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Ich habe keine Kunsttheorie. Deswegen sind viele Leute enttäuscht. Ich habe keine message, die ich verkünde.
Man kann mich nicht festnageln auf eine einheitliche, verbal ausdrückbare kompositorische Theorie. Sondern ich
versuche immer neue Dinge auszuprobieren. Deswegen habe ich es einmal so dargestellt: Ich bin wie ein Blinder
im Labyrinth, der sich herumtastet und immer neue Eingänge findet und in Zimmer kommt, von denen er gar nicht
wußte, daß sie existieren. Und dann tut er etwas. Und er weiß gar nicht, was der nächste Schritt sein wird.2
(…)
Für mich bedeutet Komponieren so etwas wie die wissenschaftliche Arbeit: Es gibt bestimmte Probleme, die
auftauchen. Man sucht, diese Probleme zu lösen. Ich denke an solche Bereiche der Mathematik wie Optimierung,
kombinatorische Optimierung. Das sind Aufgaben, die nicht eine eindeutige, einfache Lösung haben, sondern
verschiedene Strategien erfordern. Es sind Annäherungsversuche. Es ist eigentlich ein Vorgang wie in der
geographischen Forschung, als es noch Gegenden in der Welt gab mit weißen Flecken. Dann sind Leute z.B. in
die Antarktis gegangen oder früher in den brasilianischen Regenwald, um noch weiter zu erforschen, die
Landkarte zu ergänzen.
Das ist doch der große Unterschied zwischen Wissenschaft einerseits und Ideologien oder Lehrgebäuden oder
großen zusammenhängenden philosophischen Systemen auf der anderen Seite: Ein Philosoph oder ein Ideologe,
ein Religionsstifter, der Autor einer zusammenhängenden Lehre oder Weltanschauung, der will an sich alle Dinge
der Welt durch ein System erklären. Ich denke an die Philosophen im vorigen Jahrhundert wie Fichte oder Hegel,
Schopenhauer. Hier gibt es einen Anspruch von Allumfassendheit, oft in totalen Dilettantismus abgleitend. Ich
denke an Rudolf Steiner. An seiner Anthroposophie hängt so sehr Vieles, wie Architektonisches: das
Goetheanum, Pädagogisches: die Waldorfschulen - eine ganze Lebensauffassung. Das ist nicht Wissenschaft. Es
ist in dem Fall auch nicht Philosophie. Es ist eine Lehre von allen Dingen. Der Marxismus ist etwas Ähnliches, mit
Einschränkungen auch die Psychoanalyse, wobei Freud doch einem Wissenschaftler näher steht.
Meine Einstellung zum Komponieren ist zwar nicht wissenschaftlich, hat aber viele Analogien mit der
wissenschaftlichen Denkweise. Ein Wissenschaftler, der in einem Bereich arbeitet, beansprucht nie, alles zu
erklären. Er sagt: Ich stelle mir ein Detailproblem und versuche, dazu eine plausible Theorie zu finden, die den
Fakten entspricht. Und wenn Fakten auftauchen, die der Theorie widersprechen, werde ich meine Theorie
modifizieren. Hier sehe ich den grundsätzlichen Unterschied zwischen Wissenschaft - nicht nur den
Naturwissenschaften, sondern auch zum Beispiel der Soziologie - und Ideologie.
In den Wissenschaften ist es sehr selten, daß eine Auffassung total negiert wird. Es geht meistens um
Modifikationen, Ergänzungen. Nehmen wir die Physik: Einstein hat Newtons Mechanik nicht ungültig gemacht, nur
ergänzt für Phänomene im Bereich von großen Geschwindigkeiten.
Nun sind aber Kunst und Wissenschaft sehr verschiedene Gebiete des Geistes. Und man soll wissenschaftliche
Modelle nicht auf die Kunst projizieren. Ich werfe Xenakis z.B. vor, daß er ohne weiteres Kalküle, sehr oft
ungesicherte und etwas naive mathematische Manipulationen, appliziert hat. Er glaubte, daß das, was als
Algorithmus einen Sinn hat, auch musikalisch einen Sinn haben müsse.
Manfred Stahnke: Und John Cage, seine Zufallsmanipulationen?
[Ligeti:] Ja, ich sehe darin auch eine Attitüde. Es ist eine Weltanschauung. Man kann ein Stück von Cage nicht
nach denselben Kriterien betrachten wie ein Haydn-Streichquartett. Man muß es betrachten als das, was es ist,
eben ein Nicht-Werk. Und zu Cages Einstellung gehört: Alles ist eigentlich beliebig. Wenn ich dies als Kunstwerk
bezeichne, kann alles ein Kunstwerk sein. Ob es Musik ist oder Graphik - eigentlich austauschbar. Auch
alltägliche Objekte und Situationen gehören dazu. Diese Auffassung geht übrigens auf Marcel Duchamp zurück.
Ich muß jetzt einen Schritt weiter gehen - und das gibt jetzt ein Werturteil: Ich neige dazu, es nicht zu akzeptieren
oder zu lieben, wenn ein Künstler eine künstlerische Theorie aufstellt, und die Werke entsprechen dieser Theorie.
Das waren meine Schwierigkeiten schon mit Stockhausen, bei Boulez nur mit Structures Ia. Boulez ist dann sehr
schnell davon weggekommen.
Es wird ein Axiomensystem aufgestellt, und daraus dann eine Arbeitsweise abgeleitet. Auf irgendeine Art ist das
die Stockhausensche und auch die Boulezsche Serialität, auch die Cagesche Methode nach I-Ging oder nach
Zufallsmanipulationen. Die Resultate sind - darüber habe ich schon oft geschrieben - verblüffend ähnlich: Sie
ergeben eine mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung von Elementen innerhalb einer Zeitspanne.
Noch einen Schritt weiter: Ich fühle mich allzu arrogant, wenn ich mich gegen Ferneyhough und seine Schule
wende. Ich habe trotzdem eine kritische Einstellung bezüglich des Freiburger Kreises. Ich habe so den Eindruck:
Da wird ein großes gedankliches Gebäude ausgearbeitet. Die Musikstücke sind fast nur Nebenprodukt. Aufgrund
des gedanklichen Gebäudes werden Partituren hergestellt. Sie schauen sehr imponierend aus.
Es stellt sich die Frage: Entspricht das, was erklingt, der Komplexität der Partitur?3
1 György Ligeti über seine Orchesterwerke, Begleittext der CD The Ligeti Project II, Teldec Classics
2 György Ligeti und Manfred Stahnke, Gespräch am 29. Mai 1993, in: Manfred Stahnke (Hrsg.): Musik - nicht ohne Worte, Hamburg
2000, S.127
3 ebendort, S.121
Beispiel 1: Etüde Nr. 8 Fém
B-As // F-(Es)
Es-Des // H/Ces-As
1 2
2
14
13
11
10
György Ligeti: Etüde Nr. 1 "Désordre"
Modelle (8/8): r.H.: 4-4-6 (32-32-48 = 112) / l.H. 4-4-10 (32-32-80 = 144) 112x4=448 / 144x3=432
r.H. 3-5-3-5-5-3-7 [31] / 3-5-3-5-5-3-7 [31] / 3-5-3-5-5-3-3-4 (7) -- 5-3-3-5 [47] / 109
h1 a1 d2
l.H. 3-5-3-5-5-3-8 [32] / 3-5-3-5-5-3-8 [32] / 3-5-3-5-5-3-3-5 (8) -- 5-3-3-5-3-5-3-5-5-3-8 [80] / 144
dis1 fis1 fis1
r.H. 3-5-3-4-5-3-8 [31] / 3-5-3-4-5-3-8 [31] / 3-5-3-4-5-3-3-5 (8) -- 5-3-3-4 [46] / 108
c2 h1 e2
l.H. 3-5-3-5-5-3-8 [32] / 3-5-3-5-5-3-8 [32] / 3-5-3-5-5-3-3-5 (8) -- 5-3-3-5-3-5-3-5-5-3-8 [80] / 144
ais cis1 cis1
r.H. 3-5-3-5-5-3-7 [31] / 3-5-3-5-5-3-7 [31] / 3-5-3-5-5-3-3-4 (7) -- 5-3-3-5 [47] / 109
d2 c2 f2
l.H. 3-5-3-5-5-3-8 [32] / 3-5-3-5-5-2-7 [30] / 3-4-3-4-4-2-2-4 (6) -- 4-2-2-3-2-3-1-3-3-1-4 [54] / 116
fis gis gis
Le - be wohl!
con sord. legatissimo Strich für Strich
dolciss.
Der A-Teil des dritten Satzes (alla Marcia)besteht aus einer knapp dreitaktigen Periode (Talea), die im
Klavier mit jeweils anderen Tonhöhen (Color) zehn Mal wiederholt wird. In der vierten Wiederholung
verschiebt sich die Violine um ein, in der sechsten um zwei, und in der achten um drei Sechzehntel.
Es entsteht ein rhythmischer Kanon, der in der zehnten Wiederholung abreisst. Der Color besteht aus einer
zyklisch wiederkehrenden Zwölftonreihe, deren Töne aber zu je anderen Intervallen zusamengefasst werden
(vgl. Beisp. 3)
Beisp. 2: 3. Satz, rhythmische Periode (Talea)
Beisp. 3: 3. Satz, zyklisch wiederkehrende Zwölftonreihe (Color)
1. Mal
2. Mal
3. Mal