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Vor dem Hohen Rat

Warum musste Der Hohe Rat, das oberste religiöse Gremi-


um Palästinas, handelte schnell. Man be-
Jesus sterben? stach einen der engsten Freunde von Jesus,
der sich angeboten hatte, ihn zu verraten.
Warum Jesus verraten werden musste, ist
unklar. Vielleicht suchte man einen günsti-
Am 14. oder 15. Nisan, gen Zeitpunkt für seine Verhaftung. Die ge-
also Anfang April des schah kurze Zeit später. Jesus wurde
Jahres 30 nach Chris- abends in einem Garten festgenommen und
tus, trieben römische in den Palast des Hohenpriesters gebracht.
Soldaten einen zum Dort tagte der Hohe Rat in einer eigentlich
Tode Verurteilten durch verbotenen Nachtsitzung, um den Fall Jesus
die Straßen Jerusalems endgültig abzuschließen. Doch dann tauch-
zur Hinrichtungsstätte. ten unerwartete Schwierigkeiten auf. Jesus
Es war gegen halb zu verurteilen, war keine einfache Sache.
neun Uhr morgens. Bei Man hatte zwar rechtzeitig Belastungszeu-
dem Gefangenen handelte es sich um Jesus gen eingekauft, doch sie widersprachen sich
aus der Stadt Nazareth in Galiläa. Er war ei- gegenseitig. Niemand konnte Jesus etwas
nige Zeit in ganz Palästina umhergezogen Böses nachweisen.
und hatte den Menschen vom Reich Gottes
gepredigt. Dabei war er immer wieder mit be- In dieser Situation stand der Hohepriester
stimmten religiösen Vorschriften und Ge- auf und fragte Jesus direkt: „Ich beschwöre
bräuchen seiner Zeitgenossen in Konflikt ge- dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist
raten. Damit hatte er den Zorn der religiösen du der Messias, der Sohn Gottes?” Jesus
Führer seines Landes auf sich gezogen. Von antwortete: „Du sagst es. Doch ich erkläre
den einfachen Menschen hingen jedoch viele euch: Von nun an werdet ihr den Menschen-
an Jesus. Überall im Land wurde von Wund- sohn zur Rechten des allmächtigen Gottes
em berichtet, die er getan haben sollte. sitzen und auf den Wolken des Himmels
kommen sehen” (Matthäusevangelium 26,
63f; Lukasevangelium 22, 69). Damit war es
1. Die Umstände von Jesus’ Tod
heraus. Jesus identifizierte sich mit den zwei
göttlichen Gestalten, die im Alten Testament
Als er eine Woche vor seiner Verurteilung
verheißen worden waren: dem Messias, der
nach Jerusalem gekommen war, war die La-
sein Volk als göttlicher König regieren würde,
ge gespannt. Sogar Jesus selbst rechnete
und dem Menschensohn, der am Ende der
mit seiner Verhaftung und Hinrichtung. Er
Zeiten als göttlicher Richter die Welt richten
hatte seine engsten Freunde dreimal vorge-
würde. Jesus beanspruchte also, König und
warnt. Durch eine provozierende Aktion im
Herr zu sein.
Tempel forderte er schließlich seine Wider-
sacher heraus. Mit einer Peitsche aus Stri-
Für einen Menschen wie den Hohenpriester
cken jagte er alle aus dem Tempel, die nicht
konnte es nur zwei Reaktionen geben: Ent-
zum Beten dorthin gekommen waren. Der
weder er fällt vor Jesus nieder und erkennt
Tempel war nämlich nicht nur der religiöse,
seinen Anspruch an. Denn hier steht der
sondern auch der geschäftliche Mittelpunkt
Messias vor ihm, der Mann, auf den sein
Palästinas. Ungeheure Summen wurden dort
Volk seit über tausend Jahren gewartet hat.
täglich allein für die Opfertiere ausgegeben.
Oder er lässt Jesus hinrichten. Denn er hatte
Daneben konnte man auch viele andere Din-
gerade die größte Gotteslästerung seiner
ge des täglichen Bedarfs kaufen. Mit seiner
ganzen priesterlichen Laufbahn gehört. Es
Aktion gegen die Händler traf Jesus den
gibt keine dritte Möglichkeit. Jesus’
Kern der religiösen Geschäftemacherei sei-
Anspruch, Gott zu sein, kann man nicht ein-
ner Zeit.
fach übergehen. Wenn er recht hat, wenn
Jesus tatsächlich Gott ist, muss ich ihn an-

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beten oder ich stelle mich gegen Gott. Wenn Hohen Rates Jesus wegen Hochverrates an.
er nicht recht hat, wenn Jesus kein Gott ist, Sie interpretierten den Messias-Titel rein po-
muss ich ihn verwerfen. Dann ist er größen- litisch und machten so aus Jesus einen Gue-
wahnsinnig oder Schlimmeres. rillaführer, der zum Aufstand gegen Rom
aufstachelte. Tatsächlich war die Lage in Pa-
Das war die Entscheidung, vor der der Hohe- lästina äußerst gespannt. Es gab immer wie-
priester stand. Und die Entscheidung fiel der Untergrundkämpfer und Terroristen, die
schnell. Der Hohepriester und mit ihm alle sich selbst Zeloten, „Eiferer” nannten und
Anwesenden zerrissen ihre Kleider. Das war den Besatzungstruppen das Leben schwer
das traditionelle Zeichen für Trauer oder äu- machten.
ßersten Zorn. Sie zerrissen ihre Kleider, weil
sie eine solche Gotteslästerung mit anhören Trotzdem durchschaute Pilatus die Anklage
mussten. Mit dieser Geste der Empörung sofort. Aber die Hohenpriester drohten, sie
übertraten die religiösen Führer übrigens würden ihn in Rom anzeigen, wenn er Jesus
selbst das Gesetz. Denn dem Hohenpriester freiließe. Dort hatte der Statthalter wegen ei-
war es verboten, seine Kleider zu zerreißen ner ähnlichen Anzeige bereits eine scharfe
(vergleiche 3. Mose 10, 6). Trotzdem war da- Rüge vom Kaiser erhalten. Seine Stellung in
mit das Urteil gesprochen, Jesus musste Rom war alles andere als gesichert. Wenige
sterben. Jahre nach dem Prozess gegen Jesus wurde
Pilatus wegen sich häufender jüdischer Be-
Dann kam Unruhe in die Versammlung. Eini- schwerden seines Amtes enthoben.
ge standen auf und spuckten Jesus ins Ge-
sicht. Andere schlugen ihn. Schließlich wur- Die Geißelung
de er gepackt und vor die Tür geschleift.
Man verband ihm die Augen. Er wurde ge- Um die Mitglieder des Hohen Rates zufrie-
schlagen. Dazu ertönte die höhnische Auf- den zu stellen, ließ Pilatus Jesus zunächst
forderung: „Sag uns, wer dich geschlagen auspeitschen. Wie viele Peitschenhiebe Je-
hat! Du bist doch ein Prophet, oder?” sus erhielt, ist nicht überliefert. Nach jüdi-
schem Recht durfte niemand mehr als vier-
Vor Pilatus zigmal geschlagen werden. Deshalb beka-
men die Verurteilten nur 39 Hiebe. So wurde
Nachdem sie sich ausgetobt hatten, brach- niemand öfter als vierzigmal geschlagen,
ten einige Jesus zu Pontius Pilatus, dem rö- selbst dann nicht, wenn man sich verzählte.
mischen Statthalter in Palästina. Dessen Re- Das römische Recht, nach dem Pilatus han-
sidenz war eigentlich in Cäsaräa am Meer. delte, kannte jedoch keine Begrenzung. So
Aber weil das Passafest unmittelbar be- waren die Auspeitschungen eine äußerst
vorstand, war er nach Jerusalem brutale Strafe. In die Geißel waren Knochen-
gekommen. Es war mittlerweile früher Mor- splitter und ähnliche scharfe Gegenstände
gen. eingeflochten, so dass schon nach wenigen
Schlägen die Haut in Fetzen vom Körper
Der Statthalter hatte zuerst nur wenig Lust, hing. Josephus, ein General im jüdischen
sich in die religiösen Streitereien der Juden Aufstand gegen Rom, berichtet von Gefan-
einzumischen. Antike Quellen berichten genen, die er so lange peitschen ließ, bis die
übereinstimmend, dass die Bevölkerung Pa- Eingeweide sichtbar wurden. Wer ausge-
lästinas unter Pilatus nicht viel zu lachen hat- peitscht wurde, war für sein Leben gezeich-
te. Er war äußerst brutal und hatte überhaupt net. Oft endete er als Krüppel, der mit Bette-
kein Feingefühl für die religiösen Sitten des lei seinen Unterhalt verdienen musste. Nicht
Landes. Der jüdische Philosoph Philo von wenige starben nach der Geißelung an Blut-
Alexandria, ein Zeitgenosse, schrieb über verlust.
den Statthalter: „Er war nicht gewillt, irgend
etwas zu tun, was seinen jüdischen Unterta- Nachdem Jesus ausgepeitscht worden war,
nen gefallen hätte.” Zu diesem Pilatus wurde wurde er blutüberströmt zu den Hohenpries-
Jesus gebracht. Damit er ihn nicht gleich tern gebracht. Die römischen Soldaten setz-
wieder laufen ließ, klagten die Mitglieder des ten ihm eine Dornenkrone auf den Kopf und

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hängten ihm einen Purpurmantel um, weil er Um das Leiden noch zu verlängern, wurde
sich selbst zum König gemacht hatte. Pilatus oft ein Brett unter den Füßen des Gekreuzig-
kommentierte das mit den Worten: „Seht, ten befestigt. Auf ihm konnte sich das Opfer
welch ein Mensch!” (Johannesevangelium abstützen. So hing der Verurteilte zwischen
19, 5). Aber es half alles nichts, der Hohe Himmel und Erde in einem qualvollen Todes-
Rat bestand auf der Todesstrafe. Pilatus gab kampf, der Stunden, manchmal Tage dauern
klein bei, jedoch nicht ohne vorher in einer konnte.
theatralisch-kitschigen Szene seine Un-
schuld zu beteuern: Er Iieß sich eine Schüs- Die Kreuzigung selbst war keine Erfindung
sel mit Wasser bringen und wusch sich de- der Römer. Die hatten sie von den Kartha-
monstrativ die Hände darin. gern übernommen, die von ihnen in drei Pu-
nischen Kriegen besiegt worden waren. Un-
Die Kreuzigung ter den Römern wurde die Kreuzigung aller-
dings noch „verbessert”. Am Ende dieser
Nach der Verurteilung wurde Jesus dem Hin- Entwicklung stand die nahezu perfekte
richtungskommando übergeben. Hierbei Folter. Die Kreuzigung verband einen langen
handelte es sich um eine spezielle Truppe, Todeskampf mit größtmöglicher Qual. Weil
die nur für Hinrichtungen zuständig war, eine die Verurteilten an den Armsehnen aufge-
Art Henker-Brigade. Die Soldaten nahmen hängt waren, litten sie unter wahnsinnigen
Jesus und führten ihn zur Hinrichtungsstätte, Schmerzen. Herz und Lunge wurden aufs
die außerhalb der Stadt auf einem Hügel lag. Äußerste beansprucht. Da das ganze Kör-
Wahrscheinlich gab es in Jerusalem - wie in pergewicht an den Armen hing, wurde der
anderen Städten auch - einen festen Hinrich- Brustkorb zusammengepresst. So konnte
tungsplatz, auf dem schon alles für Kreuzi- der Gekreuzigte nicht durchatmen. Das ge-
gungen vorbereitet war. Dort standen ver- lang nur, wenn er sich mit aller Kraft aufrich-
mutlich schon die Kreuzespfähle, an denen tete und sein Gewicht auf die Füße verlager-
die Querbalken hochgezogen wurden. Den te, was ebenfalls mit großen Schmerzen ver-
Querbalken musste der Verurteilte selbst zur bunden war. Josephus, der während der Be-
Hinrichtungsstätte tragen. Jesus hatte dazu lagerung Jerusalems Hunderte von Kreuzen
keine Kraft mehr. Mitten in der Stadt brach er gesehen hatte, berichtet vom Heben und
unter seiner Last zusammen. Die römischen Senken der Gequälten. Sie richteten sich im-
Soldaten zwangen daraufhin einen Mann, mer wieder auf, um Luft zu schnappen, und
der gerade von seinem Feld nach Hause sackten dann am Ende ihrer Kräfte wieder
kam, den Balken zum Hinrichtungsplatz zu zusammen.
tragen.
Wann der Tod eintrat, hing von der Kraft des
Dort wurde Jesus nackt ausgezogen und auf Gekreuzigten ab. Er starb infolge eines
den Boden gelegt. Seine Arme wurden mit Herzinfarktes wegen der Überanstrengung
langen Nägeln auf den Querbalken genagelt. oder erstickte, weil er keine Kraft mehr hatte,
Die Nägel wurden dabei nicht durch die sich aufzurichten. Jesus hing insgesamt
Handflächen getrieben, wie man es öfter auf sechs Stunden am Kreuz. Ungefähr um drei
mittelalterlichen Darstellungen sieht. Dort Uhr nachmittags starb er. Die Bibel berichtet,
wären sie ausgerissen, wenn das ganze Ge- dass es um die Zeit war, wo im Tempel die
wicht des Körpers an ihnen hing. Man nagel- Passalämmer für das bevorstehende Fest
te vielmehr durch das Handgelenk. Dadurch geschlachtet wurden. Doch dazu später
waren auch die Schmerzen wesentlich grö- mehr.
ßer, denn der Nagel wurde durch eine Sehne
getrieben. Nachdem der Verurteilte an dem Weil der hohe Feiertag bevorstand, drängte
Balken festgenagelt worden war, wurde der die Zeit. Ein unbeerdigter Leichnam verun-
Balken am Pfahl hochgezogen, bis er in ei- reinigte nach alttestamentlichem Gesetz das
ner Vertiefung am oberen Ende des Pfahles Land. Deshalb mussten die Gekreuzigten
einrastete. Dann wurden auch die Füße fest- noch vor Sonnenuntergang, dem jüdischen
genagelt. Dazu schlug man einen besonders Tagesanfang, beerdigt sein. Das Hinrich-
langen Nagel durch beide Knöchelgelenke. tungskommando brach deshalb den anderen

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Gekreuzigten mit einer langen Keule die Bei- mehr gegeben, weil das Holz für die Kreuze
ne. So konnten sie sich nicht mehr aufrichten gebraucht wurde. Wohin man schaute, wa-
und erstickten innerhalb kurzer Zeit. Man hat ren Kreuze.
bei Ausgrabungen einen Gekreuzigten ge-
funden, bei dem nicht nur ein Nagel durch Das Kreuz von Jesus ist also kein einmaliges
die Fußknöchel getrieben war, sondern dem Ereignis in der Antike. Was ist es dann? Ist
auch die Beine gebrochen worden waren. es nicht mehr als ein Beispiel für die bestiali-
Das bestätigt den neutestamentlichen Be- schen Grausamkeiten, die Menschen einan-
richt. der antun können? War es nichts weiter als
ein tragischer Justizirrtum? Hatte Jesus zu-
Jesus mussten nicht die Beine gebrochen fällig das Pech, zwischen den Mühlen einer
werden, er war zu diesem Zeitpunkt bereits herrschsüchtigen religiösen Oberschicht und
tot. Um ganz sicher zu gehen - die Soldaten einem brutalen, aber feigen Statthalter zer-
hafteten mit ihrem eigenen Leben, wenn die mahlen zu werden? Das auch, aber das ist
Verurteilten entkommen konnten - stieß man nicht alles.
Jesus einen Speer in die Seite. Johannes,
ein Augenzeuge, berichtet in seinem Evan- Das Kreuz von Jesus ist das zentrale Zei-
gelium, Blut und Wasser sei aus der Wunde chen des Christentums. Für uns heute ist
geflossen. Das Blut hatte sich also schon in das nichts Besonderes mehr. Wir haben uns
seine Bestandteile zersetzt. Hätte Jesus an das Kreuz gewöhnt. Wir sehen es als
noch gelebt, wäre frisches Blut herausge- Schmuckanhänger, als Symbol auf Todesan-
quollen. So nahmen die Soldaten Jesus ab, zeigen und Nationalflaggen wie der Schweiz,
ohne ihm die Beine zu brechen. Josef von als Zeichen der Kirche. Einigen fällt es nicht
Arimathäa, ein Mitglied des Hohen Rates, einmal mehr auf, dass an vielen Kreuzen ein
das mit Jesus sympathisierte, bat Pilatus um sterbender Mensch hängt. Kreuze schockie-
den Leichnam von Jesus, der nun Eigentum ren uns nicht mehr. Sie gehören zu unserer
des römischen Staates geworden war. Pila- kulturellen Umgebung.
tus gab ihn heraus, und Josef konnte ihn mit-
nehmen. Er ließ den Leichnam für das Be- In der Antike war das anders. Die älteste
gräbnis mit wohlriechenden Stoffen und Ölen Kreuzigungsdarstellung stammt aus der Zeit
einbalsamieren und legte ihn in sein Famili- um 200 nach Christus und wurde in Rom ge-
engrab. Als die Sonne unterging, war alles funden. Dort ist eine gekreuzigter Esel zu se-
vorbei. Jesus war tot und begraben. hen, vor dem ein Mensch kniet. Darunter
steht: „Alexamenos betet seinen Gott an.” Es
Ein Weg zum Verständnis des Kreuzes handelt sich also offenbar um die Verspot-
tung eines Christen. Diese Reaktion ist
Soweit zum Ablauf der Kreuzigung. Es war nichts Besonderes. Auch Paulus, einer der
nicht die einzige Kreuzigung im Altertum. ersten Missionare, schreibt: „Wir predigen
Rund hundert Jahre vor dem Tod von Jesus den gekreuzigten Christus”, was „den Juden
schlugen die Römer den Sklavenaufstand ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit”
unter Spartacus nieder. Die Rache der Rö- ist (1. Korintherbrief 1, 23). Von sich selbst
mer war grauenvoll. Es wurden Hunderte sagt er aber: „Ich hielt es für richtig, unter
von Sklaven gekreuzigt. Zeitgenössische Au- euch nichts zu wissen als allein Jesus Chris-
toren berichten, dass entlang einer Straße, tus, den Gekreuzigten” (1. Korintherbrief
die nach Rom führte, alle zweihundert Meter 2, 2).
ein Kreuz stand. Etwas ähnliches geschah
etwa vierzig Jahre nach Jesus’ Tod: Als die Schon in frühester Zeit hatte das Kreuz ei-
römischen Truppen während des jüdischen nen hohen Stellenwert unter den Christen.
Aufstandes Jerusalem belagerten, ließen sie Man hat in Palästina christliche Gräber aus
jeden kreuzigen, der aus der Stadt fliehen dem ersten Jahrhundert ausgegraben. Dabei
wollte. Der Geschichtsschreiber Josephus, tauchten nicht nur Familien auf, die auch aus
der sich zu dieser Zeit in dem römischen dem Neuen Testament bekannt sind. Inte-
Heerlager aufhielt, schreibt, es habe im Um- ressanterweise waren die Gräber mit Kreu-
kreis von mehreren Kilometern keinen Baum zen geschmückt. In Pompei, das 79 nach

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Christus beim Ausbruch des Vesuvs ver- Knochen haben sich voneinander gelöst;
schüttet wurde, grub man einen christlichen mein Herz ist in meinem Leib wie geschmol-
Andachtsraum aus. An der Wand hing ein zenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet
Kreuz. Das Kreuz hatte also von frühester wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt
Zeit an eine zentrale Stellung bei den Chris- mir am Gaumen, und du legst mich in des
ten inne. Woher kommt das? Was ist das Todes Staub. Denn Hunde haben mich um-
Besondere an dem Kreuz? geben und der Bösen Rotte hat mich
umringt; sie haben meine Hände und Füße
Erfüllung der alttestamentlichen Prophe- durchbohrt. Ich kann alle meine Knochen
tie zählen; aber sie schauen zu und sehen auf
mich herab. Sie teilen meine Kleider unter
Wenn man aufmerksam die Leidensge- sich und werfen das Los um mein Gewand.
schichte von Jesus in den Evangelien liest, Aber du, HERR, sei nicht ferne, meine Stär-
fällt etwas auf. So wird berichtet, dass die rö- ke, eile, mir zu helfen!… Ich will deinen Na-
mischen Soldaten die Kleider von Jesus un- men kundtun meinen Brüdern, ich will dich in
ter sich aufteilten. Das war so üblich. Der der Gemeinde rühmen… Es werden geden-
Verurteilte war Eigentum des römischen ken und sich zum HERRN bekehren aller
Staates. Als eine Art Sonderlohn durfte das Welt Enden und vor ihm anbeten alle Ge-
Hinrichtungskommando die letzten Habselig- schlechter der Heiden… Sie werden kom-
keiten des Gekreuzigten behalten. Bei Jesus men und seine Gerechtigkeit predigen dem
wurden die Kleider unter den vier beteiligten Volk, das geboren wird. Denn er hat’s getan.
Soldaten verteilt. Mit einer Ausnahme: Das
Untergewand war aus einem Stück genäht. Soweit Psalm 22. Das ist übrigens der
Sie hätten es also zerschneiden müssen. Psalm, den Jesus am Kreuz gebetet hat. So
Deshalb losten die Soldaten. Und nun lassen sich viele Worte des gekreuzigten Je-
schreibt Johannes, ein Augenzeuge des Ge- sus in diesem Psalm wieder finden. Bekannt
schehens: „So sollte die Schrift erfüllt wurde ja vor allem die erste Zeile: „Mein
werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider Gott, mein Gott, warum hast du mich verlas-
unter sich geteilt und haben über mein Ge- sen?” Aber auch zu den anderen der sieben
wand das Los geworfen«” (Johannesevange- letzten Worte von Jesus am Kreuz finden
lium 19, 24). sich Parallelen im Psalm 22.

Johannes verweist auf die „Schrift”, also das Dies wird zum Beispiel im Markusevangeli-
Alte Testament. Der Tod von Jesus ist also um 14, 34-36 deutlich. Dort beginnt Jesus
etwas Besonderes. Durch ihn wird die Schrift mit der ersten Zeile des Psalms, die sogar
„erfüllt”. Wenn man die Stelle nachschlägt, auf aramäisch zitiert wird. Interessanterweise
die Johannes hier zitiert, stößt man auf den reagiert einer der Umstehenden darauf, in-
Psalm 22. Er wurde von David ungefähr tau- dem er einen Schwamm in Essig taucht und
send Jahre vor dem Tod von Jesus ge- Jesus zu trinken gibt. Auf dem Hintergrund
schrieben. Damals waren Kreuzigungen in von Psalm 22 wird das verständlich. Jesus
Israel noch völlig unbekannt. Aber trotzdem hatte nämlich gebetet: „Meine Zunge klebt
werden in diesem Psalm Einzelheiten einer mir am Gaumen” (Psalm 22, 16). So be-
Kreuzigung beschrieben. Einige Abschnitte kommt auch der Ausruf „Mein Gott, mein
daraus: Gott, warum hast du mich verlassen?” einen
anderen Sinn, als immer wieder behauptet
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich wird. Jesus hat also nicht in seiner Einsam-
verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist keit Gott angeklagt, den Gott, auf den er ver-
ferne… Ich bin ein Wurm und kein Mensch, traut und der ihn nun im Stich gelassen
ein Spott der Leute und verachtet vom Volk. hätte. So etwas liest man ja manchmal in
Alle, die mich sehen, verspotten mich, sper- Büchern. Aber das ist nicht richtig. Jesus zi-
ren das Maul auf und schütteln den Kopf: „Er tierte nicht nur diese eine Zeile, sondern den
klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus ganzen Psalm. Seine Zuhörer haben jedoch
und rette ihn, hat er Gefallen an ihm”… Ich nur Brocken davon verstanden. Deshalb fin-
bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine den sich in allen vier Evangelien unter-

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schiedliche Worte von Jesus am Kreuz. Inte- Unsere Beziehung zu Gott …
ressanterweise lassen sich aber fast alle
Psalm 22 zuordnen. Als Gott den Menschen schuf, tat er es, um
mit ihm in Gemeinschaft zu leben. So sagte
Jesus identifizierte sich also mit der Gestalt, Gott bevor es Menschen gab: „Lasst uns
die in Psalm 22 beschrieben wird. Hierin liegt Menschen machen, ein Bild, das uns gleich
ein Schlüssel zum Kreuz. In Psalm 22 wird sei” (1. Mose 1, 26). Gott wollte sich also ein
das Geschehen ganz auf Gott zurückgeführt. Gegenüber schaffen. Jemand, mit dem er in
Es geschieht etwas, was Gott tut. Das wird einer Beziehung leben konnte. Er ist zwar in
dazu führen, dass alle Welt Gott anbeten sich schon eine Gemeinschaft, eine Gemein-
wird. Jesus erhob also selbst im Sterben schaft aus Vater, Sohn und Heiligem Geist;
noch seinen Anspruch, eine einzigartige aber weil Gott zutiefst Liebe ist, wollte er die-
Stellung zu Gott zu haben. Davon haben wir se Gemeinschaft erweitern. Und so schuf er
im letzten Teil dieses Kurses bereits gehört. den Menschen und setzte ihn in eine Welt,
Auch beim Verhör vor dem Hohen Rat die er extra dafür angefertigt hatte.
machte Jesus keine Abstriche von seiner
Behauptung, Gottes Sohn zu sein. Und nach Weil Gott aber nicht an Sklaven und Mario-
seiner Auferstehung begegnete er Men- netten, sondern an Freunden interessiert ist,
schen, die nicht verstanden, wieso die Kreu- stattete er jeden Menschen mit einem eige-
zigung geschehen musste. Warum musste nen Willen aus. Niemand sollte gezwungen
der, von dem Johannes schreibt: „Er war in werden, ein Freund Gottes zu sein. Jeder
der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht, war frei. Und so geschah es dann, dass die
aber die Weit erkannte ihn nicht” (Johanne- Menschen sich von Gott abwandten. In der
sevangelium 1, 10), jämmerlich an einem Bibel wird das so beschrieben: Die Men-
Kreuz verbluten? Jesus antwortete folgen- schen ließen sich von der Schlange, die den
dermaßen darauf: „Er fing an bei Mose und Widersacher Gottes symbolisiert, überreden,
allen Propheten und legte ihnen aus, was in ihre Gemeinschaft mit Gott aufzukündigen.
der ganzen Schrift von ihm gesagt war” (Lu- Und so verließen sie Gott, den Gott, der sie
kasevangelium 24, 27). Er verweist wieder geschaffen hatte.
auf das Alte Testament. Das Kreuz ist also
kein peinlicher Betriebsunfall in der Ge- Man kann zu diesen Aussagen stehen, wie
schichte Gottes mit den Menschen. Doch man will, die Tatsache bleibt jedoch
was ist der Schlüssel zum Kreuz? Warum dieselbe. Wir werden nicht in eine Gemein-
nimmt die Botschaft von einem gekreuzigten schaft mit Gott hineingeboren. Der Gott, den
Gott den zentralen Platz im Neuen Testa- die Bibel beschreibt, ist also keine unpersön-
ment ein? liche Kraftquelle, die man immer wieder an-
zapfen kann. Gott ist eine Person, eine Per-
2. Der Schlüssel zum Kreuz son, die wollen und fühlen kann. Und eine
Person, die mit uns in einer engen Bezie-
Das Problem der Sünde hung leben möchte.

Bevor wir uns mit der Bedeutung des Kreu- … zu anderen Menschen …
zes näher beschäftigen, müssen wir zuerst
einen Blick auf das Problem werfen, das Doch wenden wir uns wieder dem Menschen
durch das Kreuz gelöst wurde. Dieses Prob- zu. Er lebt ohne die Gemeinschaft mit Gott.
lem nennt die Bibel Sünde. Nun hat Sünde Das hat weitreichende Folgen. Wer nicht in
heute vielleicht eine etwas andere Bedeu- Bezug auf eine Größe außerhalb seiner
tung als damals. Das wird deutlich bei Aus- selbst lebt, macht sich selbst zum Gott. Ein-
drücken wie „Parksünder” oder ähnlichen. So facher ausgedrückt: Für einen Menschen oh-
etwas ist in der Bibel nicht gemeint. Sünde ne Gott ist das eigene Ich das Maß aller Din-
ist das ernsteste Problem des Menschen. ge. Damit fehlt aber der zwischenmenschli-
Sünde ist die Bezeichnung für den Zustand, chen Beziehung die gemeinsame Grundlage.
in dem wir leben. Sünde ist ein anderes Wort Natürlich kann man diesen Mangel ausglei-
für die Trennung von Gott. chen, indem man bestimmte Übereinkünfte

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trifft. Aber das ist letztlich nur eine Grundlage ten, die sich jeden Tag wenigstens einen
auf Zeit. Wenn ein anderer heute bereit ist, Mord im Fernsehen ansehen. Zu welchen
in bestimmten Punkten auf mich einzugehen, Grausamkeiten ein Mensch fähig ist oder
dann weiß ich noch nicht, was morgen sein wäre, kann jeder nur in seinem eigenen Her-
wird. Vielleicht braucht er mich heute nur und zen sehen. Dieser Eindruck ist aber von der
morgen nicht mehr. Vielleicht bin ich heute ganz persönlichen momentanen Situation
stark. Aber was wird sein, wenn ich schwach abhängig und kann sich jederzeit ändern.
bin? Vielleicht bin ich heute interessant. Aber
wird er zu mir stehen, wenn es mir nicht …und zur Natur
mehr so gut geht? Wenn ich krank werde?
Diese Fragen kann man auf allen Ebenen Die Trennung von Gott sowie das Misstrau-
menschlicher Beziehungen stellen. Wer en und die Angst voreinander sind aber noch
kann schon sicher sagen, ob er auch dann nicht alle Auswirkungen der Sünde. Hinzu
noch Freunde hat, wenn es ihm schlecht kommt die Zerstörung der Natur. Wer einmal
geht? Wer kann von sich wirklich behaupten, die ersten Seiten der Bibel liest, dem wird ei-
dass er selbst zu seinen Freunden steht, niges auffallen. Dort ist die Welt
wenn es ihnen schlecht geht? Wegen dieser beschrieben, wie Gott sie sich vorstellt hat.
Probleme sind zwischenmenschliche Bezie- Sie wird dort interessanterweise „Garten” ge-
hungen von Vorsicht und Misstrauen nannt, ein Begriff, der an sich schon Ruhe
geprägt. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist bes- und Frieden ausstrahlt. So ist es auch ge-
ser. Und Vorsicht ist die Mutter der Porzel- meint. Diesen Garten soll der Mensch „be-
lankiste. Das Misstrauen ist auch berechtigt. bauen” und „bewahren” (1. Mose 2, 15), so
Schließlich hört man immer wieder von Men- lautet der Auftrag Gottes. Das Bebauen ha-
schen, die andere ausnutzen oder hereinle- ben wir sofort missverstanden: Deshalb ver-
gen. Das Misstrauen ist berechtigt, weil jeder schwinden jedes Jahr einige Quadratkilome-
sein eigener Gott ist. ter Deutschland unter einer dichten Betonde-
cke. Mit dem Bewahren hapert es ebenfalls
Doch nicht nur Misstrauen ist die Folge die- nicht zu knapp: Täglich stirbt eine Tierart
ses Egoismus. In der Bibel werden alle mög- aus. Sie verschwindet auf Nimmerwiederse-
lichen Auswüchse dargestellt. Wenn ich hen von unserem Planeten, weil wir ihr kei-
mein eigener Gott bin, warum sollte ich mir nen Lebensraum mehr zubilligen. Oft genug
dann nicht holen, was ich will; selbst dann, müssen die Tiere nicht einmal deswegen
wenn es einem anderen gehört? Warum soll- sterben, weil wir den Lebensraum dringend
te ich nicht die beseitigen, die sich mir in den für uns selbst brauchen. Sehr viel Natur wird
Weg stellen? In unserer Gesellschaft schaf- nur zerstört, damit Menschen, die eigentlich
fen wir es, sehr viele dieser Probleme durch schon alles haben, noch mehr besitzen.
Gesetze und Polizei zu unterdrücken. Aber
bei weitem nicht alle. Und das Erschrecken- Die Sünde hat also eine dreifache Auswir-
de ist, dass jederzeit das Schlimmste im kung: Sie zerstört unsere Beziehung zu Gott,
Menschen nach oben kommen kann. Es sie zerstört unsere Beziehung zueinander,
muss nur ein Ventil dafür da sein. Man muss sie zerstört unsere Beziehung zur Natur. In
nicht einmal ins ehemalige Jugoslawien allen drei Gebieten laden wir Schuld auf uns.
schauen, um zu sehen, wie aus ganz norma- Wer ehrlich ist, kann das nicht bestreiten.
len Familienvätern plötzlich mörderische Und diese Schuld ist etwas, was wir nie wie-
Bestien werden können. Keine noch so lan- der gutmachen können. Eine Tierart, die wir
ge zivilisierte Kultur hält sie davon zurück, ih- ausgerottet haben, können wir auch in allen
re Nachbarn, egal ob Frauen, Kinder oder al- „Jurassic Parks” dieser Welt nicht wieder
te Menschen, auf grausamste Weise abzu- zum Leben erwecken.
schlachten. Auch bei uns werfen scheinbar
ganz normale Jugendliche Brandsätze in be- Ein Gerücht, eine Verleumdung, die wir ver-
wohnte Häuser. Bei all dem hat niemand ei- breitet haben, können wir nicht wieder „ein-
nen Grund, mit dem Finger auf andere zu sammeln”. Und es gibt noch tiefere Wunden,
zeigen. Schließlich gehören die meisten die wir anderen zufügen. Auf jedem Weg
Deutschen wahrscheinlich auch zu den Leu- nach oben bleiben ein paar auf der Strecke.

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Und wo gehobelt wird, fallen oft genug Spä- beschreiben. So gibt Gott ein Gesetz, zu
ne. dem auch die Zehn Gebote gehören. Jeder,
der sich damit beschäftigt, wird sicher zuge-
Die Bibel lehrt, dass alle Sünden aus der ei- ben, dass es gute und richtige Gebote sind.
nen Sünde kommen. Weil unsere Beziehung Es ist gut und richtig, nicht zu töten, nicht zu
zu Gott nicht in Ordnung ist, können auch lügen und nicht zu stehlen. Es ist wichtig, die
die anderen Beziehungen nicht heil werden. Ehe und den Besitz des anderen zu respek-
Eigentlich sollten alle Kräfte, die es gibt, auf tieren. Es ist gut, dass die Eltern auch im Al-
das eine Ziel, auf Gott hin, ausgerichtet sein. ter versorgt werden sollen. All das ist gut und
Weil aber jeder sein eigener Herr sein will, richtig. Aber trotzdem hält sich kaum ein
laufen die Kräfte gegeneinander. Die Rei- Mensch daran. Wer hat noch nie gelogen?
bungen kann jeder spüren. Wer war noch nie neidisch auf seine Nach-
barn? Das ist das total Verrückte an unserer
Der Weg zur Lösung des Problems Welt. Wir wissen, was gut und richtig ist,
aber wir tun es nicht. Alle reden davon, dass
Den Schaden in der Beziehung zu Gott kön- es wichtig wäre, weniger Dreck in die Umwelt
nen wir aber nicht einfach reparieren. Wir zu blasen. Aber kaum einer lässt wirklich
haben gegen seine Gebote verstoßen, wir sein Auto stehen. Wir sehen ein, dass es gut
haben uns an seine Stelle gesetzt und ihn wäre, nicht immer nur auf den eigenen Vor-
von seinem Thron verjagen wollen. Da kön- teil bedacht zu sein. Aber wenn es wirklich
nen wir jetzt nicht einfach sagen „Schwamm darauf ankommt, haben wir doch Angst, un-
drüber” und Schluss. Wir befinden uns in tergebuttert zu werden. Ein Gesetz, in dem
Feindschaft gegen Gott. Wir rebellieren ge- steht, was gut und richtig ist, ist also noch
gen ihn. Wir können uns diese Sünde nicht keine Lösung. Es zeigt lediglich das Problem
einfach selbst vergeben. Das kann nur Gott. auf. Wenn wir nur wissen, was gut und rich-
tig ist, haben wir eigentlich nicht mehr in der
Aber Gott selbst hat das Problem in die Hand als nur eine Liste von den Dingen, die
Hand genommen. Schon ganz am Anfang wir verkehrt machen.
der Bibel gebraucht er ein großartiges Bild,
um die Lösung des Problems Sünde vorzu- Das Opfer
zeichnen. Dort heißt es: Der Nachkomme
der Frau soll der Schlange den Kopf zertre- Weil eine Aufzählung von Geboten nur unse-
ten, und die Schlange wird ihn in die Ferse re Schuld offenbart, zeigte Gott gleichzeitig
beißen (1. Mose 3, 15). Hier liegt der erste auch den Weg zur Lösung. So zeigte der
Schlüssel zum Kreuz. Der Nachkomme der Tempel des Alten Testaments mit seinen
Frau - damit ist Jesus gemeint. Er wird dem Opfervorschriften das Problem und seine
Widersacher Gottes, der die Menschen und Bewältigung. Der Tempel hatte im Wesentli-
Gott auseinander gebracht hat, endgültig chen zwei Bereiche. Es gab einen Ort, wo
den Kopf zertreten. Dabei wird er jedoch man beten und die Opfer darbringen konnte.
auch selbst tödlich getroffen werden. Jesus Daneben gab es aber auch das
stirbt am Kreuz, an das er von der Welt ge- Allerheiligste, das durch einen dicken Vor-
schlagen wurde, einer Welt, die nicht ihn, hang vom übrigen Tempel abgetrennt war.
sondern nur sich selbst als Gott anerkennen Dieses Allerheiligste durfte niemand betreten
will. Und gerade dadurch erringt er den Sieg. außer dem Hohenpriester. Und auch der
Die Welt wollte ihn nicht als Gott verehren durfte nur einmal im Jahr an einem ganz be-
und brachte ihn um, aber eben dadurch ist stimmten Tag, dem „Versöhnungstag” dort
der Weg zu Gott jetzt frei. Das klingt hinein. An diesem Tag opferte er für die Sün-
paradox. Wie das im einzelnen aussieht, den seines Volkes und ging dann in das All-
wird uns später noch beschäftigen. erheiligste, um Gott um Vergebung zu bitten.
Wenn ein Israelit nun eines der Gebote Got-
Das Gesetz tes gebrochen hatte, musste er dafür ein Op-
fer bringen. Ein Tier wurde geholt und der
Es gibt noch mehr Bilder im Alten Schuldige legte die Hand auf dessen
Testament, die das Geschehen am Kreuz Nacken. Dann wurde das Tier geschlachtet.

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Diese Zeremonie erscheint uns vielleicht geln, opfert er sich für sie. Er geht in den
grausam, aber sie symbolisiert viel. Unsere Tod, um ihnen zu zeigen, wie sehr er sie
Schuld ist etwas, was wir nicht rückgängig liebt. Wie groß auch die Schuld sein mag,
machen können. Alles muss wieder unter die die zwischen uns und Gott steht. Sie kann
Herrschaft Gottes kommen. Was gegen ihn nicht größer sein als dieses Opfer. Das
rebelliert, muss verschwinden, muss Kreuz ist das Zeichen Gottes: Es gibt nichts,
sterben. Weil wir uns gegen Gott gestellt ha- was nicht vergeben werden könnte. Keine
ben, weil wir unseren Eigenwillen vor den Schuld ist größer als die, den Schöpfer und
Gottes gesetzt haben, müssen wir sterben. Herrn der Welt ans Kreuz zu nageln. Aber
Aber nicht wir sterben, sondern das Tier. Jesus hat sogar seinen Mördern vergeben.
Das ist der Sinn des Opfers. Wer opfert, er- Im Kreuz von Jesus wird alles beseitigt, was
kennt an, dass er für seine Schuld den Tod noch zwischen uns und Gott sieht. Paulus
verdient hat. Aber weil Gott ihn liebt, stirbt drückt das so aus: „Denn Gott hat Christus,
stattdessen das Tier an seiner Stelle. der ohne Jede Sünde war, mit all unserer
Schuld beladen und verurteilt, damit wir von
Es ist wichtig, sich hier klar zu machen, dass dieser Schuld frei sind und Menschen wer-
das Opfer wegen uns passiert und nicht we- den, die Gott gefallen” (2. Korintherbrief 5,
gen Gott. Es geht nicht darum, dass Gott nur 21, „Hoffnung für alle”).
dann vergeben könnte, wenn er Blut sieht.
Dieses Denken ist ganz falsch. Das Opfer Dies macht ein Geschehen deutlich, das so-
geschieht nicht wegen Gott, sondern wegen gar außerhalb der Bibel bezeugt ist. Als Je-
uns. Wir sollen den ganzen Ernst unserer sus starb, riss der Vorhang im Tempel, der
Schuld erkennen und trotzdem am Leben das Allerheiligste abtrennte, in der Mitte
bleiben. durch. Es war ein Ereignis von höchster
Symbolkraft. Weil Jesus gestorben ist, ist der
Das Kreuz von Jesus Weg zu Gott frei. Jeder kann zu ihm kom-
men, nicht nur der Hohepriester. Jesus hat
Das Opfer ist einer der wichtigsten Schlüssel alle Schuld getragen. Durch seinen Tod ver-
zu Kreuz. Jesus starb zu dem Zeitpunkt, als urteilte und bestrafte Gott die Sünde. Gott ist
im Tempel die Lämmer geschlachtet wurden. kein „Schwamm drüber”-Gott. Er ist nicht der
Er selbst ist nach dem Neuen Testament das liebe, alte Opi mit dem weißen Bart, der so-
Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt wieso nichts mehr mitkriegt. Gott ist ganz an-
(Johannesevangelium 1, 29). Jesus wird am ders. Die Bibel nennt das „heilig”. Gott ist ein
Kreuz geopfert, damit unsere Schuld verge- heiliger Gott. Und das ist auch gut so. Wenn
ben wird. Alle Opfer vorher haben nur hinge- wir ehrlich sind, wollen wir so einen
wiesen auf dieses eine vollkommene Opfer. „Schwamm drüber”-Gott ja auch nur bei un-
Dieses Opfer geschah um unseretwillen, seren eigenen Sünden. Wenn ich etwas
nicht wegen Gott. Gott braucht keinen Drit- falsch gemacht habe, dann kann Gott doch
ten. Gott hat nicht Jesus geopfert, um uns ruhig mal beide Augen zudrücken. Aber wie
vergeben zu können. Nein, im Neuen Testa- wäre es denn, wenn es wirklich so wäre?
ment heißt es eindeutig: „Gott war in Chris- Wenn Gott selbst bei den größten Gemein-
tus und versöhnte die Welt mit sich selbst heiten, die auf dieser Welt passieren, sagen
und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu” würde: „Kommt schon Leute, stellt euch mal
(2. Korintherbrief 5, 19). Gott selbst ist am nicht so an!”? Er wäre alles andere, aber si-
Kreuz verblutet. An dieser Stelle können wir cher kein Gott der Liebe. Eher ein Gott der
etwas von dem Ausmaß der Sünde erken- Starken und Skrupellosen.
nen. Sie ist so real, dass auch die Verge-
bung ganz real sein muss. An dem Opfer So ist es gut, dass Gott ein heiliger Gott ist,
von Jesus wird uns der ganze blutige Ernst ein Gott, der die Sünde in gar keiner Form
unserer Sünde bewusst, aber auch der gan- duldet. Im Kreuz Jesu ist das Gericht über
ze blutige Ernst der Vergebung. die Sünde vollzogen. Gott meint es ernst,
todernst. Weil die Menschen schuldig wur-
So zeigt das Kreuz die ganze Liebe Gottes: den, muss jemand sterben. Aber Gott ist ein
Während die Menschen ihn ans Kreuz na- liebender Gott. Er verurteilt die Sünde und

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spricht den Sünder frei. Vielleicht macht ein Licht des Kreuzes können wir uns selbst rea-
Beispiel deutlich, was geschah: Stell’ dir vor, listisch betrachten, ohne zu verzweifeln. Wir
du musst dich wegen irgend etwas vor Ge- können unsere Schuld auch öffentlich ein-
richt verantworten. Zufällig ist der Richter ein gestehen. Wir können andere um Vergebung
guter Freund von dir. Was soll er tun? Wenn bitten, ohne uns rechtfertigen zu müssen.
er dich laufen lässt, wäre er ungerecht. Nicht Denn durch den Tod von Jesus sind wir be-
umsonst achten wir sehr darauf, dass Rich- reits verurteilt. Wenn wir an das Kreuz glau-
ter wirklich unparteiisch sind und nicht mal ben, dann erkennen wir es als unser Kreuz
so und mal so entscheiden. Er kann dich al- an. Dort hätten wir hängen müssen. Aber
so nicht laufen lassen, so gern er das täte. nun hängt Gott selbst dort. Wir sind frei.
Also verurteilt er dich zu der Strafe, die ge-
fordert wird. Dann steigt er herunter von sei-
nem Platz, zieht seine Robe aus und geht zu Zum Weiterlesen:
dir auf die Anklagebank. Dort unterschreibt
er einen Scheck über den Betrag, den du ROLAND WERNER: Wendepunkt Kreuz,
zahlen musst. Und du bist frei. Die Schuld Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart
wurde bestraft und die Strafe wurde bezahlt. 1994, ca. 10 DM.
Aber der Schuldige ist frei. JOHN R. W. STOTT: Grundkurs christli-
cher Glaube, R. Brockhaus Verlag Wup-
Natürlich hinkt das Beispiel. Jesus hat nicht pertal 1965 (21986), ca. 10 DM, Kapitel II
nur eine Geldbuße beglichen, sondern die und III: „Das Elend des Menschen” und
Todesstrafe getragen. Das führt uns zu ei- „Das Werk Jesu Christi”, Seite 57-93.
nem weiteren Aspekt des Kreuzes. Als KARL HEIM: Jesus der Weltvollender,
Christen glauben wir an einen Gott, der Aussaat Verlag Neukirchen-Vluyn 61985,
weiß, was sterben bedeutet. Gott ist für uns ca. 16 DM, Kapitel II: „Der Versöhner”,
in den Tod gegangen. Das bedeutet aber Seite 55-120.
auch, dass Gott keine menschliche Erfah- ROLAND WERNER mit GUIDO
rung fremd ist. Ein moslemischer Dichter BALTES: Faszination Jesus, Aussaat
sagte einmal: „In der Erfahrung des Todes Vertag Neukirchen-Vluyn 1992, ca. 25
hat der Mensch Gott etwas voraus.” Das ist DM, Kapitel 6: „Der gekreuzigte Jesus”,
nicht wahr. Gott weiß, was sterben bedeutet. Seite 113-135.
Gott hat erlebt, wie es ist, wenn man von sei- JOHN R. W. STOTT: The Cross of
nen Freunden verraten, verleugnet und ver- Christ. Inter-Varsity Press Leicester,
lassen wird. Gott hat erfahren, wie man sich England, 21989, ca. 30 DM (englisch).
fühlt, wenn man seinen Feinden schutzlos
ausgeliefert ist. Gott wurde grausam zu Tode
gequält. Gott weiß, was menschliches Leben
und Leiden ist.

Das Kreuz ist also kein Ort der Niederlage,


sondern des Sieges. Gott ist Mensch gewor-
den. Gott ist uns in Jesus auf menschlicher
Ebene begegnet. Das Kreuz ist der Höhe-
punkt dieses Weges. Hier hat Gott den Weg
frei gemacht. Hier zeigt Gott, wie unendlich
groß seine Liebe zu uns ist. Es gibt nichts,
was größer sein kann, als diese Tat Gottes.
Der Schöpfer der Welt geht ans Kreuz und
zeigt damit, dass seine Vergebung keine
Grenzen kennt. Es gibt keine Schuld, die
größer wäre als Gottes Erbarmen.

Aber das Kreuz macht nicht nur den Weg zu


Gott frei, sondern auch den zu uns selbst. Im

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