problemen wohl sinnvoll, Bestrebungen zu die dahinter stehenden Ideen oft ungewohnt
fördern, welche mütterlichen Stress abbauen sind. Fremdsprachige Kurse müssten daher,
helfen, den Aufbau emotional tragender Be- begleitet von entsprechender Informationsar-
ziehungen unterstützen und Kompetenzen beit, über mehrere Jahre kontinuierlich ange-
im Umgang mit Säuglingen vermitteln. boten werden.
Elternbildung Die Angebotslücken für Eltern von Ein interessanter Ansatzpunkt zur Infor-
für Migrantinnen Kleinkindern und Kindern im Primarschulalter mationsarbeit ist das Projekt F E M M E S -
und Migranten dürften noch ausgeprägter sein. Gespräche T I S C H E . FemmesTische wurde 1996 entwickelt
mit Vertreterinnen der Elternbildung ergeben und ist ein Projekt der Gesundheitsförderung
jedenfalls, dass das bestehende Angebot der für Migrantinnen. Es basiert auf der Idee, dass
Elternbildung in erster Linie sozial gut inte- informelle persönliche Kontakte und Gesprä-
grierte Mittelschichteltern schweizerischer che gerade unter bildungsfernen Gruppen oft
Nationalität erreicht. Mehrere Faktoren sind besser funktionieren als Vorträge oder schrift-
dafür verantwortlich, dass Migrantinnen und liche Informationen. Bei FemmesTische laden
Migranten nicht ausreichend erreicht werden. daher vorher ausgebildete Fachfrauen aus
Zu Barrieren infolge tiefer Bildung, geringen dem jeweiligen Kulturkreis andere Frauen zu
Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, fehlenden sich nach Hause ein, um dort über Gesund-
Sprachkenntnissen und anderen Erziehungs- heitsprobleme zu sprechen. Die Erfahrungen
vorstellungen kommen materielle Hindernisse zeigen, dass dieser Ansatz erfolgreich Mi-
wie die Kosten von Elternbildungskursen, oft grantinnen zu erreichen vermag und vermut-
unregelmässige Arbeitszeiten und die Kosten lich die Bereitschaft zu einer weitergehenden
für eine allfällige Kinderbetreuung während Nutzung von Präventionsangeboten stärkt
des Kursbesuches hinzu. Erst vor kurzen sind (obwohl keine gesicherten Kenntnisse über
erste Versuche angelaufen, Programme zur die Wirksamkeit vorliegen).
Förderung von Erziehungskompetenzen auch
in einigen wichtigen Sprachen von Migrantin-
nen und Migranten anzubieten (Triple P in
Albanisch, Türkisch und Portugiesisch).
13
Vgl. Newsletter 3/2003 der Fachstelle Gesundheit und Migration der Caritas Schweiz, http://www.caritas.ch/gesundheit
14
Vgl z.B. den Evaluationsbericht Anna Vettori, Stephan Hammer, Rea Bonzi, Nicolas Schmidt (2005) Zwischenevaluation Projekt Migration und Reproduktive Gesundheit im Auftrag des
Bundesamtes für Gesundheit (http://www.bag.admin.ch/cce/studien/migrationgesund/d/reprges05/berichtreprges05.pdf). Der Bericht kommt zum Schluss, dass eine Beurteilung der
erreichten Wirkungen nicht möglich ist.
15
Weitere Projekte in diesem Bereich sind beispielsweise conTATTO in Zürich (Babymassagekurse für Eltern aus verschiedenen Kulturen) oder das (abgeschlossene) Schulungsprojekt für tür-
kische Mütter und die Frühförderung ihrer Kinder, Scherer-Korkut, Yesim (1998) Bericht über ein Schulungsprojekt für türkische Mütter und die Frühförderung ihrer Kinder, in: Marie-Meier-
hofer Institut für das Kind (Hrsg). Startbedingungen für Familien. Zürich: Pro Juventute.
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familienbasierte prävention
Prävention von Jugendgewalt
40
Fazit
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
41
5
Schulische Prävention
Schulische Die Schule ist aus vier Gründen ein zen- tungserwartungen haben, welche die Jugend-
Faktoren traler Ort für Gewaltprävention: Erstens, weil lichen unter übermässigen Druck stellen.
Plagen, Drangsalieren und Gewalt auf allen Schliesslich können Delinquenz und Gewalt
Altersstufen negative Wirkungen auf das ihrerseits eine Ursache für schulische Probleme
Schul- und Lernklima haben, die es zu verhin- sein (Thornberry 1996). Dies liegt nicht nur da-
dern gilt; zweitens, weil die Schule die Lebens- ran, dass Schwänzen, Prügeln und Disziplinar-
chancen von Kindern prägt und ihr damit strafen ganz direkt einer schulischen Karriere
auch eine Verantwortung für die Prävention nicht dienlich sind. Vielmehr kann aggressives
von Problemverhalten zukommt; drittens, Verhalten bereits in der Primarschule zu einer
weil schulische Programme ausnahmslos alle Rückweisung durch sozial kompetente und
Kinder und Jugendlichen erreichen, was oft schulisch überlegene Gleichaltrige und
heisst, dass sie als Schutzfaktoren gegen damit zu weniger Unterstützung im Lernpro-
schwer beeinflussbare ausserschulische Risiko- zess führen.
faktoren (Familie, Nachbarschaft etc.) wirken
können; und viertens, weil von der Schule aus Die Wahrscheinlichkeit von Gewalt kor- Schulklima
Präventionsaktivitäten in Familie, Freizeit und reliert ausserdem mit Merkmalen von Schul-
Nachbarschaft angestossen und unterstützt klassen oder Schulhäusern. Schulhäuser mit
werden können. einem schlechten Schulklima, einem negativen
Lehrer-Schüler-Verhältnis und unklarer oder
Schulische Risikofaktoren als ungerecht empfundener Durchsetzung
von Regeln haben oft überdurchschnittlich
Gewalttätige Die Wahrscheinlichkeit von Gewalt viele Probleme mit Gewalt. Zu einem grossen
Jugendliche korreliert mit schulischen Merkmalen von Teil hat dies mit den individuellen Merkmalen
gehen nicht Jugendlichen. Hierzu gehören S C H W A C H E der Schülerinnen und Schüler zu tun, die ein
gern zur Schule S C H U L I S C H E L E I S T U N G E N , eine T I E F E bestimmtes Schulhaus besuchen. Wo viele
L E I S T U N G S M O T I V A T I O N , eine G E R I N G E schwierige Kinder in die Schule gehen, ist in
BINDUNG AN DIE SCHULE, HÄUFIGES der Regel auch das Schulklima schlecht und
SCHWÄNZEN und G E R I N G E B E R U F L I C H E das Aggressionsniveau hoch.
A S P I R A T I O N E N . In nach Leistung abgestuf-
ten Schulsystemen (wie in Deutschland und Jedoch sind Klassenverbände und Schul- Schlechtes
der Schweiz) weisen daher die unteren Schul- häuser als soziale Einheiten auch U R S Ä C H - Schulhausklima
stufen einen erhöhten Anteil von gewalttäti- L I C H an der Entstehung von Gewalt beteiligt und unklare
gen Jugendlichen auf. Allerdings haben (Gottfredson 2001; Meier 1997; Riedel und Regeln erhöhen
aggressiv auffällige Kinder bereits in der Welsh 2002; Welsh 2001). Mangelnde Klarheit Gewaltrisiko
Primarschule eher schulische Probleme. über Verhaltensregeln und inkonsistente
Durchsetzung von bestehenden Regeln bei-
Schulprobleme Drei Mechanismen sind für diesen Zu- spielsweise sind Merkmale von Schulen (und
und Gewalt sammenhang verantwortlich. Zum einen teilen Klassen), die mit einer höheren Wahrschein-
haben gemein- Schulprobleme und aggressives Verhalten viele lichkeit von Problemverhalten verschiedenster
same Ursachen Ursachen. Zum Beispiel haben Persönlichkeits- Art einhergehen. Ausserdem unterscheiden
merkmale wie geringe Selbstkontrolle und fa- sich Schulen im Ausmass, in dem sie Kindern
miliäre Risikofaktoren wie inkonsistente Erzie- emotionale Unterstützung bieten und bei-
hung sowohl auf die schulische Leistung wie spielsweise dem systematischen Ausschluss
auch auf aggressives Verhalten Auswirkungen von einzelnen Kindern entgegenwirken.
(vgl. z.B. Gottfredson und Hirschi 1990). Zwei- Schulen mit geringer emotionaler Unterstüt-
tens können schulische Probleme Stress auslö- zung der Kinder und mangelnder Förderung
sen und als Folge davon Gewalt und andere von Zusammenhalt zwischen den Schülerin-
Formen von Delinquenz begünstigen (z.B. nen und Schülern laufen eher Gefahr, mit Ge-
Agnew 1992). Engel und Hurrelmann (1998) waltproblemen konfrontiert zu sein. Und drit-
etwa argumentieren, dass schulisches Versagen tens haben Schulen eher mit Problemen zu
vor allem dann mit einem erhöhten Risiko für kämpfen, welche Lernfreude und geistige
Gewalt einher geht, wenn die Eltern hohe Leis- Entwicklung nur unzureichend fördern. Bei
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schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
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Curricula zur Förderung von sozialen 5 bis 11 Jahre Universell oder selektiv in belasteten
Kompetenzen mit kognitiv-verhaltens- Schulen; guter Wirkungsnachweis
orientierten Elementen
16
Die Webseite des Projektes lautet: http://www.highscope.org/Research/PerryProject/perrymain.htm
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schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
43
dung zu verbessern. Damit soll der Zusammen- In den Niederlanden wurde das Programm Umsetzungen
hang zwischen ökonomischer Benachteiligung unter dem Namen K A L E I D O S C O O P einge- in Europa
und schulischem Misserfolg aufgebrochen führt. Auch dort konnten sorgfältige Evalua-
werden. Vom schulischen Erfolg wird erwartet, tionen die Wirksamkeit des Programms nach-
dass sich hieraus bessere Chancen auf dem weisen. Ähnlich gestaltet sich auch das
Arbeitsmarkt und eine geringere Verwicklung Programm P Y R A M I D E , das sich aber speziell
in die Delinquenz ergeben. an Kinder aus Migrantenfamilien in ethnisch-
kulturell heterogenen Stadtquartieren wen-
Angebot Beim PPP handelt es sich um eine zweijährige det.17 Zusammen mit Kaleidoscoop ist es das
Intervention mit einem Pensum von 2,5 Stun- einzige Programm, welches gemäss Kriterien
den pro Tag, 5 Tage pro Woche und 7 Monate von C O M M U N I T I E S T H A T C A R E in den
pro Jahr. Wöchentliche Hausbesuche durch Niederlanden das Prädikat «effektiv» statt nur
einen Lehrer sind fester Bestandteil des Pro- «vielversprechend» trägt.
gramms. Fünf Komponenten tragen zum
Erfolg des Models bei. 1) Der an die Entwick- In Grossbritannien wird das Ziel einer umfas-
lung des Kindes angepasste Lehrplan betrach- senden frühzeitigen pädagogischen Förde-
tet Kinder als aktive, selbstmotivierte Lernende. rung von Kindern durch die seit 1997 ins Leben
Sie können ihre Lernaktivitäten selbst bestim- gerufenen E A R LY E X C E L L E N C E C E N -
men und ein spielerischer Umgang mit der T E R S umgesetzt. Sie sind darauf ausgerich-
Sprache wird besonders gefördert. 2) Kleine tet, in den am stärksten benachteiligten Stadt-
Klassen von bis zu 20 Kindern mit mindestens quartieren die Entwicklung von Kindern in
zwei Lehrkräften bürgen für eine unterstüt- einem frühen Lebensalter gezielt zu fördern
zende Lernumgebung und gewähren eine bes- und Bildung, Gesundheitsfürsorge, Betreuung
sere Aufsicht. 3) Die Lehrkräfte sind auf früh- sowie Unterstützung und Entlastung von
kindliche Belange spezialisiert und werden Familien miteinander zu verbinden.18
angemessen weitergebildet und begleitet. Sie
bauen auch einen aktiven Kontakt zu den Schulcurricula zur Förderung
Eltern auf. 4) Nebst pädagogischen Angeboten sozialer Kompetenzen
geht das PPP auf andere Bedürfnisse benach-
teiligter Kinder und ihrer Familien ein, z.B. Delinquente und gewalttätige Jugendli- Was sind soziale
durch Mittagsangebote oder durch die Ver- che haben häufig Defizite im Bereich K O G N I - Kompetenzen?
mittlung an andere Sozialdienste. 5) werden TIVER UND SOZIALER KOMPETENZEN,
Aktivitäten und Leistungen sowohl der Lehr- welche sich oft schon in der Kindheit fest-
kräfte als auch der Kinder laufend begleitet stellen lassen. K O G N I T I V E K O M P E T E N Z E N
und evaluiert. meint ein Bündel von Fähigkeiten zur Wahr-
nehmung von Anderen und sich selbst und
Wirksamkeit Das High / Scope Perry Preschool Program be- beinhaltet die Fähigkeit, Impulse zu kontrol-
gann 1970 als randomisierter Feldversuch mit lieren (d.h. zu denken, bevor man handelt),
123 sozio-strukturell stark benachteiligten Risiken angemessen einzuschätzen, Gefühle
afro-amerikanischen Kindern im Alter von 3 bis von Anderen richtig zu erkennen, sowie ver-
4 Jahren. Die Entwicklung der Programmteil- schiedene Lösungen für eine Problemsitua-
nehmer und der Kontrollgruppe wurde bis ins tion verfügbar zu haben. S O Z I A L E K O M P E -
Alter von 27 Jahren untersucht. T E N Z E N hingegen meint spezifischer die
Fähigkeit, angemessen mit Anderen zu spre-
Dabei zeigten sich für die Teilnehmer des Vor- chen und zu interagieren, Bedürfnisse zu äus-
schulprogramms sern und Regeln des Zusammenlebens zu
befolgen. Fehlende soziale und kognitive
63% weniger Personen mit 5 oder mehr poli- Kompetenzen sind als Risikofaktor für Gewalt
zeilichen Festnahmen, gebührend belegt. Gleichzeitig sind sie Risi-
68% weniger Festnahmen wegen Drogenhan- kofaktoren für andere Formen von Problem-
dels, verhalten wie Stehlen oder Schwänzen.
26% weniger Empfänger von Sozial- oder Für-
sorgehilfen, Kognitive und soziale Basiskompetenzen Grundidee
31% mehr Maturitätsabschlüsse, werden ab den ersten Lebensjahren und wäh-
fast doppelt so viele Hausbesitzer, rend der gesamten Kindergarten- und Pri-
drei Mal so viele Personen mit einem Einkom- marschulzeit erlernt. Vor- und Grundschule
men von mehr als $ 2000 / Monat. bieten einen Rahmen, in dem der Erwerb die-
17
Für die englischsprachige Übersicht vgl. http://www.nizw.nl/Docs/Internationaal/Jeugd/Factsheets/EarlyChildhood.pdf
18
Für weitere Information und Links vgl. http://www.britishcouncil.de/d/education/ecec.htm
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schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
44
PATHS
(Deutsch als PFAD in 5 bis 12 Jahre Emotionale Kompetenzen Ja
Pilotversuch, Eisner) Selbstkontrolle
Soziale Kompetenzen
Interpersonelles Problemlösen
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
45
gewichtig mit aktiver Teilnahme, praktischen ihrerseits in 2- bis 3-tägigen Workshops in das
Übungen, Rückmeldungen an die Kinder und Programm eingeführt. Ihnen stehen während
der Anwendung des Wissens im schulischen des Programms Berater zur Seite, die sie im
Alltag arbeiten, zeigen häufig positive Effek- Zweiwochenrhythmus aufsuchen.
te. Programme, welche eher auf die «klassi-
sche» Methode der Wissens- und Kompetenz- Für sämtliche einleitend erwähnten Gruppen Wirkungen
vermittlung in Schulen wie das Vermitteln der von Kindern konnten bei Programmabsolven-
Lerninhalte durch Frontalunterricht, Übungs- ten im Vergleich zu Kontrollgruppen Verbes-
blätter und eventuell abschliessender Diskus- serungen beim Grad an Selbstkontrolle, dem
sion bauen, können hingegen keine Effekte Verstehen und Erkennen von Emotionen, der
aufweisen. Kognitiv-verhaltensfokussierte Pro- Frustrationstoleranz, der Verwendung wirksa-
gramme erweisen sich mithin als den «unter- merer Konfliktbewältigungsmuster sowie der
richtenden» Programmen überlegen. Denk- und Planungsfähigkeiten festgestellt
werden. Entsprechend äusserten «behandelte»
Beispiel II: Zu den am besten evaluierten Programmen Kinder weniger Beklemmungs- und Angstge-
Promoting gehört das von Mark Greenberg und Carol fühle und wiesen weniger Benehmens- und
Alternative Kusché entwickelte PATHS (Promoting Alterna- Gewaltprobleme auf (Greenberg, Kusché, und
Thinking tive Thinking Strategies).19 Wie es der Name Mihalic 1998; Kam, Greenberg, und Kusche
Strategies PATHS nahe legt, setzt sich das P R O G R A M M Z U R 2004).
FÖRDERUNG A LT E R N A T I V E R DENK-
S T R A T E G I E N ( P F A D ) das Ziel, emotionale Programme zur Verbesserung des
und soziale Kompetenzen von Kindern zu för- Schulhausmanagements, des Klassen-
dern und aggressives und anderes Problem- managements und der Durchsetzung
verhalten zu mindern, was nicht zuletzt dem von Regeln und Ordnungen
Lernprozess zugute kommen soll. PFAD wird
als Teil des Lehrplans vermittelt und richtet sich Hier handelt es sich um Programme,
grundsätzlich an alle Kinder im Primarschulal- welche innerhalb einer Schule klare Verhal-
ter. Es hat auch bei Kindern mit besonderen tensregeln aufstellen und diese systematisch
Bedürfnissen (schwerhörige, lernbehinderte, durchzusetzen versuchen. Programme dieser
gemütskranke oder auch hochbegabte) positive Art anerkennen, dass Lehrpersonen in ihrer
Resultate erzielt. täglichen Arbeit bereits Regeln durchsetzen.
Ziel der Präventionsprogramme ist es aber, die
Angebot Im Idealfall wird PFAD während der gesamten Vermittlung von Verhaltensregeln und ihre
Primarschulzeit in den ordentlichen Lehrplan Durchsetzung im Schulcurriculum zu veran-
aufgenommen. Das Programm wird in der kern, die Eltern aktiv einzubeziehen und mit
Regel drei Mal wöchentlich in einem Umfang lokalen Medien und politischen Akteuren zu-
von mindestens 20 Minuten unterrichtet. Der sammenzuarbeiten.
Lehrkraft steht Unterrichtsmaterial zur Verfü-
gung, das ihr hilft, ihren Schülern Selbstkon- Entsprechend enthalten alle Programme,
trolle, emotionale Intelligenz, soziale Kompe- welche eine positive Wirkung nachweisen
tenz, positive Beziehungen unter den Schülern können, ein ausgearbeitetes Konzept zur Ver-
sowie Fähigkeiten zur konstruktiven Problem- mittlung von Verhaltensregeln auf verschie-
lösung zu vermitteln. Von diesen Kompeten- denen Ebenen des schulischen Alltags sowie
zen wird erwartet, dass durch sie emotionale von Mechanismen zur Qualitätskontrolle der
Störungen und Verhaltensprobleme gemin- Umsetzung. Oft sind solche Programme mit
dert werden können. Mit PFAD lernen Kinder, Massnahmen verbunden, welche bezwecken,
Gefühle zu erkennen, einzuordnen, auszu- die Entscheidungsprozesse und Autoritäts-
drücken und mit ihnen umzugehen. Weitere strukturen in einem Schulhaus so zu verbes-
Elemente des Programms betreffen die Unter- sern, dass schulische Probleme eher gelöst
scheidung zwischen Fühlen und Verhalten, werden, die Kommunikation zwischen Schule,
den Aufschub von Belohnungen, Impulskon- Eltern und Kindern verbessert wird, und schu-
trolle, und Stressreduktion. Kinder lernen da- lische Regeln klarer gefasst und besser durch-
bei auch Andeutungen und nonverbale Kom- gesetzt werden. Im weitesten Sinne fallen
munikation zu verstehen, die Perspektive derartige Projekte also in den Bereich der
anderer einzunehmen sowie Probleme Schritt SCHULENTWICKLUNG.
um Schritt zu lösen. Die Lehrpersonen werden
19
Für eine Übersicht vgl. http://www.colorado.edu/cspv/blueprints/model/programs/PATHS.html
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 46
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
46
Auch bei diesen Programmen gilt, dass Das Anti-Bullying-Programm zeigt aufgrund Wirkungen
sich positive Wirkungen nur bei einem klar von Evaluationen, welche den Ansprüchen
über den schulischen Alltag hinausgehenden eines «model programs» genügen, folgende
Engagement und einer kontinuierlichen Qua- Wirkungen:
litätskontrolle feststellen lassen.
Substantielle Verminderung selbstberichteten
Beispiel III: Das bekannteste und international am besten aktiven Bullyings sowie entsprechender Opfer-
Anti-Bullying evaluierte Programm in diesem Bereich ist das erfahrungen
Programm A N T I - B U L LY I N G P R O G R A M M V O N D A N
von Olweus O L W E U S . 2 0 Das in Norwegen während der Signifikante Reduktion von anderen Formen
frühen 1980er Jahre entwickelte Programm selbstberichteten Problemverhaltens (andere
wurde inzwischen mehrfach in Norwegen Gewalttätigkeiten, Vandalismus, Diebstahl,
selbst, in den USA, in England, sowie in Schwänzen)
Deutschland evaluiert. Es ist in der Schweiz
zwar relativ gut bekannt, wurde aber noch nie Signifikante Verbesserung des Schul- und
als Programm umgesetzt und hinsichtlich sei- Klassenklimas (positive Beziehungen in der
ner Wirkung evaluiert. Klasse, positivere Einstellungen zur Schule und
zu Hausaufgaben, verbesserte Ordnung und
Angebot Das Interventionsprogramm richtet sich an sämt- Disziplin)
liche Schüler in der obligatorischen Schulzeit
(1. bis 9. Klasse). Wie es sein Titel andeutet, hat Ein anderer Ansatz, der Klasse, Schule, und Beispiel IV:
es zum Ziel, das Plagen und körperliche und Familie miteinander verbindet, ist das Pro- Skills, Opportu-
psychische Drangsalieren im schulischen Kon- gramm S K I L L S , O P P O R T U N I T I E S , A N D nities, and
text zu vermindern und damit verbundene R E C O G N I T I O N S O A R von John Hawkins Recognition
Probleme zu reduzieren. Spezifischer werden und Richard Catalano, welches jedoch nicht SOAR
vier Ziele verfolgt: 1) Sensibilisierung und För- kommerziell vertrieben wird. Es basiert auf um-
derung des Wissens um das Bullying-Problem, fangreicher Grundlagenforschung der beiden
2) aktiver Einbezug von Eltern und Lehrern, Programmentwickler. Auf der Klassenebene
3) Entwicklung von Regeln zur Prävention von absolvieren die Lehrpersonen ein Trainings-
Bullying, 4) Hilfe und Schutz für Bullying-Opfer. modul, welches interaktives Unterrichten,
kooperatives Lernen sowie die klare Durchset-
Das Anti-Bullying-Programm setzt auf drei zung von Regeln im Klassenzimmer unterstützt.
Ebenen an. Zudem enthält das Programm für alle Alters-
stufen der Grundschule Unterrichtseinheiten,
Schulhausebene: in denen altersgerecht Kompetenzen wie
Bildung von Anti-Bullying-Arbeitsgruppen Kommunikation, Konfliktlösung, Verhandeln,
Anonymer Fragebogen zur Erhebung des Verständnis und Nein-Sagen vermittelt werden.
Ist-Zustandes
Ausbildung des gesamten Schulhauspersonals Parallel dazu erhalten die Eltern auf frei-
Entwicklung und Durchsetzung von Schul- williger Basis ein Programm zur Unterstützung
hausregeln von Erziehungskompetenzen angeboten, wel-
Supervisionssitzungen ches ebenfalls altersgerecht ausgestaltet ist.
Einbezug der Eltern Während beispielsweise im ersten Schuljahr
sieben Kurseinheiten zur besseren Unterstüt-
Klassenebene: zung des Kindes und für besseren Umgang mit
Umsetzung der Schulhausregeln im Klassen- Problemen angeboten werden, wird im sechs-
zimmer ten Schuljahr ein Kurs von fünf Einheiten zum
Reflexionssitzungen mit Schülerinnen und Umgang mit Drogenproblemen vermittelt.
Schülern
Informationssitzungen mit Eltern Das Programm SOAR kann inzwischen signifi-
kante kurz- und langfristige Effekte nachwei-
Individuelle Ebene: sen (Hawkins, Catalano, und Arthur 2002).
Interventionen bei Kindern, die plagen Obwohl das Programm im sechsten Schuljahr
Interventionen bei Kindern, die Opfer von endet, wiesen teilnehmende Schüler im elften
Plagen sind Schuljahr weniger gewalttätiges Verhalten,
Gespräche mit allen direkt betroffenen Eltern weniger Problemverhalten an der Schule, we-
niger exzessiven Alkoholkonsum und weniger
Trunkenheit am Steuer auf.
20
Für eine Übersicht vgl. http://www.colorado.edu/cspv/blueprints/model/programs/BPP.html
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 47
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
47
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
48
Diese Befunde entsprechen den Ergeb- In der Schweiz wurden bisher keine me-
nissen der internationalen Forschung, welche thodisch abgestützten Ergebnisevaluationen
generell feststellt, dass Informationskampag- von Mediationsprogrammen durchgeführt –
21
http://www.bebi.ch/webseiten/seminare/sfh/Schlussb.pdf
22
Vgl. die Kurzbeschreibung im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 40+: http://www.nfp40plus.ch
23
Beispielsweise angeboten durch das National Coalition Building Institute Schweiz (www.ncbi.ch) oder das Programm Peace-Force von Roland Gerber (www.heureka-beratung.ch/peace.htm)
24
Das réseau respect, vgl. www.reseau-respect.ch
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 49
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
49
es gibt keine Kenntnisse, ob diese Programme In der Stadt Zürich wird seit Herbst 2005 im
wirksam sind. Die internationale Forschungs- Rahmen eines randomisierten Feldversuchs das
literatur kommt bezüglich der Wirksamkeit erstmals ins Deutsche übertragene Sozialkom-
dieser Programme zu unterschiedlichen Be- petenzprogramm PATHS (deutsch: P F A D ) bei
funden. Eine 1989 durchgeführte systemati- 60 Schulklassen des zweiten Schuljahrganges
sche Analyse von 14 evaluierten Studien fand während eines Jahres erprobt. Aufgrund des
bei keinem Projekt positive Auswirkungen auf grossen Anteils von ausländischen Kindern in
Gewalt und Konflikt (Lam 1989). Keine Wirkung vielen Primarschulen der Stadt Zürich wird die-
wurde auch in den meisten jüngeren Studien ses Projekt auch darüber Auskunft geben, ob
gefunden (vgl. z.B. Orpinas, Kelder, Frankowski, sich solche Programme in ethnisch-kulturell
Murray, Zhang, und McAlister 2000). heterogenen Quartieren bewähren. Die Um-
setzung von PFAD wird im Sinne einer Quali-
Hingegen gibt es positive Evaluationser- tätssicherung intensiv begleitet.
gebnisse für Programme, welche intensiv be-
treut werden und mit Elementen des Sozial- Schliesslich wird im Rahmen des Forschungs-
kompetenztrainings ergänzt sind. Dies gilt projektes E S S K I – E LT E R N U N D S C H U L E
beispielsweise für das Programm R I P P ( R E - S T Ä R K E N K I N D E R der Fachhochschule
SPONDING IN PEACEFUL AND POSITIVE Aargau Nordwestschweiz, FHA, dem Institut
W AY S ) , das in multikulturellen Schulen in den für Familienforschung und Beratung der Uni-
USA bei 6. bis 8. Klassen geprüft wurde.25 Es ist versität Fribourg, der Pädagogischen Hoch-
zu beachten, dass das Programm eine 5-tägi- schule Zürich, PHZH, und der Fachstelle für
ge Ausbildung der Vermittler sowie wöchent- Alkohol- und andere Drogenprobleme, SFA,
lich eine 45-minütige Unterrichtslektion in eine Ausbildung der Lehrpersonen in der Um-
Sozialkompetenzen voraussetzt – eine Inten- setzung des Programms F I T U N D S T A R K
sität, die kein Mediationsprogramm in der F Ü R S L E B E N realisiert.
Schweiz erreicht.
Diese drei Forschungsprojekte werden in
Sozialkompetenzprogramme den nächsten Jahren erstmals empirisch abge-
stützte Folgerungen darüber zulassen, inwie-
Versuche zur Eine Neuerung der letzten Jahre ist die fern Sozialkompetenzprogramme auf ver-
Förderungen versuchsweise Einführung von Programmen schiedenen Altersstufen positive Wirkungen
von Sozialkom- zur Förderung von Sozialkompetenzen im erzielen.
petenz in der Kindergarten- und Grundschulalter. Unseres
Schweiz Wissens sind gegenwärtig in der Schweiz drei
Feldversuche im Gang, welche solche Pro-
gramme wissenschaftlich evaluieren.
25
Vgl. http://modelprograms.samhsa.gov/pdfs/FactSheets/RiPP.pdf
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 50
schulische prävention
Prävention von Jugendgewalt
50
Fazit
6
Prävention in Nachbarschaft und
Freizeitbereich
In allen Schweizer Städten bestehen zwi- sind solche Risikofaktoren heute in der Schweiz
schen Wohnquartieren erhebliche Unterschie- in Quartieren mit einem überdurchschnitt-
de in der Häufigkeit von Jugendgewalt. Sie lichen Ausländeranteil höher ausgeprägt.
sind mit einer Reihe von sozialen Merkmalen
verknüpft. Hierzu gehören vor allem das Aus- Nachbarschaftsorientierte Präventions-
mass S O Z I A L E R B E N A C H T E I L I G U N G (z.B. programme können zum einen darauf ausge-
gemessen durch Arbeitslosenquote, Sozial- richtet sein, als M U LT I Z E N T R I S C H E P R O -
hilfeempfänger, unqualifizierte Berufe), eine G R A M M E mehrere Ebenen von Risikofaktoren
H O H E E T H N I S C H E H E T E R O G E N I T Ä T (d.h. (Familie, Schule und Freizeit) gleichzeitig an-
ein hoher Anteil verschiedener ethnisch-kul- zusprechen und derart die Entwicklung von
tureller Gruppen) sowie eine H O H E F L U K T U - Kindern und Jugendlichen zu fördern. Zum
A T I O N D E R W O H N B E V Ö L K E R U N G (d.h. eine anderen können Präventionsprogramme be-
hohe Frequenz von Umzugsbewegungen). müht sein, K O L L E K T I V E W I R K S A M K E I T in
Oft kommen in Quartieren mit einer hohen einem Quartier zu stärken und Prozesse in
Gewalthäufigkeit mehrere belastende Risiko- Gang zu setzen, durch die eine effektivere
faktoren zusammen. Nachbarschaftsbasierte Problemlösung ermöglicht wird.
und multizentrische Prävention setzt bei dieser
Ausgangslage an. Typen nachbarschaftlicher
Prävention
Nachbarschaften und Gewalt
Das Feld von quartierbasierten Präven-
Kollektive Zu einem beträchtlichen Teil rührt die tionsmassnahmen ist ausserordentlich vielfäl-
Wirksamkeit in erhöhte Belastung davon, dass in diesen Quar- tig. Gleichzeitig ist über die Wirksamkeit
Wohnquartieren tieren mehr Familien wohnen, bei denen nachbarschaftlicher Prävention weniger gesi-
individuelle und familiäre Probleme bestehen. chertes Wissen vorhanden als bei familiären
Das Quartier hat hier eigentlich keine direkte oder schulischen Massnahmen. Im Folgenden
Bedeutung, es widerspiegelt bloss die Auswir- werden fünf Programme beschrieben, welche
kungen des Wohnungsmarktes. Viele For- relativ gut erforscht sind und für weitere
schungsbefunde weisen aber darauf hin, dass Überlegungen in der Schweiz von Interesse
Nachbarschaften auch als ursächliche Risiko- sein könnten (Tabelle 12).
faktoren eine Rolle spielen. Der wichtigste
neuere Ansatz zur Erklärung dieses Zusammen- Mobilisierungsmodelle –
hanges stammt von Sampson, Raudenbush Communities that Care
und Earls (1997; 1999). Sie argumentieren,
dass K O L L E K T I V E W I R K S A M K E I T im Sinne Wir haben im Kapitel «evidenzbasierte
des gegenseitigen Vertrauens und der Bereit- Prävention» die Grundprinzipien der Zu-
schaft, sich aktiv für geteilte Anliegen einzu- sammenarbeit zwischen Forschung und Praxis
setzen, der zentrale Mechanismus ist, der zu bei der Auswahl und Realisierung von wirksa-
unterschiedlichen Raten von Jugendgewalt in men Präventionsprogrammen beschrieben.
städtischen Quartieren führt. Geringe kollek- Für Gemeinden, Quartiere oder Städte stellt
tive Wirksamkeit eines Wohnviertels kann bei- sich das Problem, diese Ideen konkret umzu-
spielsweise bedeuten, dass die Netzwerke setzen und auf ihre Bedürfnisse anzupassen.
zwischen Eltern weniger intensiv sind, dass Dies gilt vor allem in Quartieren mit einer ho-
sich Eltern weniger für schulische und quar- hen Belastung durch Risikofaktoren, wo eine
tierbezogene Aktivitäten einsetzen, dass Er- Mobilisierung der Gemeinschaft für geteilte
wachsene Anzeichen von Problemverhalten Anliegen oft sehr schwierig ist.
weniger Beachtung schenken, oder dass das
Vertrauen zwischen verschiedenen Gruppen
einer Nachbarschaft gering ist. In der Regel
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 52
Beispiel I: Das weltweit wohl am besten erprobte und in kation der Probleme und der Planung und Um-
Communities 500 amerikanischen Nachbarschaften sowie in setzung von Massnahmen. Zu diesem Zweck
that Care England, Australien und neun holländischen wird in der Regel eine Steuerungsgruppe von
Städten erfolgreich umgesetzte Instrument, 15 bis 25 Mitgliedern eingesetzt, in der alle Be-
um dieses Problem zu lösen, ist das Programm völkerungsgruppen eines Quartiers (z.B. Min-
C O M M U N I T I E S T H A T C A R E von David derheiten, Eltern, Schule, Polizei, Unternehmer,
Hawkins und Richard Catalano (Hawkins, Kirchen) repräsentiert sind. Zentral ist hierbei,
Catalano, und Arthur 2002). 26 dass sie zunächst in einem rund 30-stündigen
Ausbildungsprogramm lernen, relevante Infor-
Angebot Communities that Care ist kein Präventionpro- mationen über ihr Quartier zu verarbeiten, sich
gramm, sondern ein Modell, wie lokale Gemein- mit evidenzbasierten Präventionsprogrammen
schaften zusammen arbeiten können, um auseinanderzusetzen und die Probleme einer
qualitativ guten Umsetzung zu erkennen. Com-
ein gemeinsames Vorgehen unter Einschluss munities that Care stellt hierfür relevantes
aller relevanten Gruppen zu entwickeln, Fachwissen zur Verfügung, hilft bei der Mobili-
zu bestimmen, welche Risiko- und Schutzfak- sierung von finanzieller und organisatorischer
toren in ihrem Umfeld die Entwicklung von Unterstützung und begleitet den Prozess mit
Kindern und Jugendlichen beeinflussen, ausgebildeten Fachpersonen.
sich besonders jenen Faktoren zuzuwenden,
wo der grösste Handlungsbedarf besteht, Da Communities that Care kein Präven- Wirksamkeit
die bestehenden lokalen Ressourcen und all- tionsprogramm, sondern ein Modell der Iden-
fällige Lücken zu ermitteln, tifikation und Umsetzung von verschiedenen
ein Präventionskonzept zu entwickeln, das evi- Massnahmen ist, kann seine Wirksamkeit kaum
denzbasierte Programme den lokalen Bedürf- bestimmt werden. Evaluationen in Grossbri-
nissen angepasst umsetzt, tannien und den Niederlanden zeigen, dass
die Massnahmen umzusetzen und zu evaluieren. der Erfolg sehr unterschiedlich sein kann
(France and Crowe 2005; Jonkman, Junger-Tas
Ein zentrales Element von Communities that und van Dijk, 2005). Er hängt unter anderem
Care ist die aktive Beteiligung von Quartieror- davon ab, wie gut die Steuerungsgruppe zu-
ganisationen und -mitgliedern bei der Identifi- sammenarbeitet und tatsächlich Zeit in das
Communities that Care alle Altersstufen Kein Programm, sondern Prozessmodell für
wirksame Prävention
26
Für weitere Informationen vgl. z.B. http://www.communitiesthatcare.org.uk
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 53
Programm investiert wird, ob finanzielle und Für die zwischen 1991 und 1993 begon-
organisatorische Ressourcen für die Realisie- nene Studie liegen inzwischen zahlreiche Eva-
rung von Massnahmen gefunden werden kön- luationsergebnisse vor.28 Sie zeigen, statistisch
nen und ob die Steuerungsgruppe durch an- abgesichert,
dere Institutionen (Schule, Gemeinde, etc.)
unterstützt wird. eine erhebliche Verbesserung von sozialen
und kognitiven Kompetenzen,
Multizentrische Präventions-
programme weniger aggressives Verhalten zu Hause, in
der Schule und in der Freizeit,
Auf mehreren Zwei wichtige Erkenntnisse der lebens-
Ebenen gleich- lauforientierten Gewaltforschung sind, dass dass weniger Kinder in Sonderklassen unter-
zeitig ansetzen Gewalt oft das Ergebnis des Zusammenwir- richtet werden müssen,
kens von familiären, schulischen und nach-
barschaftlichen Risikofaktoren ist und dass weniger Festnahmen im Jugendalter,
je nach Ausmass des Problemverhaltens unter-
schiedlich intensive und der Situation ange- deutlich weniger Diagnosen von Verhaltens-
passte Interventionen am ehesten Erfolg ver- störungen.
sprechen.
Positive Effekte können für Knaben und
Von diesen Erkenntnissen ausgehend, Mädchen sowie für Angehörige aller ethni-
wurden in den letzten 20 Jahren Ansätze ent- schen Gruppen beobachtet werden. Aufgrund
wickelt, welche mehrere Ebenen gleichzeitig dieser Ergebnisse wurde das Grundmodell von
ansprechen. Das grösste und ehrgeizigste dieser Fasttrack in verschiedenen Schulen der USA,
Studien ist das Projekt F A S T T R A C K der Con- Grossbritanniens und Kanadas übernommen.
duct Problems Prevention Research Group,
einem Zusammenschluss von renommierten Multisystemische Therapie
Entwicklungs- und Präventionsforschenden von
vier amerikanischen Universitäten.27 Im Rahmen Ein zweiter Ansatz, der auf mehreren Beispiel II:
des Projektes erhalten die Kinder in der Inter- Wirkungsebenen einschliesslich der Nachbar- Multisystemische
ventionsgruppe ab der ersten Klasse der Grund- schaft ansetzt und einen wissenschaftlich gut Familientherapie
schule über einen Zeitraum von 10 Jahren ein abgestützten Wirkungsnachweis hat, ist die
umfassendes Präventionsprgramm, das nach M U LT I S Y S T E M I S C H E T H E R A P I E . 2 9 Sie
altersspezifischen Bedürfnissen abgestuft ist. Im wurde in den späten 1970er Jahren von Scott
Primarschulalter erhalten alle rund 3500 Kinder Henggeler (Medical University of South Caro-
das Sozialkompetenzprogramm PATHS (siehe lina) vor dem Hintergrund der Beobachtung
oben). Für Kinder, bei welchen nach einer sorg- entwickelt, dass bestehende therapeutische
fältigen Abklärung von einem erhöhten Risiko Massnahmen für jugendliche Straftäter in der
für externalisierendes Problemverhalten ausge- Regel wirkungslos und teuer sind.
gangen werden kann, kommen gruppenbasier-
te Elternbildungsprogramme, Hausbesuche, so- Multisystemische Therapie ist eine intensive Theoretischer
wie Kurse zur Förderung von Lesefähigkeiten familien- und kontext-basierte Behandlung, Hintergrund
und sozialen Kompetenzen hinzu. welche die verschiedenen Ebenen von schwe-
rem antisozialem Verhalten bei Jugendlichen
Im Jugendalter (6. bis 10. Klasse) verla- (12 bis 17 Jahre) gleichermassen berücksich-
gert sich der Schwerpunkt zu Präventions- tigt. Sie basiert auf dem sozialökologischen
massnahmen, welche ausschliesslich in der Modell von Bronfenbrenner. Der multisystemi-
Hochrisikogruppe angeboten werden und auf sche Ansatz betrachtet Jugendliche als Indivi-
individuelle Bedürfnisse abgestimmt sind. duen, welche in ein Netzwerk von Wirkungs-
Hierzu gehören schulische Förderungspro- ebenen eingebunden sind, welches Familie,
gramme, erwachsene Mentoren, die Unter- Gleichaltrige, Schule und Quartier umfasst.
stützung strukturierter Freizeitaktivitäten im Multisystemische Therapie ist darauf angelegt,
Quartier, Bewältigung von familiären Proble- Risikofaktoren auf allen in Kapitel 2 erwähn-
men, sowie das Vermitteln von Kontakten zu ten Ebenen wirksam anzugehen.
Institutionen in der Nachbarschaft (Ämter,
weiterführende Schulen, etc).
27
Für weiterführende Informationen vgl. die Website http://www.fasttrackproject.org
28
Vgl. die Publikationsliste unter http://www.fasttrackproject.org/publications.htm
39
Für weiterführende Information vgl. http://www.mstservices.com
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 54
Multisystemische Therapie verbindet fol- In den USA ist dieser Ansatz als B I G B R O - Beispiel III:
gende Ebenen: T H E R S – B I G S I S T E R S , B B B S , bekannt. Es Big Brothers –
ist ein auf seine Wirksamkeit hin mehrfach Big Sisters
familienbezogene Interventionen (Erziehungs- evaluierter Ansatz. Er richtet sich an Kinder und
praktiken, Paarbeziehung, psychische Störun- Jugendliche von Alleinerziehenden im Schul-
gen, Substanzmittelmissbrauch der Eltern) alter (6 bis 18 Jahre). Ziel des Programms ist es,
Veränderung der Beziehung zu Gleichaltrigen Alleinerziehenden eine Erziehungsbeihilfe zu
Förderung der leistungsbezogenen und sozia- gewähren und den betroffenen Kindern und
len Kompetenz in der Schule Jugendlichen sinnvolle Freizeitbeschäftigun-
Durchführung von individuellen Interventionen gen zu eröffnen.30
Unterstützung der Familie durch staatliche Ins-
titutionen BBBS zeichnet sich durch rigorose Standards Angebot und
bei der Zusammenführung von Mentor und Umsetzung
Implemen- Um die Zugangsschwelle zum Behandlungs- betreutem Kind aus. Zunächst werden poten-
tierung und angebot möglichst tief zu halten und den Ver- tielle Freiwillige über das Programm orientiert,
Zugang bleib in der Therapie zu optimieren, wird Mul- wonach sie auf ihre Eignung hin untersucht
tisystemische Familientherapie üblicherweise werden. Der Eignungstest umfasst eine schrift-
bei der Familie des Jugendlichen zu Hause an- liche Bewerbung, ein ausführliches Bewer-
geboten. Eine Therapie beinhaltet mehrere bungsgespräch, eine Überprüfung des biogra-
Hausbesuche pro Woche und dauert in der Re- fischen Hintergrunds sowie ein Augenschein
gel 4 Monate. Sie ist damit ein intensives aber beim Bewerber zu Hause. Hierdurch sollen Be-
relativ kurz dauerndes Programm. werber abgehalten werden, die ihren Schütz-
ling psychisch oder physisch gefährden könn-
Bei der Umsetzung der Therapie wird ein gros- ten, sowie Bewerber, die nicht in der Lage sind,
ses Gewicht auf systematische und umfassende eine nachsichtige Beziehung aufzubauen oder
Qualitätssicherung gelegt. die nötige Zeit aufzubringen. Voraussetzung
der Teilnahme der Kinder und Jugendlichen ist
Nachgewiesene Multisystemische Therapie wurde bisher in eine schriftliche Bewerbung, worauf sie, wie
Effekte acht randomisierten Kontrollgruppenversu- auch ihr erziehender Elternteil, zu einem per-
chen auf seine Wirksamkeit geprüft. Zu den sönlichen Gespräch eingeladen werden. Auch
wissenschaftlich dokumentierten Ergebnissen hier nimmt der Fallbearbeiter, dem der ge-
gehören samte Selektions- und Zusammenführungs-
prozess obliegt, einen Augenschein vor. Damit
Rückgang von Verhaltensproblemen unmittel- wird sichergestellt, dass die für das Kind am
bar nach der Therapie besten geeignete Vertrauensperson gefunden
Langfristiger Rückgang von erneuten Festnah- werden kann. Bei der eigentlichen Zusammen-
men durch die Polizei um 20 bis 70 Prozent im führung werden neben den Bedürfnissen des
Vergleich zur Kontrollgruppe Kindes, bzw. Jugendlichen und den Fähigkei-
Reduktion um 47 bis 64 Prozent von Platzie- ten des Freiwilligen auch die Wünsche des
rungen in Pflegefamilien oder Heimen Elternteils berücksichtigt.
Verbesserung des Familienklimas und des fa-
miliären Zusammenlebens Mentor oder Mentorin und Schützling treffen
Reduktion psychischer Auffälligkeiten der ju- sich in der Regel 3 bis 5 Stunden pro Woche
gendlichen Straftäter während mindestens eines Jahres. Spezifische
Ziele und Tätigkeiten werden zusammen mit
Erwachsene Mentoren dem Fallbearbeiter besprochen. Es wird fest-
gelegt, worauf besonders geachtet werden
Das Fehlen einer erwachsenen Vertrau- muss, damit die Beziehung für beide (nicht nur
ensperson, welche einen Heranwachsenden für das Kind) bereichernd und befriedigend
begleitet und unterstützt, gehört zu den zen- verläuft. Spezifischer kann es auch darum ge-
tralen Risikofaktoren für problematische Ent- hen, schulisch voranzukommen, den Horizont
wicklungen. Hierauf basieren selektive Prä- zu erweitern, Beziehungen zu anderen Kin-
ventionsprogramme, welche Kinder in einer dern oder Jugendlichen aufzubauen etc.
instabilen Familiensituation mit sorgfältig
ausgewählten und motivierten erwachsenen
Mentoren oder «Göttis» zusammenführen.
30
Die Website des Programms findet man unter: http://www.bbbsa.org. Eine Übersicht über die Forschungsergebnisse findet man unter McGill, D.E., Mihalic, S.F., & Grotpeter, J. K. (1998).
Blueprints for Violence Prevention, Book Two: Big Brothers Big Sisters of America. Boulder, CO: Center for the Study and Prevention of Violence (www.colorado.edu/cspv/blueprints/model/
programs/BBBS.html).
prävention in nachbarschaft und freizeitbereich
Prävention von Jugendgewalt
55
Wirksamkeit Für das BBBS-Programm liegen Evaluations- Zur Wirksamkeit dieser strukturierten
ergebnisse aufgrund eines Kontrollgruppen- Aktivitätsprogramme liegen mehrere positive
designs vor (1000 Programmteilnehmende; Evaluationen mit einem guten Forschungs-
1992 / 93 realisiert). Nach 18 Monaten wiesen design vor (Schinke, Orlandi, und Cole 1992).
Programmteilnehmende eine 46% tiefere Rate Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche, welche
von Drogengebrauch auf (bei Jugendlichen an den Programmen teilnahmen, ihren Dro-
aus ethnischen Minderheiten betrug dieser genkonsum reduzierten, bessere Schulleistun-
Unterschied gar 70%) als die Kontrollgruppe, gen aufwiesen, verbesserte Kontakte mit ih-
bei Alkohol betrug der Unterschied 27%. Sie ren Eltern hatten und weniger häufig von der
neigten zu rund 30% weniger zu Gewalt, er- Polizei festgenommen wurden.
zielten dafür bessere schulische Leistungen
und waren der Schule gegenüber auch positi- Problemorientiertes «community
ver eingestellt. Die Qualität ihrer Beziehung zu policing»
ihren Eltern (oder einem Elternteil) aber auch
zu Gleichaltrigen erwies sich als signifikant Auf der Ebene von nachbarschaftsorien-
besser im Vergleich zur Kontrollgruppe. tierter Prävention von Jugendgewalt ist die
Polizei ein wichtiger Partner. Zwar hat nach ei-
Strukturierte Freizeitaktivitäten ner Welle des Enthusiasmus in den 1990er Jah-
ren die Begeisterung für C O M M U N I T Y P O L I -
Reine Freizeit- Eine weitere Gruppe von Programmen, C I N G als Modell für nachbarschaftsorientierte
programme sind die als vielversprechend eingestuft werden Polizeiarbeit eher wieder nachgelassen. Aber
nicht wirksam – können, sind Massnahmen zur Strukturierung es gibt nachbarschaftsorientierte Ansätze,
ein klarer Bezug von Freizeitaktivitäten bei Kindern und Ju- welche auf theoretischen Überlegungen zu
zu Erziehungs- gendlichen in benachteiligten und ethnisch Risiko- und Schutzfaktoren basieren und alles
zielen ist wichtig heterogenen Stadtquartieren. in allem als vielversprechend beurteilt werden.
Programme, die in diesem Bereich eva- Ein wichtiger Ansatz geht von der Beob- Vertrauen
luiert wurden und positive Ergebnisse vorwei- achtung aus, dass Jugenddelinquenz in Quar- zwischen Bevöl-
sen können, sind durchwegs für Kinder und tieren hoch ist, in denen die Bereitschaft der kerung und
Jugendliche attraktive, aber auf klare E R Z I E - Bevölkerung tief ist, sich an Recht und Ord- Polizei aufbauen
H E R I S C H E Z I E L E ausgerichtete, S O Z I A L E nung zu halten, die Neigung zur Zusammen-
K O M P E T E N Z E N S T Ä R K E N D E und D I E E L - arbeit mit der Polizei gering ist und die Poli-
T E R N E I N B E Z I E H E N D E Programme. zei wenig Vertrauen geniesst. In der Schweiz
wie in allen westlichen Gesellschaften ist das
Nach bisherigem Kenntnisstand ohne Misstrauen gegenüber der Polizei unter im-
sind dem-
G E W A LT P R Ä V E N T I V E N N U T Z E N migrierten Minderheiten besonders hoch und
gegenüber Programme, die sich weitgehend die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Prob-
auf das Anbieten von Freizeitaktivitäten be- lembewältigung tief. Daher scheint es vielver-
schränken. Auch hier ist der Forschungsstand sprechend, in ethnisch durchmischten und
jedoch spärlich. wirtschaftlich benachteiligten Stadtquartie-
ren eine verbesserte V E R T R A U E N S B A S I S
BOYS AND GIRLS CLUBS OF AMERICA, zwischen Bevölkerung und Polizei zu schaf-
ein Programm zur ausserschulischen Förde- fen. Hierbei ist es nach Ergebnissen von Sko-
rung von Kindern und Jugendlichen in margi- gan (Skogan und Hartnett 1999) wichtig, alle
nalisierten Stadtteilen der USA, ist relativ gut Bevölkerungsgruppen in den Prozess der Prob-
evaluiert.31 Als Jugendzentren konzipiert, bie- lemidentifikation und der Problemlösung ein-
ten diese Programme Kurse in sechs Bereichen zubinden und zu beteiligen. Derartige Pro-
an: künstlerische Aktivitäten, Weiterbildung gramme zur Bildung von Vertrauen haben
und Unterstützung bei Schulaufgaben, frei- sich inzwischen in einigen Evaluationen als
willige Hilfe im Quartier und demokratische wirksame Massnahmen zur Reduktion von
Willensbildung, soziale und kognitive Kom- Kriminalität erwiesen, obwohl die Evidenzen
petenzen, Sportaktivitäten sowie technologi- keineswegs eindeutig sind (Parternoster,
sche Kompetenzen. Brame, Bachman, und Sherman 1997).
31
Für einen Eindruck vgl. z.B. http://www.bgcb.org
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 56
erweitern. Das Training besteht aus verschie- Auch die Angebote des Vereins TA S K F O R C E Taskforce
denen Modulen: Konfliktbearbeitung, Selbst- I N T E R K U LT U R E L L E KONFLIKTE TIKK interkulturelle
wahrnehmung sowie Kommunikation bilden zielen darauf ab, Konflikte im öffentlichen Konflikte –
die Themenschwerpunkte. Raum zu bearbeiten. TikK ist eine Beratungs- TikK
und Fachstelle für interkulturelle Konflikte
Inzwischen wurde das Kernprogramm durch und Gewalt im öffentlichen Raum. Es leistet
ein Programm für Kinder ( C H I L I F Ü R K I N - vor Ort unmittelbare Hilfe und bietet Gemein-
D E R ) , ein Programm für Schulen und Schul- den, Schulen und anderen Organisationen
gemeinden sowie ein Programm auf der Ebe- neben direkter Unterstützung bei der Präven-
ne von Stadtquartieren ergänzt. Am ersten tionsarbeit auch Weiterbildungskurse an.
umfassenden Schulhaus-Projekt nahmen im Thematisch reicht das Spektrum von Gewalt
aargauischen Dottikon 650 Kinder und Ju- zwischen meist jugendlichen, gemischt-ethni-
gendliche sowie alle Lehrkräfte teil. Im kultu- schen Gruppierungen, über Vandalismus, Dro-
rell durchmischten Quartier Tscharnergut im hungen und Tätlichkeiten unter Annahme
Westen von Bern wurde erstmals C H I L I F Ü R eines kulturellen Hintergrundes bis hin zu
Q U A R T I E R E umgesetzt. Es existieren aller- Übergriffen auf Ausländerinnen und Auslän-
dings bisher keine Wirkungsevaluationen des der, z.B. von Seiten der Polizei. Über die Wirk-
Programms. samkeit liegen keine wissenschaftlich gesi-
cherten Kenntnisse vor.
Fazit
7
Erkenntnisse und Folgerungen
Im Folgenden werden die wichtigsten Bundesebene, welche Informationen über
Erkenntnisse und Folgerungen dieses Berich- Forschungsergebnisse für die Praxis aufberei-
tes zusammengefasst. tet und beratend bei der Umsetzung und Eva-
luation von Prävention tätig ist.
Kernaussagen zu evidenzbasierter
Gewaltprävention Qualitativ hochwertige Umsetzung ist
entscheidend dafür, dass die Ergebnisse von
Es gibt kaum Individuen, die im Jugend- Programmen, welche sich in der Forschung als
alter unvermittelt anfangen, sich gewalttätig wirksam erwiesen haben, auch in die Praxis
zu verhalten. Karrieren aggressiven Verhal- übertragen werden können. Eine gute Quali-
tens beginnen meist in der Kindheit. Daher ist tätskontrolle von Gewaltprävention erfordert
Prävention sinnvoll, die in frühen Lebenspha- allerdings finanzielle und organisatorische
sen einsetzt und sich am langfristigen Aufbau Ressourcen.
von Lebenskompetenzen orientiert.
Jugendliche mit Migrations-
Gewalt und Aggression sind ein Teilaspekt hintergrund
eines Bündels von externalisierendem Problem-
verhalten. Viele Risikofaktoren und Schutz- Jugendliche mit Migrationshintergrund
faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit von haben bei einer Reihe von familiären, schuli-
Gewalt beeinflussen, gelten in ähnlicher Weise schen, nachbarschaftlichen und individuellen
für viele andere Formen von externalisieren- Risikofaktoren eine erhöhte durchschnittliche
dem Problemverhalten. Die Prävention von Ju- Belastung. Wirksame Prävention sollte auf
genddelinquenz, von Drogenkonsum und von diese Risikofaktoren einwirken.
Gewalt sollten als Einheit im Rahmen einer
Förderung von Lebenskompetenzen betrach- Insgesamt erfordert wirksame Gewalt-
tet werden. prävention mit und für immigrierte Minder-
heiten nicht grundsätzliche andere inhaltliche
Um die Prävention von Jugendgewalt in Ansätze oder Programme als diejenigen, wel-
der Schweiz nachhaltig wirksamer zu gestal- che sich nach bisherigem Forschungsstand ins-
ten, empfehlen wir in diesem Bericht einen gesamt als wirksam erwiesen haben.
Public-Health-Ansatz, der auf Prinzipien der
evidenzbasierten Prävention beruht. Evidenz- Allerdings sind Gruppen mit Migrations-
basierte Gewaltprävention erfordert eine enge hintergrund und wenig Bildungsressourcen in
Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und der Regel für die Beteiligung an Präventions-
Praxis sowie einen internationalen Austausch anliegen schwer zu motivieren. Viele bisherige
über Erfahrungen und Wissen. Ansätze zum Erreichen immigrierter und bil-
dungsferner Minderheiten sind enttäuschend
Gewaltprävention, wie wir sie in diesem verlaufen.
Bericht vorgestellt und empfohlen haben, ist
Teil einer allgemeineren Gesundheitsförde- Eine sorgfältige Abklärung der besonde-
rung und fügt sich ein in Zielsetzungen im ren Bedürfnisse und Ressourcen, Überlegun-
Bereich der Prävention von Substanzkonsum gen zur allfälligen Anpassung von Program-
und der Förderung von psychischer und kör- men auf kulturelle Besonderheiten, sowie die
perlicher Gesundheit. Bei der Umsetzung von Vorbereitung einer Präventionsmassnahme
Gewaltprävention sollte auf allen Altersstu- durch frühe Information und Einbezug von
fen und in allen Interventionsbereichen auf Minderheitenorganisationen können entschei-
mögliche Synergien mit anderen Präventions- dend helfen, eine Massnahme erfolgreich
zielen geachtet werden. umzusetzen.
Ein Weg zum Aufbau einer Kultur von Präventionsbemühungen benötigen im-
evidenzbasierter Prävention in der Schweiz mer die aktive Unterstützung der jeweiligen
wäre die Schaffung einer Fachstelle auf Gemeinschaft. Bei bildungsfernen und kultu-
präv.jugendgewalt 8.5.2006 15:27 Uhr Seite 59
Teilbereich
Nachbarschaft / Quartier
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