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Deutscher
Taschenbuch
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Inhalt
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Das Bewußtsein der Wissenssoziologie
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Spengler nach dem Untergang
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Gewaltherrschaft aufgegangen ist. Er hat am Kitsch eine
Seite gewahrt, die den ästhetischen Kritikern sich entzog, die
aber wohl dazu beitragen mag, den Ausdruck des schockhaft
Katastrophischen zu erklären, den so viele Architekturen und
Interieurs des neunzehnten Jahrhunderts heute angenommen
haben: den der Unterdrückung. Unter Veblens Blick werden
die Ornamente zu Drohungen, indem sie alten Modellen von
Repression sich anähneln. Nirgendwo hat er das sinnfälliger
angezeigt als an einer Stelle, die der Diskussion von Wohltä-
tigkeitsbauten gewidmet ist. »Certain funds, for instance, may
have been set apart as a foundation for a foundling asylum
ora retreat for invalids.The diversion of expenditure to hon-
orific waste in such cases is not uncommon enough to cause
surprise or even to raise a smile. An appreciable share of the
funds is spent in the construction of an edifice facedwith some
aesthetically objectionable but expensive stone, covered with
grotesque and incongruous details, and designed, in its battle-
mented walls and turrets and its massive portals and Strategie
approaches, to suggest certain barbaric methods of warfare.«
Die Hervorhebung des drohenden Aspekts von Prunk und
Ornamentierung steht im Dienst von Veblens Geschichts-
philosophie. Die Bilder aggressiver Barbarei, die er am Kitsch
des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere an den dekora-
tiven Veranstaltungen der Gründerjahre gewahrte, galten
seinem Fortschrittsglauben als Relikte vergangener Epochen
oder als Züge der Regression der nicht selber Produzierenden,
der vom industriellen Arbeitsprozeß Ausgenommenen. Zu-
gleich aber sind die von ihm archaisch genannten Züge die
heraufdämmernden Grauens. Seine triste Innervation desa-
vouiert seine fortschrittsfrohe Gesinnung. Ihm hat die Ge-
schichte der Menschheit in der Antizipation von deren furcht-
barster Phase sich geformt. Der Schock, den seinem Senso-
rium das ritterburgähnliche Findlingsheim bereitet, ist im
Columbushaus, der neusachlichen Folterstätte der National-
sozialisten, zur geschichtlichen Macht geworden. Veblen
hypostasiert die totale Herrschaft. Alle Kultur der Mensch-
heit wird ihm zur Fratze nackten Entsetzens. Es ist die Faszi-
nation durchs Unheil, welche die Ungerechtigkeit erklärt und
rechtfertigt, die Veblen der Kultur widerfahren läßt. Hat
heute die Kultur den Charakter der Reklame, des bloßen Kitts
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angenommen, so ist sie bei Veblen nie etwas anderes gewesen
als Reklame, als Ausstellung von Macht, Beute, Profit. In
großartiger Misanthropie schiebt er alles beiseite, was darüber
hinausgeht. Der Splitter in seinem Auge wird ihm zum Mit-
tel, die Blutspuren des Unrechts noch an den Bildern des
Glücks zu gewahren. Die Metropolen des neunzehnten Jahr-
hunderts haben die Säulen des attischen Tempels, die goti-
schen Kathedralen und die trotzigen Paläste der italienischen
Stadtstaaten im Namen grenzenlosen Disponierens über die
Menschengeschichte trugvoll versammelt. Veblen aber zahlt
ihnen heim: die echten Tempel, Kathedralen und Paläste sind
ihm schon so falsch wie die Imitationen. Die Weltgeschichte
ist die Weltausstellung. Er erklärt die Kultur aus dem Kitsch,
nicht umgekehrt. Man könnte Veblens Verallgemeinerung
des Zustands, in welchem die Kultur von der Reklame ver-
zehrt wird, nicht einfacher formulieren als Stuart Class:
»People above the line of bare subsistence, in this age and all
earlier ages, do not use surplus, which society has given them,
primarily for useful purposes.« Für »all earlier ages« wird
unterschlagen, was nicht der business culture des letzten
gleicht: der Glaube an die reale Macht ritualer Veranstaltun-
gen, das Motiv der Sexualität und ihrer Symbolik — der Sexu-
alität geschieht in der ganzen Theory of the Leisure Class
keine Erwähnung -, der künstlerische Ausdruckszwang, alle
Sehnsucht, der Sklaverei der Zwecke zu entfliehen. Der prag-
matistische Todfeind teleologischer Betrachtung verfährt
wider Willen nach dem Schema einer satanischen Teleologie.
Gröbster Rationalismus ist seinem Scharfsinn gerade gut ge-
nug, um die Allherrschaft von Fetischen übers vorgebliche
Reich der Freiheit ins Licht zu rücken. Die Konkretion,
welche dem Einerlei der Naturverfallenheit Einheit gebietet,
pervertiert sich seiner Anklage zum Massenprodukt, das den
betrügerischen Anspruch erhebt, konkret zu sein.
Der böse Blick ist fruchtbar. Er trifft Phänomene, welche
man verfehlt und verharmlost, solange man sie als bloße Fas-
sade der Gesellschaft von obenher abtut, ohne bei ihnen zu
verweilen. Dahin gehört der Sport. Veblen hat bündig jeg-
liche Art von Sport, von den Kampfspielen der Kinder und
den Leibesübungen der Universitäten bis zu den großen
sportlichen Ostentationen, die später in den Diktaturstaaten
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beider Spielarten blühten, als Ausbruch von Gewalt, Unter-
drückung und Beutegeist charakterisiert. »These manifesta-
tions of the predatory temperament are all to be classed
under the head of exploit. They are partly simple and un-
reflected expressions of an attitude of emulative ferocity,
partly activities deliberately entered upon with a view to gain-
ing repute for prowess. Sports of all kinds are of the same
general character.« Die Sportleidenschaft ist Veblen zufolge
regressiver Natur: »The ground of an addiction to sports is
an archaic Spiritual constitution.« Nichts aber ist moderner
als diese Archaik: die sportlichen Veranstaltungen waren die
Modelle der totalitären Massenversammlungen. Als tole-
rierte Exzesse verbinden sie das Moment der Grausamkeit
und Aggression mit dem autoritären, dem disziplinierten
Innehalten von Spielregeln: legal wie die neudeutschen und
volksdemokratischen Pogrome. Veblen erspürt die Affinität
des sportlichen Exzesses und der manipulierenden Führer-
schicht : »If a person so endowed with a proclivity for exploits
is in a position to guide the development of habits in the ado-
lescent members of the Community, the influence which he
exerts in the direction of conservation and reversion to
prowess may be very considerable. This is the significance,
for instance, of the fostering care latterly bestowed by many
clergymen and other pillars of society upon >boys brigades <
and similar pseudo-military organisations.« Seine Einsicht
reicht darüber noch hinaus. Er erkennt den Sport als Pseudo-
Aktivität: als Kanalisierung von Energien, die anderwärts
gefährlich werden könnten; als Investition sinnloser Tätig-
keit mit den trugvollen Zeichen des Ernstes und der Bedeu-
tung. Je weniger man selber mehr erwerben muß, um so mehr
sieht man sich veranlaßt, den Schein seriöser, gesellschaftlich
bestätigter, doch desinteressierter Tätigkeit zu erwecken. Zu-
gleich aber entspricht der Sport dem aggressiven, praktischen
Beutegeist. Er bringt die antagonistischen Desiderate von
zweckmäßigem Tun und Zeitvergeudung auf die gemeinsame
Formel. So wird er zum Element des Schwindels, zum make
believe. Veblens Analyse wäre freilich zu ergänzen. Denn
zum Sport gehört nicht bloß der Drang, Gewalt anzutun,
sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden. Einzig
Veblens rationalistische Psychologie verstellt ihm das maso-
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chistische Moment im Sport. Es prägt den Sportgeist nicht
bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern
mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die dro-
hende neue - im Gegensatz zu Veblens Klagen, daß die »in-
stitutions« hinter dem freilich von ihm auf die Technologie
beschränkten Geist der Industrie zurückgeblieben seien. Der
moderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teil
der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine
entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Be-
dienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Er
ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darum
gehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch
organisiert.
Minder zeitgemäß dünkt ein anderer Komplex von Veb-
lens Kulturkritik: die sogenannte Frauenfrage. Den soziali-
stischen Programmen war die endliche Emanzipation der
Frau so selbstverständlich, daß man seit geraumer Zeit vom
Durchdenken der konkreten Stellung der Frau sich dispen-
sierte. In der bürgerlichen Literatur vollends gilt die Frauen-
frage seit Shaw für komisch. Strindberg hat sie in die Männer-
frage pervertiert, so wie Hitler die Emanzipation der Juden
in die Emanzipation von den Juden. Die Unmöglichkeit der
Befreiung der Frau unter den herrschenden Bedingungen
wird nicht diesen, sondern den Advokaten der Freiheit zur
Last geschrieben und die Hinfälligkeit der emanzipatorischen
Ideale, die sie der Neurose annähert, mit deren Verwirk-
lichung verwechselt. Die vorurteilsfreie Angestellte, der die
Welt recht ist, solange sie mit dem Freund ins Kino gehen
kann, hat Nora und Hedda verdrängt, und wenn sie von
ihnen wüßte, so würde sie ihnen in kessen Redewendungen
ihre mangelnde Realitätsgerechtigkeit vorwerfen. Ihr ent-
spricht der Mann, der von der erotischen Freiheit Gebrauch
macht nur, um die Partnerin in ihrer beschränkten Willfährig-
keit kalt und glücklos mitzunehmen und sie zum Dank wo-
möglich desto zynischer zu verachten. Veblen, der vieles mit
Ibsen gemein hat, ist vielleicht der letzte Denker von Rang,
der sich die Frauenfrage nicht ausreden läßt. Als später Apo-
loget der Frauenbewegung hat er die Strindbergschen Er-
fahrungen in sich aufgenommen. Ihm wird die Frau gesell-
schaftlich zu dem, was sie psychologisch sich selbst ist, zum
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Wundmal. Er weiß von ihrer patriarchalen Erniedrigung.
Ihre Stellung, die er zu den Relikten aus dem Stadium des
Jägers und Kriegers rechnet, gleicht der des Dieners. Freizeit
und Luxus, die ihr gelassen werden, sollen nur den Status
ihres Meisters bekräftigen. Das involviert zwei einander
widersprechende Konsequenzen. In einiger Unabhängigkeit
von Veblens Text ließen sie etwa so sich wiedergeben: auf der
einen Seite ist die Frau gerade vermöge ihrer wie sehr auch
entwürdigenden Situation als »Sklavin« und Gegenstand der
Ostentation dem »praktischen Leben« in gewissem Sinn ent-
zogen. Sie ist - oder war noch zu Veblens Zeit - der wirt-
schaftlichen Konkurrenz nicht in gleichem Maße ausgesetzt
wie der Mann. In manchen sozialen Schichten und zu man-
chen Epochen war sie davor geschützt, jene Qualitäten zu
entwickeln, die Veblen unter die oberste Kategorie des Beute-
geistesbringt.Vermöge ihrer Distanz zum Produktionsprozeß
hält sie Züge fest, in denen der noch nicht ganz erfaßte, noch
nicht ganz vergesellschaftete Mensch überlebt. So scheint
gerade die Angehörige der Oberschicht am ehesten bestimmt,
dieser den Rücken zu kehren. Dem jedoch steht eine Gegen-
tendenz gegenüber, als deren vorwaltendes Symptom Veblen
den Konservatismus der Frau designiert. Sie hat als Subjekt
an der geschichtlichen Entwicklung kaum wesentlichen An-
teil. Die Abhängigkeit, in der sie gehalten wird, verstümmelt
sie. Das kompensiert die Chance, die das Ausgeschlossensein
vom ökonomischen Wettkampf ihr gewährt. Gemessen an
der geistigen Interessensphäre des Mannes, selbst noch des-
sen, der in der Barbarei des Erwerbs aufgeht, befinden sich,
Veblen zufolge, die meisten Frauen in einem Bewußtseins-
zustand, den er nicht zögert, Schwachsinn zu nennen. Man
könnte seinen Gedanken dahin treiben, daß die Frau der Pro-
duktionssphäre nur entronnen ist, um von der Sphäre der
Konsumtion um so vollkommener aufgesaugt zu werden,
gebannt in der Unmittelbarkeit der Warenwelt, so wie die
Männer fixiert sind an die Unmittelbarkeit des Profits. Das
Unrecht, das die männliche Gesellschaft den Frauen angetan
hat, wird ihr von diesen zurückgespiegelt: sie gleichen den
Waren sich an. Veblens Einsicht indiziert eine Veränderung
in der Utopie der Emanzipation. Hoffnung zielt nicht darauf,
daß die verstümmelten Sozialcharaktere der Frauen den ver-
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stümmelten Sozialcharakteren der Männer gleich werden,
sondern daß einmal mit dem Antlitz der leidenden Frau
das des tatenfrohen, tüchtigen Mannes verschwindet; daß
von der Schmach der Differenz nichts überlebt als deren
Glück.
Solche Gedanken freilich liegen Veblen fern. Sein Bild der
Gesellschaft ist jener undeutlichen Rede von der Fülle des
Lebens zum Trotz nicht am Glück gemessen, sondern an der
Arbeit. Nur als Erfüllung des »Arbeitsinstinktes«, seiner
obersten anthropologischen Kategorie tritt Glück in sein
Blickfeld. Er ist ein Puritaner malgre lui-meme. Während er
unermüdlich Tabus attackiert, macht seine Kritik vor der Hei-
ligkeit der Arbeit halt. Seine Kritik hat etwas von der väter-
lichen Weisheit, daß die Kultur ihre eigene Arbeit nicht genug
ehre, sondern vielmehr ihre vermessene Ehre am Ausgenom-
mensein von der Arbeit, an der Muße habe. Als deren schlech-
tes Gewissen konfrontiert er die Gesellschaft mit ihrem
eigenen Utilitätsprinzip. Er rechnet ihr vor, daß diesem zu-
folge Kultur Verschwendung sei und Schwindel, so irratio-
nal, daß sie Zweifel weckt an der Rationalität des Systems.
Er hat etwas von dem Bürger, der die Forderung der Spar-
samkeit grimmig ernst nimmt. Darüber wird ihm die ganze
Kultur zum sinnlosen, protzenhaften Aufwand, wie Bankrot-
teure ihn betreiben.Gerade vermöge der starren Insistenz auf
dem einen Motiv deckt er den Widersinn eines gesellschaft-
lichen Prozesses auf, der sich am Leben erhalten kann nur,
indem er auf Schritt und Tritt »falsch kalkuliert« und ein Sof-
fittenwerk von Schein und Betrug aufbaut. Aber Veblen hat
selbst den Preis seiner Methode zu entrichten. Er vergötzt
die Sphäre der Produktion. Es gibt bei ihm implizit etwas wie
raffend und schaffend. Er unterscheidet zwei Kategorien von
modernen ökonomischen »institutions: pecuniary and in-
dustrial«. Danach teilt er die Beschäftigung der Menschen
ein und dann die Verhaltensweisen, die diesen Beschäftigun-
gen entsprechen sollen. »So far as men's habits of thought are
shaped by the competitive process of acquisition and tenure;
so far as their economic functions are comprised within the
ränge of ownership of wealth as conceived in terms of ex-
change value, and its management and financiering through
a permutation of values; so far their experience in economic
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life favours the survival and accentuation of the predatory
temperament and habits of thought.« Indem er verfehlt, den
gesellschaftlichen Prozeß als Gesamtprozeß zu verstehen,
gelangt er innerhalb dieses Prozesses zu einer Scheidung pro-
duktiver und nicht produktiver Funktionen, die vorab gegen
die unrationellen Verteilungsmechanismen sich kehrt. Das
verrät etwa seine Rede von »that class of persons and that
ränge of duties in the economic process which have to do with
the ownership of enterprises engaged in competitive in-
dustry; especially those fundamental lines of economic man-
agement which are classed as financiering operations. To
these may be added the greater part of mercantile occupa-
tions«. Erst im Licht dieser Distinktion wird ganz deutlich,
was Veblen eigentlich gegen die leisure class einzuwenden
hat. Es ist nicht so sehr der Druck, den sie ausübt, als daß, im
Sinn seines eigenen puritanischen Arbeitsethos, nicht genug
Druck auf ihr lastet. Er mißgönnt ihr die wie sehr auch selber
verzerrte Chance des Entrinnens. Daß die wirtschaftlich Un-
abhängigen noch nicht ganz von den Notwendigkeiten des
Lebens erfaßt sind, dünkt ihm archaisch: »An archaic habit
of mind persists because no effectual economic pressure con-
strains this class to an adaptation of its habits of thougt to the
changing Situation«: jener adaptation, wohlverstanden, der
Veblen das Wort redet. Gewiß ist ihm das Gegenmotiv, das
der Muße als der Voraussetzung von Humanität, nicht fremd.
Aber hier setzt sich ein atheoretisches, pluralistisches Denk-
schema durch. Die Muße soll ihr Recht haben und die Ver-
schwendung, aber nur »ästhetisch«. Als Ökonom will er darauf
nicht sich einlassen. Man braucht den Hohn nicht zu überhö-
ren, der gerade durch solche Aufteilung aufs isoliert Ästheti-
sche fällt. Um so eindringlicher aber wird man zu fragen ha-
ben, was bei Veblen ökonomisch eigentlich bedeutet. Es geht
dabei nicht darum, wieweit seine Schriften der ökonomischen
Schuldisziplin zuzurechnen sind, sondern um seinen Begriff
des Ökonomischen selber. Der bleibt aber bei Veblen impli-
ziert definiert als »profitable«. Seine Rede von ökonomisch
kommt überein mit der des Geschäftsmanns, der eine unnütze
Ausgabe als unökonomisch ablehnt. Der vorausgesetzte Be-
griff des Nützlichen und Unnützen wird nicht analysiert. Er
weist nach, daß die Gesellschaft nach ihrem eigenen Maß un-
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ökonomisch verfährt. Das ist viel und wenig zugleich. Viel:
weil er die Unvernunft der Vernunft grell ins Licht rückt.
Wenig: weil er vor der Verschränkung des Nützlichen und
Unnützen versagt. Er überläßt die Frage nach dem Unnützen
heteronomen, durch die Arbeitsteilung der Wissenschaften
vorgegebenen Kategorien und macht sich zu einem Spar-
kommissar der Kultur, dessen Votum vom ästhetischen Kol-
legen vetiert werden könnte, anstatt den Gegensatz der Res-
sorts selber als Ausdruck der fetischistischen Arbeitsteilung
zu erkennen. Während er als Ökonom mit der Kultur zu sou-
verän umspringt und sie als Verschwendung vom Budget
streicht, resigniert er insgeheim vor ihrem bloßen Dasein
außerhalb des Budgetbereichs. Er verkennt, daß über ihr
Recht oder Unrecht nicht nach der ressortmäßigen Einstel-
lung des Fragenden, sondern nach der Erkenntnis des Zu-
sammenhanges der Gesellschaft zu urteilen ist. Daher in-
häriert seiner Kulturkritik ein Moment der Clownerie.
Er möchte tabula rasa machen, den Schutt der Kultur fort-
räumen, das Urgestein bloßlegen. Aber die Suche nach »Re-
siduen« verfällt regelmäßig der Verblendung. Schein ist dia-
lektisch als Widerschein der Wahrheit; was keinen Schein
gelten läßt, wird erst recht dessen Opfer, indem es mit dem
Schutt die Wahrheit drangibt, die anders als in diesem nicht
erscheint. Veblen aber sperrt sich gegen die Motive alles des-
sen, wogegen seine Grunderfahrung sich kehrt. Im Nachlaß
Frank Wedekinds findet sich die Bemerkung, Kitsch sei die
Gotik oder der Barock unserer Zeit. Mit der darin visierten
historischen Notwendigkeit des Kitsches hat Veblen es sich
zu leicht gemacht. Ihm ist die falsche Ritterburg nichts als
anachronistisch. Er weiß nichts von der Moderne der Regres-
sion. Ihm sind die trugvollen Bilder der Einmaligkeit in der
Ära der Massenproduktion bloße Rückstände, nicht aber
Repliken auf die hochindustrielle Mechanisierung, die über
diese selber etwas aussagen. Die Welt jener Bilder, die Veblen
als conspicuous consumption demaskiert, ist eine synthe-
tische Bilderwelt. Sie stellt den gescheiterten, doch zwangs-
läufigen Versuch dar, dem Erfahrungsverlust, wie ihn die
moderne Produktionsweise involviert, zu entrinnen und
durch selbstgemachte Konkretion der Herrschaft des ab-
strakt Gleichen sich zu entziehen. Lieber wollen die Men-
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sehen das Konkrete sich selber vorspiegeln als die Hoffnung
von sich werfen, die daran haftet. Die Warenfetische sind
nicht bloß die Projektion undurchsichtiger menschlicher Be-
ziehungen auf die Dingwelt. Sie sind zugleich die schimä-
rischen Gottheiten, welche das nicht im Tausch Aufgehende
repräsentieren, während sie doch selber dessen Primat ent-
sprungen sind. Von dieser Antinomie ist Veblens Denken
zurückgeprallt. Sie aber gerade macht den Kitsch zum Stil.
Kitsch bezeichnet nicht einfach Fehlleitung von Arbeit. Daß
die synthetischen Bilder Regressionen aufs längstVergangene
darstellen, bezeugt einzig seine Unmöglichkeit.Bilder, welche
den Stand des technisch Möglichen und den menschlichen
Anspruch aufs Konkrete zusammendächten, hat die avan-
cierte Kunst entworfen. Ihr blieb die gesellschaftliche Re-
zeption versagt. Vielleicht ist es erlaubt, das Verhältnis von
Fortschritt - »Moderne« - und Regression - »Archaik« —
thesenhaft zu formulieren. In einer Gesellschaft, in der die
Entwicklung und die Stauung der Kräfte aus dem gleichen
Prinzip unabdingbar hervorgehen, bedeutet jeglicher tech-
nische Fortschritt zugleich auch eine Regression2. Veblens
Rede vom barbarian normal verrät davon die Ahnung. Nor-
mal ist die Barbarei, weil sie nicht in bloßen Rudimenten be-
steht, sondern in gleichem Maße wie die Naturbeherrschung
immerfort reproduziert wird. Diese Äquivalenz hat Veblen
zu harmlos genommen. Er hat die Ungleichzeitigkeit der
Ritterburg und des Bahnhofs gewahrt, nicht aber diese Un-
gleichzeitigkeit als geschichtsphilosophisches Gesetz. Der
Bahnhof maskiert sich als Ritterburg, aber die Maske ist seine
Wahrheit. Erst wenn die technische Dingwelt unmittelbar
der Beherrschung dient, vermag sie es, solche Masken ab-
zuwerfen. Erst in den totalitären Schreckensstaaten gleicht
sie sich selber.
2 In der psychologischen Theorie Freuds, welche die Regression zum Produkt einer vom
Ich - dem Subjekt allen »Fortschritts« - ausgeübten Zensur macht, ist objektiv etwas davon
angelegt. Nur wird es nicht am »Menschen« und seiner Seele, dem Objekt der bisherigen Ge-
schichte, bestimmbar sein, sondern am realen gesellschaftlichen Prozeß, dem bewußtlosen Sub-
jekt, dessen Naturwüchsigkeit eben daran zutage kommt, daß es für jegliche Schöpfung den
Preis der Vernichtung einsetzt. Die Doppeldeutigkeit der »Sublimierung« ist die psycholo-
gische Chiffre für die Doppeldeutigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, so wie das Freud-
sche Ökonomieprinzip, das die konstante Gleichheit von Credit und Debet im psychologischen
Haushalt formuliert, nicht sowohl einen anthropologischen Ursachverhalt bezeichnet wie die
Immergleichheit dessen, was bis heute sich ereignete.
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Wenn Veblen den Zwang in der modernen Archaik ver-
kennt und die synthetischen Bilder als bloße Lebenslüge
glaubt ausmerzen zu können, dann versagt er zugleich vor
der gesellschaftlichen quaestio iuris von Luxus und Ver-
schwendung, die der Weltverbesserer wie einen Auswuchs
abschaffen möchte. Man könnte vom Doppelcharakter des
Luxus reden. Dessen eine Seite ist die, auf welche Veblen
seine Scheinwerferbatterien konzentriert: jener Teil des
Sozialprodukts, der nicht menschlichen Bedürfnissen und
menschlichem Glück zugute kommt, sondern vergeudet
wird, um veraltete Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Die an-
dere Seite des Luxus ist die Verwendung von Teilen des
Sozialprodukts, die weder mittelbar noch unmittelbar der
Wiederherstellung verausgabter Arbeitskräfte dient, sondern
den Menschen, soweit sie vom Prinzip des Nutzens nicht
völlig erfaßt sind. Während Veblen diese beiden Momente
des Luxus nicht explizit unterscheidet, ist es fraglos seine In-
tention, die erste als conspicuous consumption zu beseitigen
und die zweite im Namen der fullness of life zu retten. Aber in
der Blankheit dieser Intention liegt die Schwäche der Theorie.
Am Luxus heute lassen faux frais und Glück nicht sich isolie-
ren. Sie machen die in sich selber vermittelte Identität des
Luxus aus. Während Glück nur dort existiert, wo Menschen
intermittierend der schlechten Vergesellschaftung sich ent-
ziehen, enthält die konkrete Gestalt ihres Glücks allemal den
Stand der Gesamtgesellschaft, das Negative in sich3. Man
könnte Prousts Romanwerk als den Versuch deuten, diesen
Widerspruch zu entfalten. So bezieht das erotische Glück
sich nie auf den Menschen an sich, sondern auf den Menschen
in seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit und in seinem ge-
sellschaftlichen Erscheinen. Benjamin hat einmal ausgespro-
3 Veblens Unfähigkeit, die Dialektik des Luxus zu artikulieren, kommt am schlagendsten in
seiner Vorstellung vom Schönen zum Ausdruck. Er sucht das Schöne vom Aufwand, der
Ostentation zu feinigen. Damit aber bringt er es um jede konkrete gesellschaftliche Bestimmt-
heit und fallt auf den vor-Hegelschen Standpunkt eines bloß formalen, an Naturkategorien
meßbaren Schönheitsbegriffs zurück. Veblens Rede von der Schönheit ist so abstrakt, weil an
keiner Schönheit das immanente Moment des Unrechts getilgt werden kann. Konsequent
müßte er die Abschaffung der Kunst verlangen. Sein Pluralismus, der ein ökonomisches Prin-
zip der Sparsamkeit durch ein ästhetisches der Scheinlosigkeit ergänzt, entspringt dem Unver-
mögen zu solcher Konsequenz. Die auseinander tretenden Momente aber nähern sich in ihrer
Isolierung beide der Absurdität. Wie die vollendete Zweckmäßigkeit des Schönen in unver-
söhnlichen Widerspruch tritt zu dessen Zwecklosigkeit, so tritt Veblens Fassung des Ökono-
mischen in Widerspruch zu seiner Idee einer richtigen Gesellschaft.
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chen, es sei erotisch nicht minder wichtig für den Mann, ob
die Geliebte mit ihm sich zeige, als ob sie ihm sich hingebe.
Veblen hätte in den Bürgerspott darüber eingestimmt und
von conspicuous consumption geredet. Aber das Glück, das
der Mann real findet, ist von der conspicuous consumption
nicht zu trennen. Kein Glück, das nicht dem gesellschaftlich
konstituierten Wunsch Erfüllung verhieße, aber auch keines,
das nicht in dieser Erfüllung das Andere verspräche. Die ab-
strakte Utopie, die darüber sich täuscht, wird zur Sabotage
am Glück und spielt dem in die Hände, was sie negiert. Denn
während sie vom Glück die gesellschaftlichen Male zu tilgen
unternimmt, muß sie zur Leugnung jeglichen konkreten
Glücksanspruchs schreiten und den Menschen zur bloßen
Funktion seiner eigenen Arbeit reduzieren. Noch der Waren-
fetischist, der der conspicuous consumption bis zur Obses-
sion verfallen ist, hat an dem Wahrheitsgehalt des Glücks
seinen Anteil. Während er das eigene lebendige Glück ver-
leugnet und durch das Prestige der Dinge - Veblen spricht
von social confirmation - surrogiert, offenbart er wider Wil-
len das Geheimnis, das in allem Aufwand und aller Ostenta-
tion beschlossen liegt: daß kein individuelles Glück möglich
sei, das nicht virtuell das der Gesamtgesellschaft in sich be-
schließt. Noch die Bosheit, die Hervorkehrung des Status
und der Drang zu imponieren, in welchem unterm Prinzip
der Konkurrenz das gesellschaftliche Moment am Glück un-
ausweichlich sich durchsetzt, enthält die Anerkennung der
Gesellschaft, des Ganzen als des wahren Subjekts von Glück.
Die von Veblen als invidious bezeichneten Züge des Luxus,
der böse Wille, reproduzieren nicht nur die Ungerechtigkeit,
sondern enthalten verzerrt den Appell an Gerechtigkeit. Die
Menschen sind nicht schlechter als die Gesellschaft, in der sie
leben: darin liegt das Korrektiv für Veblens Menschenfeind-
schaft. Aber auch diese ist ein Korrektiv. Sie diffamiert den
bösen Willen in seinen sublimsten Regungen, weil sie dem
guten starrsinnig die Treue hält.
Es ist aber die tiefste Ironie, daß diese Treue zwangshaft
bei Veblen jene Gestalt annimmt, die er an der bürgerlichen
Gesellschaft am unerbittlichsten verfemt: die der Regression.
Ihm liegt Hoffnung nur bei der Urgeschichte der Menschheit.
Alles Glück, das ihm vom Anspruch traumloser Realitäts-
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gerechtigkeit, fügsamer Anpassung an die Bedingungen der
industriellen Arbeitswelt versperrt ist, wird reflektiert im
Bild eines paradiesischen Urzustands. »The conditions under
which men lived in the most primitive stages of associated
life that can properly be called human, seem to have been of a
peaceful kind; and the character - the temperament and spir-
itual attitude - of men under these early conditions of environ-
ment and institutions seems to have been of a peaceful and
unaggressive, not to say an indolent cast. For the immediate
purpose this peaceable cultural stage may be taken to mark
the initial phase of social development. So far as concerns the
present argument, the dominant spiritual feature of this pre-
sumptive initial phase of cujture seems to have been an un-
reflecting, unformulated sense of group solidarity, largely
expressing itself in a complacent, but by no means strenuous,
sympathy with all facility of human life, and an uneasy revul-
sion against apprehended inhibition or futility of life.« Die
Züge von Entmythologisierung und Humanität, welche die
Menschheit im bürgerlichen Zeitalter aufweist, heißen bei
Veblen nicht das Ihrer-selbst-Innewerden der Menschheit,
sondern vielmehr der Rekurs auf diesen Urzustand. »Under
the circumstances of the sheltered Situation in which the lei-
sure class is placed there seems, therefore, to be something of
a reversion to the ränge of non-invidious impulses that char-
acterize the ante-predatory savage culture. The reversion
comprises both the sense of workmanship and the proclivity
to indolence and good-fellowship.« Von Karl Kraus, dem
Kritiker des sprachlichen Ornaments, stammt der Vers: »Ur-
sprung ist das Ziel.« So geht die Sehnsucht des Technokraten
Veblen auf die Wiederherstellung des Ältesten: die Frauen-
bewegung ist ihm die blinde und brüchige Anstrengung »to
rehabilitate the women's pre-glacial Standing«. Solche pro-
vokanten Formulierungen scheinen dem Tatsachensinn des
Positivisten ins Gesicht zu schlagen. Aber hier eröffnet sich
einer der merkwürdigsten Zusammenhänge in Veblens
Theorie: der zwischen der Rousseauistischen Lehre vom
Ideal des Urzustands und dem Positivismus. Als Positivist,
der keine andere Norm als Anpassung gelten läßt, sieht er vor
die Frage sich gestellt, warum man nicht auch nach der Ge-
gebenheit der principles of waste, futility and ferocity sich zu
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richten, ihnen sich anzupassen habe, die seiner Anschauung
zufolge den canon of pecuniary decency ausmachten. »But
why are apologies needed? If there prevails a body of popular
sentiment in favour of Sports,why is not the fact a sufficient
legitimation? The protracted discipline of prowess to which
the race had been subjected under the predatory and quasipea-
ceable culture has transmitted to the man of to-day a temper-
ament that finds gratification in these expressions of ferocity
and cunning. So, why not accept these sports as legitimate
expressions of a normal and wholesome human nature? What
other norm is there that is to be lived up to than that given in
the aggregate ränge of propensities that express themselves
in the sentiments of this generation, including the hereditary
strain of prowess?« Hier stößt Veblens Konsequenz, mit
einem Grinsen, das Ibsen nicht fremd war, bis zu jenem Punkt
vor, wo sie in Gefahr steht, vorm bloß Daseienden, vor der
normalen Barbarei zu kapitulieren. Die Antwort ist über-
raschend : »The ulterior norm to which appeal is taken is the
instinct of workmanship, which is an instinct more funda-
mental, of more ancient prescription, than the propensity to
predatory emulation.« Das ist der Schlüssel für die Theorie
des Urzustandes. Der Positivist erlaubt sich die Möglichkeit
des Menschen nur zu denken, indem er sie in eine Gegeben-
heit verzaubert. Mit anderen Worten: in die Vergangenheit.
Es gibt für ihn keine Rechtfertigung versöhnten Lebens, als
daß es noch gegebener, noch positiver, noch daseiender sei
als die Hölle des Daseins. Das Paradies ist die Aporie des Posi-
tivisten. Den Arbeitsinstinkt erfindet er nebenher, um Para-
dies und industrielles Zeitalter doch noch auf den gleichen
anthropologischen Nenner zu bringen. Schon vor der Erb-
sünde wollten ihm zufolge die Menschen im Schweiße ihres
Angesichts ihr Brot essen.
Mit Theorien solcher Art, ohnmächtigen und leise sich
selbst karikierenden Hilfskonstruktionen, in denen der Ge-
danke des Anderen mit der Anpassung ans Immergleiche zu
paktieren trachtet, hat Veblen am meisten sich exponiert. Es
ist leicht, den Positivisten, der ausbrechen möchte, einen
Narren zu schelten. Veblens ganzes Werk ist vom Motiv des
spieen durchsetzt. Es ist ein einziger Hohn auf jenen sense of
proportions, den die positivistischen Spielregeln seiner Um-
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weit erheischen. Er kann sich nicht genugtun in ausgeführten
Analogien zwischen Gebräuchen und Einrichtungen des
Sports und der Religion, oder zwischen dem aggressiven
Ehrenkodex des gentleman und des Verbrechers. Er kann es
sich nicht einmal versagen, die Verschwendung zeremonialer
Paraphernalien ökonomisch zubeklagen, die in den religiösen
Kulten erfolgt. Den Lebensreformern steht er nicht fern. Oft
genug verkehrt sich ihm die Utopie der Urzeit zum billigen
Glauben ans Natürliche, und er eifert gegen sogenannte
Modetorheiten wie lange Röcke und Korsett - meist Attri-
bute des neunzehnten Jahrhunderts, welche der Fortschritt
des zwanzigsten weggefegt hat, ohne damit der Barbarei der
Kultur Abbruch zu tun. Die conspicuous consumption wird
zur fixen Idee. Um den Widerspruch zwischen dieser und dem
Scharfsinn von Veblens gesellschaftlichen Analysen zu ver-
stehen, ist von der Erkenntnisfunktion des spleen selber
Rechenschaft zu geben. Gleich dem Bild des friedlichen Ur-
zustands ist der spleen bei Veblen - und nicht bloß bei ihm -
eine Zufluchtsstätte der Möglichkeit. Der Betrachter, der
vom spleen sich leiten läßt, macht den Versuch, die über-
mächtige Negativität der Gesellschaft seiner eigenen Erfah-
rung kommensurabel zu machen. Undurchdringlichkeit und
Fremdheit des Ganzen sollen gleichsam mit den Organen er-
griffen werden, während sie gerade es ist, die dem Zugriff un-
mittelbarer und lebendiger Erfahrung sich entzieht. Die fixe
Idee ersetzt den abstrakten Allgemeinbegriff, indem sie be-
stimmte und begrenzte Erfahrung verhärtet und patzig fest-
hält. Der spieen möchte dieUnverbindlichkeitundUnevidenz
einer bloß vermittelten und abgeleiteten Erkenntnis des Aller-
nächsten, nämlich des realen Leidens, korrigieren. Aber dies
Leiden entspringt im umfassenden Unwesen und kann darum
nur abstrakt und »vermittelt« zur Erkenntnis erhoben wer-
den. Dagegen rebelliert der spieen. Er entwirft gleichsam
Schemata des Gesprächs mit Herrn Kannitverstan. Sie ver-
sagen, weil die gesellschaftliche Entfremdung eben darin be-
steht, daß sie die Gegenstände der Erkenntnis dem Umkreis
der unmittelbaren Erfahrung entrückt. Der Erfahrungs-
verlust des Subjekts in der Welt des Immergleichen, Voraus-
setzung der gesamten Veblenschen Theorie, bezeichnet die
anthropologische Seite des seit Hegel in objektiven Katego-
86
rien bestimmten Entfremdungsvorgangs. Der spleen ist eine
Abwehrreaktion. Stets und überall, auch schon bei Baude-
laire, ist sein Gestus anklagend. Aber er denunziert die Gesell-
schaft in Formen der Nähe und Unmittelbarkeit, rechnet ihre
Schuld den Phänomenen zu. Für die Kommensurabilität der
Erkenntnis mit dem Erfahrbaren wird durch die Insuffizienz
der Erkenntnis bezahlt. Darin nähert sich der spleen der
kleinbürgerlichen Sekte, die das Unheil der Welt Verschwö-
rungen von Mächten zuschreibt, während er freilich den
Widersinn dessen, worauf er sich kapriziert, selber einbe-
kennt. Wenn Veblen einem Fassadenphänomen wie dem
barbarischen Aufwand wesentlich die Schuld aufbürdet, so
wird gerade die Disproportionalität der These zum Element
ihrer Wahrheit. Sie zielt auf einen Schock ab. Er bringt die
Unangemessenheit dieser Welt und ihrer möglichen Erfahr-
barkeit zum Ausdruck. Die Erkenntnis begleitet sich selber
mit dem sardonischen Gelächter darüber, daß ihr eigentlicher
Gegenstand ihr entschlüpft, solange siemenschlicheErkennt-
nis bleibt, und daß sie erst als unmenschliche der unmensch-
lichen Welt gewachsen wäre. Die einzige geistige Kommuni-
kation zwischen dem objektiven System und der subjektiven
Erfahrung ist die Explosion, welche beide voneinander reißt,
um mit ihrer Stichflamme sekundenweise die Figur zu be-
leuchten, die sie mitsammen bilden. Indem diese Art Kritik
die Barbarei an der nächsten Straßenecke dingfest macht, an-
statt sich im allgemeinbegrifflichen Bereich zu vertrösten,hält
sie gegenüber der unnaiven Theorie, vor der sie sich lächer-
lich macht, ein Memento fest, dessen Vernachlässigung in der
Konzeption des wissenschaftlichen Sozialismus beginnt und
in dem endet, was Karl Kraus Moskauderwelsch genannt hat.
Die Borniertheit ist das Komplement nicht nur, sondern zu-
weilen die heilsame Brille, die dem allzu umfassenden weiten
Blick Einhalt gebietet. Als solche bewährt sie sich bei Veblen.
Sein spieen rührt her vom degoüt gegenüber dem offiziellen
Optimismus eines Fortschrittsgeistes, dessen Partei er selber
nimmt, soweit er mit dem common sense schwimmt.
Der spleen diktiert die besondere Art seiner Kritik. Es ist
die Desillusionierung, das »debunking«. Mit Vorliebe folgt
er einem traditionellen Schema der Aufklärung: dem von der
Religion als Pfaffenbetrug. »It is feit that the divinity must be
87
of a peculiarly serene and leisurely habit of life. And when-
ever his local habitation is pictured in poetic imagery, for edi-
fication or in appeal to the devout fancy, the devout word-
painter, as a matter of course, brings out before his auditors'
imagination a throne with a profusion of the insignia of opu-
lence and power, and surrounded by a great number of servi-
tors. In the common run of such presentations of the celestial
abodes, the office of this corps of servants is a vicarious
leisure, their time and efforts being in great measure taken up
with an industrially unproductive rehearsal of the meritorius
characteristics and exploits of the divinity.« Die Art, mit der
hier den Engeln die Unproduktivität ihrer Arbeit vorgewor-
fen wird, hat etwas von säkularisierten Flüchen, aber auch
vom Witz, derverpufft. Ein abgebrühter Mann läßt sich nichts
vormachen von den Fehlleistungen, Träumen und Neurosen
der Gesellschaft. Sein Humor gleicht dem des Ehemanns, der
die hysterische Frau zur Hausarbeit anhält, um ihrdieMucken
auszutreiben. Heftet sich der spieen eigensinnig an die ent-
fremdete Dingwelt und macht die Tücke des Objekts für die
Untat der Subjekte verantwortlich, so ist die Haltung des
debunking die dessen, der auf die Tücke des Objekts nicht
hineinfällt. Er reißt den Objekten die ideologischen Fetzen
herunter, um jene ungestörter manipulieren zu können. Seine
Wut gilt dem verdammten Schwindel eher als dem schlechten
Zustand. Nicht zufällig kehrt der Haß des debunking sich so
gern gegen Vermittlungsfunktionen: Schwindel und Ver-
mittlung gehören zusammen. Aber auch Denken und Ver-
mittlung. Auf dem Grunde des debunking wohnt der Haß
gegens Denken4. Die wahre Kritik der barbarischen Kultur
aber könnte sich nicht damit begnügen, barbarisch die Kultur
zu denunzieren. Sie müßte die offene, kulturlose Barbarei als
4 Von diesem Haß ist Veblen dem Bewußtsein nach ganz frei gewesen. Aber in seinem Kampf
gegen die gesellschaftlichen Vermittlungsfunktionen ebenso wie in seiner Denunziation des
»higher learning« ist der Anti-Intellektualismus objektiv angelegt. In einem debunker wie AI-
dous Huxley schlägt er durch. Dessen Werk ist weithin Selbstdenunziation des Intellektuellen
als Schwindlers im Namen einer Ehrlichkeit, die auf die Verherrlichung der Natur hinaus-
läuft. - Es ist wohl möglich, daß die Beschranktheit von Veblens Theorie in letzter Instanz
durch die Unfähigkeit sich erklärt, die Frage der Vermittlung zu durchdenken. In seiner Phy-
siognomie schickt sich das Zelotentum des skandinavischen Lutheraners, das keinen Vermittler
zwischen der Gottheit und der Innerlichkeit zulaßt, verblendet an, in den Dienst einer Ordnung
zu treten, welche die Vermittlungen zwischen der kommandierten Produktion und den Zwangs-
konsumenten kassiert. Beiden Haltungen, der radikal protestantischen und der staatskapita-
listischen, ist der Anti-Intellektualismus gemein.
88
Telos jener Kultur bestimmen und verwerfen, nicht aber
krud der Barbarei den Vorrang über die Kultur zusprechen,
nur weil sie nicht mehr lügt. Ehrlichkeit als Sieg des Grauens
hallt wider in Formulierungen Veblens wie der von der indu-
striellen Unproduktivität der himmlischen Heerscharen.
Solche Witze appellieren an den Konformismus. Das Geläch-
ter übers Bild der Seligkeit steht der Macht näher als jenes
Bild, mag dieses auch selber noch entstellt sein von Macht
und Herrlichkeit.
Dennoch ist in Veblens Insistenz auf den Fakten, in der
Tabuierung aller Bilder ein Gutes und Heilsames gelegen.
Der Widerstand gegen das barbarische Leben ist bei ihm ein-
gewandert in die Kraft der Anpassung an dessen unbarm-
herzige Notwendigkeit. Für den Pragmatisten seiner Art
gibt es nicht das Ganze: keine Identität von Denken und Sein,
nicht einmal den Begriff einer solchen Identität. Immer wie-
der kommt er darauf zurück, daß die Bewußtseinsformen und
die Anforderungen der konkreten Situation für ewig unver-
söhnbar seien: »Institutions are products of the past process,
are adapted to past circumstances, and are therefore never in
füll accord with the requirements of the present. In the nature
of the case, this process of selective adaptation can never
catch up with the progressively changing Situation in which
the Community finds itself at any given time; for the environ-
ment, the Situation, the exigencies of life which enforce the
adaptation and exercise the selection, change from day to day;
and each successive Situation of the Community in its turn
tends to obsolescence as soon as it has been established. When
a Step in the development has been taken, this step itself con-
stitutes a change of Situation which requires a new adaptation;
it becomes the point of departure for a new Step in the adjust-
ment, and so on interminably.« Unversöhnbarkeit verbietet
das abstrakte Ideal oder läßt es als kindliche Phrase erschei-
nen. Die Wahrheit reduziert sich auf den kleinsten Schritt.
Wahr ist das Nächste, nicht das Fernste. Gegen die Forde-
rung, das Interesse des »Ganzen« gegenüber dem wie immer
verstandenen Partialinteresse zu vertreten und damit die utili-
täre Befangenheit der Wahrheit zu transzendieren, kann der
Pragmatist mit Grund einwenden, daß das Ganze nicht ab-
schlußhaft gegeben, daß nur das Nächste erfahrbar, daß dar-
89
um das Ideal zum Fragmentarischen und zur Ungewißheit
verurteilt sei. Demgegenüber reicht die Berufung auf den
Unterschied des Totalinteresses einer richtigen Gesellschaft
vom beschränkten Nutzeffekt nicht aus. Die bestehende und
die andere Gesellschaft haben nicht zweierlei Wahrheit, son-
dern die Wahrheit in dieser ist untrennbar von der realen
Bewegung innerhalb des Bestehenden und jedem einzelnen
ihrer Momente. Daher reduziert sich der Gegensatz von Dia-
lektik und Pragmatismus, gleich jedem echt philosophischen,
auf die Nuance. Nämlich auf die Auffassung jenes nächsten
Schritts. Er wird aber vom Pragmatisten als Anpassung be-
stimmt. Sie verewigt die Herrschaft des Immergleichen. Dia-
lektik gäbe mit deren Sanktionierung sich selber, die Idee der
Möglichkeit auf. Wie aber wäre diese zu denken, wenn sie
nicht abstrakt und willkürlich sein soll, vom Schlage jener
Utopie, welche die dialektischen Philosophen verfemt haben?
Umgekehrt, wie vermag der nächste Schritt Richtung und
Ziel zu erlangen, ohne daß das Subjekt mehr weiß als bloß das
Vorgegebene? Wollte man die Kantische Frage umformu-
lieren, sie könnte heute wohl lauten: wie ist ein Neues überhaupt
möglich ? In der Zuspitzung der Frage liegt der Ernst des Prag-
matisten, dem des Arztes vergleichbar, dessen Hilfsbereit-
schaft an der Tierähnlichkeit des Menschen ihren Kanon hat.
Es ist der Ernst des Todes. Der Dialektiker aber sollte der
sein, der davor nicht resigniert. Seiner Bestimmung zergeht
das Entweder-Oder der diskursiven Logik. Wo dem Prag-
matisten die sturen Fakten als »opaque items«, als undurch-
sichtiges Dies da zurückbleiben; wo sie sich nur noch klassi-
fizieren, aber nicht erkennen lassen, sieht der Dialektiker erst
seiner Erkenntnisaufgabe sich gegenüber; der, noch die phä-
nomenalen Residuen, die »Atome« durch den Begriff auf-
zulösen. Nichts aber ist undurchsichtiger als die Anpassung
selber, welche die Nachahmung bloßen Daseins als Maß der
Wahrheit installiert. Wenn der Pragmatist den geschicht-
lichen Index jeglicher Wahrheit fordert, so hat seine Idee von
der Anpassung selbst einen solchen Index. Es ist der, welchen
Freud die Lebensnot genannt hat. Nur soweit ist der nächste
Schritt einer der Anpassung, wie Mangel und Armut in der
Welt herrschen. Anpassung ist die Verhaltensweise, welche
der Situation des Zuwenig entspricht. Der Pragmatismus ist
90
darum befangen und eng, weil er diese Situation als ewig
hypostasiert. Nichts anderes besagen seine Begriffe von
Natur und Leben. Was er den Menschen wünscht, ist die
»Identifikation mit dem Lebensprozeß«, ein Verhalten, das
jenes perpetuiert, das die Lebewesen in der Natur führen, so-
lange diese ihnen nicht Lebensmittel genug gewährt. Veblens
Ausfälle gegen die »Geschützten«, denen es ihre bevorzugte
Stellung gestatte, der Anpassung an die veränderte Situation
mehr oder minder sich zu entziehen, kommt auf eine Verherr-
lichung des Darwinistischen Kampfes ums Dasein hinaus. Es
ist aber gerade die Hypostasis der Lebensnot, die heute in
ihrer gesellschaftlichen Gestalt als überholt durchsichtig wird,
und zwar eben kraft jener Entwicklung der Technik, deren
Stand nach Veblens Doktrin die Menschen sich anpassen sol-
len. So wird der Pragmatist zum Opfer der Dialektik. Der
gegenwärtigen technischen Situation gerecht werden, welche
den Menschen Fülle und Überfluß verspricht, heißt, sie nach
dem Bedürfnis einer Menschheit einrichten, die der Gewalt
nicht mehr bedarf, weil sie ihrer selbst mächtig ist. Veblen hat
an einer der schönsten Stellen seines Werks den Zusammen-
hang zwischen der Armut und der Beharrung des Schlechten
erkannt: »The abjectly poor, and all those persons whose
energies are entirely absorbed by the struggle for daily suste-
nance, are conservative because they cannot afford the effort
of taking thought for the day after to-morrow; just as the
highly prosperous are conservative because they have small
occasion to be discontented with the Situation as it Stands to-
day.« Der Pragmatist aber hält, selber regressiv, am Stand-
punkt dessen fest, der nicht bis übermorgen - über den näch-
sten Schritt hinaus - denken kann, weil er nicht weiß, wovon
er morgen leben soll. Er vertritt die Armut. Das ist seine
Wahrheit, weil die Menschen noch zur Armut verhalten sind,
und seine Unwahrheit, weil der Widersinn der Armut offen-
bar geworden ist. Dem heute Möglichen sich anpassen, heißt,
nicht länger sich anpassen, sondern das Mögliche verwirk-
lichen.
91
Aldous Huxley und die Utopie
112
Mitteln Zwecke zu setzen und zu entfalten. Das Verhältnis
von Mittel und Zweck, von Humanität und Technik läßt sich
nicht nach ontologischen Prioritäten regeln. Die Alternative
läuft darauf hinaus, daß die Menschheit nicht aus dem Un-
heil sich herausarbeiten soll. Sie wird vor die Wahl gestellt
zwischen dem Rückfall in eine selbst bei Huxley fragwürdige
Mythologie und dem Fortschritt zur lückenlosen Unfreiheit
des Bewußtseins. Kein Raum bleibt einem Begriff vom Men-
schen, der weder im kollektiven Systemzwang noch im kon-
tingenten Einzelnen aufginge. Die Konstruktion, die den to-
talitären Weltstaat denunziert und den Individualismus, der
es dahin brachte, retrospektiv verklärt, ist selber totalitär.
Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits die
Liquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mit
Grund schaudert. Die praktische Konsequenz des bürger-
lichen »Man kann nichts machen«, wie es als Echo des Ro-
mans nachhallt, ist genau das perfide »Du mußt dich fügen«
in totalitären Brave New World. Die Eindeutigkeit der Ten-
denz, die Geradlinigkeit des Fortschrittsbegriffs, wie er im
Roman gehandhabt wird, leitet von der beschränkten Form
der Entfaltung der Produktivkräfte in der »Vorgeschichte«
sich her. Unausweichlichkeit kommt in der negativen Utopie
dadurch zustande, daß jene Beschränktheit der Produktions-
verhältnisse, die profitbedingte Inthronisierung des Produk-
tionsapparats als Eigenschaft der technischen und mensch-
lichen Produktivkräfte an sich zurückgespiegelt wird. In sei-
ner Prophezeiung der Entropie der Geschichte folgt Huxley
dem Schein, den die Gesellschaft notwendig verbreitet, ge-
gen die er eifert.
Er kritisiert den Geist des Positivismus. Aber weil auch
seine Kritik bei Schocks stehenbleibt, bei der erlebten Un-
mittelbarkeit, und den gesellschaftlichen Schein unbefragt
als Tatsache registriert, wird er selber zum Positivisten. Trotz
des ungemütlichen Tons stimmt er zusammen mit der de-
skriptiv gesinnten Kulturkritik, welche durch die Klage über
den unausweichlichen Untergang der Kultur der Verfesti-
gung der verklagten Herrschaft Vorwände lieferte. Zivilisa-
tion zieht im Namen von Kultur in die Barbarei ein. Er vi-
siert anstelle der Antagonismen etwas wie ein in sich wider-
spruchsloses Gesamtsubjekt der technologischen ratio, und
113
demgemäß eine simple Totalentwicklung. Solche Vorstel-
lungen gehören zur Fassade, den kurrenten Ideen von Uni-
versalgeschichte und Lebensstil. Er verfehlt, die Symptome
der Unifizierung selber, deren eindringliche Physiognomik
er liefert, als Äußerungen des antagonistischen Wesens zu
entziffern, des Drucks der Herrschaft, der Totalität teleolo-
gisch ist. Bei allem Hohn über das »everybody's happy now-
adays« wohnt seinem Geschichtsbild der Form nach, die
mehr vom Wesen freilegt als der Stoff der Begebenheiten,
ein tief Harmonistisches inne. Die Konzeption undurchbro-
chenen Fortschritts unterscheidet sich von derliberalistischen
durch die Akzente, nicht durch den Blick auf die Sache. Wie
ein Bentham-Liberaler prognostiziert Huxley eine Entwick-
lung zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl:
nur daß sie ihm nicht behagt. Er verurteilt die Brave New
World mit dem gleichen gesunden Menschenverstand, des-
sen Walten in der Brave New World verhöhnt ist. Alleror-
ten treten daher im Roman unanalysierte Momente eben je-
ner Art ausgelaugter Weltanschauung zutage, der Huxley so
wenig hold ist. Das Vergängliche als das Nichtige, Geschichte
als Unheilsgeschichte wird den Invarianten kontrastiert, der
philosophia perennis, dem ewigen Sonnenschein des Ideen-
himmels. Demgemäß rücken Äußerlichkeit und Innerlich-
keit in primitive Antithese: den Menschen wird das Übel,
von der künstlichen Zeugung bis zur galoppierenden Ver-
greisung, bloß angetan, die Kategorie des Einzelnen aber er-
scheint in unbeftagter Würde. Unreflektierter Individualis-
mus behauptet sich, als wäre nicht das Grauen, auf das der
Roman hinstarrt, selber die Ausgeburt der individualistischen
Gesellschaft. Aus dem historischen Prozeß wird die einzel-
menschliche Spontaneität eliminiert, dafür aber der Begriff
des Individuums von der Geschichte abgespalten, seinerseits
zu einem Stück philosophia perennis gemacht. Individua-
tion, ein wesentlich Gesellschaftliches, wird nochmals zur
unabänderlichen Natur. Anstelle der Einsicht in ihre Ver-
stricktheit in den Schuldzusammenhang, deren die bürger-
liche Philosophie auf ihrer Höhe mächtig war, tritt die em-
pirische Nivellieiung des Individuums durch den Psycholo-
gismus. Im Gefolge einer Tradition, deren Übermacht eher
zum Widerstand als zum Respekt herausfordert, wird das In-
114
dividuum als Idee ins Ungemessene erhöht, andererseits aber
jeder einzelne Mensch vom Nachzügler der Desillusionsro-
mantik des moralischen Bankrotts überführt. Die Erkennt-
nis von der Nichtigkeit des Individuums, gesellschaftlich
wahr, wird auf das privat überforderte Individuum abge-
wälzt. Daß es fungibel, in Wahrheit nicht es selber, sondern
die »Charaktermaske« der Gesellschaft ist, rechnet Huxleys
Buch, wie sein gesamtes oeuvre, dem verabsolutierten Indi-
viduum als seine Schuld, als Unechtheit, Verlogenheit, be-
schränkten Egoismus, als all das an, worauf subtil beschrei-
bende Ichpsychologie pochen kann. Im authentischen bür-
gerlichen Geiste ist der Einzelne für Huxley zugleich alles —
weil er nämlich einmal das Prinzip der Eigentumsordnung
abgab - und nichts, absolut ersetzbar als bloßer Träger des
Eigentums. Das ist der Preis, den die Ideologie des Indivi-
dualismus für die eigene Unwahrheit zu entrichten hat. Das
fabula docet des Romans ist nihilistischer, als es der Humani-
tät recht sein kann, die er proklamiert.
Damit aber widerfährt Unrecht gerade dem Tatsächlichen,
auf dem der positivistische Nachdruck liegt. Mit allen aus-
geführten Utopien teilt die Huxleysche den Aspekt von Ei-
telkeit. Es ist anders gegangen und wird weiter anders gehen.
Nicht die exakte Phantasie versagt, sondern der Blick in die
ferne Zukunft als solcher, das Erraten der Faktizität des
Nichtseienden, ist mit der Ohnmacht von Vermessenheit
geschlagen. Das antithetische Moment der Dialektik läßt
sich nicht konsequenzlogisch, etwa durch den Oberbegriff
der Aufklärung, eskamotieren. Wer das versucht, scheidet
das nicht Subjekteigene, nicht selber »Geistige«, sich selbst
Durchsichtige aus, das den Triebstoff der dialektischen Be-
wegung liefert. Die ausgepinselte Utopie, wie sehr auch mit
materialistisch-technologischen Elementen versetzt und na-
turwissenschaftlich korrekt, ist dem Ansatz nach ein Rück-
fall in die Identitätsphilosophie, den Idealismus. Darum miß-
rät ihr die ironische »Richtigkeit«, um die Huxleys Verlän-
gerungen sich bemühen. So gewiß der seiner selbst unbe-
wußte Begriff totaler Aufklärung dem Umschlag in Irratio-
nalität zutreibt, so wenig läßt aus ihm sich deduzieren, ob es
sich ereignen und ob es dabei sein Bewenden haben wird.
Die heraufdämmernden politischen Katastrophen können
115
die Fluchtbahn der technischen Zivilisation nicht unberührt
lassen. >Ape and Essence< ist der einigermaßen hastige Ver-
such, einen Fehler zu korrigieren, der nicht von mangelnder
Kenntnis der Atomphysik, sondern von der linearen Ge-
schichtskonzeption herrührt und darum durch Korrekturen,
die Verarbeitung zusätzlicher Stoffe, nicht sich überwinden
läßt. War die Plausibilität der Prognosen von Brave New
World allzu simpej, so tragen die des zweiten Zukunfts-
buches, etwa die Teufelsreligion, ein Stigma der Unwahr-
scheinlichkeit, das inmitten der realistischen Romantechnik
durch den Hinweis auf die philosophische Allegorik kaum
zu verteidigen ist. Im unvermeidlichen Denkfehler aber rächt
sich die ideologische Befangenheit der Konzeption. Die Hal-
tung bleibt unwillentlich jener großbürgerlichen verwandt,
die souverän versichert, keineswegs aus eigenem Interesse
den Fortbestand der Profitwirtschaft zu befürworten, son-
dern um der Menschen willen. Diese seien noch nicht reif
für den Sozialismus. Hätten sie nichts mehr zu arbeiten, so
wüßten sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Derlei Weis-
heiten sind nicht bloß durch ihren Gebrauch kompromittiert,
sondern ohne Erkenntnisgehalt, weil sie ebenso »die Men-
schen« als Gegebenheiten verdinglichen, wie den Betrachter
als freischwebende Instanz verhimmeln. Solche Kälte wohnt
im Innersten von Huxleys Gefüge. Voll fiktiver Sorge um
das Unheil, das die verwirklichte Utopie der Menschheit an-
tun könnte, schiebt er das weit dringlichere und realere Un-
heil von sich, das die Utopie hintertreibt. Müßig, darüber zu
klagen, was aus den Menschen wird, wenn Hunger und
Sorge aus der Welt verschwunden sein werden. Denn sie ist
deren Beute kraft der Logik eben jener Zivilisation, der der
Roman nichts Schlimmeres nachzusagen weiß als die Lange-
weile des ihr prinzipiell nicht zu erreichenden Schlaraffen-
landes. Zugrunde liegt, trotz aller Empörung über das Un-
wesen, eine Konstruktion der Geschichte, die Zeit hat. Die-
ser wird zugeschoben, was an den Menschen wäre. Das Ver-
hältnis zu ihr ist parasitär. Der Roman überträgt die Schuld
der Gegenwart gleichsam auf die Ungeborenen. Darin re-
flektiert sich das unselige »Es soll nicht anders werden«,
Endprodukt der urprotestantischen Verquickung von Ein-
kehr und Repression. Weil der Mensch erbsündig und auf
116
Erden des Besseren nicht fähig sei, wird die Verbesserur?
der Welt selber in die Sünde umgebogen. Das Blut der Un-
geborenen aber schlägt dem Roman nicht an. Er versagt aus
der Schwäche eines mit oft sehr großartigen Erfindungen
ausgeschmückten Leerschemas. Weil die Veränderung der
Menschen nicht kalkuliert werden kann und der vorgreifen-
den Imagination sich entzieht, wird sie ersetzt durch die
Karikatur der Menschen von heute, nach dem uralten und
vernutzten Verfahren der »Satire«. Die Fiktion der Zukunft
verbeugt sich vor der Allmacht des Gegenwärtigen: was
noch nicht war, wird komisch durch den minderen Effekt,
daß es bloß dem gleicht, was ohnehin ist, wie Götter in Of-
fenbachschen Operetten. Fürs Bild des Fernsten wird die
Ansicht unterschoben, die das umgekehrte Opernglas vom
Nächsten bietet. Der Formtrick, von Zukünftigem als von
Vergangenem zu berichten, verleiht dem Gehalt ein ab-
stoßend Einverstandenes. Die Groteske, die das Gegenwär-
tige durch Konfrontation mit seiner eigenen Verlängerung
in die Zukunft ereilt, hat dieselben Lacher auf ihrer Seite wie
naturgetreue Darstellungen mit vergrößerten Köpfen. Der
pathetische Begriff des ewigen Menschen bescheidet sich zum
menschenunwürdigen des Normalen von gestern, heute und
morgen. Nicht das kontemplative Moment als solches, das
der Roman mit aller Philosophie und Darstellung teilt, ist
ihm vorzuwerfen, sondern daß er nicht selber in die Re-
flexion das Moment einer Praxis hineinnimmt, welche das
verruchte Kontinuum sprengte. Die Menschheit hat nicht
zwischen totalitärem Weltstaat und Individualismus zu wäh-
len. Ist die große historische Perspektive überhaupt mehr als
die Fata Morgana des verfügenden Blicks, so geht sie auf
die Frage, ob die Gesellschaft schließlich sich selbst be-
stimmen oder die tellurische Katastrophe herbeiführen wird.
117
Zeitlose Mode
Zum Jazz
118
diesen und dem Grundmetron kaum mehr austrägt. All das
ändert aber nichts an einer Immergleichheit, die das Rätsel
aufgibt, wieso Millionen von Menschen des monotonen Rei-
zes immer noch nicht überdrüssig sind. Der heute als Kunst-
redakteur des Magazins >Life< weltbekannte Winthrop Sar-
geant, dem das beste, zuverlässigste und besonnenste Buch
über den Gegenstand zu danken ist, schrieb vor fünfund-
zwanzig Jahren, daß der Jazz keineswegs ein neues musi-
kalisches Idiom, sondern »noch in seinen komplexesten Er-
scheinungen eine sehr einfache Angelegenheit unablässig
wiederholter Formeln« sei. So unbefangen läßt sich das wohl
nur in Amerika wahrnehmen: in Europa, wo der Jazz noch
nicht zur alltäglichen Einrichtung wurde, neigen zumal jene
Gläubigen, die ihn weltanschaulich betreiben, dazu, ihn als
Durchbruch ursprünglicher und ungebändigter Natur, als
Triumph über die musealen Kulturgüter mißzuverstehen.
So wenig aber Zweifel an den afrikanischen Elementen des
Jazz sein kann, so wenig auch daran, daß alles Ungebärdige
in ihm von Anfang an in ein striktes Schema eingepaßt war
und daß dem Gestus der Rebellion die Bereitschaft zu blin-
dem Parieren derart sich gesellte und immer noch gesellt,
wie es die analytische Psychologie vom sadomasochistischen
Typus lehrt, der gegen die Vaterfigur aufmuckt und dennoch
insgeheim sie bewundert, ihr es gleichtun möchte und die
verhaßte Unterordnung wiederum genießt. Eben diese Ten-
denz leistete der Standardisierung, kommerziellen Aus-
schlachtung und Erstarrung des Mediums Vorschub. Nicht
etwa haben erst böse Geschäftsleute von außen der Stimme
der Natur ein Leids getan, sondern der Jazz besorgt es selber
und zieht durch die eigenen Gebräuche den Mißbrauch her-
bei, über den dann die Puristen des unverwässerten reinen
Jazz sich entrüsten. Schon die Negro Spirituals, Vorformen
des Blues, mögen als Sklavenmusik die Klage über die Un-
freiheit mit deren unterwürfiger Bestätigung verbunden ha-
ben. Übrigens fällt es schwer, die authentischen Negerele-
mente des Jazz zu isolieren. Das weiße Lumpenproletariat
hatte offenbar ebenfalls an seiner Vorgeschichte teil, ehe er
ins Scheinwerferlicht einer Gesellschaft gerückt ward, die
auf ihn zu warten schien, mit seinen Impulsen durch Cake-
walk und Steptänze längst vertraut.
119
Gerade der schmale Vorrat an Verfahrungsweisen und
Eigentümlichkeiten jedoch, der rigorose Ausschluß jegli-
chen unreglementierten Ansatzes, macht die Beharrlichkeit
einer nur notdürftig und meist zu Reklamezwecken mit Än-
derungen ausstaffierten Spezialität so schwer verständlich.
Während der Jazz inmitten einer sonst nicht eben statischen
Phase sich für eine kleine Ewigkeit eingerichtet hat und nicht
die mindeste Bereitschaft zeigt, von seinem Monopol etwas
nachzulassen, sondern einzig die, sich je nachdem hochtrai-
nierten oder undifferenziert rückständigen Hörern anzupas-
sen, hat er doch vom Charakter der Mode nichts eingebüßt.
Was da fast fünfzig Jahre lang veranstaltet wird, ist so ephe-
mer, als währte es eine Saison. Jazz ist eine Manier der Inter-
pretation. Wie bei Moden geht es um Aufmachung und
nicht um die Sache; leichte Musik, die ödesten Produkte der
Schlagerindustrie werden frisiert, nicht etwa Jazz als solcher
komponiert. Die Fanatiker - amerikanisch nennen sie sich
abgekürzt fans -, die das wohl spüren, berufen sich deshalb
mit Vorliebe auf die improvisatorischen Züge der Darbie-
tung. Aber das sind Flausen. Jeder gewitzigte Halbwüchsige
in Amerika weiß, daß die Routine heutzutage der Improvi-
sation kaum mehr Raum läßt und daß, was auftritt, als wäre
es spontan, sorgfältig, mit maschineller Präzision einstudiert
ist. Selbst dort aber, wo einmal wirklich improvisiert ward,
und in den oppositionellen Ensembles, die vielleicht heute
noch auf dergleichen zu ihrem Vergnügen sich einlassen,
bleiben die Schlager das einzige Material. Daher reduzieren
sich die sogenannten Improvisationen auf mehr oder minder
schwächliche Umschreibungen der Grundformeln, unter de-
ren Hülle das Schema in jedem Augenblick hervorlugt.
Noch die Improvisationen sind in weitem Maß genormt und
kehren stets wieder. Was im Jazz überhaupt vorkommen
darf, ist so beschränkt wie irgendein besonderer Schnitt von
Kleidern. Angesichts der Fülle der Möglichkeiten, musikali-
sches Material selbst in der Unterhaltungssphäre, falls es
deren durchaus bedarf, zu erfinden und zu behandeln, zeigt
der Jazz sich völlig verarmt. Was er von den verfügbaren
musikalischen Techniken anwendet, ist ganz willkürlich. Al-
lein das Verbot, die Grundzählzeit mit dem Fortgang eines
Stückes lebendig abzuwandeln, engt das Musizieren derart
120
ein, daß ihm eifrig zu willfahren eher psychologische Regres-
sion als ästhetisches Stilbewußtsein erheischt. Nicht minder
fesseln die Restriktionen metrischer, harmonischer, forma-
ler Art. Die Immergleichheit des Jazz besteht insgesamt
nicht in einer tragenden Organisation des Materials, in der
wie in einer artikulierten Sprache Phantasie frei und unge-
hemmt sich regen könnte, sondern in der Erhebung einiger
definierter Tricks, Formeln und Cliches zur Ausschließlich-
keit. Es ist, als klammere man sich krampfhaft an den Reiz
des en vogue und verleugne den Ausdruck des Bildes einer
Jahreszahl, indem man das Kalenderblatt abzureißen sich
weigert. Mode selbst inthronisiert sich als Bleibendes und
büßt eben darüber die Würde der Mode ein, die ihrer Ver-
gänglichkeit.
Die Anhänger des Jazz gliedern sich, wie erneut von David
Riesman nachdrücklich hervorgehoben wurde, in zwei
recht deutlich getrennte Gruppen. Im Innern hausen die
Experten oder solche, die sich dafür halten - denn sehr oft
sind die Fanatiker, die mit einer selbst bereits lanciertenTer-
minologie um sich werfen und mit gewichtigem Anspruch
Jazzstile unterscheiden, kaum fähig, in präzisen, technisch-
musikalischen Begriffen Rechenschaft von dem zu geben,
wovon sie hingerissen sein wollen. Meist halten sie sich, in
einer Konfusion, die heute allenthalben zu beobachten ist,
für avantgardistisch. Unter den Symptomen des Zerfalls von
Bildung ist nicht das letzte, daß der wie sehr auch fragwür-
dige Unterschied von autonomer »hoher« und kommerziel-
ler »leichter« Kunst zwar nicht kritisch durchschaut, dafür
aber überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Nachdem
125
einige kulturdefaitistische Intellektuelle diese gegen jene
ausspielten, haben die banausischen Champions der Kultur-
industrie auch noch die stolze Zuversicht, an der Spitze des
Zeitgeistes zu marschieren. Die mittlerweile selber nach dem
Schema lowbrow, middlebrow und highbrow für Hörer er-
ster, zweiter und dritter Programme organisierte Scheidung
von »Kulturniveaus« ist widerwärtig. Aber sie läßt sich
nicht dadurch überwinden, daß sich lowbrow-Sekten zu
highbrows erklären. Das berechtigte Unbehagen an der Kul-
tur bietet den Vorwand, aber keinen Grund dafür, eine hoch-
rationalisierte Sparte der Massenproduktion, die jene Kultur
erniedrigt und ausverkauft, ohne im mindesten sie zu tran-
szendieren, als Aufbruch eines neuen Weltgefühls zu verherr-
lichen und mit dem Kubismus, der Lyrik von Eliot und der
Prosa von Joyce durcheinanderzubringen. Regression ist
nicht Ursprung, aber dieser die Ideologie für jene. Wer sich
von der anwachsenden Respektabilität der Massenkultur da-
zu verführen läßt, einen Schlager für moderne Kunst zu hal-
ten, weil eine Klarinette falsche Töne quäkt, und einen mit
dirty notes versetzten Dreiklang für atonal, hat schon vor der
Barbarei kapituliert. Die zur Kultur herabgesunkene Kunst
wird von der Strafe ereilt, daß man sie, je mehr sie ihr Un-
wesen ausbreitet, um so hilfloser mit ihren eigenen Abfall-
produkten verwechselt. Selbstbewußtes Analphabetentum,
dem der Stumpfsinn des tolerierten Exzesses fürs Reich der
Freiheit gilt, zahlt dem Bildungsprivileg heim. In schwäch-
licher Rebellion sind sie schon wieder bereit zu ducken,
ganz so wie der Jazz es ihnen vormacht, indem er Stolpern
und Zufrühkommen mit dem kollektiven Marschschritt in-
tegriert. Auffällig ist eine gewisse Ähnlichkeit des Typus des
Jazzenthusiasten mit manchen jugendlichen Adepten des lo-
gischen Positivismus, die mit demselben Eifer die philoso-
phische Bildung abschütteln wie jene die musikalische. Die
Begeisterung ist auf Ernüchterung übergesprungen, die Af-
fekte heften sich an eine Technik, feindlich allem Sinn. Man
fühlt sich geborgen in einem System, das so wohl definiert
ist, daß keine Fehler unterlaufen können, und die verdrängte
Sehnsucht nach dem, was draußen wäre, äußert sich in un-
duldsamem Haß und einer Miene, in der das Besserwissen
des Eingeweihten mit dem Anspruch des Illusionslosen sich
126
paaren. Auftrumpfende Trivialität, das Befangensein in der
Oberfläche als zweifelsfreie Gewißheit, verklärt die feige
Abwehr jeglicher Selbstbesinnung. All diese altgewohnten
Reaktionsformen haben neuerdings ihre Unschuld verloren,
werfen sich als Philosophie auf und werden damit erst ganz
böse.
Um die Sachverständigen einer Sache, an der es wenig zu
verstehen gibt außer Spielregeln, kristallisieren sich die un-
artikulierten, vagen Anhänger. Meist berauschen sie sich an
dem Ruhm der Massenkultur, den diese manipuliert; sie
können ebensogut sich in Klubs zur Verehrung von Film-
stars zusammenfinden oder Autogramme anderer Promi-
nenzen sammeln. Ihnen kommt es auf die Hörigkeit als
solche, auf Identifikation an, ohne daß sie viel Aufhebens
von dem jeweiligen Inhalt machten. Sind es Mädchen, so
haben sie sich geschult, bei der Stimme eines crooner, eines
Jazzsängers, in Ohnmacht zu fallen. Ihr auf ein Lichtsignal
einschnappender Beifall wird bei populären Radioprogram-
men, deren Sendung sie beiwohnen dürfen, gleich mit über-
tragen; sie nennen sich selbst jitterbugs, Käfer, die Reflex-
bewegungen ausführen, Schauspieler der eigenen Ekstase.
Überhaupt von etwas hingerissen sein, eine vermeintlich ei-
gene Sache haben, entschädigt sie für ihr armes und bilder-
loses Dasein. Der Gestus der Adoleszenz, entschlossen für
diesen oder jenen von einem zum andern Tag zu »schwär-
men«, mit der immer gegenwärtigen Möglichkeit, morgen
schon als Narrheit zu verdammen, was man heute eifernd
anbetet, ist sozialisiert. Freilich wird in Europa leicht über-
sehen, daß die Jazzanhänger dort keineswegs denen in Ame-
rika gleichen. Das Exzessive, Unbotmäßige, das am Jazz in
Europa immer noch mitgefühlt wird, fehlt heute in Amerika.
Die Erinnerung an die anarchischen Ursprünge, die der Jazz
mit allen rezipierten Massenbewegungen der Gegenwart
teilt, ist gründlich verdrängt, wiewohl sie unterirdisch wei-
tergeistern mag. Jazz als Institution ist vorgegeben, taken
for granted, stubenrein und gut gewaschen. Das Moment der
Gefügigkeit im parodistischen Überschwang jedoch teilen
die Jazzbegeisterten aller Länder. Darin mahnt ihr Spiel an
den tierischen Ernst von Gefolgschaften in totalitären Staa-
ten, mag auch der Unterschied von Spiel und Ernst auf den
127
von Leben und Tod hinauslaufen. Die Reklame für irgend-
einen Schlager, den eine berühmte name band spielte, lautete:
>Follow Your Leader, X. Y.<. Während in europäischen
Diktaturstaaten die Führer beider Schattierungen wider die
Dekadenz des Jazz eiferten, hatte die Jugend der anderen
schon längst sich von den synkopierten Gehtänzen, deren
Kapelle nicht umsonst von der Militärmusik abstammt, elek-
trisieren lassen wie von Märschen. Die Zweiteilung in Kern-
truppen und unartikulierte Gefolgsleute hat etwas von der
zwischen der Partei-Elite und den restlichen Volksgenossen.
129
ans nicht ganz Eingefangene gereinigten Welt hinaus. Man
muß, um die Massenbasis des Jazz zu begreifen, sich Rechen-
schaft geben von dem Tabu, das in Amerika, allem offiziel-
len Kunstbetrieb zum Trotz, über dem künstlerischen Aus-
druck, sogar den Ausdrucksregungen von Kindern liegt -
die progressive education, die sie zum freien Produzieren an-
hält, ja Ausdrucksfähigkeit zum Selbstzweck erklärt, ist ein-
zig eine Reaktion darauf. Während der Künstler teils tole-
riert, teils als »Unterhalter«, als Funktionär in die Konsum-
sphäre eingeschaltet, wie ein höher bezahlter Oberkellner
der Forderung nach Diensten unterworfen wird, ist das
Stereotyp des Künstlers zugleich das des Introvertierten, des
egozentrischen Narren, vielfach des Homosexuellen. Mögen
immer solche Eigenschaften den Berufskünstlern nachge-
sehen, mag selbst ein skandalöses Privatleben als Teil der
Unterhaltung von ihnen erwartet werden - jeder andere
macht durch die spontane, nicht vorweg gesellschaftlich ge-
steuerte künstlerische Regung sich bereits verdächtig. Ein
Kind, das lieber ernste Musik hört oder Klavier übt, als sich
ein Baseballspiel anzuschauen oder fernzusehen, wird in sei-
ner Klasse oder in den anderen Gruppen, denen es angehört
und die ihm weit mehr Autorität verkörpern als Eltern oder
Lehrer, als sissy, als weibischer Schwächling, zu leiden haben.
Der Ausdrucksregung selber gilt bereits die gleiche Kastra-
tionsdrohung, die im Jazz symbolisiert und mechanisch-ri-
tuell bewältigt wird. Trotzdem jedoch ist gerade während
der Entwicklungsjahre das Ausdrucksbedürfnis, das mit
Kunst ihrer objektiven Qualität nach gar nichts zu tun zu
haben braucht, nicht ganz auszutreiben. Die Halbwüchsigen
sind noch nicht völlig vom Erwerbsleben und dessen seeli-
schem Korrelat, dem »Realitätsprinzip«, unterjocht. Ihre
ästhetischen Impulse werden von der Unterdrückung nicht
einfach ausgelöscht, sondern abgelenkt. Der Jazz ist das be-
vorzugte Medium solcher Ablenkung. Den Massen der Ju-
gendlichen, die der zeitlosen Mode Jahr um Jahr zulaufen,
vermutlich um sie nach ein paar Jahren zu vergessen, liefert
er einen Kompromiß zwischen ästhetischer Sublimierung
und gesellschaftlicher Anpassung. Das »unrealistische«,
praktisch unverwertbare, imaginative Element wird durch-
gelassen, soweit es im eigenen Charakter derart sich verän-
130
dert, daß es selber dem Realbetrieb unermüdlich sich an-
ähnelt, seine Gebote in sich wiederholt, ihnen willfahrt und
damit dem Bereich wieder sich eingliedert, aus dem es aus-
brechen wollte. Kunst wird entkunstet: sie tritt selber als
ein Stück jener Anpassung auf, der ihr eigenes Prinzip wi-
derspricht. Von daher fällt Licht auf manche absonderlichen
Züge des Jazzverfahrens. So auf die Rolle des Arrangements,
die keineswegs bloß aus technischer Arbeitsteilung oder aus
dem musikalischen Illiteratentum der sogenannten Kompo-
nisten zulänglich sich erklärt. Nichts darf sein, was es an
sich ist; alles muß zurechtgestutzt werden, Spuren einer Zu-
bereitung tragen, die es, indem es dem schon Bekannten sich
annähert, leichter auffaßbar machen, zugleich aber auch be-
zeugen, daß es bestimmt ist, dem Hörer zu Willen zu sein,
ohne ihn zu idealisieren, und die schließlich es kenntlich
machen als ein vom Gesamtbetrieb Gebilligtes, das keinerlei
Distanz beansprucht, sondern vorbehaltlos mitspielt: Mu-
sik, die sich nichts Besseres dünkt.
Ebenso gehorcht dem Primat der Anpassung die spezi-
fische Art von Geschicklichkeit, welche der Jazz von den
Musikern und zu einigem Maß auch von den Hörern, sicher-
lich von den Tänzern verlangt, welche die Musik imitieren
wollen. Ästhetische Technik, als Inbegriff der Mittel zur Ob-
jektivierung einer autonomen Sache, wird ersetzt durch die
Fähigkeit, Hindernisse zu nehmen, sich nicht durch Stö-
rungsfaktoren wie die Synkope irremachen zu lassen und
dabei doch die der abstrakten Spielregel unterstellte Sonder-
aktion schlau durchzuführen. Der ästhetische Vollzug wird
sportifiziert von einem Tricksystem. Wer seiner mächtig
bleibt, erweist sich zugleich als praktisch. Die Leistung des
Jazzmusikers und -kenners addiert sich zu einer Folge glück-
lich bestandener Tests. Der Ausdruck aber, eigentlicher Trä-
ger des ästhetischen Protests, wird ereilt von der Macht, ge-
gen die er protestiert. Vor ihr nimmt er den Klang des Hä-
mischen und Jämmerlichen an, der eben noch flüchtig ins
Grelle und Aufreizende sich kostümiert. Das Subjekt, das
sich ausdrückt, drückt eben damit aus: ich bin nichts, ich
bin Dreck, es geschieht mir recht, was man mit mir macht;
es ist potentiell schon einer jener Angeklagten russischen
Stils, die zwar unschuldig sind, aber von Anbeginn mit dem
131
Staatsanwalt kooperieren und keine Strafe schwer genug für
sich finden. War einmal das ästhetische Bereich, als eine
Sphäre eigener Gesetze, aus dem magischen Tabu hervorge-
gangen, welches das Heilige vom Alltäglichen sonderte und
jenes rein zu halten gebot, so rächt sich nun die Profanität
am Nachkommen der Magie, der Kunst. Diese wird am Le-
ben gelassen nur, wenn sie aufs Recht der Andersheit ver-
zichtet und der Allherrschaft der Profanität sich einordnet,
an welche am Ende das Tabu überging. Nichts darf sein,
was nicht ist wie das Seiende. Jazz ist die falsche Liquida-
tion der Kunst: anstatt daß die Utopie sich verwirklichte,
verschwindet sie aus dem Bilde.
132
Bach gegen seine Liebhaber verteidigt
All dem freilich stehen jene Züge Bachs entgegen, die man
zu seiner Zeit bereits als anachronistisch empfand. Sie tragen
Schuld an der rätselhaften Amnesie, die sein Werk achtzig
Jahre lang zudeckte und, mit unabsehbarer Folge für die Ge-
schichte der abendländischen Musik, verhinderte, daß seine
Errungenschaften in gerader Tradition und ganzem Umfang
dem Wiener Klassizismus zuteil wurden. Bach erfüllte in der
Tat nicht bloß den Geist des Generalbasses, des stufenmäßig-
harmonischen Denkens, sondern er war in jenem Geiste zu-
gleich der Polyphoniker, der aus den tappenden Ansätzen
des siebzehnten Jahrhunderts die Form der Fuge schuf -
ihre Theorie ist von ihm abgezogen so wie die des strengen
Kontrapunkts von Palestrina - und ihr einziger Meister
blieb. Aber gerade die Doppelheit harmonischen und kon-
trapunktischen Bewußtseins, welche ein jegliches der Kom-
positionsprobleme umschreibt, die Bach paradigmatisch auf-
löste, schließt das Bild vom Vollender des Mittelalters aus.
Wäre er gewesen, wozu sie ihn stempeln, so hätte er weder
jene Doppelheit in sich gehabt, noch, zumal in den speku-
lativen Werken der Spätzeit, um ein Paradoxon sich bemüht,
das dem alten polyphonen Bewußtsein unvorstellbar war,
nämlich wie Musik es vermöchte, harmonisch-generalbaß-
mäßig in jeder Fortschreitung als sinnvoll sich auszuweisen
und zugleich polyphon, durch die Simultaneität selbständi-
ger Stimmen sich ganz und gar zu organisieren. Schon der
bloße Ausdruck mancher der archaisch auftretenden Stücke
sollte skeptisch stimmen. Der affirmative Ton der Es-Dur-
136
Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers
ist nicht der unmittelbarer Gewißheit einer musikalisch laut
werdenden, in der offenbaren Wahrheit gesicherten sakralen
Gemeinschaft - den Niederländern liegt solche Affirmation
und Emphase ganz fern. Sondern es ist, der Substanz, gewiß
nicht dem subjektiven Bewußtsein nach, die Reflexion aufs
Glück des Bestätigten, der musikalischen Geborgenheit, wie
sie einzig dem emanzipierten Subjekt zuteil wird: es erst ver-
mag Musik als das nachdrückliche Versprechen objektiver
Rettung zu konzipieren. Eine solche Fuge setzt den Dualis-
mus voraus. Sie sagt, wie schön es wäre, die Botschaft der
Bestätigung aus dem umgrenzten Kosmos zum Menschen
zurückzubringen: sie ist, zum Ärgernis des religiösen Neo-
phytentums von heutzutage, romantisch, nur freilich un-
beschreiblich viel weiter greifend, als es späterhin der roman-
tische Stil sich zutrauen konnte. Sie spiegelt nicht das ein-
same Subjekt als Garanten des Sinnes zurück, sondern meint
dessen Aufhebung in einem objektiv umfassenden Absolu-
ten. Aber dies Absolute wird beschworen, behauptet, ge-
setzt, gerade weil und soweit es der leibhaften Erfahrung
nicht gegenwärtig ist, und Bachs Gewalt ist die solcher Be-
schwörung. Er war kein archaischer Handwerksmeister,
sondern ein Genius des Eingedenkens. Erst die heraufzie-
hende Barbarei, die Kunstwerke aufs Vorfindliche vereidigt,
blind gegen die Differenz von Wesen und Erscheinung in
ihnen, kann bieder das Sein seiner Musik mit seiner Inten-
tion verwechseln und damit genau jene Metaphysik in ihm
ausrotten, die zu protegieren man sich vornimmt. Da aber
der Barbarei mit dem Wesen auch das Vorfindliche sich ver-
finstert, so wird übersehen, daß gerade die besonderen poly-
phonischen Mittel, deren Bach zur Konstruktion musikali-
scher Objektivität sich bedient, Subjektivierung vorausset-
zen. Die Kunst der Fugenkomposition ist eine der motivi-
schen Ökonomie: durch Ausnutzung der kleinsten Bestand-
teile eines Themas aus diesem ein Integrales herzustellen. Es
ist eine Kunst der Zerlegung, fast ließe sich sagen, der Auf-
lösung des als Thema gesetzten Seins, unvereinbar mit der
Allerweltsvorstellung, dies Sein hielte in der durchgeform-
ten Fuge statisch, unveränderlich sich durch. Solcher Tech-
nik gegenüber verwendet Bach die eigentlich mittelalterliche
137
der polyphonen Gestaltung, die Imitatorik, nur an zweiter
Stelle. In den übrigens bei Bach keineswegs gehäuften Teilen
und Stücken, wo Imitatorik triumphiert, den Engführungen -
und Engführungsfugen, wie der zu dichtestem Leben gestei-
gerten in D-Dur aus dem zweiten Bande, ist das ehrwürdige
Mittel in den Dienst einer drängenden, durchaus dynami-
schen - durchaus »modernen«, Wirkung getreten. Daß unter
dem Angriff der von der Polyphonie entbundenen neuen
Kompositionsmittel die Identität der wiederkehrenden The-
men bei Bach überhaupt sich erhalten konnte, bedeutet kaum
mehr an Statik, als daß die dynamische Beethovensche Sonate
durchweg der tektonischen Forderung der Reprise treulich
nachkam, freilich um diese selber aus dem »Prozeß«derDurch-
führung zu entwickeln. Schönberg spricht in seinem letzten
Buch mit Recht von BachsTechnik der entwickelnden Variati-
on, die dann imWiener Klassizismus zum Kompositionsprin-
zip schlechthin geworden sei. Eine gesellschaftliche Dechif-
frierung Bachs müßte vermutlich jene Aufspaltung des the-
matischVorgegebenen durch die subjektive Reflexion der dar-
an sich bewährenden motivischen Arbeit in Zusammenhang
bringen mit den Veränderungen des Arbeitsprozesses, die in
derselben Epoche durch die Manufaktur sich durchgesetzt
hatten und wesentlich in der Zerlegung der alten handwerkli-
chen Verrichtungen in kleine Teilakte bestanden. Wenn daraus
die Rationalisierung der materiellenProduktion resultierte, so
hat Bach, der nicht umsonst sein instrumentales Hauptwerk
nach der wichtigsten technischen Errungenschaft der musika-
lischen Rationalisierung nannte, als erster die Idee des rational
konstituierten Werkes, der ästhetischen Naturbeherrschung
auskristallisiert. Vielleicht ist es Bachs innerste Wahrheit, daß
bei ihm j eneTendenz der Gesellschaft, bis heute die mächtigste
der bürgerlichen Ära, indem sie im Bilde sich reflektiert,
nicht bloß festgehalten ist, sondern versöhnt mit der Stimme
des Humanen, die real von der gleichen Tendenz, als diese
einmal losgelassen war, zum Schweigen verdammt wurde.
5
Danach aber wäre nicht nur die Erkenntnis der Bachischen
Musik in Gegensatz gerückt zur herrschenden Meinung, son-
dern es wäre das unmittelbare Verhältnis zu ihr berührt. Es
bestimmt sich wesentlich durch die Aufführungspraxis. Die
hat aber heute, unterm Unstern des Historismus, einen sek-
tiererischen Gestus angenommen. Er löst ein zelotenhaftes
Interesse aus, das dem Werke selbst entzogen wird. Man
kann sich zuweilen des Verdachts nicht erwehren, als käme
es den heutigen Liebhabern Bachs einzig darauf an, daß nur
ja keine unauthentische Dynamik, keine Modifizierungen
der Tempi, keine zu großen Chöre und Orchester geduldet
würden, und als warteten sie mit potentieller Wut auf jede
humanere Regung, die in der Wiedergabe laut wird. Die
Kritik an dem aufgeblähten und sentimentalisierten Bach-
bild der Spätromantik braucht nicht bestritten zu werden,
wenn auch etwa die Beziehung zu Bach, die Schumanns
Werk bezeugt, als unvergleichlich viel produktiver sich er-
wies denn die beflissene Reinheit von heutzutage. Wohl aber
ist dieser abzuerkennen, worauf sie selber am meisten sich
zugute tut: die Sachlichkeit. Sachlich wäre einzig eine Dar-
stellung von Musik, die dem Wesen ihrer Sache angemessen
142
sich zeigt. Das fällt aber nicht, wie auch Hindemith es noch
unterstellt, mit der Idee der historisch ersten Wiedergabe zu-
sammen. Daß die koloristische Dimension der Musik in
Bachs Ära kaum entdeckt, gewiß nicht als Kompositions-
mittel freigesetzt war; daß die Komponisten noch nicht ein-
mal zwischen den verschiedenen Klaviertypen und der Orgel
streng unterschieden, sondern den Klang in weitem Maße
dem Geschmack anheimgaben, weist in genau umgekehrte
Richtung als das Verlangen, den damals gebräuchlichen
Klang sklavisch zu imitieren. Wäre Bach -wirklich mit den
Orgeln und Cembali und gar den dünnen Chören und Or-
chestern seiner Epoche zufrieden gewesen, so besagte das
gar nicht, daß diese der Substanz seiner Musik an sich ge-
recht werden. Das Bewußtsein der Künstler von sich selbst -
ihre »Vorstellung« von den eigenen Werken ist ohnehin nie
rekonstruierbar - vermag zwar zur Erkenntnis manches bei-
zutragen, gibt aber nicht deren Kanon ab. Die authentischen
Werke entfalten ihren Wahrheitsgehalt, der den individuel-
len Bewußtseinskreis überschreitet, kraft der Objektivität
ihres eigenen Formgesetzes in der Zeit. Übrigens wider-
spricht, was vom Interpreten Bach überliefert wird, durch-
aus dem musikhistorischen Darstellungsstil und deutet auf
eine Flexibilität, die lieber aufs Monumentale verzichtet als
auf die Möglichkeit, den Ton der subjektiven Regung anzu-
schmiegen. Gewiß erschien Forkels berühmter Bericht zu
lange nach Bachs Tod, um volle Authentizität beanspruchen
zu können; aber was er vom Klavierspieler Bach mitteilt,
folgt offensichtlich präzisen Angaben, und kein Grund liegt
vor, warum in einer Zeit, die die Kontroverse noch nicht
kannte und wenig Sympathien fürs Klavichord hegte, das
Bild hätte verfälscht werden sollen: »Am liebsten spielte er
auf dem Klavichord. Die sogenannten Flügel (seil. Cembali),
obgleich auch auf ihnen ein gar verschiedener Vortrag statt-
findet« — womit nur die Registrierung gemeint sein kann -
»waren ihm doch zu seelenlos, und die Pianoforte waren bei
seinem Leben noch zu sehr in ihrer ersten Entstehung, und
noch viel zu plump, als daß sie ihm hätten Genüge tun kön-
nen. Er hielt daher das Klavichord für das beste Instrument
zum Studieren, sowie überhaupt zur musikalischen Privat-
unterhaltung. Er fand es zum Vortrag seiner feinsten Ge-
143
danken am bequemsten, und glaubte nicht, daß auf irgend-
einem Flügel oder Pianoforte eine solche Mannigfaltigkeit
in den Schattierungen des Tons hervorgebracht werden
könne, als auf diesem zwar tonarmen, aber im einzelnen
außerordentlich biegsamen Instrument.« Was aber für die
Differenzierung des Intimen gilt, gilt umgekehrt erst recht
für die ausladende Dynamik der großen Chorwerke. Gleich-
gültig wie in der Thomaskirche verfahren wurde, eine Auf-
führung etwa der Matthäuspassion mit den kargen Mitteln
wirkt fürs gegenwärtige Ohr blaß und unverbindlich wie
eine Probe, zu der nur zufällig einige Teilnehmer sich ein-
gefunden haben, und nimmt zugleich den lehrhaften Charak-
ter des Justament an. Nicht genug damit aber tritt sie in
Gegensatz zum Wesen der Bachischen Musik an sich. Der
objektiv in seinem Werke verschlossenen Dynamik gebührt
einzig eine Interpretation, welche sie realisiert. Denn die
wahre Interpretation ist die Röntgenphotographie des
Werks: ihr obliegt, im sinnlichen Phänomen die Totalität
all der Charaktere und Zusammenhänge hervortreten zu
lassen, welche Erkenntnis aus der Versenkung in den Noten-
text sich erarbeitet. Das Lieblingsargument der Puristen, all
dies solle man dem Werk an sich überlassen, das man nur mit
Selbstverleugnung auszusagen brauche, damit es rede, wäh-
rend die eigentlich interpretative Darstellung herausschreie,
was sich ohne Zutun schlicht, doch um so eindringlicher
kundgebe und was nur verzerrt werde, wenn man es hervor-
hebe - dies Argument ist ohne Kraft. Solange Musik über-
haupt der Interpretation bedarf, hat sie ihr Formgesetz an
der Spannung zwischen dem kompositorischen Wesen und
der sinnlichen Erscheinung. In diese das Werk zu versetzen,
rechtfertigt sich nur, wenn sie fürs Wesen zeugt. Eben das
leistet die Reflexion im Subjekt und dessen Anstrengung.
Der Versuch, dem objektiven Gehalt Bachs zu seinem Recht
zu verhelfen, indem man die subjektive Anstrengung bloß
daran wendet, das Subjekt auszumerzen, überschlägt sich.
Objektivität bleibt nicht als Rest nach Subtraktion des Sub-
jekts zurück. Nie und an keiner Stelle ist der musikalische
Notentext mit dem Werk identisch; stets vielmehr gefordert,
in der Treue zum Text zugleich zu ergreifen, was er in sich
verbirgt. Bar solcher Dialektik wird die Treue zum Verrat:
144
die Interpretation, die sich um den musikalischen Sinn nicht
kümmert, weil er aus sich heraus sich offenbare, anstatt ihn
selber als je sich erst konstituierenden zu erkennen, verfehlt
ihn. Er gehört nicht der von vermeintlicher Exhibition ge-
reinigten Wiedergabe an, sondern diese, sinnlos an sich
selber und vom »Unmusikalischen« nicht abzuheben, wird
zur Mauer vor dem musikalischen Sinn, als dessen Fenster
sie sich wähnt. Damit ist nicht den monströse Massen ein-
setzenden Bachaufführungen das Wort geredet, wie sie bis
nach dem Ersten Krieg gang und gäbe waren. Die gefor-
derte Dynamik bezieht sich nicht auf Stärkegrade und den
Umfang von crescendo und decrescendo. Sie ist der Inbegriff
aller kompositorischen Kontraste, Vermittlungen, Unter-
teilungen, Übergänge, Beziehungen, die das Werk in sich
enthält; und in Bachs reifster Zeit war Komponieren nicht
weniger die Kunst des infinitesimalen Übergangs als bei
einem der Nachgeborenen. Der ganze Reichtum des musi-
kalischen Gefüges, in dessen Integration seine Kraft eigent-
lich besteht, muß von der Aufführung zur Evidenz erhoben
werden, anstatt daß man der Fülle ein starres, in sich un-
bewegtes Einerlei entgegensetzt, den nichtigen Schein einer
Einheit, die das Mannigfaltige, das sie bewältigen soll, igno-
riert. Die Reflexion auf den Stil darf nicht den konkreten
musikalischen Inhalt verdrängen und sich selbstzufrieden
bei der Pose transzendenten Seins bescheiden. Sie muß der
unter der klanglichen Oberfläche verborgenen, kompositori-
schen Struktur der Musik folgen. Mechanisch zirpende Con-
tinuo-Instrumente, bettelhafte Schulchöre dienen nicht der
heiligen Nüchternheit, sondern der hämischen Versagung,
und daß etwa schrille und hüstelnde Barockorgeln die lan-
gen Wellen der lapidaren großen Fugen aufzufangen ver-
möchten, ist purer Aberglaube. Vom Gesamtniveau ihrer
Epoche trennt Bachs Musik ein astronomischer Abstand.
Beredt wird sie erst wieder, wenn sie der Sphäre des Ressenti-
ments und des Obskurantismus entrissen ist, dem Triumph
der Subjektlosen über den Subjektivismus. Sie sagen Bach,
meinen Telemann und sind heimlich eines Sinnes mit jener
Regression des musikalischen Bewußtseins, die ohnehin
unterm Druck der Kulturindustrie droht. Freilich zeichnet
die Möglichkeit sich ab, daß der Widerspruch zwischen
145
Bachs kompositorischer Substanz und den Mitteln von deren
klanglicher Realisierung, den zu seiner Zeit verfügbaren so-
wohl wie den von der Tradition angesammelten, nicht länger
sich schlichten läßt. Im Licht dieser Möglichkeit gewinnt die
vielberufene klangliche »Abstraktheit« des Musikalischen
Opfers und der Kunst der Fuge als der Werke, in denen die
Wahl der Instrumente offenbleibt, einen neuen Horizont.
Denkbar, daß in ihnen der Widerspruch von Musik und
Klangmaterial - zumal die Unangemessenheit des Orgel-
klangs überhaupt an die unendlich gegliederte Struktur -
damals schon durchschlug. Dann hätte Bach den Klang aus-
gespart und seine reifsten Instrumentalwerke wartend auf
den Klang, der ihnen selber gliche, hinterlassen. Bei diesen
Stücken kann es am letzten sein Bewenden damit haben, daß
kompositionsfremde Philologen die Stimmen ausschreiben
und durchlaufenden Instrumenten oder Gruppen anver-
trauen. Gefordert wäre, sie umzudenken für ein Orchester,
das weder schmückt noch spart, sondern als Moment der
integralen Komposition fungiert. Für die ganze Kunst der
Fuge ward das bislang einzig von Fritz Stiedry angestrebt,
dessen Bearbeitung es nicht über die eine New Yorker Auf-
führung hinausbrachte. Gerechtigkeit widerfährt Bach nicht
durch die Usurpation stilkundiger Sachverständiger, son-
dern einzig vom fortgeschrittensten Stande des Komponie-
rens her, der mit dem Stand des sich entfaltenden Werks von
Bach konvergiert. Die wenigen Instrumentationen, die
Schönberg und Anton von Webern beistellten, insbesondere
die der großen Tripelfuge in Es-Dur und der sechsstimmi-
gen Ricercata, in denen jeder Zug der Komposition in ein
farbliches Korrelat übersetzt, die Oberfläche des Linien-
geflechts in die kleinsten Motivzusammenhänge aufgelöst
und diese dann durch die konstruktive Gesamtdisposition
des Orchesters wieder vereint sind - diese Instrumentationen
sind Modelle einer Stellung des Bewußtseins zu Bach, die
dem Stande von dessen Wahrheit entspräche. Vielleicht ist
der überlieferte Bach in der Tat uninterpretierbar geworden.
Dann fällt sein Erbe dem Komponieren zu, das ihm die
Treue hält, indem es sie bricht, und seinen Gehalt beim
Namen ruft, indem es ihn aus sich heraus nochmals erzeugt.
146
Arnold Schönberg
1874-1951
1 Der Gestus vollzieht vor den Ohren des Hörers, worauf Schönbergs Entwicklung abzielt:
das Subkutane aufzudecken, analog zum gleichzeitigen Kubismus, in dem ebenfalls latente
Strukturen ins unmittelbare Phänomen versetzt werden. Die Analogie betrifft zumal die Ab-
schaffung der traditionellen Perspektive in der Malerei und die der tonalen - »räumlichen« -
Harmonik. Beides folgt aus dem Impuls der Ornamentfeindschaft. Die malerische Perspektive,
nicht umsonst »trompe-rceil« geheißen, enthalt ein Element der Täuschung, das auch, auf eine
freilich schwer zu bestimmende Weise, der tonalen Harmonik eignet, welche die Illusion räum-
licher Tiefe hervorbringt. Eben diese wird vom Satz der Klavierstücke op. 11 zerstört. Un-
erträglich ward an der Harmonie das Illusionsmoment, und die Reaktion dagegen hat entschei-
dend dazu beigetragen, das Innere nach außen zu wenden. Das Illusionsmoment aber war aufs
tiefste verbunden mit jenem Stile rappresentativo, von dem Schönberg sich distanzierte. So-
weit Kunst nachmacht, war sie immer auf Illusion aus. Aber wie die Malerei schaffte auch die
Musik den Raum nicht einfach ab, sondern ersetzte den illusionären, vorgetäuschten durch
einen gleichsam erweiterten, nur der Musik selber zugehörigen.
162
sollst dir kein Bild machen«, das ein Text der Chorstücke
op. 27 zitiert, möchte in Musik, der bilderlosen Kunst, die
abbildlich-ästhetischen Züge ausmerzen. Aber diese Züge
sind zugleich Charaktere des Idioms, in dem jeder musi-
kalische Gedanke Schönbergs gedacht wird. Daran hat er
bis zum Ende laboriert. Immer wieder, auch in der Zwölf-
tonphase, hat er heroische Anstrengungen des Vergessens,
des Abbaus überdeckender musikalischer Schichten ge-
macht, aber immer wieder hat demgegenüber das musi-
kalische Idiom sich zäh behauptet. Immer wieder folgen
daher auf die Reduktionen komplexe, reich gewobene
Werke, in denen musikalische Sprache wird, was eben noch
die musikalische Sprache kündigen wollte. So sind nach
den ersten atonalen Klavierstücken die Orchesterstücke
op. 16 entstanden, die zwar von der Emanzipation des Ma-
terials nichts nachlassen, aber, inmitten ihrer »Prosa«, aufs
neue in Polyphonie und thematischer Arbeit sich entfalten.
Diese resultiert, längst vor der Zwölftontechnik, bereits in
»Grundgestalten«. Auch der >Pierrot lunaire< kennt ihres-
gleichen, etwa der >Mondfleck<, der berühmt ward durchs
tour de force einer von zwei simultanen krebsgängigen
Kanons begleiteten Fuge, aber überdies das Fugenthema
und das des Bläserkanons schon streng aus einer Reihe ab-
leitet, während der Streicherkanon ein »Begleitsystem« von
der Art bildet, die dann in der Zwölftontechnik fast zur
Regel ward. Wie die freie Atonalität aus dem Gefüge der
großen tonalen Kammermusiken hervorging, so das Zwölf-
tonverfahren aus der Kompositionsweise der freien Atonali-
tät. Daß die Orchesterstücke das Reihenprinzip entdecken,
ohne es zum System zu verfestigen, rückt sie zu den gelun-
gensten Werken. Einige daraus, die verästelte Lyrik des
zweiten und das in einem Schluß von beispielloser perspek-
tivischer Kraft gesammelte letzte, sind den großen tonalen
Kammermusikwerken und den Georgeliedern ebenbürtig.
Als Kompositionen stehen die Bühnenwerke >Erwartung<
und >Glückliche Hand< nicht dahinter zurück. Aber in ihnen
fährt Schönbergs Kunstfeindschaft, als Kunstfremdheit, der
Konzeption in die Parade. Sicherlich hat er kaum je etwas
Freieres als die Erwartung komponiert. Nicht nur die Dar-
stellungsmittel, sondern die Syntax selber emanzipiert sich.
163
Webern übertrieb nicht, als er in der ersten Sammelpubli-
kation über Schönberg schrieb, die Partitur sei »ein uner-
hörtes Ereignis. Es ist darin mit aller überlieferter Architek-
tonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Verände-
rung des Ausdrucks.« Jeder Augenblick überantwortet sich
der spontanen Regung, und der Gegenstand, die Darstel-
lung der Angst, bewährt Schönbergs geschichtliche Inner-
vation, verwandt der tiefsten des Expressionismus unmittel-
bar vor 1914. Aber in der Wahl des Textes hat Schönberg
nicht zu unterscheiden vermocht. Marie Pappenheims Mo-
nodram ist Expressionismus aus zweiter Hand, dilettantisch
nach Sprache und Bau, und das teilt sich auch der Musik mit.
So ingeniös Schönberg das Ganze dreiteilig, in. Suchen, Aus-
bruch und klagenden Abgesang gliedert, so wenig kann
doch die Musik aus dem Text innere Form ziehen und muß,
indem sie sich ihm anschmiegt, dieselben Gesten und Kon-
figurationen stets wiederholen. So verstößt sie gegen das
Postulat des unablässig Neuen. In der Glücklichen Hand,
die bei nicht minder expressionistischer Haltung komposito-
risch zum objektiv Symphonischen sich wendet und pastose
Formflächen entwirft, wird solche Objektivität vom töricht-
narzißtischen Sujet trostlos kompromittiert. Die Sympho-
nie, zu der Schönbergs Werk zusammenschießen wollte, ist
nicht geschrieben worden.
Die Orchesterlieder op. 22 schließen mit den Worten Und
bingant^ allein in dem großen Sturm. Schönberg muß damals die
äußerste Steigerung seiner Kräfte erfahren haben. Seine Mu-
sik dehnt sich wie ein Riese: als wolle aus der selbstverges-
senen Subjektivität - »ganz allein« - das Totale, der »große
Sturm« aufrauschen. Diesen Jahren gehört der Pierrot lu-
naire an, von allen Werken Schönbergs seit der Preisgabe
der Tonalität das bekannteste. Glücklich wird die Tendenz
zum Objektiven, umfassend Weiten balanciert mit dem, was
das Subjekt zu füllen vermag. Ein Kosmos aller erdenk-
lichen musikalischen und expressiven Charaktere wird er-
stellt, aber wie im Spiegel isolierter Inwendigkeit, in einem
Seelentreibhaus gleich dem, das kurz zuvor im Maeterlinck-
lied besungen war; märchenhaft und absurd. Das Restau-
rative dabei, Passacaglia, Fuge, Kanon, Walzer, Serenade
und strophisches Lied, zieht einzig ironisch, gleichsam de-
164
naturiert ins paradis artificiel ein, und die zu Aphorismen
verkürzten Themen klingen bloß noch wie das ferne Echo
buchstäblich gemeinter. Solche Gebrochenheit läßt sich
aber nicht trennen vom anachronistischen Vorwurf. Die
von Hartleben übertragenen Gedichte Albert Girauds re-
gredieren hinter den Expressionismus in eine Sphäre des
Kunstgewerbes, des figürlich Ornamentalen, Stilisierten.
Was da an Form und Gehalt dem Subjekt verpflichtend ge-
genübertritt, bleibt dessen ihrer selbst unkundige Projek-
tion. Nicht nur der Vorwurf bringt Schönbergs exquisites
Meisterstück in eine paradox allem Exquisiten drohende
Affinität zum Kitsch, sondern die Musik selber opfert in
ihrer Neigung zu eingängigem Fließen und sinnfälligen
Pointen etwas von dem, was Schönberg seit der Erwartung
vollbracht hatte. Bei aller virtuosen Spiritualität und obwohl
im Pierrot einige seiner kompliziertesten Kompositionen
stehen, nimmt das musikalische Vorhaben, als Herstellung
von Oberflächenzusammenhängen, die avancierteste Posi-
tion unmerklich zurück. Das aber ist keiner Minderung des
kompositorischen Vermögens zuzuschreiben. Schönberg
hat nie souveräner über die Mittel verfügt als in den Ara-
besken, die jegliche musikalische Schwerkraft spielend über-
winden. Aber er kollidiert mit eben der geschichtlichen Not-
wendigkeit, die in keinem Musiker der Epoche vollkom-
mener sich verkörpert hatte als in ihm selber. Er ist in die
Aporie des falschen Übergangs geraten. Nichts Geistiges
seit Hegel ist ihr entronnen - vielleicht weil Widerspruchs-
losigkeit im selbstgenügsamen Bereich des Geistes nicht
mehr zu erlangen ist, wenn anders sie je zu erlangen war.
Das ästhetische wie das philosophische Subjekt kann, als
voll entfaltetes und seiner selbst mächtiges, sich nicht bei
sich selbst und seinem »Ausdruck« bescheiden und muß auf
objektive Verbindlichkeit zielen, wie sie Schönbergs schen-
kender Gestus vom ersten Tag an gemeint hat. Aus bloßer
Subjektivität heraus jedoch, und wäre sie gespeist von aller
gesellschaftlichen Dynamik, läßt diese Verbindlichkeit sich
nicht bereiten, wenn sie nicht substantiell in der Gesellschaft
gegenwärtig ist, von der doch heute das ästhetische Subjekt
sich lossagen muß, eben weil sie jenes substantiellen Gehalts
enträt. An Schönberg hat sich das Schicksal von Nietzsches
165
Neuen Tafeln wiederholt und das Georges, der um der Mög-
lichkeit kultischer Lyrik willen sich einen Gott erfand; nicht
umsonst hat Schönberg zu beiden sich hingezogen gefühlt.
Nach dem Pierrot und den Orchesterliedern hat er die Kom-
position eines Oratoriums begonnen. Die Bruchstücke der
Musik, die veröffentlicht wurden, zeigen nochmals Schön-
bergs Fähigkeit, ohne Umschweife das Äußerste zu treffen
wie der Hammerschlag der Glücklichen Hand; der Text aber
enthüllt das Verzweifelte des Unternehmens. In der literari-
schen Unzulänglichkeit kommt die Unmöglichkeit der Sache
selbst, das Ungemäße eines religiösen Chorwerks inmitten
der spätkapitalistischen Gesellschaft zutage: der ästhetischen
Gestalt von Totalität. Das Ganze als Positives läßt sich nicht
antithetisch, aus dem Willen und der Kraft des Einzelnen
heraus, der entfremdeten und gespaltenen Realität abzwin-
gen, sondern ist verwiesen auf die Negation, wofern es nicht
zum Trugbild und zur Ideologie verderben soll. Das chef
d'oeuvre blieb unvollendet, und das Eingeständnis des Schei-
terns, Schönbergs Erkenntnis »Bruchstück wie alles« zeugt
vielleicht mehr als jedes Gelingen für ihn. Fraglos hätte er
forcieren können, was ihm vorschwebte, aber er muß in dem,
was ihm vorschwebte, ein Falsches gespürt haben: die Idee
des chef d'oeuvre ist heute ins genre chef d'oeuvre verhext.
Zu tief ist der Bruch zwischen der Substantialität des Ichs
und einer Gesamtverfassung des gesellschaftlichen Daseins,
die ihm nicht bloß die äußere Sanktion, sondern die apriori-
schen Bedingungen versagt, als daß Kunstwerken die Syn-
thesis beschieden wäre. Das Subjekt weiß von sich selbst als
einem Objektiven, der Zufälligkeit seines bloßen Daseins
Entrückten, aber dies Wissen, das wahr ist, ist zugleich auch
unwahr. Jener im Subjekt angelegten Objektivität ist die
Versöhnung verwehrt mit einem Zustand, der ihren eigenen
Gehalt negiert, gerade soweit die volle Versöhnung mit ihr
gemeint ist, und in den sie doch übergehen müßte, um von
der Ohnmacht des bloßen Fürsichseins geheilt zu werden.
Je höher geartet der Künstler, um so größer die Verführung
des Schimärischen. Denn wie Erkenntnis kann die Kunst
nicht warten, aber sobald sie der Ungeduld nachgibt, ver-
strickt sie sich. Darin ähnelt Schönberg nicht nur Nietzsche
und George sondern auch Wagner. Die Male des Sektierer-
166
tums an ihm und seinem Umkreis sind Symptome des fal-
schen Übergangs. Sein autoritäres Wesen ist so geartet, daß
er, der sich folgerecht zum Prinzip der gesamten Musik auf-
wirft, es sich selber vorschreiben und ihm dann parieren
muß. Die Idee der Freiheit in seiner Musik wird blockiert
von dem desperaten Bedürfnis, einem Heteronomen sich zu
beugen, weil die Anstrengung, bloße Individualität zu über-
schreiten und sich zu objektivieren, fehlschlägt. Die innere
Unmöglichkeit der Objektivation der Musik manifestiert
sich an den Zwangszügen ihrer ästhetischen Komplexion.
Sie kann nicht wahrhaft aus sich herausgehen und muß dar-
um die eigene Willkür, in deren Zeichen sie es versucht, zur
Autorität über sich selber erhöhen. Der Bilderstürmer wird
zum Fetischisten. Das Prinzip rational durchsichtiger und
gleichwohl das Subjekt einschließender Musik, von der Ver-
wirklichung abgeschnitten, verwandelt als Abstraktes sich
in die starre, unbefragte Vorschrift.
Die biblisch lange Schaffenspause läßt sich nicht aus
Schönbergs privatem Schicksal in Krieg und Inflation zu-
reichend erklären. Wie nach einer tödlichen Niederlage ha-
ben seine Kräfte sich umgruppiert. In jenen Jahren hat er
sich ungemein intensiv mit dem von ihm gegründeten >Ver-
ein für musikalische Privataufführungen < befaßt. Was er für
die musikalische Interpretation bedeutet, kann kaum über-
schätzt werden. Der als Komponist das Subkutane nach
außen kehrte, hat eine Darstellungsweise gefunden und tra-
diert, in der die subkutane Struktur sichtbar, in der die Auf-
führung zur integralen Realisierung des musikalischen Zu-
sammenhangs wird. Das Interpretationsideal konvergiert
mit dem kompositorischen. Der Traum vom musikalischen
Subjekt-Objekt konkretisiert sich technologisch, nachdem
der Komponist auf den Abschluß der >Jakobsleiter< ver-
zichtet hat. Er erwartet die Ausweitung ins Verbindliche
nicht länger von überpersonalen Vorwürfen und Formen,
sondern einzig von der Selbstbewegung der Sache kraft
konsequenter Kompositionsverfahren. Er hat damit allen
usurpatorischen und restaurativen Tendenzen, die in der
nachexpressionistischen Musik sich hervorwagten, unbe-
stechlich überlegen sich gezeigt selbst dort noch, wo er mit
dem von ihm verspotteten Neoklassizismus sich berühren
167
mochte. Aber das verbissene Vertrauen des späteren Schön-
berg auf die Verfahrensweise als Garantin umfassender To-
talität schob die Aporie bloß zurück. Ein fast Unmerkliches
hat mit der Musik unterm Primat der höchst ingeniösen
Zwölftontechnik sich zugetragen. Wohl sind in ihr Erfah-
rungen und Regeln, die zwangvoll und überzeugend im
kompositorischen Prozeß zusammenschössen, zum Bewußt-
sein erhoben, kodifiziert und systematisiert worden. Aber
dieser Akt berührt den Wahrheitscharakter jener Erfahrun-
gen. Sie sind nicht länger offen und der dialektischen Kor-
rektur zugänglich. Als Nemesis droht Schönberg, was Kan-
dinsky 1912 in einem Aufsatz zu seinem Ruhm geschrieben
hatte: »Der Künstler meint, daß er, nachdem er >endlich
seine Form gefunden hat<, jetzt ruhig weiter Kunstwerke
schaffen kann. Leider merkt er gewöhnlich selbst nicht, daß
von diesem Moment (des >ruhig<) er sehr bald diese endlich
gefundene Form zu verlieren beginnt.« Denn jedes Kunst-
werk ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des
logischen Urteils denkender Vollzug nicht sich abtrennen
läßt, so sind wahr Kunstwerke nur so weit, wie sie ihre ma-
terialen Voraussetzungen überschreiten. Das wahnhafte Ele-
ment, das technisch-ästhetische Systeme mit solchen der Er-
kenntnis gemeinsam haben, sichert ihnen zwar ihre Sug-
gestivkraft. Sie werden zum Modell. Aber indem sie der
Selbstreflexion sich verweigern und sich stillstellen, befällt
sie ein Totenhaftes und lähmt eben jene Impulse, die zuvor
das System hervorgetrieben hatten. Kein Mittelweg entgeht
der Alternative. Die Einsichten, die im System geronnen
sind, zu ignorieren, heißt ohnmächtig ans Überholte sich
klammern. Das System selbst aber wird zur fixen Idee und
zum Universalrezept. Falsch ist nicht das Verfahren an sich
-keiner wohl kann heute mehr komponieren, der die Gravi-
tation zur Zwölftontechnik nicht mit den eigenen Ohren
verspürt hätte - sondern dessen Hypostasierung, die Ab-
wehr des Anderen, nicht bereits analytisch Eingeschlosse-
nen. Musik darf nicht die Methode, ein Stück subjektiver
Vernunft, als die Sache selbst, als Objektives unterschieben.
Dazu wird sie aber um so mehr genötigt, je weniger das
ästhetische Subjekt an einem ihm Gegenüberstehenden und
zugleich mit ihm Harmonierenden sich ausrichten kann: die
168
Zauberformel ersetzt das umfassende Werk, das sich selbst
verbietet. Wer Schönberg die Treue hält, müßte warnen vor
allen Zwölftonschulen. Indem diese heute wie von Vorsicht
und vom Tasten so vom Risiko nichts mehr wissen, haben
sie sich in den Dienst des zweiten Konformismus gestellt.
Die Mittel werden zum Zweck. Schönberg selber kam seine
Bindung an die musiksprachliche Tradition zugute: er or-
ganisierte durchs Zwölftonverfahren höchst komplexe und
solcher Stütze bedürftige Musik. Bei den Nachfolgern ver-
liert es allmählich die Funktion und wird als bloßer Tonali-
tätsersatz mißbraucht, gut genug, um musikalische Phäno-
mene aneinander zu kitten, die so simpel sind, daß man nicht
so viele Umstände mit ihnen machen müßte. Auch an dieser
Wendung indessen war Schönberg nicht ganz unschuldig.
Zuzeiten schrieb er Zwölftongiguen und -rondos, Formen,
an denen die Zwölftontechnik zur Überbestimmung wird,
während sie zugleich unvereinbar bleibt mit Typen, welche
so unmißverständlich die tonale Modulatorik vorausset-
zen. Er hat im Anfang die Inkonsistenz des allzu Konsi-
stenten durch derlei Anleihen grell ins Licht gerückt, um
dann jahrelang um die Korrektur sich zu bemühen.
Bis heute noch ist das Potential der Zwölftontechnik of-
fen. Sie erlaubte in der Tat die Synthesis von ganz freiem
und ganz strengem Verfahren. Indem die thematische Ar-
beit ganz und gar das Material durchherrscht, könnte die
Komposition selber wirklich athematisch, »Prosa« werden,
ohne darüber der Zufälligkeit zu verfallen. Aber die Ver-
dinglichung der Verfahrungsweise wird daran flagrant, daß
Schönberg den Zwölftonreihen selber, die einzig das Mate-
rial prädisponieren, zutraut, daß sie große Formen stiften.
Was jedoch einmal die Tonalität vermöge der modulatori-
schen Proportionen leistete, leistet eine Technik nicht, in
deren Sinn es geradezu liegt, nicht auswendig zu erscheinen.
Würden Zwölftonreihen und -relationen in einer größeren
Form ebenso evident wie in der traditionellen Musik die
Verhältnisse von Tonarten, so klapperte die Form mecha-
nisch. Die Zwölftonreihen definieren nicht einen musikali-
schen Raum, innerhalb dessen das Werk spielt und der die
Anschauung vorweg regelt. Sondern sie sind die kleinsten
Einheiten, die es gestatten, ein integrales Ganzes allseitiger
169
Beziehungen zu konstruieren. Würden sie manifest, so zer-
ginge das Ganze in seine Atome. Schönbergs variative
Phantasie hat denn auch selbstverständlich die Reihen hin-
ter dem realen Verlauf der Musik versteckt. Dort konnten
sie dann aber auch nicht die architektonische Wirkung aus-
üben, die er sich erhoffte. Der Widerspruch latenter Organi-
sation und manifester Musik reproduziert sich auf höherer
Stufe. Ihn zu bannen, beschwört Schönberg traditionelle
Formmittel. Weil er der Zwölftontechnik Objektivität als
eine Art allgemeinbegrifflicher Ordnung aufbürdete, die sie
nicht trug, mußte er Kategorien solcher Ordnung von
außen, ohne Rücksicht aufs Material heranholen. Des Glau-
bens an musikalische Ordnungskategorien an sich hat er
sich nie entschlagen. Viele der großen zwölftönigen Sätze,
besonders aus der amerikanischen Zeit, sind überzeugend
gelungen. Die besten aber haben sich weder auf die Zwölf-
tonreihen noch auf die traditionellen Typen verlassen. Es
sind jene, in denen er unbefangen mit eigentlich komposito-
rischen Mitteln operiert; etwa um je verschiedene Kern-
modelle geordnete thematische Flächen aneinander schich-
tet. Die Logik des Aufbaus wird nochmals gesteigert: die
Konstruktion etwa des Hauptthemas aus dem ersten Satz
des Violinkonzerts ist prägnanter als irgend etwas vor Ein-
führung der Zwölftontechnik. An ihren Widerständen hat
das kompositorische Vermögen sich potenziert. Aber der
Schein des Natürlichen, des musikalischen ordo, den sie im
Bewußtsein der Adepten als schlechte Erbschaft der Tonali-
tät annimmt, die selber schon nicht Natur, sondern Produkt
der Rationalisierung war, ist bloßes Zeugnis der Schwäche,
der hilflosen Sehnsucht nach Sekurität. Das läßt drastisch
etwa am Verhältnis der Zwölftontechnik zur Oktav sich zei-
gen. Die Identität der Oktav wird stillschweigend akzep-
tiert: sonst wäre eines der wichtigsten Zwölftonprinzipien,
Versetzbarkeit jedes Tons in jede beliebige Oktavlage, un-
denkbar. Zugleich aber haftet der Oktav selber etwas »To-
nales« und das Gleichgewicht der zwölf Halbtöne Stören-
des an: wo Oktaven verdoppelt werden, assoziiert man
Dreiklänge. Der Widerspruch hat sich in Schönbergs
schwankender Praxis ausgeprägt. Früher, weithin schon
in den Werken der freien Atonalität, war die Oktav ver-
170
mieden. Dann aber hat Schönberg, wohl der klanglichen
Verdeutlichung von Bässen und thematischen Hauptstim-
men zuliebe, doch Oktaven geschrieben, und zwar zuerst in
einem mit der Tonalität spielenden Stück, der Ode an Na-
poleon; hier so wenig wie dann im Klavierkonzert läßt eine
gewisse Gewaltsamkeit und Unreinheit des Satzes sich über-
hören. Vollends in der Frühzeit der Technik verrät sich
falsche Natur in Zügen des Apokryphen, Schäbigen und
Absurden. Zuweilen droht Musik in zugleich formelhaftem
und sinnleerem Wesen all ihre Sublimierung ungeschehen
zu machen, zum kruden Stoff zu werden. So wie das Dogma
der Astrologen die Bewegung der Gestirne und die Pro-
gnose menschlicher Schicksale zwar zusammenbringt, beide
aber dem Vollzug der Einsicht unverbunden bleiben, so
enthält auch die Folge der bis zur letzten Note determinier-
ten Zwölftonereignisse für die lebendige Erfahrung den
Rest eines Unverbundenen. Zum Hohn auf die mögliche
Synthesis von Gesetzmäßigkeit und Freiheit erweist sich die
verabsolutierte Notwendigkeit als Zufall.
Nochmals siegte der große Komponist über den Erfinder,
als Schönberg alle Energie seines späteren Lebens daran
wandte, das apokryphe Element der Zwölftontechnik aus-
zutreiben. Von ihm waren die ersten, nicht strikt zwölftöni-
gen Reihenkompositionen noch frei. In den vier ersten Stük-
ken aus op. 23 zittert die eruptive Gewalt der expressionisti-
schen Phase nach. Kaum finden sich starre Partien. Das
zweite etwa, eine Peripetie, jenem Typus zugehörig, zu dem
unter Schönbergs Händen das Scherzo wurde, ist nur ein
auskomponiertes Diminuendo höchster Originalität: der
Ausbruch klingt rasch ab und läßt einen nächtlich ruhigen
und tröstlich schließenden Nachsatz übrig. Das schwung-
volle vierte Stück kommt der Idee einer athematischen
Zwölftonkomposition nahe wie kaum ein anderes. Ganz und
gar zwölftönig sind erst die Klaviersuite op. 25 und das
Bläserquintett op. 26. Sie heben das Zwangshafte eigens her-
vor, eine Art Bauhausmusik, metallischer Konstruktivis-
mus, dessen Schlagkraft gerade von der Absenz primären
Ausdrucks herrührt; wo Ausdruckscharaktere begegnen,
sind diese selber »auskonstruiert«. Das Quintett, am schwie-
rigsten wohl zu hören von allem, was Schönberg schrieb,
171
treibt in seiner Schroffheit die Sublimierung nach einer Di-
mension hin am weitesten: es sagt der Farbe den Krieg an.
Der Impuls gegen das Infantile, musikalisch Dumme ergreift
das Medium, das mehr als andere kulinarisch, bloßer sinn-
licher Reiz diesseits des geistigen Vollzugs scheint. Unter
Schönbergs Akten der Integration musikalischer Mittel war
nicht der letzte, daß er endgültig die Farbe der Sphäre des
Schmückenden entriß und zum Kompositionselement eige-
nen Rechtes erhob. Sie verwandelt sich in ein Mittel der Ver-
deutlichung des Zusammenhangs. Solche Einbeziehung in
die Komposition aber wird ihr zum Verhängnis. An einer
Stelle von >Style and Idea< hat er sie ausdrücklich verwor-
fen. Je nackter die Konstruktion sich darstellt, um so weni-
ger bedarf sie der koloristischen Hilfe. So kehrt sich das
Prinzip gegen Schönbergs eigene Errungenschaften, ver-
gleichbar vielleicht dem letzten Beethoven, bei dem alle
sinnliche Unmittelbarkeit zu einem bloß Vordergründigen,
Allegorischen sich reduziert. Man kann sich diese Spätform
der Schönbergischen Askese, der Negation alles Fassaden-
haften, leicht genug ausgedehnt denken auf alle musikali-
schen Dimensionen überhaupt. Mündige Musik schöpft
Verdacht gegen das real Erklingende schlechthin. Ähnlich
wird mit der Realisierung des »Subkutanen« das Ende der
musikalischen Interpretation absehbar. Stumm imaginatives
Lesen von Musik könnte das laute Spielen ebenso überflüs-
sig machen wie etwa das Lesen von Schrift das Sprechen,
und solche Praxis könnte zugleich Musik von dem Unfug
heilen, der dem kompositorischen Inhalt von fast jeglicher
Aufführung heute angetan wird. Die Neigung zum Ver-
stummen, wie sie in Weberns Lyrik die Aura jeden Tones
bildet, ist dieser von Schönberg ausgehenden Tendenz ver-
schwistert. Sie läuft aber auf nicht weniger hinaus, als daß
Mündigkeit und Vergeistigung der Kunst mit dem sinn-
lichen Schein virtuell die Kunst selber tilgen. Emphatisch
arbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung der
Kunst an deren Auflösung und findet sich so mit dem
kunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zu-
sammen. Daher sind denn auch Bestrebungen völliger Ab-
straktion, wie die von Boulez und jüngeren Zwölftonkom-
ponisten in allen Ländern, keineswegs bloße »Verirrung«,
172
sondern denken eine Intention Schönbergs weiter. Aber er
hat sich doch nie ganz zum Sklaven der eigenen Intention
und der objektiven Tendenz gemacht. Das Schaltende und
gewaltsam Verfügende im Verhältnis zum Material, immer
schroffer im Alter, hat, paradox genug, in manchem Be-
tracht den Systemzwang der losgelassenen Konsequenz ge-
brochen. Sein Komponieren hat niemals die primitive Ein-
heit von Komposition und technischer Verfahrungsweise
vorgetäuscht. Die Erfahrung, daß kein musikalisches Sub-
jekt-Objekt heut und hier sich konstituieren kann, war an
ihm nicht verschwendet. Das hat ihm auf der einen Seite die
subjektive Bewegungsfreiheit gerettet, auf der andern den
Dämon der Komponiermaschine von der objektiven Ge-
stalt ferngehalten. Jene Freiheit gewann er wieder, sobald
er mit der Zwölftontechnik abermals wie mit einer ver-
trauten »Sprache« umgehen konnte, in der Schule der un-
belastet heiteren Kammersuite op. 29 und der fast didak-
tischen Orchestervariationen, aus denen Leibowitz ein
Kompendium der neuen Technik destillierte. Die enge
Fühlung mit dem Text und den wie sehr auch bescheidenen
Pointen der Lustspieloper >Von heute auf morgen < hat ihm
vollends alle Flexibilität des musikalischen Idioms zurück-
gegeben. Ihrer bewußt, holt er zum zweitenmal zum chef
d'oeuvre aus, und wieder verschiebt er den Abschluß mit
jenem rätselvollen Glauben an eine endlose Lebenszeit, in
den sich seine Verzweiflung über das Es-soll-nicht-sein mas-
kierte. Daß in den frühen Dreißiger jähren tatsächlich seine
Kraft nochmals zum Gipfel sich erhob, tat die unvergeß-
liche Darmstädter Uraufführung des >Tanzes um das gol-
dene Kalb< unter Scherchen im Sommer 1951 dar, die we-
nige Tage vor Schönbergs Tod zum erstenmal einem der
Zwölftonwerke jenen Jubel eintrug, dessen der Verächter
des Beifalls mehr als jeder andere bedurfte. Die Intensität
des Ausdrucks, die Disposition der Farbe, die Gewalt des
Aufbaus trägt über Stock und über Stein. Nach dem Text
des Bruchstückes zu urteilen, wäre Moses und Aron als
vollendete Oper verloren gewesen; die unvollendete zählt
zu den großen Fragmenten der Musik.
Schönberg, der allen Konventionen im Bereich der Mu-
sik widerstand, hat in die Rolle sich gefunden, die ihm in
173
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zufiel, die ihn aufs Be-
reich der Musik vereidigte. Seine Regung, als Maler und
Dichter darüber hinauszugehen, wurde vereitelt: Arbeits-
teilung ist nicht durch den Anspruch des Universalgenies
zu widerrufen. So hat er sich denn unter die »großen Kom-
ponisten« eingereiht, als wäre ihr Begriff ewig. Die leiseste
Kritik an einem der Meister seit Bach war ihm unerträglich;
er bestritt nicht nur Qualitätsunterschiede im oeuvre jedes
einzelnen, sondern womöglich auch noch stilistische zwi-
schen ihren Arbeiten aus verschiedenen Gattungen, selbst
so fraglose wie den zwischen Beethovens Symphonik und
Kammermusik. Daß die Kategorie des großen Komponi-
sten geschichtlich variieren könnte, kam ihm so wenig bei
wie der Zweifel daran, daß sein Werk, wenn es an der Zeit
sei, ähnlich etabliert sein müsse wie das eines Klassikers.
Gegen seinen Willen, im Innern seines Werks kristallisiert
sich, was musikalisch-immanent solchen gesellschaftlich nai-
ven Vorstellungen entgegen ist. Der Überdruß am sinn-
lichen Scheinen in seinem Spätstil entspricht der Emasku-
lierung von Kunst im Angesicht der Möglichkeit, ihr Ver-
sprechen real einzulösen, aber auch dem Grauen, das, um
solche Möglichkeit zu hintertreiben, jegliches Maß dessen
sprengt, was noch Bild werden könnte. Inmitten des ver-
blendeten Spezialistentums sind seiner Musik die Lichter
aufgegangen, die über das ästhetische Bereich hinausstrah-
len. Einmal hat seine unbestechliche Redlichkeit das Be-
wußtsein davon erreicht, in den ersten Monaten der Hitler-
diktatur, als er unverblümt sagte, daß zu überleben wich-
tiger sei als Kunst. Wenn sein Spätwerk, wie sonst wohl nur
das Picassos, von der Hinfälligkeit aller Kunst nach dem
Zweiten Krieg verschont blieb, so hat sie das jener Rela-
tivierung des Künstlerischen zu danken, zu der das kultur-
fremde Element Schönbergs selber sich vergeistigte. Viel-
leicht enträtselt das erst ganz die didaktischen Züge. Va-
lerys Bemerkung, daß die Arbeit großer Künstler etwas von
Fingerübungen hat, etwas von Studien zu Werken, die sel-
ber nie gelingen, könnte auf Schönberg gemünzt sein. Die
Utopie der Kunst überflügelt die Werke. Übrigens schafft
einzig dies Medium das eigentümliche Einverständnis zwi-
schen Musikern, in dem der Unterschied von Produktion
174
und Reproduktion gleichgültig wird. Sie spüren, daß sie an
der Musik arbeiten und nicht an den Werken, wenngleich
nur durch diese hindurch. Der späte Schönberg komponiert
an deren Stelle Paradigmata einer möglichen Musik. Um so
durchsichtiger wird die Idee der Musik selber, je weniger die
Werke auf ihrem Schein bestehen. Sie nähern sich dem Frag-
mentarischen, dessen Schatten Schönbergs Kunst sein Leben
lang begleitete. Nicht nur in ihrer Kürze, sondern in ihrer ge-
schrumpften Diktion wirken die letzten Arbeiten bruchstück-
haft. An Splitter geht die Dignität des großen Werkes über.
Oratorium und biblische Oper werden aufgewogen von den
paar Minuten der Erzählung des >Überlebenden von War-
schau <, in denen Schönberg von sich aus den ästhetischen
Bereich suspendiert durchs Eingedenken an Erfahrungen,
welche der Kunst schlechterdings sich entziehen. Schönbergs
Ausdruckskern, die Angst, identifiziert sich mit der Angst
der Todesqual von Menschen unter der totalen Herrschaft.
Die Klänge der Erwartung, die Schocks der Filmmusik
von »drohender Gefahr, Angst, Katastrophe«, treffen, was
sie seit je prophezeiten. Was die Schwäche und Ohnmacht
der individuellen Seele auszudrücken schien, bezeugt, was
der Menschheit angetan wird in denen, die als Opfer das
Ganze vertreten, das es ihnen antut. So wahr hat nie Grauen
in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie
ihre lösende Kraft wieder vermöge der Negation. Der jüdi-
sche Gesang, mit dem der Überlebende von Warschau
schließt, ist Musik als Einspruch der Menschheit gegen den
Mythos.
175
Valery Proust Museum
189
George und Hofmannsthal
192
Naturforschers: als befähigte ihn sein Sensorium, kleinere
Differenzen zu registrieren als die den Apparaten zugäng-
lichen2. Er versteht sich als Präzisionsinstrument. Die Sensi-
bilität wird zur Versuchsanordnung, ja zur Veranstaltung,
jene Grundreize auf der Skala der Empfindungen ablesbar
zu machen, die anders der subjektiven Herrschaft sich ent-
zögen. Als Techniker wird der Künstler zur Kontroll-
instanz seiner Sensibilität, die er an- und abstellen kann, wie
Niels Lyhne sein Talent. Er bemächtigt sich des Unerwar-
teten: dessen, was unter den kurrenten Ausdrucksmaterien
noch nicht vorkommt; des Neuschnees, in welchem noch
keine Intentionen ihre Spur hinterlassen haben3. Wenn aber
die nackte Empfindung der Deutung durch den Dichter sich
verweigert, unterjocht er sie, indem er die unberechenbare
in den Dienst berechneter Wirkung stellt.
Das Geheimnis des sinnlichen Datums ist kein Geheimnis
sondern die blinde Anschauung ohne Begriff. Es ist vom
Schlag des gleichzeitig etwa von Ernst Mach formulierten
Empiriokritizismus, in dem das Ideal naturwissenschaft-
licher Akribie mit der Preisgabe jeglicher Selbständigkeit
der kategorialen Form sich zusammenfindet. Die reine Ge-
gebenheit, welche diese Philosophie herauspräpariert, bleibt
undurchdringlich wie das Ding an sich, das sie verwirft. Das
Gegebene läßt sich nur »haben«, nicht halten. Als Erinne-
193
rung und gar in Worten ist es nicht mehr es selbst; ein Ab-
straktum, in dessen Bereich man das unmittelbare Leben
verwiesen hat, nur um es mit der Technik desto besser mani-
pulieren zu können. Nicht länger vermögen die kategorialen
Formen Subjekt und Objekt zu fixieren: beide versinken im
»Bewußtseinsstrom« als im wahren Lethe der Moderne. Das
Gedicht an George, das den Briefwechsel eröffnet, hat zum
Titel: >Einem, der vorübergeht<. George wird sogleich des
Ungehörigen gewahr: »aber bleibe ich für Sie nichts mehr
als >einer, der vorübergeht <?4« Er ist von Anbeginn darauf
aus, das Sein vom Strom des Vergessens zu schützen, an
dessen Rand gleichsam er seine Gebilde aufrichtet5. Zum
Schutz dient die Esoterik: als Geheimnis wird festgebannt,
was anders entglitte. Daher das Schweigen des nicht existen-
ten Einverständnisses. Denn das statuierte Geheimnis exi-
stiert selber nicht. Das hochtrabende Gleichnis, worin der
Briefwechsel es designiert, bleibt ganz inhaltslos: »später
aber wäre ich gewiß zusammengebrochen hätt ich mich
nicht durch den Ring gebunden gefühlt, das ist eine meiner
letzten Weisheiten - das ist eines der geheimnisse!« Es muß
gewahrt werden, nicht sowohl um Profanierung als um
Demaskierung zu verhüten. In der mystischen Zelle sind
die puren Stoffe versammelt. Würde aber die Technik öffent-
lich, die über die Stoffe disponiert, so ginge mit ihr der An-
spruch des Dichters auf eine Herrschaft verloren, die längst
an die Veranstaltung zediert ward. Geheimgehalten wird
das nicht Geheime; eingeweiht wird ins Rationale die Tech-
nik selber. Je mehr die Fragen der Dichtung in Fragen der
Technik sich übersetzen, um so lieber bilden sich exklusive
Zirkel. Der Teppich, das intentionslose Stoffgewirk, stellt
ein technisches Rätsel; dessen »lösung« aber »wird den
vielen nie und nie durch rede«. Die Rechtfertigung des Zir-
4 Die mutwillige Verfügung über die Vergänglichkeit gehört zum ältesten Inventar des
Ästhetizismus. In den Diapsalmata aus Kierkegaards Entweder-Oder heißt es 1843: »An jedem
Erlebnis vollziehe ich die Taufe der Vergessenheit und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung.«
5 Von diesem Impuls zeugt eine Briefstelle, wo er nach ein paar Sätzen über eine Nummer
der >Blätter für die Kunst< fortfährt: »Verzeihen Sie, daß ich den geschichtlichen Teil meines
briefes wieder so wenig ausdehne.« Ihm wird das Vergängliche sogleich als Geschichtliches
verewigt. Die Überspannung des Geschichtlichen ist die Gegenwehr gegen den Zerfall des Ge-
genstandes. Hofmannsthals »organische« und Georges »plastische« Formgesinnung, die man
zu kontrastieren pflegt, datieren auf den gleichen geschichtsphilosophischen Sachverhalt zu-
rück.
194
kels jedoch, wie er für George in der Mitarbeiterschaft an
den >Blättern für die Kunst< sich auswies, ist keineswegs die
Teilnahme an verborgenen Gehalten, keineswegs die Sub-
stantialität des Einzelnen, sondern technische Kompetenz:
»Und nicht einmal von den ganz kleinen will ich schweigen •
den zufälligen Schnörkeln und Zieraten • die ich an sich be-
trachtet völlig preisgebe. Daß aber diese kleinsten solche
arbeit zu liefern vermochten: daß man ihnen rein handwerk-
lich bei aller dünnheit nicht soviel Stümperei anzukreiden
hat als manchen Vielgerühmten: das scheint mir zeitlich und
örtlich betrachtet für unsere kunst und kultur von höherer
Bedeutung als alle verbände und alle theaterstücke auf die
Sie damals hoffnungen setzten.« Es bleibt offen, ob die Tech-
nik als Arcanum, sakramental tradiert, nicht notwendig in
technische Insuffizienz umschlägt: in jene Routine, die der
vulgären Kritik vor Augen steht, wenn sie von Formalismus
schwatzt.
Je leerer das Geheimnis, um so mehr bedarf sein Wahrer
der Haltung. Sie ist es, die George an seinen Schülern außer
Technik zu rühmen weiß: »Ihnen aber mit Ihrem großen
gefühl für stil muß es doch mindestens zu denken gegeben
haben - muß es doch sehr anmutend geschienen haben -
diese menschen zu sehen >die nie mitthaten< >sich nie öffent-
lich machten < von so vornehmer haltung wie sie in ihrem
kreis etwa durch unseren gemeinsamen freund Andrian ver-
treten sind.« Wie sehr auch das nicht Mittun und die Distanz
vom Betrieb für diese Haltung spricht, es wird der Begriff
zugleich kompromittiert durch das Epitheton vornehm, das
jene Distanz positiv bestimmen soll. Ja, dem Begriff Haltung
selber ist nicht zu trauen. In der intelligiblen Welt spielt er
eine ähnliche Rolle wie in der profanen das Rauchen. Wer
Haltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück: die
Kälte, die sein Ausdruck vorstellt, macht einen guten Ein-
druck. Monaden, die durch ihr Interesse voneinander ab-
gestoßen werden, ziehen durch die Geste des Uninteressier-
ten noch am ehesten sich an. Die Not der Entfremdung wird
in die Tugend der Selbstsetzung umgebogen. Darum sind
im Lob der Haltung alle einig. Sie wird an einem Revolutio-
när so gern gerühmt wie an Max Weber, und in den>Natio-
nalsozialistischen Monatsheften< präsentierten bereits die
195
Jagdhunde sich knapp, gefaßt und entschlossen. Das Un-
recht, das der überlegene Einzelne in der Konkurrenzgesell-
schaft allen anderen notwendig antut, schreibt er sich durch
Haltung als moralischen Profit gut. Nicht bloß die stramme,
noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene An-
mut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des ein-
fach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt. War An-
mut einmal Ausdruck des Dankes am Menschen - des Dan-
kes, den diesem die Götter abstatten, wenn er ohne Angst
und ohne Hochmut in der Schöpfung sich zu bewegen ver-
mag, als wäre sie es noch -, dann ist Anmut heute, entstellt,
Ausdruck jenes Dankes am Menschen, den ihm die Gesell-
schaft abstattet, weil et als einstimmend Zugehöriger sicher
zugleich und widerstandslos in ihr sich bewegt. Charme und
Grazie und ihr Erbe, der gut Aussehende, taugen eben noch
dazu, das Privileg vergessen zu machen. Das Edle selber ist
edel kraft des Unedlen. Das kommt bei George nicht bloß
in sinistren Formulierungen zu Tage wie: »Ich habe nie
etwas anderes als Ihr bestes gewollt. Mögen Sie sich davon
nicht zu spät überzeugen.« Wer vor seinen Gedichten die
Besonnenheit aufbringt, den pragmatischen Gehalt nicht
über der prätendierten Identität mit dem lyrischen zu ver-
gessen, dem ist ein Niedriges an den gehobenen Stellen oft
unverkennbar. Schon im berühmten Eingangszyklus des
Jahres der Seele, >Nach der Lese<, wird eine demütigende
Ersatzliebe vorgeführt, deren Restriktionen vor der Beleidi-
gung der Geliebten nicht zurückscheuen. Zwischen den
zartesten Versen stehen solche von unbedachter Roheit.
Kein Geschäftsmann ließe so leicht sich beikommen, seiner
Freundin »und ganz als glichest du der Einen Fernen« und
ähnliche karge Freundlichkeiten zu sagen. Mit Grund stellt
der Gedanke an den Geschäftsmann sich ein: das Ideal, das
man sich selber nicht gönnt und das einem gerade gut genug
dazu ist, das herabzusetzen, was man ohnehin hat, gehört
zur eisernen Ration des Bürgers. Solche Idealität ist die
Kehrseite von Sein, Gehalt und Kairos. »Der heut nicht
kam bleib immer fern!« Er muß sich am Parkgitter die Nase
plattdrücken und obendrein noch eine platte Nase nach-
sagen lassen. In jedem Augenblick wird die Georgesche
Kultur mit Barbarei erkauft.
196
Der Gegensatz von George und Hofmannsthal bewegt
sich um das Postulat der Haltung, das George durch Vor-
bild wie Rede immer wieder erhebt und dem Hofmannsthal
mit unablässig variierten Wendungen sich entzieht, wie dem
Ausfall »es widerstrebt mir sehr, den Ausdruck der Herr-
schaft über das Leben, der Königlichkeit des Gemüthes aus
einem Munde zu vernehmen, dessen Ton mich nicht zu-
gleich mit der wahren Ehrfurcht erfüllt« oder der Parade
»in mir ist vielleicht die Dichterkraft mit anderen geistigen
Drängen dumpfer vermischt als in Ihnen«. Er setzt jedoch
der Haltung eine Lässigkeit entgegen, die kaum mensch-
licher sich bewährt als das Unerbittliche. Es ist die geflissent-
liche Weltoffenheit des Jungen Herren aus großem Hause,
als welchen Hofmannsthal später seine am ersten Tage
schon legendäre Vergangenheit stilisierte; dessen der keiner
Haltung bedarf, weil er ohnehin dazugehöre. Krampfhaft
identifiziert er sich mit der Aristokratie oder wenigstens jener
Art großbürgerlicher society, die mit ihr manche Interessen
teilt und Bescheid weiß: »So viel von mir: außerdem bin
ich wohl, werde ein paar Tage dieses Sommers in München
vor den Bildern zubringen, den Herbst wohl in Böhmen zur
Jagd. Und Sie? Wenigstens ein paar Zeilen bei Gelegenheit
wären mir sehr erwünscht. Hugo Hofmannsthal.« Die böh-
mischen Wälder haben es ihm angetan. Von »einem meiner
Freunde« heißt es: »Er gehört völlig dem Leben an, keiner
Kunst. Er wird Ihnen einen schönen Begriff von österrei-
chischem Wesen geben, bei reichlicher Übersicht über viel-
fältige äußere und innere Verhältnisse auch der anderen
Länder. Es ist der Graf Josef Schönborn von der böhmischen
Linie des Hauses«, deren mit Nonchalance Erwähnung ge-
schieht. George, in chthonischen Dingen zuständiger und
nüchtern genug, um die Hoffnungslosigkeit solcher Anbiede-
rung zu erkennen, nennt darauf das Kind beim Namen: »Sie
schreiben einen satz, mein lieber freund: >er gehört völlig
dem Leben an, keiner Kunst < den ich fast als Lästerung auf-
fassen möchte. Wer gar keiner kunst angehört darf sich der
überhaupt rühmen dem leben anzugehören? Wie? höchstens
in halbbarbarischen Zeitläuften.« Hofmannsthals Lässigkeit
assimiliert die Kritik in weniger als einem halben Jahr: »Mir
schwebt eine Art von Brief an einen sehr jungen Freund vor,
197
der dem Leben dient, und dem gezeigt werden soll, daß er
sich mit dem Leben niemals recht verknüpfen kann, wenn
er sich ihm nicht zuerst in der geheimnisvollen Weise ent-
fremdet, deren Werkzeug das Aufnehmen von Dichtungen
ist.« Unbestimmt bleibt, zu welcher Art Leben der junge
Freund vorbereitet werden soll. Es ist aber Grund zur An-
nahme, daß das höhere von Attaches und Offizieren gemeint
ist, die sich mit den Söhnen der Bankiers und Fabrikbesitzer
beim Vornamen nennen, wobei alle Beteiligten ihren Adel
taktvoll sich verschweigen6. Man braucht das Glücksverlan-
gen nicht zu verkennen, das den Snob inspiriert, der aus dem
Bereich des Praktischen in ein gesellschaftliches zu ent-
weichen trachtet, das dem Geist in der Absage an Utilität
verschworen scheint. Die Mädchen zu Hofmannsthals Ge-
dichten waren nicht im Mittelstand zu finden. Aber der Geist,
der auf jene gesellschaftlichen Abenteuer sich einläßt, hat
es nicht leicht. Er kann beim Glanz des schönen Lebens sich
nicht bescheiden und muß in dessen Mitte die Erfahrung des
Das ist es nicht wiederholen, von der er sich abwandte. Dem
ist der eine Proust gerecht geworden. Seine Jugendphoto-
graphien ähneln denen Hofmannsthals, als hätte die Ge-
schichte zweimal an verschiedenen Stellen das gleiche Ex-
periment geplant. An Hofmannsthal ist es gescheitert. Der
Intellektuelle, der, von Hunden umspielt, fröhlichem Waid-
werk obliegt oder viel »Reiten durch Abenddämmerung,
Wind und Sternenlicht« vorhat, kann sich schwerlich gut
sein. Der Geist ist recu um den Preis seiner Selbstdenun-
ziation. Hofmannsthals böhmischen Affiliationen entspricht
der verstohlene Eifer des Umgänglichen, von anderen
6
Der junge Hofmannsthal hat sich der Einsicht in solche Aspekte seiner Welt nicht durch-
aus versagt. Von Marie Bashkirtseff, der Schutzheiligen des fin du siecle, sagte er: »En attcn-
dant ist sie so hochmütig als möglich. Alles, was an Macht und Königlichkeit erinnert, be-
rauscht sie: die Paläste der Colonna und Chiarra; die königlichen Truppen des Vatikan, irgend-
ein Triumphwagen in irgendeinem Museum; irgendein hochmütiges und ruhig überlegenes
Wort, eine feine und legitime Arrogan2. Sie ist selbst für diesen großen Stil der Vornehmheit
bei aller innerer Eleganz ihres Wesens zu lebhaft und nervös; es liegt in ihrer stark betonten
Sympathie dafür etwas von dem Neid, mit dem Napoleon einsah, daß er das legitime Gehen
nicht erlernen könne; sie spricht zu laut und wird zu leicht heftig; auch der Ton des Tagebuchs
ist lauter, werfi ger reserviert, als man in guter Gesellschaft gewöhnlich spricht.« Man mag in
diesen Sätzen ein Stück uneingestandener Selbstkritik Hofmannsthals suchen. Der Vorwurf
der Lautheit zeigt eine von Proust beschriebene Urgeste des Snobs: den anderen einen Snob
zu nennen. Sie entspringt dem Konkurrenzmotiv. Vornehmheit verbietet dem vitalen Auf-
stiegswillen niemals den Gebrauch der Ellenbogen.
198
Intellektuellen sich fernzuhalten. In seinem paradis artifi-
ciel waltet kein Bergotte und kein Elstir: »Leider ist meine
Gesellschaft eine so durchaus unlitterarische, daß ich Ihnen
keinen ernst zu nehmenden Mitarbeiter vorzuschlagen
weiß.«
Solche krampfhafte Selbstverleugnung des Literaten grün-
det in den problematischen Beziehungen zwischen der Macht
und den Intellektuellen. Ohne angedrehten Charme und ge-
wundene Schultern geht es nicht ab. Die deutsche Society,
die sich aus Landadligen und Großunternehmern rekrutierte,
war der künstlerischen und philosophischen Tradition we-
niger verbunden als die westliche. Die feinen Leute nach
1870 haben meist unsicher und nervös mit der Kultur sich
eingelassen; unsicher und nervös sind die Intellektuellen
denen entgegengekommen, die keinen Augenblick ihre Be-
reitschaft vergessen ließen, jeden herauszuwerfen, der un-
bequem wurde. Die paar Schriftsteller, die darauf bestanden,
die »Nation« zu repräsentieren, hatten die Wahl, entweder
die herrschende Halbroheit als Substantialität und »Leben«
zu glorifizieren, oder der wirklichen society, der sie nach-
liefen und vor der sie Angst hatten, eine Traumsociety zu
substituieren, die sich nach ihnen richtete und die man jener
als pädagogisches Muster vor Augen stellen konnte. Hof-
mannsthal hat beides versucht: er hat, vertrauend auf sub-
stantielle Momente der österreichischen Tradition, eine Ideo-
logie für das high life gemacht, welche diesem eben jene hu-
manistische Gesinnung zuschiebt, gegen die der Jagdstiefel
erhoben ist, und hat eine fiktive Aristokratie sich ausgedacht,
die seine Sehnsucht als erfüllt vorspiegelt. Der Schwierige
Kari Bühl ist das Produkt dieser Bemühung. Der junge Hof-
mannsthal war derart kunstreicher Kreationen noch nicht
mächtig. Er macht sich bei den Feudalen als Zwischenhänd-
ler des fin du siecle beliebt; er vermittelt ihnen bald auf an-
preisende, bald auf apologetische Weise, womit die Eliten
in England, Frankreich und Italien den Ton angeben. Es
ist, als wolle er manche derer, die er sucht, zum Dank intel-
lektuelle Manieren lehren. Das eröffnet ihm zugleich den
Zugang zum Markt. Die Unterweisungen, die er den Wiener
Phäaken über d'Annunzio, die Bashkirtseff und den modern
style erteilt, waren als Feuilletons recht wohl danach ange-
199
tan, dem mittleren Bürger, der von alldem ausgeschlossen
ist, das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen, wie
denn in der ganzen Esoterik der schmeichelnde Appell an
jene mitklingt, die nicht mitspielen dürfen7. Auch darin er-
weisen die Geheimnisse des Ästhetizismus sich als öffent-
liche. Der Plauderer Loris gibt mit der Miene der Heimlich-
keit den Zeitgeist jenem Publikum preis, von dem er ohne-
hin stammt. - Der Flügel der deutschen Rechten, mit dem
Hofmannsthal sympathisiert, ist zum Nationalsozialismus
übergegangen, soweit man es ihm erlaubt hat, oder tobt sich
in jener geistigen Handweberei aus, deren Figuren Lorenz
und Cordula heißen. Sie dienen der Propaganda auf eigene
Weise: ihr besonnenes Maßhalten dementiert das maßlose
Grauen. 1914 begnügte sich die äußerste Gemeinheit mit den
Reimen, zu denen freilich auch Hofmannsthal beitrug. Im
Zeitalter der Konzentrationslager haben die Skribenten das
verschlossene Schweigen, die herbe Rede und die nachsom-
merliche Fülle gelernt.
Die Georgesche Schule hat, bei geringerer Weitläufigkeit,
mehr Widerstand aufgebracht: darin zeigte die angestrengte
Haltung immer noch jener »Herrschaftlichkeit«, jenem Blick
»von oben herab« sich überlegen, den Borchardts Mißver-
ständnis an Hofmannsthal zu rühmen wußte. George selber
zumindest blieb unverführt von einer mondanité, die auch
über Hitler internationale Gespräche zu führen verstand.
Das »geheime Deutschland«, das George proklamierte, ver-
trug sich weniger gut mit dem aufgebrochenen als das legere
7 Am deutlichsten bei Oscar Wilde: der >Dorian Gray< reklamiert l'art pour l'art und ist ein
Kolportageroman. In Deutschland hat diese Tendenz auf der Bühne sich durchgesetzt. Die
Vorbilder waren d'Annunzios >Gioconda< und Maeterlincks >Monna Vanna<. Hofmannsthal
hing mit der Sphäre schon vor seiner Kollaboration mit Richard Strauß zusammen. — George
hat das früh erkannt und gegen Hofmannsthal den Vorwurf des Sensationalismus erhoben,
insbesondere in der Kritik am >Geretteten Venedig<: »Das ganze neuere geschichts- und sitten-
stück leidet - für mich — an übelangewandtem Shakespeare. Bei ihm bildet sich die handlung
aus gestalten seiner leidenschaftlichen seele - bei den heutigen aus gedanklichem: aus abwick-
lungen bei diesen oder jenen Voraussetzungen, dort ist alles rauhe und rohe notwendigkeit -
hier aber befleckende zutat oder gar kitzel. ..« In der Sensation kommt das technische Ge-
heimnis des Künstlers unter die Leute. Am Sensationellen hat George selbst größeren Anteil,
als die asketische Ideologie zumal der Spätwerke glauben machen möchte: keineswegs nur mit
den Provokationen des Algabal, sondern noch mit einem Gedicht wie der >Porta Nigra< des
Siebenten Ringes. Der römische Buhlknabe Manlius, der die moderne Zivilisation verflucht,
mahnt an Hugenbergs Nachtausgabe, wenn sie gegen den Kurfürstendamm wettert. Man wirbt
von alters her Bundesgenossen gegen die Verderbtheit, indem man mit dieser auf vertrautem
Fuße sich zeigt.
200
Einverständnis, das von Anbeginn sich nicht durch die Lan-
desgrenzen beengt fühlte, die später revidiert werden soll-
ten. Er hatte den Blick für die fatale Toleranz, die ihm die
maßgebenden Salons hätten bewilligen mögen. Diesen zieht
er Konventikel vor, zu denen er ohnehin gravitiert: als Ver-
femter. Davon gibt der Briefwechsel Zeugnis. Der Grund
der Aufregung, die George im Hause des siebzehnjährigen
Hofmannsthal hervorrief, wird nicht ausgesprochen. Robert
Boehringer datiert die Affäre auf einen Tritt zurück, den
George im Cafe einem Hund mit den Worten »sale voyou«
erteilt haben soll. Die Sphäre des Konflikts wird richtiger
wohl bezeichnet in dem Brief, mit dem George - in der Ab-
sicht nach Mexiko auszuwandern — von Hofmannsthals Va-
ter sich verabschiedet: »Mögen ihr hr. söhn und ich uns
auch im ganzen leben nicht mehr kennen wollen, wendet er
sich weg, wende ich mich weg, für mich bleibt er immer die
erste person auf deutscher seite die ohne mir vorher näher
gestanden zu haben mein schaffen verstanden und gewürdigt
und das zu einer zeit wo ich auf meinem einsamen Felsen zu
zittern anfing es ist schwer dem nicht-dichter zu erklären von
wie großer bedeutung das war. Das konnte denn kein wun-
der sein daß ich mich dieser person ans herz warf (Carlos ?
Posa?) und habe dabei durchaus nichts anrüchiges gefun-
den. « Zwei Tage früher heißt es in einem Brief an Hofmanns-
thal selber: »Also auf etwas hin und gott weiß welches etwas
>das Sie verstanden zu haben glauben < schleudern Sie einem
gentleman der dazu im begriff war Ihr freund zu werden eine
blutige kränkung zu. Wie konnten Sie nur so unvorsichtig
sein, selbst jeden Verbrecher hört man nach den schreiend-
sten indizien.« Das ist die Sprache des Verfemten: nichts als
die Angst, in die Maschinerie der Sittlichkeit zu geraten,
kann George dazu vermocht haben, sich einen Gentleman
zu nennen. Besser als jeder andere mußte er die Spielregel
der Sprache kennen, der zufolge die Anrufung eines solchen
Wortes genügt, um den Anrufenden von dessen Inhalt aus-
zunehmen. Dafür bietet es bei ihm einen zweiten Aspekt.
Der Sprengstoff der Angst fördert das Bild des Gentleman
als historisches Modell des zeitlosen George zutage: das
Phantasma des fin du siecle. Wie hier das priesterhafte Zivil
des Unholds inkognito, wird in Georges Traumprotokollen
201
aus Tage und Taten8 - nur in diesen - die Eisenbahn vor dem
Zeit-Ende zitiert; nicht anders stehen englische Titel in Ge-
dichten Verlaines. Die »blutige Beleidigung« scheint weni-
ger dem Gentleman zugefügt, als daß sein beleidigendes
Antlitz von Anbeginn die Blutspur trägt. Aus Georges Sät-
zen blickt das Wort Gentleman wie ein Mörder. Seine Kor-
rektheit bedarf des Frevels wie der Anzug des Dandys der
Gardenia. In Georges Ära nimmt der Verfemte die Last des
unfruchtbaren Widerstandes auf sich. Er erfährt das Un-
wesen der Gesellschaft an der Familie, zu deren Vernichtung
es ihn treibt. Das hält der Spruch >Vormundschaft< des Sie-
benten Ringes fest: »Als aus dem schönen söhn die flammen
fuhren / Umsperrtest du ihn klug in sichern höfen. / Du
hieltst ihn rein für seine ersten huren . . . / Öd ist dies haus
nun: asche deckt die öfen.« Der von der Familie Umsperrte
verfällt eben der Welt als Markt und Öde, vor welcher der
moralische Verfall ihn hätte bewahren mögen. In den sichern
Höfen aber erkennt George den Besitz, der diese Welt am
Leben erhält, und ihnen gegenüber pointiert er sich in dem
Spruch an Derleth: »In unsrer runde macht uns dies zum
paare: / Wir los von jedem band von gut und haus9.« Von
8 Der Name des Unholden erscheint im Stern des Bundes als Symbol für »nicht ganz ge-
stalte kräfte«. Es liegt nahe, diese als noch jenseits der Polarität der Geschlechter vorzustellen,
etwa wie die Hexen des Macbeth. Das Gedicht mißt ihnen gerade die Möglichkeit zu, welche
die Epoche versäumte. »Unholdenhaft nicht ganz gestalte kräfte: / Allhörige zeit die jedes
schwache poltern / Eintrug ins buch und alles staubgeblas / Vernahm nicht euer unterirdisch
rollen - / Allweis und unkund des was wirklich war. / Euch trächtig von gewesnem die sie
nutzen / Sich zur belebung hätte bannen können / Euch übersah sie dunkelste Verschollne . . . /
So seid ihr machtlos rückgestürzt in nacht / Schwelende sprühe um das innre Licht,«
9 Borchardt kontrastiert Hofmannsthal der »zernichteten Bagage, die von keinem Hause
mehr weiß als dem Kaffeehause, dem Pfandhause und dem verrufenen«. Solch schändliches Lob
könnte George nicht gespendet werden, davon zu schweigen, daß der Wiener Schauplatz der
Freundschaft mit Hofmannsthal nach allen Zeugnissen des Briefwechsels eben das Cafe" ist.
Klagend über einen unterbliebenen Besuch Hofmannsthals findet George ein Wort, das allein
genügt, ihn untauglich zu machen zur Hetze gegen den Literaten: das von der »landschaft als
haus«. Die chthonische Erfahrung, die es anmeldet, ist aufs tiefste verschränkt mit der des Ob-
dachlosen. Homer hat sein ganzes Epos aus dem Heimweh dessen hervorgesponnen, der
Ithaka noch einmal sehen will. Die Chthoniker von heutzutage kennen das Heimweh nicht.
Sie sind immer bei sich zu Hause. In Gedichten wie der >Rückkehn des Jahres der Seele zeigt
George ihnen sich weit überlegen: »Du wohntest lang bei fremden stammen. / Doch unsre
liebe starb dir nicht.« - Solche Verse freilich verdanken sich eher dem mächtigen Kindergefühl
bei Indianergeschichten als dem Gedanken an gentile Gesellschaftsformen, der dem früheren
George verhaßt war: »Gegen das biderbe, das Sie so erträglich finden, hab ich auch wenig ein-
zuwenden, wo es den grund bildet auf dem noch etwas wachsen kann .. . wo Sie es aber her-
vorheben, wird Ihnen bei näherer betrachtung klar werden, daß nichts verlogener, verstunke-
ner, wurmstichiger sein kann als dieses derb- und dumm-thun.«
202
der Bohèe trennt ihn deren Schlamperei, die auf die Welt
vertraut, wie sie ist; mit der Boheme verbindet ihn die Mög-
lichkeit der Kriminalität als der Weise von Opposition, die
der Welt das letzte Vertrauen kündigt. Der Beginn des Ge-
dichtes an den Jugendfreund Carl August: »Du weißt noch
ersten Stürmejahres gesell / Wie du voll trotz am zäun den
hagelschlossen / Hinwarfst den blanken leib auf den blau-
schwarz / Die trauben hingen?« mahnt an den Weinberg
Hanschen Rilows in >Frühlings Erwachen <. Die Tradition,
der zufolge George Wedekind hoch soll geschätzt haben,
ist einleuchtend. Der Möglichkeit der Kriminalität zeigt Ge-
orges großes Gedicht vom Täter eher sich verschworen als
daß es sie, eine Möglichkeit unter anderen, gestaltete. Dazu
stehen noch petriflzierte Verse wie der dritte Jahrhundert-
spruch des Siebenten Ringes und der >Gehenkte< des >Neuen
Reichs <. Hier allein liegt das Recht von Georges Haltung
beschlossen: der Baudelairesche Hochmut des Verstoßenen,
»tresor de toute gueuserie10«. Wenn freilich der Gehenkte in
einer ungefügen Metapher sich rühmt »und eh ihrs euch
versähet, biege / Ich diesen starren balken um zum rad«, so
degeneriert im Stiftertum des späten George der Frevler
zum Helden. Der Protest gegen Ehe und Familie schlägt um,
10 Baudelaire, Le vin du solitaire, Les fleurs du mal. - Von den Perfidien des verstorbenen
Gundolf ist nicht die geringste die Herrichtung des Verfemten für den Nachttisch von Rechts-
anwälten. In der dritten Auflage des Georgebuchs heißt es geschwollen, doch beschwichti-
gend: »Was jeweils Tugend, Ordnung, Macht dünkt, bedarf eines unterirdischen Tilgers, zu-
gleich Hegers und Erneuerers, des Trägers der künftigen Gottesgeschichte. Genauer ertönt
hier eine Lehre Georges, die schon der >Siebente Ring< verkündet: sein Glaube an die Erneue-
rung der Welt aus dem Fernsten, an ihren Umbau auf dem Stein des Anstoßes, der Grundstein
wird ,.. an den Vollzug jeder heilsamen Tat durch die jeweiligen Verbrecher, ja Zuchthäus-
ler.« Für Zwecke der Erneuerung, des Umbaus und ähnliche Kulturmaßnahmen sind Gundolf
auch die Verbrecher recht, als wäre bei George an deren Zwangsarbeit gedacht und nicht ans
Attentat. Georges Gehenkter ist zweideutig genug, aber er bringt immerhin noch den blutig-
sten Hohn für jene Sittlichkeit auf, in deren Dienst der Kommentator die Unsittlichkeit stellen
möchte: »Als ich zum richtplatz kam und strenger miene / die Herrn vom Rat mir beides: ekel
zeigten / Und mitleid mußt ich lachen: >ahnt ihr nicht / Wie sehr des armen sünders ihr be-
dürft< / Tugend - die ich verbrach - auf ihrem antlitz / Und sittiger frau und maid, sei sie auch
wahr,/ So strahlen kann sie nur wenn ich so fehle!« Gundolf" fährt fort: »In solchen Gedichten
(auch der >Täter< im >Teppich des Lebens< gehört dazu) verrät George den Abgrund, woraus
seine vielgepriesene und vielbelächelte Schönseligkeit steigt. Mit Genießertum hat sie nichts zu
tun, sondern setzt - wie der griechische Apollo die Titanen, wie Dantes Paradies seine Hölle,
wie Shakespeares Lustspiele seine Tragödien, den Aufenthalt in der unbarmherzigen Schreck-
nis voraus.« Diesen aber kann der Literarhistoriker nur kurzfristig sich vorstellen. Die Un-
moral wird erst zur mythischen Amoral neutralisiert und dann in den Zug positiver Entwick-
lung als eben die Schwelle eingefügt, deren Begriff George als idealistisch verworfen hat. Einzig
als Ausflugsort wird die Holle in der Landkarte des »gotthaft gestaltigen Seins« verzeichnet.
203
sobald der totalitäre Staat, dessen Schatten über den letzten
Büchern Georges liegt, selber von Ehe und Familie sich los-
sagt und deren Geschäfte in die Hand nimmt. Dann wird
der Brandstifter als Entzünder, der Täter als Prophet des
Büttels rezipiert. Wer eben noch »los von jedem band von
gut und haus« sich wußte, versteht sich nun als Freischärler:
»Wir einzig können stets beim ersten saus / Wo grad wir
stehn nachfolgen der fanfare.« Die ominöse Reinheit, die
schon den Algabal des frühen George befleckte und den
Täter so gut wie das bündische Wesen entgleisten Schul-
meistern empfahl, pervertiert ihn schließlich zur Licht-
gestalt. Georges Transzendenz zur Gesellschaft entlarvt
deren Humanität. Seine Unmenschlichkeit aber wird von
der Gesellschaft aufgesogen.
Transzendenz zur Gesellschaft beansprucht auch Hof-
mannsthal, und der Gedanke an Outsidertum ist dem nicht
fremd, der seine society fingieren muß. Aber es ist ein kon-
ziliantes Outsidertum, zu verliebt in sich selber, um den an-
deren ernsthaft böse zu sein. »Ich hatte von der Kindheit an
ein fieberhaftes Bestreben, dem Geist unserer verworrenen
Epoche auf den verschiedensten Wegen, in den verschieden-
sten Verkleidungen beizukommen. Und die Verkleidung
eines gewissen Journalismus - in einem so anständigen Sinn
genommen, daß allenfalls jemand wie Ruskin, bei uns da-
gegen niemand, als Vertreter davon anzusehen wäre, hat
mich öfters mächtig angezogen. Indem ich in den Tagesblät-
tern und vermischten Revuen veröffentlichte, gehorchte ich
einem Trieb, den ich lieber gut erklären als irgendwie ver-
leugnen möchte.« Der Trieb zur Verkleidung, in prästabi-
lierter Harmonie auf die Erfordernisse des Marktes einge-
stimmt, ist der des Schauspielers. Ihn wiederum hat George
sehr früh erkannt. Einem Brief vom 31. Mai 1897 sind Verse
eingefügt, die gemildert im Jahr der Seele mit Hofmanns-
thals Initialen wiederkehren: »Finder / Des flüssig rollen-
den gesangs und sprühend / Gewandter Zwiegespräche, frist
und trennung / erlaubt daß ich auf meine dächtnistafel / Den
alten hasser grabe, thu desgleichen!« Damit ist nicht der
Dramatiker charakterisiert, sondern der »Schauspieler
deiner selbstgeschafFenen Träume«, der Page im >Tod des
Tizian <, den sein Freund, der Dichter, verteidigend apostro-
204
phiert11. Vor aller Stilkostümierung, ja vor aller dramatischen
Absicht komponieren die Gedichte Hofmannsthals, und ge-
rade die vollkommensten, die rollende Stimme des Schauspie-
lers mit. Es ist, als objektiviere diese Stimme das Gedicht so,
wie in Musik die lyrische Unmittelbarkeit des Subjekts
durchs mitgedachte Instrument objektiviert wird. Verse wie:
»Er glitt durch die Flöte / Als schluchzender Schrei, / An
dämmernder Röte, / Flog er vorbei« tragen in sich den Ton
von Josef Kainz, dem Hofmannsthal den Nekrolog geschrie-
ben hat12. Hofmannsthals Schauspielertum, gleichgültig wor-
auf Psychologie es zu reduzieren vermöchte, entspringt in
der technischen Handhabung der Lyrik. Wie zur eigenen
Kontrolle rezitieren seine Gedichte sich selbst. Ihr Reden-
des gestattet es den Versen sich zuzuhören13. Daher die Vor-
liebe für den redenden, den Blankvers. Dessen Synkopie-
rung, Hofmannsthals berühmtes Stilmittel, hat er den Eng-
ländern abgelernt. Sie ist eine Veranstaltung des technischen
Dichters, die dem formimmanenten Schauspieler dient: sie
nimmt die Freiheit, mit der der Vers sonst erst rezitiert
wird, in die Geschlossenheit des poetischen Metrons selber
auf. Es ist aber zugleich der Vers, der dem Kind aus einem
Theater übriggeblieben ist, das seit Hofmannsthals Jugend
11 An das Wort des Pagen glaubt Borchardt in der Rede über Hofmannsthal die Verteidigung
vor dem Vorwurf des Ästhetizismus anschließen zu müssen: »Er, den man als den >büdungs-
satten DecadenU, als ästhetenhaften Klangehascher abzutun vermeint - denn dafür wagt das
dummdreiste Gezücht, das bei uns Bücher und Theater beurteilt, ihn immer noch auszugeben -
ist seit Goethe der erste deutsche Dichter, der einem selbstdurchlittenen problematischen Zu-
stande durch den Emst der Vertiefung, die Gewalt der Vision und die Verbindung mit allem
höheren Dasein seiner Zeit Allgemeingültigkeit und völligen Kunstwert zu geben gewußt hat.«
So armselig der Vorwurf, gegen den Borchardt zu Felde zieht, Begriffe wie Ernst der Vertie-
fung und höheres Dasein sind ihm nicht überlegen. Hofmannsthal ist nicht vor der Verleum-
dung in Schutz zu nehmen, er sei ein Ästhet: zu retten ist der Ästhetizismus selber. Leicht ge-
nug könnte sich herausstellen, daß die von Borchardt so genannten »moralischen Dramen«,
wie der »Tor und der Tod« und der »Kaiser und die Hexe«, in denen der Schein thematisch
und eben jenem »Ernst der Vertiefung« zur Korrektur überantwortet wird, in Wahrheit den
Verrat Hofmannsthal an seiner tragenden Erfahrung darstellen, gar nicht so verschieden von
der Wendung Georges seit dem »Teppich«.
12 George bietet dazu ein Seitenstück. Die Beschreibung der Anemonen am Ende von »Be-
trübt als führten sie zum totenanger«: »Und sind wie seelen die im morgengrauen / Der halb-
erwachten wünsche und im herben / Vorfrühjahrswind voll lauerndem verderben / Sich ganz
zu Öffnen noch nicht recht getrauen« nimmt in ihrer letzten Zeile akustisch fast den rheinischen
Tonfall an, der dem Dichter mag eigen gewesen sein.
13 Das sich selbst Zuhören Hofmannsthals tendiert zur Anpreisung. Gelegentlich schließen
Gedichte die Augen und schmecken sich mit der Zunge ab, als wollten sie ihr Unvergleichliches
empfehlen. Nach den Zeilen: »Dein Antlitz war mit Träumen ganz beladen. / Ich schwieg und
sah dich an mit stummem Beben« folgt der Satz: »Wie stieg das auf!« Er wird dreimal wieder-
holt.
205
den Hamlet und wie viel mehr Schiller Schülern vorbehält.
Mit Grund datiert Hofmannsthal das Bestreben zur intellek-
tuellen Verkleidung auf die Kindheit zurück. Wer da Thea-
ter spielt, hängt die Worte und ihren Widerstand um wie
den ererbten Bühnenschmuck mit bunten Steinen und Rhein-
kieseln. Wohl mag von Hofmannsthal bestehen bleiben, daß
er unermüdlich die Gestik dieses Kindes geübt und gleich-
sam die Stufe wiederhergestellt hat, auf der allein noch das
Trauerspiel sich erfahren läßt. Unter den Händen seiner
Stimme verzaubert jeglicher Stoff sich in Kindheit, und es
ist diese Transformation, kraft deren er der Gefahr von Hal-
tung und Verantwortung stets wieder entschlüpft. Die ma-
gische Verfügung über Kindheit ist die Stärke des Schwa-
chen14: er entrinnt der Unmöglichkeit seiner Aufgabe als
Peter Pan der Lyrik. Wahrhaft einer Unmöglichkeit. Denn
Hofmannsthals Schauspielertum verdankt sich bis in seine
alexandrmischen Konsequenzen hinein, bis zu den Pseudo-
rnorphosen. der späteren Zeit einer höchst realen Einsicht:
daß die Sprache nichts mehr zu sagen erlaubt, wie es erfah-
ren ist15. Entweder ist sie die verdinglichte und banale von
Warenzeichen und fälscht vorweg den Gedanken. Oder sie
installiert sich selber, feierlich ohne Feier, ermächtigt ohne
14 Sie bedingt den Ton der zweiten Naivetät in Hofmannsthals Dichtung. Ihr Begriff gehört
Jacobsen an. Er rindet sich in der kleinen Prosa >Es hätten Rosen da sein müssen< (1881), einer
Schatzkammer Hofmannsthalscher Motive. Die Personen des »Proverbs«, das zu einem süd-
lichen Garten geträumt wird, sind zwei Pagen. Deren Beschreibung springt über zu der der
beiden Schauspielerinnen, die die Pagen geben. »Die Schauspielerin, welche die jüngere von
den Pagen sein soll, ist in dünner Seide, die ganz dicht anschließt und die blaßblau ist, mit ein-
gewebten, heraldischen Lilien aus lichtestem Gold. Das und dann so viele Spitzen als anzu-
bringen möglich, ist das hervorstechendste an der Tracht, die nicht so sehr auf ein bestimmtes
Jahrhundert hinweisen, als die jugendlich volle Figur, das prachtvolle blonde Haar und den
durchsichtigen Teint hervorheben will. Sie ist verheiratet, aber es währte bloß anderthalb
Jahre; dann wurde sie von ihrem Mann geschieden, und soll sich gegen ihn durchaus nicht gut
aufgeführt haben. Und das mag schon sein; allein etwas Unschuldigeres kann man nicht leicht
vor seinen Augen sehen. Das will sagen, es ist ja nicht jene ungemein niedliche Unschuld aus
erster Hand, die gewiß auch ihr Ansprechendes hat; es ist im Gegenteil jene soignierte, wohl
entwickelte Unschuld, in der kein Mensch sich irren kann und die einem geradewegs ins Herz
geht und einen gefangennimmt mit all der Macht, die einmal dem Vollendeten gegeben ist.«
15 Diese Einsicht ist, wie sehr auch lebensphilosophisch verdorben, von Hofmannsthal im
Chandosbrief formuliert worden: »Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähig-
keit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu be-
sprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne
Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte
>Geist<, >Seele< oder >Körper< nur auszusprechen ... die abstrakten Worte, deren sich doch
die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zer-
fielen mir im Munde wie modrige Pilze.«
206
Macht, bestätigt auf eigene Faust, kurz, von dem Schlage,
wie Hofmannsthal an der Georgeschen Schule es bekämpfte.
Sie verweigert sich vollends dem Gegenstand in einer Ge-
sellschaft, in der die Gewalt der Fakten solches Entsetzen
annimmt, daß noch das wahre Wort wie Spott klingt. Hof-
mannsthals Kindertheater ist der Versuch, die Dichtung von
der Sprache zu emanzipieren. Indem dieser die Substantiali-
tät aberkannt wird, verstummt sie: Ballett und Oper sind die
notwendige Folge. Unter den tragischen und komischen
Masken ist kein menschliches Antlitz übrig. Daher die
Wahrheit von Hofmannsthals Schein. Dort gerade nimmt
diese Sprache den Ausdruck des Schreckhaft-Schwanken-
den an, wo sie aus epischer Vernunft zu reden vorgibt.
»Circe, kannst du mich hören? / Du hast mir fast nichts ge-
tan«, heißt es im Text der >Ariadne<. Das epische Fast, das
noch im Angesicht der mythischen Metamorphose ein-
schränkend innehält, entzieht dem gleichen Mythos den
Boden durch neuzeitliche Lässigkeit.
Gegen Hofmannsthals Schauspielertum hält George den
trivialsten Einwand bereit: »Woran Sie am schmerzlichsten
leiden ist eine gewisse wurzellosigkeit. . .« Er scheint da-
mit das Vokabular eines Antisemitismus zu bemühen, des-
sen Spuren seinem Werk trotz der Absage an Klages nicht
fehlen. Der Übersetzer der Baudelaireschen Malabaraise pro-
klamiert im Stern des Bundes: »Mit den frauen fremder ord-
nung / Sollt ihr nicht den leib beflecken / Harret! lasset pfau
bei äffe! / Dort am see wirkt die Wellede / Weckt den mäd-
chen tote künde: / Weibes eigenstes geheimnis« - Verse, die
in der Turnhalle eines rheinländischen Gymnasiums nicht
übel sich ausgenommen hätten. Aber mit deren Atmosphäre
möchte George am wenigsten zu schaffen haben: »Es war
nur unfug des schreibenden pöbeis diese äußerst Verschie-
denartigen zu einem häufen zu werfen weil sie sich in glei-
cher weise von ihm entfernten - eine ähnliche Scheidung wie
dermalen des rheinischen Janhagels der alle die sich anders
trugen als >juden< anrief.« Dem Wurzellosen hat George
nicht seine empirische Existenz als verwurzelte gegenüber-
stellen wollen: »Um Weihnachten hab ich hier wenig zu
bieten • weiß auch kaum ob ich dann hier bin. das von Ihnen
ausgemalte trauliche Winterzusammensein gewährt nur (sei
207
es In stadt oder land) wer wie Sie ein Heim hat • nicht wer
wie ich überall gleichsam nur besucher ist.« Erstaunlicher
noch formuliert ein kaum wohl ironisch gemeinter Brief
Georges vom 27. August 1892: »ich glaube in der leiden-
schaft für ein schönes und klangvolles können Sie sich nicht
so weit reißen lassen. Das ist das graniten-germanische in
Ihnen, das romanische an mir. Das werden Sie bei dauern-
dem verkehr mit leuten wälscher zunge merken daß die in
ihren vor- und abneigungen thätlicher • lauter sind16.« Sei-
nen Gegensatz zum »Wurzellosen« legt George zu Anfang
nicht als einen der Ursprünge aus, sondern vielmehr als
einen des Entschlusses17. Er beruft sich nicht auf Erde,
Seinsgewalt und Unbewußtes. Strategische Überlegungen
zur Situation, und zwar recht genau zur literarischen, inspi-
rieren ihn zu dem prinzipiellen Brief an Hofmannsthal vom
Juli 1902, ohne daß dabei die Gegenposition von Anbe-
ginn als minderwertig oder unebenbürtig ausgeschlossen
wäre: »So lassen Sie mich ausreden nachdem Sie es getan:
16 Noch am 26. März 1896 schreibt George an Hofmannsthal: »wer weiß ob ich - wenn ich
Sie nicht oder Gerardy als dichter gefunden hätte - in meiner muttersprache weitergedichtet
hätte!«; noch Februar 1893 hat er im Floreal die ursprünglich französische Fassung eines Ge-
dichtes publiziert. Der treudeutsche Gundolf hat davon nichts wissen wollen: »Wenn man ihn
als Jünger der französischen Parnassiens und Symbolisten in die >Richtung< Swinburnes oder
d'Annunzios eingereiht hat, so verwechselt man die Oberfläche mit dem Grund: diese Dichter
waren für ihn - einerlei was sie ihrem Land als Literaturrichtungen bedeuten, welche Motive
oder Techniken sie brachten - lediglich willkommen als die damals dichtesten, reinsten und
feinsten Sprachkomplexe ihres Volkes. Baudelaires Höllenweihe und Verlaines Endschafts-
anmut und Müdigkeit, d'Annunzios Sinnenprunk, Swinburnes rauschende Seelenwoge, Ros-
settis keltisch-italische schwermütige Glut, selbst die Poesie seiner persönlichen Freunde Ver-
wey und Lieder, gingen ihn nur insofern an, als sie die Sprache um neue Massen, Gewichte,
Widerstände, Bewegungen, Tiefen und Lichter bereicherten. Es ist ein Literatenmißverständ-
nis, wenn man nachher auf Georges Spurea all diese Dichter als ) Richtungen < oder Seelen-
werte, als Stimmung oder Manier importierte, und ihren ersten Vermittler als Jünger ihrer
Gesinnung ansah.« Nur Dilettanten vermögen den dichterischen »Grund« von bloßen »Mo-
tiven oder Techniken« abzuheben; nur Banausen bringen den Namen Baudelaires nicht über
die Lippen, ohne den Verlaines mitzuplappern.
17 Es wird dem Entschluß - und in letzter Instanz der politischen Aktion - von George zu-
gemutet, was gerade nicht Sache des Entschlusses sein kann: die Präsenz des Gewesenen. Da-
mit aber wandelt sich der Entschluß in den Feind dessen, wozu man sich entschließt. Die Neu-
chthoniker haben vergessen, daß Rumpelstilzchen sich in Stücke reißt, sobald ihm sein Name
vorgehalten wird. Solches Unheil bereitet der agitatorische Kult der Ursprungsmächte. George
und Klages nehmen darin verhängnisvolle Tendenzen des Nationalsozialismus vorweg. Unab-
lässig zerstören die Mythologen, was sie für ihre Substanz halten, durch Benennung. Sie waren
die Herolde des Ausverkaufs vorgeblicher Urworte wie Tod, Innerlichkeit und Echtheit, der
dann im Dritten Reich Platz griff. Die Phänomenologie, welche die Wesenheiten gewisser-
maßen ausstellt, hat ebenfalls für diesen Ausverkauf gute Vorarbeit geleistet. Das Buch >Die
Transzendenz des Erkennens< von Frau Edith Landmann stellt zwischen der Georgeschen und
der phänomenologischen Schule die Verbindung her.
208
Wenn Sie es für schön preisen sich von den vielfarbigen
thatsächlichkeiten treiben zu lassen bedeuten sie mir nichts
ohne auswahl und zucht. Was das bessere sei bleibe ganz un-
beredet. nur soviel ist gewiß: dass in allgemeinem wie be-
sonderem sinn etwas geschehe ermöglicht nur die eine art
der führung • wol weiß ich: durch alle haltung und führung
wird kein meisterwerk geboren - aber ebensogut wird ohne
diese manches oder alles unterdrückt, auch Ihnen wird
schon aufgefallen sein wie unsere ganze kunst bestürzt
durch das fetzen- und sprunghafte • durch die reihe von
kraft-menschen denen immer das letzte versagt blieb - all
das hat seinen grund in derselben geistesart. . . Und nun die
höhere tagesschriftstellerei die Sie rühmen und die sehr zu
billigen ist - erfordert nicht die lauliche reizbarkeit und
weichtierhafte eindrucksfähigkeit die heut >Berliner natu-
ralismus< morgen >Wiener Symbolismus < untergeht — son-
dern das gegenteil: das strenge sich-aufeinen-punktstel-
len. . .« Über den Sprachzerfall kennt er so wenig Illusio-
nen wie Hofmannsthal: »Sagbar ward Alles: drusch und
leeres stroh.« Aber wo Hofmannsthal die Finte wählt, greift
er mit Desperation zur Gewalt. Er würgt die Worte, bis sie
ihm nicht mehr enteilen können: der toten meint er sich
sicher, während sie als tote vollends ihm so verloren sind,
wie die flüchtigen es waren. Darum überschlägt sich der
Georgesche Heroismus. Seine mythischen Züge sind das
Gegenteil jenes Erbgutes, als welches die politische Apolo-
getik sie beschlagnahmte. Sie sind Züge von Trotz. »Es ist
worden spät.« Keine Spur des Archaischen in Georges Werk,
die nicht diesem Späten als Gegensatz unmittelbar verschwi-
stert wäre. Er blickt auf die Worte so nah und fremd, als
vermöchte er dadurch ihrer an ihrem ersten Schöpfungstag
innezuwerden. Solche Entfremdung ist vom liberalen Zeit-
alter so vollkommen determiniert wie die antiliberale Poli-
tik, die in Deutschland so gern auf George sich berief. Wie
sehr bei ihm die liberale Vorstellung von Rechtssicherheit,
der trotzige Drang zur Herrschaft und der Vorstellungskreis
urgeschichtlicher Verhältnisse ineinanderspielen, zeigen
Sätze aus einem Brief vom 9. Juli 1893: »Jede gesellschaft
auch die kleinste und loseste baut sich auf vertrage Ihre
stimme gilt soviel als jede andre sie muß sich aber in jedem
209
fall unverhüllt vernehmen lassen.« Setzen die Verträge an-
scheinend die volle Rechtsgleichheit bürgerlicher Kontra-
henten voraus, so ist ihre Anrufung in Fragen geistiger So-
lidarität doch ein Mittel zur Suspension der Gleichheit und
zur Unterdrückung und nimmt einen Zustand tödlicher
Feindschaft zwischen den Subjekten an, durch den die Ge-
sellschaft der Konkurrenten der der Horden sich annähert.
Die Aufforderung, sich »unverhüllt vernehmen zu lassen«
jedoch, wie sie George Hofmannsthal gegenüber immer
wieder mit Rücksicht auf die >Blätter für die Kunst < erhebt,
kann dem von ihr Betroffenen allemal nur Unheil bringen.
Wann immer Hofmannsthal zur Kritik an George und des-
sen Hörigen sich verführen ließ, ist es ihm übel angeschlagen.
George ruft gegen jene Welt, die ihm als wurzellos er-
scheint, die Eindeutigkeit der Natur auf. Eindeutig aber
wird dieser Moderne Natur nur durch Naturbeherrschung.
Das gibt den berühmten Schlußstrophen des Templerge-
dichtes, die die Georgesche Lehre von der Gestalt um-
reißen, ihren geschichtsphilosophischen Sinn, so wie er an
Ort und Stelle nicht vermeint war: »Und wenn die große
Nährerin im zorne / Nicht mehr sich mischend neigt am un-
tern borne, / In einer weltnacht starr und müde pocht: / So
kann nur einer der sie stets befocht / Und zwang und nie
verfuhr nach ihrem rechte / Die hand ihr pressen, packen
ihre flechte, / Daß sie ihr werk willfährig wieder treibt: / Den
leib vergottet und den gott verleibt18.« Wer Natur nur den-
ken kann, indem er ihr Gewalt antut, sollte nicht das eigene
Wesen als Natur rechtfertigen. Solcher Widersinn ist das
Georgesche Gegenbild zur Hofmannsthalschen Fiktion. -
George möchte Hofmannsthal beherrschen. Was in dem
Andrian gewidmeten Gedicht >Den Brüdern< von Öster-
18 In der Vorstellung des Zwanges, der der »großen Nährerin« widerfahren soll, tritt George
in so bestimmten Gegensatz zu Klages, wie er diesem durch die neuheidnische Invokation der
Erde ähnlich bleibt. So schwankend war seine Stellung zu Klages insgesamt. Im Briefwechsel
mit Hofmannsthal verteidigt er den Pelasger, Hofmannsthal hatte bereits 1902 die bizarre In-
konsistenz zwischen der pedantischen Nüchternheit des Ausdrucks und dem Dogma des
Rausches erkannt, welche die Klagessche Philosophie unablässig desavouiert und der Ko-
stümfestlyrik von Alfred Schuler nahebringt: »Aber ich muß offen gestehen, daß mir in Kla-
ges' Schrift über Sie an unendlich wichtigen Stellen der Ausdruck, also die Kraft das innerlich
Geschaute zu verleiblichen, peinlich zurückzubleiben schien. Es fanden sich da Metaphern, die
ich zu vergessen trachte.« Georges Antwort daraufist recht allgemein: »Wegen K. und seinem
Buch lassen Sie mich heute nur sagen, daß wir uns da auf würdigem streit-boden befinden. Er
ist ein Edler, der für höchste werte glüht, aber auch ein titan, der blocke entgegenwälzt.« Im
210
reich gesagt wird, beZeichnet das Verhältnis: »Da wollten
wir euch freundlich an uns reißen / Mit dem was auch in
euch noch keimt und wächst.« Hofmannsthal ist in der Ver-
teidigung. Wie er privat der Werbung um Freundschaft und
Nähe sich entzieht, nimmt er literarisch den Standpunkt des
hochmütig Unbeteiligten ein. Es macht ihm nicht einmal
viel aus, seine Gedichte in obskuren Zeitschriften erschei-
nen zu sehen, während George, sobald es ums schriftstelle-
rische Metier geht, auf Haltung verzichtet und so leiden-
schaftlich sich zeigt wie nur je einer seiner Pariser Freunde.
Hofmannsthals Abwehr bietet umsichtig alle Kräfte der
Phantasie auf. Bald surrogiert er das Zeremonial des alten
Goethe oder der Wahnsinnsbriefe Hölderlins; bald deser-
tiert er kokett zur »lesenden menge«; bald versöhnt er durch
Teilnahme, selbst für die sonst verachteten Freunde Geor-
ges, bald kränkt er durch das Pathos eines Dankes, der Di-
stanz setzt. Selbst die unzählige Male und bis zum Schluß
beteuerte »Nähe« zu George wird durch die Stereotypie der
Versicherung in den Dienst der Ferne gestellt. Er versteckt
sich in die Nähe und schlüpft in Georges Sprache: seine
Briefe an andere ließen niemals den gleichen Verfasser er-
raten. Die zuverlässigste Technik aber ist die der Selbst-
anklage. Unübertrefflich die von George als solche durch-
schaute »bescheidene ausflucht«, mit der er auf den Vor-
schlag Georges reagiert, mit diesem gemeinsam die Redak-
tion der >Blätter für die Kunst < zu übernehmen. Hofmanns-
thal fängt selbst beleidigende Vorwürfe Georges wie den
der Solidarität mit der »schwindelhaftigkeit« durch die Be-
rufung auf den eigenen schlechten Zustand ab. Seine Nach-
giebigkeit und Beiehrbarkeit - noch im letzten Brief teilt er
mit, daß er Georges vernichtende »Beurtheilung des geret-
teten Venedig<, die im ersten Augenblick hart erschien, nach
Stern des Bundes von 1913 wird den Chthonikern eine Absage erteilt, die auf den gleichen
Nationalsozialismus auftriflt, dessen Sprachbereich sie selber angehört: »Ihr habt, fürs recken-
alter nur bestimmte / Und nach der Urwelt, später nicht bestand. / Dann müßt ihr euch in
fremde gaue wälzen / Eur kostbar tierhaft kindhaft blut verdirbt / Wenn ihrs nicht mischt im
reich von körn und wein. / Ihr wirkt im andern fort, nicht mehr durch euch, / Hellhaarige
schar! wißt daß eur eigner Gott / Meist kurz vorm siege meuchlings euch durchbohrt.« Der
Dialog von Mensch und Drud jedoch im >Neuen Reich< ist in der Tendenz von Klages nicht
mehr zu unterscheiden. Je mehr die von George abstrakt verherrlichte Tat in tödlich politische
Praxis überging, um so notwendiger bedurfte sie der unverstörten Natur und des »Lebens« als
Ideologie.
211
und nach« sich »völlig zu eigen machen konnte« - ist so
grenzenlos, daß er unbelehrbar erscheint: nur wen keine
Kritik je erreicht, kann so widerstandslos jede akzeptieren.
Die Freundschaft der beiden ist im Zerfall, ehe sie jemals
sich verwirklichte. Damals bereits war Freundschaft selbst
unter Menschen der außerordentlichsten Produktivkraft
nicht mehr aus bloßer Sympathie und bloßem Geschmack
möglich, sondern einzig auf dem Grunde bindend gemein-
samer Erkenntnis: Freundschaft aus Solidarität, welche die
Theorie als Element ihrer Praxis einschließt. Im Briefwech-
sel wird Erkenntnis von den Voraussetzungen der Freund-
schaft beklommen ferngehalten: das Trauma des ersten Wie-
ner Zusammentreffens wirkt fort und macht jeden Versuch
der Explikation zum neuen Akt der Verwirrung: »ich ging
vielleicht früher zu streng mit Ihnen zu gericht • nicht wegen
gesühnter that sondern wegen der geäußerten gesinnung.
ich zog Ihre ganz verschiedene art des fühlens zu wenig in
betracht wie Ihre ganz verschiedene erziehung unter andrem
himmelsstrich • ich glaubte der satz von der edlen plötzlich-
keit an der große und vornehme menschen sich allzeit er-
kannt haben erleide keine ausnähme und ich wies in meinem
geist Ihnen den platz an >wo die schweren rüder der schiffe
streifen <. doch immer wieder hatte ich als entschuldigung
für Sie die unbegreiflichkeit des Wahnsinnes und habe nie
aufgehört Sie zu lieben mit jener liebe deren grundzug die
Verehrung ist und die für die höhere menschlichkeit allein
in betracht kommt. Soweit das persönliche.« Man kann kaum
erwarten, das Persönliche sei durch diese undeutlichen, zu-
gleich saugenden und beißenden Sätze gefördert worden.
Sie stehen in Georges feierlichem Versöhnungsbrief, dem
gleichen, dem die Verse über den »alten hasser« beigefügt
sind. Durch den Briefwechsel hindurch variiert George die
allemal fatale Absicht, das Frühere vergessen und vergeben
sein zu lassen. Jeder freundlich intermittierende Brief sucht
eine Schuld auszulöschen, während doch durch die hart-
näckige Nachsicht das Schuldkonto unaufhaltsam anschwillt:
es bedarf nur einer entgegenkommenden Geste des einen,
um den anderen zur Bosheit oder zum Zurückweichen zu in-
spirieren. Hinter der Kasuistik der Briefe stehen Fragen des
Prestiges, des Verfügungsrechts über fremde - sei's auch
212
geistige - Arbeit und schließlich selbst des intellektuellen
Eigentums und einer Art von Originalität, die dem von bei-
den Autoren emphatisch vertretenen Begriff des Stils kraß
widerspricht. 1892 heißt es in einem Brief Hofmannsthals an
George: »Im >Tode des Tizian< wird Ihnen ein bekanntes
Detail entgegentreten: ich meine das Bild des Infanten.«
Das spielt an auf ein Gedicht der Hymnen. Mit gereizt
ostentativer Noblesse entgegnet George: »Da Sie über den
>Prolog< kein motto setzen so ließ ich da man in der selben
nummer auszüge aus meinen büchern bringt meinen >In-
fanten< streichen, die masse könnte da leicht mit miß Ver-
ständnis reden.« Die Verachtung gegen die Masse hat Ge-
orge nicht vor einer Eifersucht bewahrt, wie sie in eben den
Zirkeln alltäglich ist, denen seine Exklusivität ausweicht.
Nichts aber könnte die Absurdität solcher Besorgnisse grel-
ler ins Licht stellen als der Gegenstand der Kontroverse.
Das Bildungserlebnis des Infanten ist weder von George
noch von Hofmannsthal zuerst gemacht worden: es stammt
von Baudelaire19. Kalkulationen solcher Art sind es, die Soli-
darität ausschließen und noch solidarische Handlungen wie
das publizistische Eintreten des einen für den anderen be-
lasten. Hofmannsthal hat zwar wiederholt über George, nie
aber dieser über jenen geschrieben, obwohl der Vorwurf
mangelnder Solidarität stets vom Älteren ausgeht. Einmal
ist es beinahe soweit gewesen, aber die vorweg aufgebrachte
Mitteilung über den Plan, die implizit Hofmannsthal seinen
Ruhm vorwirft, läßt keinen Zweifel daran, warum Georges
Essay nie zustande kam. »Ich sinne seit einiger zeit an einem
aufsatz über Sie - doch werde ich mir zur Veröffentlichung
ein großes ausländisches blatt aussuchen müssen — wo
künstlerische ereignisse überhaupt als ereignisse gelten - Ich
rede nicht über Sie nachdem alle wilden volksstämme alle
gold- und gewürz-händler zu wort gekommen sind.« Im
Zerfall der Freundschaft Georges mit Hofmannsthal setzt
der Markt sich durch, in dessen Negation ihre Lyrik ent-
springt : die sich gegen die Erniedrigung durch Konkurrenz
wehren, verlieren sich als Konkurrenten.
George stand weniger naiv zum Markt als Hofmannsthal.
19 »Je suis comme le roi d'un pays pluvieux, / Riche, mais impuissant, jeune et
pourtaat très
vieux,« Das Gedicht ist von George übersetzt.
213
213
Aber er stand kaum weniger naiv zur Gesellschaft. So han-
delt er dem Markt als Phänomen entgegen, ohne an dessen
Voraussetzungen zu rühren. Er möchte die Dichtung von
der Nachfrage des Publikums emanzipieren und gleichwohl
in einem sozialen Zusammenhang verbleiben, den er später
mit Worten wie Bund und Held, Volk und Tat mythologi-
siert hat. Sich der »rücksicht auf die lesende menge« ent-
heben, heißt ihm, durch eine Technik der Beherrschung, die
der artistischen aufs engste verknüpft ist, die lesende Menge
in eine von Zwangskonsumenten verwandeln. Daher seine
ambivalente Stellung zum Erfolg. Der Entwurf eines ver-
lorengegangenen Briefes an Hofmannsthal enthält die Sätze:
»Keinesfalls beginne ich eh ich vertragsmäßig mit allen über
lieferung und belohnung format und haltung mich geeinigt
habe, das ist bei einigen meiner freunde unnötig bei andern
jedoch umsomehr. Nichts zufälliges darf dazwischentreten
was den erfolg verhindern könnte, denn wie Sie wissen ist
keinen erfolg zu suchen: groß - ihn suchen und nicht haben
unanständig. «20 Die Verachtung des Erfolgs bezieht sich bloß
auf den Marktmechanismus, der die Konkurrierenden Fehl-
schlägen aussetzt. Erfolg wird angestrebt unter Umgehung
des Marktes. Die Größe, die sich stolz dazu bescheidet, ihn
nicht zu suchen, ist die des literarischen Trustmagnaten, als
20 Der Briefentwurf ist von 1897. Damals erschien das Jahr der Seele. Man mag die Wendung
vom Buch der Hängenden Gärten zum Jahr der Seele mit dem Gedanken an die Technik des
Erfolgs wohl in Zusammenhang bringen. Die Wendung hat ihr Vorbild an Verlaine, dem das
Jahr der Seele Entscheidendes verdankt. Der Titel »Traurige Tänze«, Gedichte wie »Es winkte
der abendhauch« mit den Schlußzeilen: »Meine trübste stunde / Nun kennst du sie auch« sind
ohne Verlaine nicht zu denken. Die Lobrede aus Tage und Taten beschreibt den für George
maßgeblichen Vorgang: »Nach seinen ersten Saturnischen Gedichten, wo der jüngüng in per-
sischem und päpstlichem prunke sich berauscht, aber noch gewohnte parnassische Klänge
spielt, führt er uns in seinen eigenen rokokogarten der Galanten Feste, wo gepuderte ritte* und
geschminkte damen sich ergehen oder zu zierlichen gitarren tanzen, wo stille paare in kähnen
rüdem und kleine mädchen in versteckten gangen lustern zu den nackten marmorgöttern auf-
blicken. Über dieses leichte lockende Frankreich aber haucht er eine nie empfundene luft pei-
nigender innerlichkeit und leichenhafter Schwermut. .. Was aber ein ganzes dichtergeschlecht
am meisten ergriffen hat, das sind die Lieder ohne Worte - strofen des wehen und frohen le-
bens ... hier horten wir zum erstenmal frei von allem redenden beiwerk unsre seele von heute
pochen: wußten, daß es keines kothurns und keiner maske mehr bedürfe und daß die einfache
flöte genüge um den menschen das tiefste zu verraten. Eine färbe zaubert gestalten hervor, in-
des drei spärliche striche die landschaft bilden und ein schüchterner klang das erlebnis gibt.«
Die Wendung besteht im Versuch, dem Interieur zu entweichen und die »landschaft als haus«
zu betreten. Sie involviert die äußerste Vereinfachung der Mittel: die Sprache des ganz Ein-
samen tönt als Echo der vergessenen Sprache aller. Diese Vereinfachung eröffnet nochmals die
Lyrik einem Leserkreise: der ganz Einsame aber ist der Diktator derer, die ihm gleichen (cf.
Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, Schriften I, Frankfurt 1935, S. 426 ff).
214
den George sich früher konzipierte, als ihm zumindest die
deutsche Wirtschaft die Modelle beistellen konnte: »Ich war
des festen glaubens dass wir • Sie und ich • durch jähre in
unsrem Schrifttum eine sehr heilsame diktatur hätten üben
können • dass es dazu nicht kam dafür mach ich Sie allein
verantwortlich.« Schwer nur können Diktatoren Fehler be-
gehen. Die gefährlich leben, haben die wahre Sekurität.
Ihnen ist auf längere Frist die Unanständigkeit des Fehl-
schlags erspart. Mit der Hellsichtigkeit des Hasses hat Bor-
chardt in der Polemik gegen das >Jahrbuch für die geistige
Bewegung < die monopolistischen Züge der Georgeschen
Schule getroffen: »Das Zentralblatt für die deutschen In-
dustriellen muß verkünden, daß wirtschaftliche Kraft nur
frei werde, wo der Mensch sich dem Menschen um des Men-
schen willen verbinde, daß der Eigenbrötler sich über den
wirtschaftlichen Ruin nicht beklagen solle, und dergleichen
mehr . . . Die Freunde des Herrn Wolfskehl machen diese
Not nicht sowohl zur Tugend als zum Dogma von der ver-
ödenden und verschrumpfenden Wirkung dessen, was sie
strafend >Vereinzelung < nennen, und variieren Schillers Hel-
denwort in ihr Modernes: >Der Starke ist am mächtigsten
im Kreis<, im Syndikat der Seelen.«21 Konkurrenz wird in
die Herrschaft überzuführen gesucht, und ans Konkurrenz-
motiv wird zynisch appelliert, wenn die Herrschaft es ver-
langt. 1896 trägt George Hofmannsthal die Mitredaktion der
>Blätter für die Kunst < an. Dem verleiht er Nachdruck durch
die Worte: »Da es sich hier um ein ernsthaftes zusammen-
wirken aller kräfte dreht so wäre Ihre gelegentliche mit-
arbeiterschaft (die Sie wol anbieten könnten) bedeutungslos.
Ihre stelle müssen wir alsdann durch einen andren auszu-
füllen trachten, doch will ich an diesen schweren Verlust
lieber nicht denken.«
Die >Blätter für die Kunst < machen den sinnfälligen Ge-
genstand der Differenz Georges und Hofmannsthals aus. Im
Verhalten der beiden zu den Blättern und deren Partei22 of-
21 Borchardts Kritik hat der Georgeschen Schule gegenüber den Standpunkt des Ultrarechten
eingenommen. Er erlaubt zuweilen materialistische Durchblicke. Der bedeutende Aufsatz über
die toskanische Villa entwickelt diese als Kunstform aus den ökonomischen Voraussetzungen
der Pachtherrschaft.
22Aber auch in anderen Sphären, von der Bayreuther Runde bis zu den Psychoanalytikern,
haben sich um die gleiche Zeit sektenbafte Gruppen formiert. Bei divergierendem Inhalt zeigen
215
fenbart sich eine wahre Antinomie. Sie hat später im eigent-
lich politischen Bereich sich durchgesetzt an Stellen, von
denen beide Autoren sich nichts träumen ließen. Hofmanns-
thal teilt 1893 Klein mit: »Einen Aufsatz über die >Blätter<
in einem Tagesblatt zu schreiben, ist mir nicht sehr genehm:
in den bisherigen Heften steht für meinen Geschmack 1. zu
wenig wirklich wertvolles, 2. zu viel von mir. Beides müßte
meine Reden so einschränken, daß ich vorziehe, zu schwei-
gen.« Der Hintergrund dieser Äußerung wird in einem
früheren Brief Hofmannsthals an Klein aufgedeckt: »über-
haupt befremdet mich Ihr Vorschlag, in einem andern öf-
fentlichen Blatt unser Unternehmen zu besprechen, aufs
höchste. Wozu? warum dann nicht gleich meine Sachen wo
anders unter Fremden abdrucken lassen? dann habe ich of-
fenbar das ganze Wesen der Gründung falsch verstanden.
Ich habe absolut keine Angst davor, mich zu >compromit-
tieren< und ich bin in künstlerischen Dingen durch keine
Rücksicht und Verbindung gehemmt. Aber bitte, sagen Sie
mir klar, was Sie wollen und wozu Sie es wollen.« Es geht
dialektisch genug zu: Georges Exklusivität drängt als dikta-
toriale auf öffentliche, selbst journalistische Stellungnahme
und hebt damit virtuell sich selber auf: das aber erlaubt Hof-
mannsthal, sich eben auf die verletzte Esoterik zu berufen
und seine Sachen »wo anders unter Fremden«, also vollends
unter Preisgabe der Esoterik, drucken zu lassen. Die Furcht,
sich zu kompromittieren, die er verleugnet, bestimmt sein
Verhalten: sich zu kompromittieren nicht sowohl, indem er
sich mit der kommerziellen Öffentlichkeit einläßt, als viel-
mehr, indem er es mit ihr verdirbt. Seine Isolierung im Kreis
der Blätter macht ihn zum verständnisvollen Sprecher des
profanum vulgus, gegen den die Blätter gegründet waren:
»Wonach es mich verlangt ist nicht sosehr, dreinzureden,
als minder spärliches zu erfahren. Ich berechne nach meiner
mangelnden Einsicht in Vieles die fast vollständige Rat-
losigkeit des Publicums einem so fremdartigen und herb-
wortkargen Unternehmen gegenüber.« Die Aversion des
sich auffallende Übereinstimmungen im Bau. Gemeinsam ist ihnen ein mehrdeutiger Begriff
von Reinigung und Erneuerung, der die Resistenz gegen das Bestehende vortäuscht und zu-
gleich vereitelt. Politische Solidarität wird vom Glauben an die Panazee ersetzt. Die Realitäts-
gerechtigkeit solcher Katharsis bewährte sich im Guerillakrieg der Konkurrenz ebenso wie im
Einparteiensystem.
216
Publikums hat Hofmannsthal durch kritische Einsicht über-
boten. Mit seiner Ablehnung nicht bloß der schlechten Ge-
dichte, die die Blätter füllten, sondern auch der Nachahmer
Georges selber hielt er nicht hinterm Berge. Noch zu den
höflicheren rechnet eine Formulierung wie: »Hätten Sie die
Freunde und Begleiter die Sie verdienen, wieviele Freude
würde dadurch auch auf mein Theil kommen.« Wie es mit
den Blättern bestellt war, hat George fraglos so gut gewußt
wie Hofmannsthal. Er konnte diesem den Vorwurf der ge-
ringen literarischen Qualität seiner Freunde bequem zu-
rückgeben, nur daß mit diesen Hofmannsthal niemals eben-
so verbindlich sich eingelassen hatte wie George mit seinen
Mitarbeitern. Aber George hat sich damit nicht begnügt:
»Ich halte nun meine ansieht der Ihrigen gegenüber die alle
mitarbeit außer der Ihren und meinen ablehnt. Gar nicht zu
reden von ausländern wie Lieder • Verwey begreife ich nicht
wie Sie an künstlern und denkern wie z. B. Wolfskehl und
Klages vorüber gehen konnten. - die dunklen gluten des
Einen wie die scharfe ebnenluft des andern sind so einzig
so urbedingt dass ich aus Ihrem kreis (soweit er sich geoffen-
bart hat) niemanden auch nur annähernd mit ihnen verglei-
chen dürfte . . . Reden Sie aber von den kleineren Sternen —
so ist es leicht das urteil zu fällen das sie selber kannten —
doch befinden Sie sich in großem irrtum wenn Sie dort die
von Ihnen angeführte unehrlichkeit und falsche abgeklärt-
heit wittern - es sind alle menschen von guter geistiger
zucht mit denen Sie wenn Sie sie kennten • aufs schönste le-
ben würden • sich wie geniusse geberden - thaten sie nie,
sondern gerade diejenigen die sie den unsren gegenüber in
schütz nahmen ... In den >Blättern< weiß jeder was er ist •
hier wird der scharfe unterschied gezeigt zwischen dem ge-
borenen werk und dem gemachten • hasser der >Blätter< ist
jeder, dem es darum zu thun ist diesen unterschied zu ver-
wischen . . . Wenn aber Sie mir erklärten dort nur eine an-
sammlung mehr oder minder guter verse zu sehen - und
nicht das Bauliche (construktive) von dem freilich heut nur
die wenigsten wissen - so würden Sie mir eine neue große
enttäuschung bringen.« Das Konstruktive umschließt eben-
so die Gleichschaltung der Beherrschten wie die Einheit der
bewußt tradierten Technik: Unterdrückung und Steigerung
217
der Produktivkraft. Hofmannsthal sieht das Unterdrückende,
hat aber dagegen nichts aufzubieten als kurrente Ansichten
von Tradition und Individualität: »ich würde vieles wert-
volle, dem Individuum homogene an Formen, Beziehungen,
Einsichten dadurch gegen Flacheres eintauschen«. Beide
sind gegeneinander im Recht. George wittert in Hofmanns-
thals für sich Stehen »die ausgespitztheit die sofort aus der
milchstraße butter machen und für die jeweiligen markt-
bedürfnisse herrichten will«; Hofmannsthal enthüllt dafür
das Pseudos des kommandierten, der Spontaneität entäußer-
ten Kollektivs und das Verhängnis des »Ordinären«, dem
kein solches Kollektiv entrinnt. Der Einzelgänger und der
Organisierte sind gleich bedroht, dem Bestehenden zu ver-
fallen; jener durch die eigene Ohnmacht, die trügerisch sich
als Maß installiert und real der feindlichen Macht das Recht
überläßt; dieser durch die Macht, der er gehorcht und die
das gleiche Unrecht, dem widerstanden werden soll, in die
Reihen der Widerstehenden trägt. Denn beide müssen in der
Welt des universalen Unrechts leben. Bis in die Sprache hin-
ein ist Georges Haltung von ihr stigmatisiert. In den Tagen
des ursprünglichen Konflikts fordert er Hofmannsthal her-
aus: »Wie lange noch das versteckspiel? Wenn Sie frei re-
den wollen (was nun auch meine absieht ist) so lade ich Sie
ein noch einmal auf neutralem gebiet zu erscheinen. Ihr
Brief der ja auch so diplomatisch war - aber war es meine
schuld daß Sie gerade in jenes unglückl. cafe kamen . . .«
Wie später die Rede von Verträgen, so bläht hier die von
neutralem Gebiet und Diplomatie das Private zum Allge-
meinen auf, als wäre es politisch relevant. Das aber reflek-
tiert die Zeitung, die das Allgemeine, politisch Bedeutsame
dem Privaten zuträgt. Leicht könnte das esoterische Pathos
in der Waren weit entspringen: die Würde des Einzelnen
ist der der Schlagzeilen abgeborgt. Georges ausgreifende
Gebärde hat die Naivetät dessen, der mit den großen Wor-
ten sich bekleidet, ohne zu erröten. Er vermag keine Sache,
und wäre es die privateste, je anders denn als öffentliche an-
zuschauen. Seine literarische Strategie stammt von verirr-
ten politischen Impulsen.
Einmal jedenfalls haben diese Impulse an ihrem wahren
Objekt sich bewährt. 1905 hat Hofmannsthal im Namen des
218
von ihm selbst, in einigen Briefen an Bodenhausen, höchst
kritisch beurteilten Grafen Harry Kessler sich zum Sprach-
rohr jenes schillernden Pazifismus der ruling class gemacht,
der teleologisch schon die Attitüde derer in sich trug, die
später während der Okkupation von Paris sich aufführten,
als wäre sie vom Penklub arrangiert, damit sie mit den fran-
zösischen Kollegen bei Prunier speisen könnten. George
sollte mittun. Hofmannsthals Brief, Weimar, 1. Dezember
1905 datiert, lautet:
Mein lieber George,
ich werde gebeten, zu einem sehr ernsthaften und über das
Persönliche hinausgehenden Zwecke an Sie zu schreiben.
Die furchtbare nicht auszudenkende Gefahr eines englisch-
deutschen Krieges - wenn auch im Sommer beschworen -
ist näher, fortdauernd näher als die zeitungsschreibenden
und die meisten der politikmachenden Individuen sich ah-
nen lassen. Die wenigen, die diesseits die Ernsthaftigkeit der
Situation kennen, und die wenigen, die jenseits dem drohen-
den Losbrechen sich entgegenstemmen wollen, haben - wis-
send wieviel Gewalt in solchen Epochen die imponderabilia
in sich tragen - sich geeinigt, offene Briefe zu wechseln, je-
derseits unterschrieben von vierzig bis fünfzig der absolut
ersten Namen des Landes (mit Ausschluß von Berufspoliti-
kern). Der englische offene Brief (unterschrieben von Lord
Kelvin, George Meredith, A. Swinburne usw.) wird an die
Herausgeber der deutschen Journale gerichtet sein, der
deutsche an die englischen (da die Journale die eigentlichen
Pulverfässer sind). Man bittet ganz ausnahmsweise und
wohl wissend, wie wenig Sie Publizität lieben, um Ihren
Namen, während man sich z. B. nicht mit der Absicht trägt,
den des bekannten Sudermann aufzunehmen. Man wünscht
in dieser tiefernsten Angelegenheit durchaus die ernsthafte-
sten geistigen Kräfte der Nation zu vereinigen. Wenn es
Ihnen gefällt, den beigelegten Brief zu unterzeichnen, so
senden Sie ihn dann bitte innerhalb zehn Tagen zurück an
Harry Graf Kessler, Weimar, Cranachstraße 3.
Ihr Hofmannsthal.
Die Musterkollektion der »absolut ersten Namen«, der
Ausschluß des unseligen Sudermann, der dazu herhalten
muß, die Zugelassenen im Gefühl ihrer Superiorität zu be-
219
stärken, und das vage »Man«, das hinter der Wichtigmache-
rei gewaltige Mächte suggeriert, die so erhaben sind, daß ihr
Beauftragter vor eitel Respekt sie nicht zu nennen wagt - all
das hat soviel Stil wie die Josefslegende. George hat das un-
würdige Schriftstück nicht beantwortet. Aber ein Entwurf
zur Antwort ist erhalten geblieben und in den Briefwechsel,
unterm Druck des Hitlerregimes ohne den wichtigsten Satz,
nun vollständig aufgenommen worden:
»Käme diese Zuschrift nicht von einem dessen verstand
ich aufs höchste bewundre: so würd ich sie für einen scherz
halten, wir treiben doch weder mit geistigen noch mit greif-
baren dingen handel von hüben nach drüben, was soll uns
das? und dann: so einfach wie diese Zettel vermelden liegen
die Verhältnisse doch nicht, krieg ist nur letzte folge eines
jahrelangen sinnlosen draufloswirtschaftens von beiden
sehen, das Verklebmittel einiger menschen däucht mir ohne
jede Wirkung, und noch weiter gesehen: wer weiß ob man
als echter freund der Deutschen ihnen nicht eine kräftige
Seeschlappe wünschen soll damit sie jene völkische
beschei-
denheit wieder erlangen, die sie von neuem zur erzeugung
geistiger werte befähigt. Ich hätte mit größerer gelassenheit
erwidert wenn sich nicht die trauer darüber einstellte daß es
kaum noch einen punkt zu geben scheint wo wir uns nicht
mißverstehen.«
Kurz danach bot eine Verlagsangelegenheit den Anlaß
zur endgültigen Entzweiung.
Daß George den Zusammenhang internationaler Betrieb-
samkeit und imperialistischer Ambitionen durchschaut; daß
der spätere Emigrant damals schon Worte über Deutschland
findet, die seinem eigenen Kreis blasphemisch klingen muß-
ten; ja, daß er ohne theoretische Einsicht in Gesellschaft den
objektiven Zwang wahrnimmt, der zum Krieg treibt - all
das wird nicht mit seinem von Borchardt notierten »bedeu-
tenden Weltverband« hinreichend erklärt. Vielmehr ist seine
Erkenntnis kraft dem dichterischen Gehalt zuzuschreiben.
In der Arbeiterbewegung ist es zumal seit Mehring üblich,
die auf die unmittelbare Abbildung des gesellschaftlichen
Lebens gerichteten Tendenzen der Kunst, naturalistische
und realistische, dem Fortschritt zuzurechnen und die ihnen
entgegengesetzten der Reaktion. Wer nicht Hinterhöfe,
220
werdende Mütter und neuerdings Prominenzen darstellt, sei
Mystiker. Solche Stempel mögen das Bewußtsein der zen-
sierten Autoren zuweilen treffen. Aber die Insistenz auf der
Wiedergabe des gesellschaftlich Unmittelbaren teilt die
empiristische Befangenheit der bekämpften Bürger. Die
Tauschgesellschaft treibt ihre Kinder dazu, unablässig
Zwecke zu verfolgen, stur auf sie hin zu leben, die Augen
von dem Vorteil aufgezehrt, nach dem man schnappt, ohne
nach rechts und links zu blicken. Wer aus seinem Weg geht,
dem droht der Untergang. Die zwangshafte Unmittelbarkeit
hindert die Menschen daran, bewußt eben den Mechanismus
zu erkennen, der sie verstümmelt: er reproduziert sich in
ihrem fügsamen Bewußtsein. Dies Bewußtsein wird in dem
Postulat der Anschauung und Abbildung des Unmittelbaren
- mit ihrem Komplement, der fetischisierten Theorie, die
man durch Treue verrät - hypostasiert. Der Realist, der
literarisch aufs Handgreifliche sich eingeschworen weiß,
schreibt aus der Perspektive des Hirnverletzten, dessen Re-
gungen nicht weiter reichen als die Reflexe auf Aktions-
objekte. Er tendiert zum Reporter, der den sinnfälligen Be-
gebenheiten nachjagt, wie Wirtschaftskonkurrenten dem
geringsten Profit. Solcher Promptheit sind die als Luxus ver-
pönten literarischen Gebilde entzogen. Heute vollends ist
mit dem längst staatsfrommen sozialistischen Realismus kein
Staat mehr zu machen. Selbst an den Konservativen George
und Hofmannsthal indessen träfe die Rede von der Flucht vor
der Realität kaum die halbe Wahrheit. Zunächst kehrt beider
Werk pointiert sich wider die mystische Innerlichkeit:
»Schwärmer aus zwang weil euch das feste drückt / Sehner
aus not weil ihr euch nie entfahrt / Bleibt in der trübe schuld-
los . . . die ihr preist - / Ein schritt hinaus wird alles dasein
lug!« In Hofmannsthals >Gesprächen über Gedichte<, seiner
verbindlichen Äußerung zu Georges Lyrik, bemüht er sich
um die Theorie dazu: »Wollen wir uns finden, so dürfen wir
nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu
finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen spannt sich
unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir
besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es
flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.«
Wie der nachkonstruierende Empiriokritizismus in der
221
reinen Immanenz der Subjektivität zur Verneinung des Sub-
jekts und zum zweiten naiven Realismus gelangt, so ver-
löscht Innerlichkeit in Hofmannsthals Konzeption. Ist aber
das Geheimnis der Symbolisten nicht sowohl eines von
Innerlichkeit als von Metier, so geht es gewiß nicht an, ihnen
anstandslos als »Formalisten« technisch fortschrittliche
Funktion zuzumessen, die mit reaktionären Inhalten ver-
koppelt seien. Viele Progressive haben das grobschlächtige
Form-Inhalt-Schema vom Positivismus auf die Kunst über-
tragen, als sei deren Sprache jenes ablösbare Zeichensystem,
das sie schon in Wissenschaften nicht ist. Selbst wenn sie
recht hätten jedoch, fiele keineswegs alles Licht auf die sou-
veräne Form und alles Dunkel auf den hörigen Inhalt.
Falsch wäre es, in Lob oder Tadel George, Hofmannsthal
und den unter dem Namen Symbolismus und Neuromantik
figurierenden Bewegungen, aus denen sie hervorgegangen
sind, zu attestieren, was sie wohl selber sich attestiert hätten:
daß sie das Schöne bewahrten, während die Naturalisten vor
der Verwüstung des Lebens im Industrialismus resignierten.
Die Preisgabe des Schönen vermöchte dessen Idee mächtiger
festzuhalten als die scheinhafte Konservierung verfallender
Schönheit. Umgekehrt ist nichts an George und Hofmanns-
thal so vergänglich wie das Schöne, das sie zelebrieren: das
schöne Objekt. Es tendiert zum Kunstgewerbe, dem George
seinen Segen nicht versagt hat: wie in der Vorrede der zwei-
ten Ausgabe der Hymnen dem »freudigen aufschwunge von
maierei und Verzierung«, so in einem nicht abgesandten
Brief an Hofmannsthal von 1896: »Es macht sich in unsrem
deutschland an vielen stellen eine Sehnsucht nach höherer
kunst bemerkbar nach Jahrzehnten einer rein körperlichen
oder auch wissenschaftlichen anstrengung. Sie geht von
maierei ton und dichtung durch Verzierung und baukunst
sogar allmählich in mode und leben.« Auf dem Weg in Mode
und Leben fraternisiert die Schönheit mit der gleichen Häß-
lichkeit, der sie, die Nutzlose, den Kampf ansagte. Das Leben
der Gemeinschaft, die George sich wünschte, hat kunst-
gewerbliche Färbung: »Heut ist dies nun alles leichter zu
vergessen da unsre bestrebungen doch zu einem guten ende
geführt wurden und eine Jugend hinter uns kommt voll ver-
trauen Selbstzucht und glühendem Schönheitswunsch.« Das
222
sind die »großen und vornehmen menschen«, wie sie seit
Charcot und Monna Vanna der Familie in die Krankheit ent-
flohen. Die Depravation ins Kunstgewerbe hat mit den
Dingen die Individuen betroffen: Kunstgewerbe ist das Mal
der emanzipierten Schönheit. Sie erliegt, sobald die neu-
gewonnenen und technisch beherrschten Stoffe, beliebig
herstellbar, billig und marktfähig werden. George ist dem
Bewußtsein dessen im Schlußgedicht der Pilgerfahrten, das
zum Algabal überleitet, sehr nahegekommen. Es redet vom
Ideal des Schönen im Gleichnis der Spange: »Ich wollte sie
aus kühlem eisen / Und wie ein glatter fester streif, / Doch
war im schacht auf allen gleisen / So kein metall zum gusse
reif. / Nun aber soll sie also sein: / Wie eine große fremde
dolde / Geformt aus feuerrotem golde / Und reichem blit-
zenden gestein.« Wenn »so kein metall zum gusse reif«, in
den Bedingungen des materiellen Lebens die objektive Mög-
lichkeit des Schönen nicht angelegt war, das vielmehr »wie
eine große fremde dolde« schimärisch in der Negation des
materiellen Lebens sich öffnet, so zieht das materielle Leben
die Schimäre wiederum in sich hinein durch Imitation. Die
schlichte Spange des Kunstgewerbes, aus wohlfeilem Eisen,
stellte allegorisch jene goldene dar, die gegossen werden
mußte, weil es am rechten Eisen gebrach. Über den schimä-
rischen Charakter des Erlesenen läßt der Briefwechsel keinen
Zweifel. Es geht selber aus ökonomischen Machinationen
hervor. Georges bibliophiles Pathos hat eine Druckschrift
ersonnen, die seine Handschrift nachahmt: »Ich sende hier
neue proben des einbandes. sowie der schrift (meiner eige-
nen an deren besserung ich schon lange arbeite) ich glaube
daß sie Ihnen gefallen wird. Sie sehen daß sie meiner hand-
schrift angeglichen ist: jedenfalls ein guter weg nachdem alle
neueren Zeichner von buchstaben die bereits bestehenden
mit irgendwelchen erdachten Schnörkeln versahen • um so
vom alten loszukommen.« Das kunstgewerbliche Pseudos
des technisch Massenhaften, das als originär auftritt, ent-
springt in der Not einer Veranstaltung, die kein sachlich bin-
dendes Maß des Schönen hat, sondern nur das dürre Pro-
gramm : »vom alten loszukommen«. Die trügende Einmalig-
keit wird aber zugleich um des materiellen Wertes willen
geplant: »Erstes ziel ist unserm kreis (durch die festen ab-
223
nehmer der händler erweitert) wahrhaft schöne und dabei
erschwingliche bücher zu geben • die auch für den liebhaber
ein wesentliches: die Seltenheit nicht einbüßen dürfen • der
nachhinkende uns ganz ferne leser mag dann den erhöhten
preis zahlen . . . Einen andren weg wie den der Einzeich-
nung giebt es nicht.« Daß schon der erlesene Reiz nach
Wertbegriffen sich ausdrücken, das Einmalige sich verglei-
chen läßt; diese Abstraktheit von Malachit und Alabaster
macht das Erlesene fungibel. Doppelt entstellt ist das sym-
bolistisch Schöne: durch krude Stoffgläubigkeit und durch
allegorische Ubiquität. Auf dem kunstgewerblichen Markt
kann alles alles bedeuten. Je weniger vertraut die Stoffe,
desto schrankenloser ihre Verfügbarkeit für Intentionen.
Lange Seiten bei Oscar Wilde könnten den Katalog eines
Juweliers abgeben, ungezählte Interieurs vom fin du siecle
gleichen dem Raritätenladen. Noch George und Hofmanns-
thal zeigen rätselhaften Ungeschmack in Dingen der bilden-
den Kunst ihrer Ära. Unter den Malern, die der Briefwechsel
preist, nehmen Burne-Jones, Puvis de Chavannes, Klinger,
Stuck und der unsägliche Melchior Lechter die hervorra-
gendsten Stellen ein. Der großen französischen Malerei der
Epoche geschieht zwischen ihnen mit keinem Wort Er-
wähnung23. Wenn George in freilich ganz anderem Zu-
sammenhang mit Bedauern davon redet, daß »unsre besse-
ren geister . .. den kecken farbenkleckser nicht mehr vom
maier trennen könnten«, so ist das vom Wilhelminischen
Urteil über Impressionismus und Kloakenkunst nicht so gar
sehr verschieden. Tabuiert sind die Bilder, in denen die wah-
ren Impulse des Gedichts vom Frühlingswind oder der Eis-
landschaften des Jahres der Seele sich verwirklichen. Bejaht
werden abbildlich treue Idealgestalten, schöne Wesen im ero-
tischen Geschmack der Zeit, welche die erhabenen Bedeu-
23 Nochmals ist an Marie Bashkirtseff zu erinnern. Sie war ohne die leiseste Beziehung zur
avancierten Kunst. Ihr malerischer Horizont war durch den Salon bestimmt; bewundert hat sie
Bastien-Lepage. Ihre Bilder sind wie frühe Ansichtskarten. Mit jener Offenheit, die dem Ge-
ständniszwatlg gleichkommt und die zumal die gesunde Erfolgsgier der Kranken preisgibt,
charakterisiert sie sich gelegentlich selber als rohe und rignorante Barbarin. Ihr Urteil über be-
suchte Kunststätten ist das der Bildungsreisenden; zur Wahrnehmung von Nuancen ist sie un-
fähig, da sie alles, was ihr begegnet, brutal ihrem Geltungsinteresse subsumiert. Das hat
nicht verhindert, daß die Mischung von Machtkult, Naivetät und Morbidezza, die sie zur
Schau stellt, sie Zur Heroine einer Bewegung machte, mit der sie sachlich nichts gemein-
sam hat.
224
tungen auf sich nehmen, ohne daß die autonome peinture
der allegorischen Absicht im Wege stünde. Verkannt wird
nichts Geringeres als das Formgesetz, dem die eigene Dich-
tung untersteht.
Diesem Formgesetz aber entzieht George sich späterhin
um so vollkommener, je mehr er die Stoffe Deutungen unter-
wirft, um sich vom Vorwurf des Ästhetizismus zu reinigen.
In seiner Jugend war er noch so gleichgültig gegen den Sinn
wie der Rimbaud der Voyelles: »Den einen fehler >sangen<
st. saugen brauchen Sie nicht zu bedauern denn er verschlim-
mert nichts, es paßt auch sehr gut.« Der wahre Symbolismus
ist ein lucus a non lucendo. In Hofmannsthals Georgedialog
meint der Schüler von der Sprache: »Sie ist voll von Bil-
dern und Symbolen. Sie setzt eine Sache für die andere.«
Hofmannsthal weist ihn zurecht mit den Worten: »Welch
ein häßlicher Gedanke! Sagst du das im Ernst? Niemals
setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade
die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu
setzen, mit einer ganz anderen Energie als die stumpfe All-
tagssprache, mit einer ganz anderen Zauberkraft als die
schwächliche Terminologie der Wissenschaft. Wenn die
Poesie etwas tut, so ist es das: daß sie aus jedem Gebilde der
Welt und des Traumes mit durstiger Gier sein Eigenstes,
sein Wesenhaftes, herausschlürft.« Und auf den Einwand:
»Es gibt keine Symbole?« — »Oh, vielmehr, es gibt nichts als
das, nichts anderes.« Mit dem intentionsfremden Stoff die
in konventionellen Bedeutungen verhärtete Realität aufzu-
sprengen, ist das Desiderat: zu den frischen Daten flüchtet,
was sein könnte, daß es von keiner geläufigen Kommunika-
tion hinabgezogen werde in den Kreis dessen, was ist. Durch
jeden deutenden Zugriff über die bloßen Stoffe hinaus kom-
promittiert sich diese Dichtung: mit dem Engel des Vor-
spiels triumphiert Melchior Lechter. Schuld daran aber trägt
nicht Georges besondere Verblendung. Was er den reinen
Stoffen zutraute, konnten diese nicht bewähren. Als abstrakte
Relikte der Dingwelt so gut wie als »Erlebnis« des Subjekts
gehören sie eben jenem Umkreis an, dem man sie entrückt
meinte. Ironisch bleibt Hofmannsthal im Recht: das Un-
symbolische verkehrt notwendig sich ins Allsymbolische.
Zwischen den reinen Lauten Rimbauds und den edlen Mate-
225
rialien der Späteren ist darin kein Unterschied. Wohl mag
man den frühen ästhetischen George real nennen und
schlecht ästhetisch den späten realen: dennoch ist die-
ser in jenem mitgesetzt. Die Schönheit, aus deren blinden
Augen grelle Preziosen blicken, enthält schon die Ideo-
logie vom »Jungen Führer im ersten Weltkrieg«, die
das Geschäft zudeckt, von dessen Fluch der Zauber be-
freien sollte. Die Preziosen empfangen ihren Wert aus
der Mehrarbeit. Das Geheimnis der intentionslosen Stoffe
ist das Geld. Baudelaire ist allen, die ihm folgten, über-
legen darum, weil er an keiner Stelle jener Schönheit als
positiver und unmittelbarer sich zugeneigt hat, sondern
bloß als unwiederbringlich verlorener oder in äußerster
Verneinung. Ihm ist Satan, der vom Schicksal verratene
deus absconditus, »le plus savant et le plus beau des Anges«;
ihn betrübt nicht der rosige Engel des schönen Lebens, zu
dessen Fidusbild Schönheit selber in George sich hergibt.
Durch sie kommuniziert George mit den realistischen Ab-
bildnern.
Was ihn zu dieser Schönheit zog, war nicht vorab der
dichterische Formwille, sondern ein Inhaltliches. Wie ein
Schibboleth wird der Gegenstand unter Anrufung seiner
Schönheit dem drohenden Verderben entgegengehalten. Die
Korrespondenz mit Hofmannsthal gibt dafür ein merkwür-
diges Beispiel. Es handelt sich um die Publikation des Tod
des Tizian in den Blättern für die Kunst: »die lesezeichen wo
unbeabsichtigt weggelassen vervollständigte ich in Ihrem
sinn . . . und dann auf eigene faust (es war so wenig zeit) in
der anmerkung >da Tizian 99Jährig an der pest starb< das be-
strichene, damit brachten Sie eine schädliche luft in Ihr werk
und augenscheinlich ungewollt.« Demnach könnte die bloße
Erwähnung der Pest im Kunstwerk diesem Schaden tun und
nicht diesem allein. Die Magie krampfhafter Schönheit be-
herrscht den Symbolismus. Hofmannsthal sucht im George-
dialog das ästhetische Symbol als Opferritual zu fassen:
»Weißt du wohl, was ein Symbol ist? . . . Willst du ver-
suchen dir vorzustellen, wie das Opfer entstanden ist? .. .
Mich dünkt, ich sehe den ersten, der opferte. Er fühlte, daß
die Götter ihn haßten . . . Da griff er, im doppelten Dunkel
seiner niedern Hütte und seiner Herzensangst, nach dem
226
scharfen krummen Messer und war bereit, das Blut aus seiner
Kehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zur
Lust. Und da, trunken vor Angst und Wildheit und Nähe
des Todes, wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmal
im wolligen warmen Vließ des Widders. - Und dieses Tier,
dieses Leben, dieses im Dunkel atmende, blutwarme, ihm
so nah, so vertraut - auf einmal zuckte das Messer in die
Kehle, und das warme Blut rieselte zugleich an dem Vließ
des Tieres und an der Brust, da den Armen des Menschen
hinab: und einen Augenblick lang muß er geglaubt haben,
es sei sein eigenes Blut; einen Augenblick lang, während ein
Laut des wollüstigen Triumphes aus seiner Kehle sich mit
dem ersterbenden Stöhnen des Tieres mischte, muß er die
Wollust gesteigerten Daseins für die erste Zuckung des
Todes genommen haben: er muß, einen Augenblick lang,
in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihn
sterben . . . Das Tier starb hinfort den symbolischen Opfer-
tod. Aber alles ruhte darauf, daß auch er in dem Tier gestor-
ben war, einen Augenblick lang . . . Das ist die Wurzel aller
Poesie . . . Er starb in dem Tier. Und wir lösen uns auf in den
Symbolen. So meinst du es?« - »Freilich. Soweit sie die
Kraft haben, uns zu bezaubern.« Diese blutrünstige Theorie
des Symbols, welche die finsteren politischen Möglichkeiten
der Neuromantik einbegreift, spricht etwas von ihren eigent-
lichen Motiven aus. Angst zwingt den Dichter, die feind-
lichen Lebensmächte anzubeten: mit ihr rechtfertigt Hof-
mannsthal den symbolischen Vollzug. Im Namen der Schön-
heit weiht er sich der übermächtigen Dingwelt als Opfer. Ist
aber der Primitive, dem Hof manns thal die Ideologie beistellt,
nicht wirklich gestorben, sondern hat das Tier geschlachtet,
so ist dafür das unverbindliche Opfer des Modernen um so
drastischer zu nehmen. Er möchte sich retten, indem er sich
wegwirft und zum Mund der Dinge macht. Die von George
und Hofmannsthal urgierte Entfremdung der Kunst vom
Leben, die die Kunst zu erhöhen gedenkt, schlägt in gren-
zenlose und gefügige Nähe zum Leben um. Symbolismus ist
in Wahrheit nicht darauf aus, alle Stoffmomente sich als
Symbole eines Inwendigen zu unterwerfen. Eben an dieser
Möglichkeit verzweifelt man und proklamiert, das Absur-
dum, die entfremdete Dingwelt selber, in ihrer Undurch-
227
dringlichkeit fürs Subjekt, verleihe diesem Weihe und Sinn,
wenn nur das Subjekt in die Dingwelt sich auflöse. Nicht
länger weiß sich Subjektivität als das beseelende Zentrum
des Kosmos. Sie überliefert sich jenem Wunderbaren, das
geschähe, wenn die bloßen sinnverlassenen Stoffe von sich
aus die verlöschende Subjektivität beseelten. Anstatt daß
die Dinge als Symbole der Subjektivität nachgäben, gibt
Subjektivität nach als Symbol der Dinge, bereit, in sich
selber schließlich zu dem Ding zu erstarren, zu dem sie von
der Gesellschaft ohnehin gemacht wird. So ist denn der arg-
losen Zutraulichkeit des früheren Rilke gerade das Wort
Dinge zur kultischen Formel geworden. Solche Angst mel-
det Erfahrungen von der Gesellschaft an, die dem unmittel-
baren Blick auf diese verwehrt sind. Sie beziehen sich auf die
Komposition des Individuums. Ehmals forderte Autonomie,
daß die unverbrüchliche Äußerlichkeit des Objekts durch
Aufnahme in den eigenen Willen überwunden werde. Der
wirtschaftlich Konkurrierende bestand, indem er die Schwan-
kungen des Marktes, wenn er schon nichts darüber ver-
mochte, bewußt vorwegnahm. Der Dichter der Moderne
läßt von der Macht der Dinge sich überwältigen wie der
Outsider vom Kartell. Beide gewinnen den Schein der Seku-
rität: der Dichter jedoch auch die Ahnung ihres Gegenteils.
Die »Chiffren, welche aufzulösen die Sprache ohnmächtig
ist« - nämlich die, welche sich in der Signifikation ihrer
Gegenstände erschöpft -, werden Hofmannsthal zum Mene-
tekel. Die Entfremdung der Kunst vom Leben ist doppelten
Sinnes. In ihr liegt nicht bloß, daß man mit dem Bestehenden
sich nicht einlassen will, während die Naturalisten immerzu
in Versuchung sind, die von ihnen mit zärtlich-scharfen
Künstleraugen gesehenen Abscheulichkeiten als einmal so
seiende zu bejahen. Nicht weniger haben George und Hof-
mannsthal mit der Ordnung sich encanailliert. Aber eben als
mit einer entfremdeten. Die veranstaltete Entfremdung ent-
hüllt so viel vom Leben, wie nur ohne Theorie sich enthüllen
läßt, weil das Wesen die Entfremdung selber ist. Die anderen
stellen die kapitalistische Gesellschaft dar, aber lassen die
Menschen fiktiv so reden, als ob sie noch miteinander reden
könnten. Die ästhetischen Fiktionen sprechen den wahrhaf-
ten Monolog, den die kommunikative Rede bloß verdeckt.
228
Die anderen erzählen Begebenheiten, als ob vom Kapitalis-
mus sich noch erzählen ließe. Alle neuromantischen sind
letzte Worte24. Die anderen bedienen sich der Psychologie
als Klebemittels zwischen Innen und entfremdetem Außen,
einer Psychologie, die an die gesellschaftlichen Tendenzen
des Zeitalters nicht heranreicht, während sie zugleich, nach
einer Bemerkung Leo Löwenthals, hinter der wissenschaft-
lich entwickelten seit dem Ende des neunzehnten Jahrhun-
derts zurückbleibt25. Anstelle der Psychologie tritt bei ihren
ästhetischen Gegnern das unauflösliche Bild, das — wie sehr
auch der Transparenz entratend - doch die Kräfte designiert,
die zur Katastrophe treiben. Es ist die Konfiguration dessen,
wovon die Psychologie nur abgeleitete und zerstreute
Kunde gibt, so wie die Individuen, mit denen sie sich ein-
läßt, selber nur Ableitungen des geschichtlich Wirklichen
sind. Baudelaires Petites Vieilles, noch Georges Täter oder
»Ihr tratet zu dem herde« stehen der Einsicht ins Zusammen-
bruchgesetz näher als die unverdrossene Beschreibung von
Slums und Bergwerken. Tönt in dieser dumpf das Echo des
historischen Stundenschlags, so wissen jene Gedichte, was
die Stunde geschlagen hat. In diesem Wissen und nicht im
unerhörten Gebet zur Schönheit entspringt die Form: im
Trotz. Die leidenschaftliche Bemühung um sprachlichen
Ausdruck, der bannend das Banale fernhält, ist der sei's auch
hoffnungslose Versuch, das Erfahrene dem tödlichsten
Feind zu entziehen, der ihm in der späten bürgerlichen Ge-
sellschaft heranwächst: dem Vergessen. Das Banale ist dem
Vergessen geweiht; das Geprägte soll dauern als geheime
Geschichtsschreibung. Daher die Verblendung gegen den
Impressionismus: man verkennt, daß keine Macht der Erde
mehr der Vergängnis standzuhalten vermag, die nicht auch
selber Macht der Vergänglichkeit wäre. - Der Trotz gegen
24 Der Testamentsvollstrecker war Wedekind. Sein Dialog beruht auf dem Prinzip, daß kein
Sprecher je den anderen versteht. Wedekinds Stücke sind Mißverständnisse in Permanenz.
Darauf hat erstaunlicherweise Max Halbe in seinen Memoiren hingewiesen. Die dramatischen
Personen nähern als Akrobaten den Mechanismen sich an. Sie können bereits nicht mehr spre-
chen - daher das tiefe Recht des Wedekindschen Papierdeutschs -, wissen es aber noch
nicht.
25 Hofmannsthal, der mit Schnitzler befreundet war, hat der Psychoanalyse Interesse entge-
gengebracht, ohne daß sie doch in seine Werke eingegangen wäre. Vom psychologischen Ro-
man hat er sich ferngehalten. Die Georgesche Schule vollends ist anti-psychologistisch gleich
der Phänomenologie.
229
die Gesellschaft ist einer gegen deren Sprache26. Die anderen
teilen die Sprache der Menschen. Sie sind »sozial«. Die
Ästheten sind ihnen um so weit voraus, wie sie asozial sind27.
Ihre Werke messen sich an der Erkenntnis, daß die Sprache
der Menschen die Sprache ihrer Entwürdigung ist. Die
Sprache ihnen rauben, der Kommunikation sich versagen,
ist besser als Anpassung. Der Bürger verklärt das Daseiende
als Natur und verlangt vom Mitbürger, daß er »natürlich«
rede. Diese Norm wird von der ästhetischen Affektation
umgestoßen. Der Affektierte redet, als wäre er sein Idol. Er
macht sich damit zum billigen Ziel. Alle können ihm be-
weisen, er sei ihresgleichen. Er jedoch vertritt die Utopie,
nicht man selber zu sein. Wohl üben die anderen Kritik an
der Gesellschaft. Aber sie bleiben sich so treu wie deren Vor-
stellung vom Glück der eines gesunden, wohl organisierten,
vernünftig eingerichteten Lebens. Die Utopie des Ästhetizis-
mus kündigt dem Glück den Gesellschaftsvertrag. Es lebt
von der antagonistischen Gesellschaft, einer Welt, »où l'ac-
tion n'est pas la soeur du reve«28. Noch als gemäßigte Schüler
Baudelaires haben George und Hofmannsthal das Glück dort
aufgemacht, wo es verfemt ist. Vorm Verfemten sinkt ihnen
das Erlaubte in nichts zusammen. Unnatur soll die vom
Primat der Zeugung entstellte Vielheit des Triebes wieder
herstellen, unverantwortliches Spiel den verderblichen Ernst
26 Daher die Vormacht der Übersetzung von Rossetti und Baudelaire bis George und Bor-
chardt. Sie alle suchen die eigene Sprache vorm Fluch des Banalen zu retten, indem sie sie von
der fremden her visieren und ihre Alltäglichkeit unterm Gorgonenblick der Fremdheit erstarren
lassen ; jedes Gedicht von Baudelaire so gut wie von George ist der eigenen Sprachform nach
am Idea Ider Übersetzung einzig zu messen.
27 Freilich nur um so weit; solange sie den Anstoß der »Entartung« bieten, die ihnen seit
Max Nordaus Buch vorgeworfen worden ist. Jede Wendung ins Positive ist in der Tat Verfall.
Ein Beleg für viele: das große Baudelairesche Motiv der Unfruchtbarkeit. Die Unfruchtbare
entzieht sich dem Generationszusammenhang der verhaßten Gesellschaft. Von Baudelaire wird
sie mit der Lesbierin und der Dirne gefeiert. Er vergleicht die froide majestd de la femme
sterile mit dem nutzlosen Sternenlicht, das dem Umkreis der gesellschaftlichen Zwecke entrückt
ist. Hofmannsthal übernimmt das Motiv, um es ins Staatserhaltende und zugleich Triviale zu
wenden. »Von allen diesen Dingen / Und ihrer Schönheit - die unfruchtbar war«, sagt er sich
um der Geliebten willen los. In der >Frau ohne Schatten< ist Unfruchtbarkeit ein Fluch, von
dem erlöst werden soll.
28 George übersetzt: »Ich fliehe wahrlich gerne dies geschlecht / Das träum und that sich zu
verbinden wehrte.« Die Übersetzung ist ein Verrat. Baudelaire spricht vom monde, der Ge-
samtverfassung der Wirklichkeit, die den Traum vom tätigen Handeln fernhält. George macht
daraus das »geschlecht«, als ob es sich um einen Abfall, um »Dekadenz« handelte, wo die Baude-
lairesche Revolte das Prinzip der Ordnung selber trifft. Bei George tritt an Stelle des Aufruhrs
jene »Erneuerung«, die dem »Geschlecht« allemal sich assoziiert.
230
dessen überkommen, was man bloß ist. Beide rütteln lautlos
lärmend an der Identität der Person, aus deren Mauern die
innerste Gefängniszelle des Bestehenden sich fügt. Was
immer sie der herrschenden Gesellschaft positiv kontrastie-
ren mögen, ist ihr untertan als Spiegel des Individuums, so
wie Georges Engel dem Dichter gleicht, so wie der Liebende
im Stern des Bundes am Geliebten »mein eigen fleisch« er-
rät. Was überlebt, ist die bestimmte Negation.
231
Charakteristik Walter Benjamins
Der Name des Philosophen, der auf der Flucht vor den
Schergen Hitlers sein Leben auslöschte, hat in den mehr als
zwanzig Jahren, die seitdem vergingen, Nimbus gewonnen
trotz des esoterischen Charakters seiner früheren Arbeiten
und des fragmentarischen der späteren. Die Faszination von
Person und œuvre ließ keinen Ausweg als magnetisches
Hingezogensein oder schaudernde Abwehr. Unter dem
Blick seiner Worte verwandelte sich, worauf immer er fiel,
als wäre es radioaktiv geworden. Die Fähigkeit, unablässig
neue Aspekte herzustellen, weniger indem er Konventionen
kritisch durchbrach, als indem er durch seine innere Organi-
sation zum Gegenstand sich verhielt, wie wenn die Konven-
tion keine Macht über ihn hätte - diese Fähigkeit wird gleich-
wohl vom Begriff des Originellen kaum erreicht. Keiner der
Einfälle des Unerschöpflichen dünkte je bloßer Einfall. Das
Subjekt, dem leibhaft alle die originären Erfahrungen zuteil
wurden, welche die offizielle zeitgenössische Philosophie
einzig formal beredet, schien zugleich keinen Anteil an ihnen
zu haben, wie denn seiner Art, zumal der Kunst augenblick-
lich-endgültiger Formulierung, das Moment des im her-
kömmlichen Sinne Spontanen und Sprudelnden durchaus
abging. Er wirkte nicht wie einer, der Wahrheit erzeugte
oder denkend gewann, sondern, indem er sie durch den Ge-
danken zitierte, wie ein höchstes Instrument von Erkennt-
nis, auf dem diese ihren Niederschlag hinterließ. Nichts hatte
er vom Philosophierenden nach traditionellem Maß. Was er
selber zu seinen Funden beitrug, war kaum ein Lebendiges
und »Organisches«; gründlich verfehlte ihn das Gleichnis
des Schöpfers. Die Subjektivität seines Denkens war ver-
hutzelt zur spezifischen Differenz; das idiosynkratische Mo-
ment seines eigenen Geistes, das Singuläre daran, das der
232
herkömmlich philosophischen Verfahrungsweise für das
Zufällige, Ephemere, ganz Nichtige gelten würde, bewährte
sich bei ihm als das Medium des Verbindlichen. Angegossen
ist ihm der Satz, in der Erkenntnis sei das Individuellste das
Allgemeinste. Wäre nicht im Zeitalter der radikalen Diver-
genz von gesellschaftlichem und naturwissenschaftlichem
Bewußtsein jedes physikalische Gleichnis tief suspekt, so
könnte man bei ihm tatsächlich von der Energie intellektu-
ellen Atomzerfalls reden. Seiner Insistenz löste das Unauf-
lösliche sich auf; dort gerade ward er des Wesens habhaft,
wo die Mauer bloßer Tatsächlichkeit alles trugvoll Wesen-
hafte unerbittlich verwehrt. Ihn trieb es, formelhaft gespro-
chen, dazu, aus einer Logik auszubrechen, welche das Be-
sondere mit dem Allgemeinen überspinnt oder das All-
gemeine bloß aus dem Besonderen herausabstrahiert. Er
wollte das Wesen begreifen, wo es weder in automatischer
Operation sichabdestillierennochdubios sich erschauen läßt:
es methodisch erraten aus der Konfiguration bedeutungs-
ferner Elemente. Das Rebus wird zum Modell seiner Philo-
sophie.
Ihrem planvoll Abwegigen jedoch kommt ihre zarte Un-
widerstehlichkeit gleich. Sie liegt weder im magischen Effekt,
der ihm nicht fremd war, noch in »Objektivität«, als dem
bloßen Untergang des Subjekts in jenen Konstellationen.
Vielmehr rührt sie her von einem Zug, den die Departemen-
talisierung des Geistes sonst der Kunst vorbehält, der aber,
umgesetzt in Theorie, des Scheins sich entäußert und un-
vergleichliche Würde annimmt: dem Versprechen von
Glück. Was Benjamin sagte und schrieb, lautete, als nähme
der Gedanke die Verheißungen der Märchen- und Kinder-
bücher, anstatt mit schmachvoller Reife sie von sich zu wei-
sen, so buchstäblich, daß die reale Erfüllung selber der Er-
kenntnis absehbar wird. Von Grund auf verworfen ist in
seiner philosophischen Topographie die Entsagung. Wer
auf ihn ansprach, dem war es zumute wie einem Kind, das
durch die Ritze der verschlossenen Tür das Licht des Weih-
nachtsbaums gewahrt. Aber das Licht verhieß zugleich, als
eines der Vernunft, die Wahrheit selber, nicht deren ohn-
mächtigen Abglanz. War Benjamins Denken kein Schaffen
aus dem Nichts, so war es dafür Schenken aus dem Vollen;
233
alles wollte es wiedergutmachen, was Anpassung und Selbst-
erhaltung an der Lust verbietet, in welcher Sinne und Geist
sich verschränken. In seinem Aufsatz über Proust hat er
Glücksverlangen als das Motiv des wahlverwandten Dich-
ters bestimmt, und man geht kaum fehl, wenn man dort den
Ursprung einer Passion vermutet, der zwei der vollkommen-
sten Übersetzungen der deutschen Sprache - die von >A
l'ombre des jeunes filles en fleurs< und von >Le cöte de
Guermantes< - zu danken sind. Wie aber bei Proust das
Glücksverlangen seinen Tiefgang gewinnt durch die lastende
Schwere des Desillusionsromans, der in der >Recherche du
temps perdu< tödlich sich vollendet, so wird die Treue zum
verweigerten Glück bei Benjamin erkauft mit einer Trauer,
von der die Geschichte der Philosophie sonst so wenig Zeug-
nis gibt wie von der Utopie des wolkenlosen Tages. Nicht
ferner ist er mit Kafka verwandt als mit Proust. Daß es un-
endlich viel Hoffnung gebe, nur nicht für uns, könnte seiner
Metaphysik als Motto dienen, hätte er je sich herbeigelassen,
eine solche zu schreiben, und im Zentrum seines theoretisch
entfaltetesten Werkes, des Barockbuchs, steht nicht umsonst
die Konstruktion der Trauer als der letzten umschlagenden
Allegorie, der von Erlösung. Die in den Abgrund der Be-
deutungen stürzende Subjektivität »wird zum förmlichen
Garanten des Wunders, weil sie die göttliche Aktion selbst
ankündigt«. In all seinen Phasen hat Benjamin den Unter-
gang des Subjekts und die Rettung des Menschen zusam-
mengedacht. Das definiert den makrokosmischen Bogen,
dessen mikrokosmischen Figuren er nachhing.
Denn das Unterscheidende seiner Philosophie ist ihre Art
von Konkretion. Wie sein Denken in immer erneuten An-
sätzen dem klassifikatorischen sich zu entziehen trachtet, so
ist ihm das Urbild aller Hoffnung der Name der Dinge und
Menschen, und ihn sucht seine Besinnung zu rekonstruie-
ren. Darin scheint er mit der Gesamttendenz sich zu begeg-
nen, die gegenldealismus und Erkenntnistheorie aufbegehrte,
nach den »Sachen selbst« anstatt deren gedanklichem Abguß
verlangte und in der Phänomenologie und den an diese an-
schließenden ontologischen Richtungen ihren schulgerech-
ten Ausdruck fand. Aber wie die entscheidenden Differen-
zen zwischen den Philosophen allemal in Nuancen sich ver-
234
stecken, und wie am unversöhnlichsten zueinander steht,
was sich ähnelt, aber aus verschiedenen Zentren gespeist ist,
so verhält Benjamin sich zu der heute akzeptierten Ideologie
des Konkreten. Diese durchschaute er als bloße Maske des
an sich selbst irregewordenen Begriffs, ebenso wie er den
existential-ontologischen Geschichtsbegriff als bloßes De-
stillat verwarf, aus dem der Stoff der historischen Dialektik
verdampft. Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daß
die Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identisch
sei, sondern daß einzig das Geschichtliche die Gestalt des
Absoluten abgebe, hat er, ohne sie vielleicht zu kennen, als
Kanon seines Verfahrens befolgt. Das Programm ist formu-
liert in einer Notiz zum fragmentarischen Hauptwerk, daß
»das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine
Idee«. Dabei hat er keineswegs harmlos die Illustration von
Begriffen durch bunte geschichtliche Objekte gemeint, so
wie es Simmel hielt, wenn er seine schlichte Metaphysik von
Form und Leben am Henkel, am Schauspieler, an Venedig
dartat. Sondern seine desperate Anstrengung, aus dem Ge-
fängnis des Kulturkonformismus auszubrechen, galt Kon-
stellationen des Geschichtlichen, die nicht auswechselbare
Beispiele für Ideen bleiben, jedoch in ihrer Einzigkeit die
Ideen als selber geschichtliche konstituieren.
Das hat ihm den Ruf des Essayisten eingetragen. Bis heute
noch ist sein Nimbus der des raffinierten Literators, wie er
selber mit antiquarischer Koketterie es würde genannt haben.
Angesichts der hintergründigen Absicht seiner Wendung
gegen die ausgeleierte Thematik der Philosophie und ihren
Jargon — er pflegte ihn Zuhältersprache zu nennen — fällt es
leicht genug, das Cliché des Essayisten als bloßes Miß-
verständnis fortzuweisen. Aber die Berufung auf Miß-
verständnisse in der Wirkung geistiger Gebilde führt nicht
weit. Sie setzt ein Ansichsein des Gehaltes unabhängig von
dessen geschichtlichem Schicksal voraus, gar was der Autor
sich dabei dachte, und was prinzipiell kaum je auszumachen
ist, gewiß nicht bei einem so vielschichtigen und gebroche-
nen Schriftsteller wie Benjamin. Mißverständnisse sind das
Medium der Kommunikation des Nicht-Kommunikativen.
Die Herausforderung, ein Aufsatz über Pariser Passagen ent-
halte mehr an Philosophie als Betrachtungen über das Sein
235
des Seienden, schlägt genauer in den Sinn von Benjamins
Werk als die Suche nach jenem sich selbst gleichbleibenden
Begriffsskelett, das er in die Rumpelkammer verbannte. Im
übrigen hat er, indem er die Grenze zwischen dem Literaten
und dem Philosophen nicht respektierte, aus der empirischen
Not seine intelligible Tugend gemacht. Zu ihrer Schande
haben ihn die Universitäten refüsiert, während der Antiquar
in ihm zum Akademischen auf ähnlich ironische Weise sich
hingezogen fühlte wie etwa Kafka zum Versicherungswesen.
Der perfide Vorwurf des Übergescheiten hat ihn sein Leben
lang verfolgt: ein existentieller Bonze hat es gewagt, ihn als
»von Dämonen geschlagen« zu beschimpfen, wie wenn das
Leiden dessen, den der Geist beherrscht und entfremdet, das
metaphysische Vernichtungsurteil über ihn wäre, bloß weil
es die quicklebendige Ich-Du-Beziehung verstört. Dabei
scheute er zurück vor aller Gewalttat gegen die Worte;
Spitzfindigkeit war ihm bis ins Innerste fremd. In Wahrheit
erregte er den Haß, weil sein Blick unwillkürlich, ohne alle
polemische Absicht die gewohnte Welt in der Sonnenfinster-
nis zeigte, die ihr permanentes Licht ist. Zugleich jedoch er-
laubte ihm dafür das Inkommensurable seiner Natur, durch
keine Taktik überwindbar und unfähig zum Gesellschafts-
spiel in der Republik der Geister, auf eigene Faust und un-
geschützt als Essayist sein Leben sich zu verdienen. Das hat
die Agilität seines Tiefsinns unendlich gefördert. Er lernte,
mit lautlosem Kichern die gewaltigen Uransprüche der prima
philosophia ihrer Hohlheit zu überführen. All seine Äuße-
rungen sind gleich nah zum Mittelpunkt. Die in der Lite-
rarischen Welt und der Frankfurter Zeitung verstreuten
Aufsätze zeugen kaum weniger für die hartnäckige Inten-
tion als die Bücher und die großen Abhandlungen aus der
Zeitschrift für Sozialforschung. Die Maxime der >Einbahn-
straße<, alle entscheidenden Schläge heute würden mit der
linken Hand geführt, hat er selber befolgt, ohne doch darum
von der Wahrheit das Mindeste nachzulassen. Noch die pre-
ziösesten literarischen Spielereien fungieren als Etüden zum
chef d'œuvre, dessen Genre er zugleich gründlich mißtraute.
Der Essay als Form besteht im Vermögen, Geschichtli-
ches, Manifestationen des objektiven Geistes, »Kultur« so
anzuschauen, als wären sie Natur. Benjamin war dazu fähig
236
wie kaum einer. Sein gesamtes Denken ließe als »naturge-
schichtlich« sich bezeichnen. Ihn sprachen die versteinerten,
erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles
an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte,
so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im
Herbarium. Kleine Glaskugeln, die eine Landschaft ent-
halten, auf die es schneit, wenn man sie schüttelt, zählten zu
seinen Lieblingsutensilien. Das französische Wort für Still-
leben, nature morte, könnte über der Pforte zu seinen philo-
sophischen Verliesen geschrieben stehen. Der Hegelsche Be-
griff der zweiten Natur als der Vergegenständlichung sich
selbst entfremdeter menschlicher Verhältnisse, auch die
Marxische Kategorie des Warenfetischismus gewinnt bei
Benjamin eine Schlüsselposition. Ihn fesselt es nicht bloß,
geronnenes Leben im Versteinten - wie in der Allegorie -
zu erwecken, sondern auch Lebendiges so zu betrachten,
daß es längst vergangen, »urgeschichtlich« sich präsentiert
und jäh die Bedeutung freigibt. Philosophie eignet den
Warenfetischismus sich selber zu: alles muß ihr zum Ding
sich verzaubern, damit sie das Unwesen der Dinglichkeit
entzaubere. So gesättigt ist dies Denken mit Kultur als sei-
nem Naturgegenstand, daß es der Verdinglichung sich ver-
schwört, anstatt ihr unentwegt zu widersprechen. Das ist
der Ursprung von Benjamins Neigung, seine geistige Kraft
ans ganz Entgegengesetzte zu zedieren, wie sie in der Arbeit
über das >Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-
duzierbarkeit < den extremen Ausdruck fand. Der Blick sei-
ner Philosophie ist medusisch. Besetzt in ihr, zumal ihrer
älteren, eingestanden theologischen Phase, der Begriff des
Mythos die zentrale Stelle als Widerpart zur Versöhnung,
dann wird seinem eigenen Denken wiederum alles, und zu-
mal das Ephemere, mythisch. Die Kritik der Naturbeherr-
schung, welche das letzte Stück der Einbahnstraße program-
matisch anmeldet, hebt den ontologischen Dualismus von
Mythos und Versöhnung auf: diese ist die des Mythos selber.
Im Fortgang solcher Kritik wird der Begriff des Mythos sä-
kularisiert. Seine Lehre vom Schicksal als dem Schuldzu-
sammenhang des Lebendigen geht über in die vom Schuld-
zusammenhang der Gesellschaft: »Solange es noch einen
Bettler gibt, gibt es noch Mythos.« So wendet sich Benja-
237
mins Philosophie, die einmal, etwa in der >Kritik der Ge-
walt <, die Wesenheiten unmittelbar beschwören wollte, im-
mer entschiedener zur Dialektik. Diese wuchs nicht einem
an sich statischen Denken von außen oder durch bloße Ent-
wicklung zu, sondern war vorgebildet in dem Quid pro quo
des Starrsten und des Beweglichsten, das in all seinen Pha-
sen wiederkehrt. Immer deutlicher trat die Konzeption von
der »Dialektik im Stillstand« in den Vordergrund.
Die Versöhnung des Mythos ist das Thema von Benja-
mins Philosophie. Aber es bekennt sich, wie in guten musi-
kalischen Variationen, kaum je kahl ein, sondern hält sich
verborgen und schiebt die Last seiner Legitimation der jüdi-
schen Mystik zu, von der er in der Jugend durch seinen
Freund Gerhard Scholem, den bedeutenden Kabbalafor-
scher, erfuhr. Es steht dahin, wie weit er in der Tat auf jene
neuplatonischen und antinomistisch-messianischen Überlie-
ferungen sich stützte. Manches spricht dafür, daß er, der
kaum je mit aufgedeckten Karten spielte, aus eingewurzelter
Opposition gegen amateurhaftes Drauflosdenken und »frei-
schwebende« Intelligenz die unter Mystikern beliebte Tech-
nik der Pseudo-Epigraphie auch seinerseits benutzte - frei-
lich ohne mit den Texten herauszurücken —, um damit die
Wahrheit zu überlisten, von der er argwöhnte, sie sei der
autonomen Besinnung unzugänglich. Auf jeden Fall hat er
an der Kabbala seinen Begriff des heiligen Textes orientiert.
Philosophie bestand ihm wesentlich aus Kommentar und
Kritik, und der Sprache, als der Kristallisation des »Na-
mens«, schrieb er höheres Recht zu als das des Bedeutungs-
und selbst Ausdrucksträgers. Die Beziehung von Philoso-
phie auf je kodifiziert vorliegende Lehrmeinungen ist ihrer
großen Tradition weniger fremd, als Benjamin glauben
mochte. Zentrale Schriften oder Partien von Aristoteles und
Leibniz, von Kant und Hegel sind »Kritiken« nicht nur im-
plizit, als Arbeit an aufgeworfenen Problemen, sondern als
spezifische Auseinandersetzungen. Erst als die zur Branche
zusammengeschlossenen Philosophen des eigenen Denkens
sich entwöhnten, glaubte ein jeder dadurch sich decken zu
müssen, daß er vor Erschaffung der Welt anfing oder wo-
möglich diese in eigene Regie nahm. Demgegenüber hat
Benjamin den entschlossenen Alexandrinismus vertreten und
238
damit alle wurzelwütigen Affekte gegen sich aufgebracht.
Die Idee des heiligen Textes transponierte er in eine Auf-
klärung, in die umzuschlagen nach Scholems Aufweis die
jüdische Mystik selber sich anschickte. Sein Essayismus ist
die Behandlung profaner Texte, als wären es heilige. Keines-
wegs hat er an theologische Relikte sich geklammert oder,
wie die religiösen Sozialisten, die Profanität auf einen tran-
szendenten Sinn bezogen. Vielmehr erwartete er einzig von
der radikalen, schutzlosen Profanisierung die Chance fürs
theologische Erbe, das in jener sich verschwendet. Der
Schlüssel zu den Rätselbildern ist verloren. Sie sollen, wie
es in dem barocken Gedicht von der Melancholie heißt,
»selber reden«. Das Verfahren ähnelt der Blague Thorstein
Veblens, er studiere fremde Sprachen, indem er jedes Wort
so lange anstarre, bis er wisse, was es heiße. Unverkennbar
die Analogie zu Kafka. Aber er unterscheidet sich von dem
älteren Prager, dem noch in der äußersten Negativität ein
Ländliches, episch Traditionales innewohnt, sowohl durch
das weit prononciertere Element von Urbanität als Wider-
spiel zum Archaischen, wie dadurch, daß sein Denken, kraft
des aufklärerischen Zuges, gegen die dämonische Regres-
sion unendlich viel gefeiter sich zeigt als Kafka, dem deus
absconditus und Teufel sich verwirrten. Vorbehaltlos, ohne
Mentalreservat konnte Benjamin in seiner reifen Zeit gesell-
schaftlich-kritischen Einsichten sich überlassen und hat doch
von seinen Impulsen keinen sich verboten. Die Kraft der
Auslegung hat sich umgesetzt in die, Äußerungen der bür-
gerlichen Kultur als Hieroglyphen ihres finsteren Geheim-
nisses zu durchschauen: als Ideologien. Gelegentlich hat er
von dem »materialistischen Giftstoff« gesprochen, den er
seinem Denken beimischen müsse, damit es überlebe. Zu
den Illusionen, deren er sich entschlug, um nicht entsagen
zu müssen, gehörte auch die von der monadologischen, in
sich ruhenden Gestalt der eigenen Reflexion, die er uner-
müdlich, unbekümmert um den Schmerz der Entäußerung,
an der zwangvollen Tendenz des Kollektivs maß. Aber er
hat das fremde Element so ganz der eigenen Erfahrung as-
similiert, daß es dieser zum Guten anschlug.
Asketische Gegenkräfte hielten denen des an jedem Ge-
genstand sich erneuenden Einfalls die Waage. Das hat Ben-
239
jamin zur Philosophie wider die Philosophie verholfen. Nicht
übel ließe sie sich darstellen an den Kategorien, die in ihr
nicht vorkommen. Von ihnen vermittelt eine Vorstellung
die Idiosynkrasie gegen Worte wie Persönlichkeit. Sein Den-
ken sträubt sich von Anbeginn gegen die Lüge, Mensch und
Menschengeist gründeten in sich selbst, und in ihnen ent-
spränge ein Absolutes. Das Schneidende dieser Reaktions-
weise läßt sich nicht verwechseln mit den neureligiösen Be-
wegungen, welche den Menschen in der Reflexion nochmals
zu jener Kreatur machen wollen, zu der ihn die vollendete
gesellschaftliche Abhängigkeit ohnehin degradiert. Er zielt
nicht gegen den angeblich aufgeblähten Subjektivismus son-
dern gegen den Begriff des Subjektiven selber. Zwischen
den Polen seiner Philosophie, Mythos und Versöhnung, zer-
geht das Subjekt. Dem medusischen Blick verwandelt der
Mensch weithin sich zum Schauplatz objektiven Vollzugs.
Darum verbreitet Benjamins Philosophie Schrecken kaum
weniger, als sie Glück verspricht. Wie im Umkreis des My-
thos anstelle von Subjektivität Vielfalt und Vieldeutigkeit
herrscht, so ist die Eindeutigkeit der Versöhnung — nach
dem Modell des »Namens« vorgestellt — das Widerspiel
menschlicher Autonomie. Diese wird, beim tragischen Hel-
den etwa, zum dialektischen Durchgangsmoment herabge-
setzt, und die Versöhnung des Menschen mit der Schöpfung
hat die Auflösung alles selbstgesetzten Menschenwesens zur
Bedingung. Einer mündlichen Äußerung zufolge erkannte
Benjamin das Selbst nur als mystisches, nicht als metaphy-
sisch-erkenntniskritisches, als »Substantialität« an. Inner-
lichkeit ist ihm nicht bloß die Heimstätte von Dumpfheit
und trüber Selbstgenügsamkeit sondern auch das Phantasma,
welches das mögliche Bild des Menschen verstellt: überall
kontrastiert er ihr das leibhaft Auswendige. So wird man
denn nach Begriffen nicht nur wie Autonomie, sondern auch
wie Totalität, Leben, System, die alle dem Bannkreis der
subjektiven Metaphysik angehören, vergebens bei ihm su-
chen. Was er an dem sonst von ihm gänzlich verschiedenen
Karl Kraus zu dessen Mißvergnügen feierte, ist ein eigener
Zug Benjamins: Unmenschlichkeit gegen den Trug des All-
menschlichen. Die von ihm außer Kurs gesetzten Kate-
gorien sind aber zugleich die eigentlich gesellschaftlich-
240
ideologischen. Je und je wirft in ihnen der Herr sich als Gott
auf. Der Kritiker der Gewalt ruft die subjektive Einheit
gleichsam ins mythische Gewimmel zurück, um sie selber
noch als bloßes Naturverhältnis zu begreifen; der an der
Kabbala ausgerichtete Sprachphilosoph betrachtet sie als
Gekritzel für den Namen. Das verbindet seine materialisti-
sche Phase der theologischen. Seine Anschauung von Mo-
derne als Archaik bewahrt nicht Spuren eines vorgeblich
alten Wahren auf, sondern meint den realen Ausbruch aus
der Traumbefangenheit der bürgerlichen Immanenz. Er läßt
es nicht sowohl sich angelegen sein, die Totalität der bürger-
lichen Gesellschaft nachzukonstruieren, als vielmehr sie als
Verblendetes, Naturhaftes, Diffuses unter die Lupe zu neh-
men. Den Gedanken der universalen Vermittlung, der bei
Hegel wie bei Marx die Totalität stiftet, hat dabei seine mi-
krologische und fragmentarische Methode nie ganz sich zu-
geeignet. Unbeirrt stand er zu seinem Grundsatz, die kleinste
Zelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen
Welt auf. Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretie-
ren, weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären,
als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung, auf materielle Ten-
denzen und soziale Kämpfe beziehen. So gedachte er der
Entfremdung und Vergegenständlichung zu entgehen, in der
die Betrachtung des Kapitalismus als System diesem sich an-
zugleichen droht. Motive des frühen Hegel, den er kaum
kannte, treten hervor: auch im dialektischen Materialismus
hat er verspürt, was jener »Positivität« nannte, und auf seine
Weise ihr opponiert. In der Tuchfühlung mit dem stofflich
Nahen, der Affinität zu dem was ist, war seinem Denken,
bei aller Fremdheit und Schärfe, stets ein eigentümlich Be-
wußtloses, wenn man will Naives gesellt. Solche Naivetät
ließ ihn zuweilen mit machtpolitischen Tendenzen sym-
pathisieren, welche, wie er wohl wußte, seine eigene Sub-
stanz, unreglementierte geistige Erfahrung, liquidiert hätten.
Aber auch ihnen gegenüber hat er verschmitzt eine ausle-
gende Haltung eingenommen, als wäre, wenn man nur den
objektiven Geist deutet, gleichzeitig ihm Genüge getan und
sein Grauen als begriffenes gebannt. Eher war er bereit, der
Heteronomie spekulative Theorien beizustellen als auf Spe-
kulation zu verzichten.
241
Politik und Metaphysik, Theologie und Materialismus,
Mythos und Moderne, intentionsloser Stoff und extravagante
Spekulation - alle Straßen von Benjamins Stadtschaft kon-
vergierten in dem Plan des Buchs über Paris als in ihrer
Etoile. Aber es wäre ihm nicht beigekommen, etwa an dem
ihm gleichsam apriorisch zubestimmten Gegenstand seine
Philosophie zusammenfassend darzustellen. Wie die Kon-
zeption vom konkreten Anstoß ausgelöst ward, so bewahrte
sie sich durch all die Jahre hindurch die monographische
Form. Ein in der Neuen Rundschau erschienener Aufsatz
>Traumkitsch< beschäftigte sich mit dem schockhaften Auf-
blitzen obsoleter Elemente des neunzehnten Jahrhunderts
im Surrealismus. Die stoffliche Einsatzstelle bot ein Maga-
zinaufsatz über Pariser Passagen, den er und Franz Hessel
projektierten. Am Titel Passagenarbeit hielt er fest, nach-
dem längst ein Entwurf zusammengeschossen war, der mit
extremen physiognomischen Zügen des neunzehnten Jahr-
hunderts ähnlich verfahren sollte wie das Trauerspielbuch
mit denen des Barock. Aus ihnen dachte er die Idee der
Epoche zu konstruieren im Sinne einer Urgeschichte von
Moderne. Diese sollte nicht etwa archaische Rudimente im
Jüngstvergangenen entdecken, sondern das je Neueste sel-
ber als Figur des Ältesten bestimmen: »Der Form des neuen
Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten
beherrscht wird . . ., entsprechen im Kollektivbewußtsein
Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt.
Diese Bilder sind Wunschbilder, und in ihnen sucht das
Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts
sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsord-
nung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in
diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor,
sich gegen das Veraltete - das heißt aber: gegen das Jüngst-
vergangene - abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bild-
phantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das
Urvergangene zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche
die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die
letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt
einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche
im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen
in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend
242
Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis
zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen.« Solche
Bilder indessen galten Benjamin für mehr als für Archetypen
des kollektiven Unbewußten wie bei Jung: er verstand unter
ihnen objektive Kristallisationen der geschichtlichen Bewe-
gung und belegte sie mit dem Namen dialektische Bilder.
Eine grandios improvisierte Theorie des Spielers erstellte
deren Modell: sie sollten geschichtsphilosophisch die Phan-
tasmagorie des neunzehnten Jahrhunderts als Figur der
Hölle enträtseln. Jene ursprüngliche Schicht der Passagen-
arbeit, etwa von 1928, wurde dann von einer zweiten mate-
rialistischen überlagert: sei es, daß die Bestimmung des
neunzehnten Jahrhunderts als Hölle angesichts des herein-
brechenden Dritten Reichs unhaltbar ward, sei es, daß der
Gedanke an die Hölle in eine gänzlich veränderte politische
Richtung drängte, als Benjamin von der strategischen Rolle
der Haussmannschen Boulevarddurchbrüche Rechenschaft
sich ablegte, und vor allem, als er auf eine verschollene, im
Gefängnis entstandene Schrift von Auguste Blanqui, >L'eter-
nite par les astres<, stieß, welche mit dem Akzent absoluter
Verzweiflung Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr
vorwegnimmt. Die zweite Phase des Passagenplans ist doku-
mentiert in dem 1935 geschriebenen Memorandum >Paris,
die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts<. Es bezieht jeweils
Schlüsselgestalten der Epoche auf Kategorien der Bilder-
welt. Von Fourier und Daguerre, von Grandville und Louis
Philippe, von Baudelaire und Haussmann sollte gehandelt
werden, aber es ging um Themen wie Mode und nou-
veaute, Ausstellungswesen und Gußeisenkonstruktion, den
Sammler, den Flaneur, die Prostitution. Von dem mit
äußerster Erregung besetzten Bereich der Interpretation
mag etwa eine Stelle über Grandville zeugen: »Die Welt-
ausstellungen bauen das Universum der Waren auf. Grand-
villes Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Uni-
versum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird ein guß-
eiserner Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luft
schöpfen . . . - Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem
der Fetisch verehrt sein will, Grandville dehnt ihren An-
spruch auf die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs so
gut wie auf den Kosmos aus. Indem er sie in ihren Extremen
243
verfolgt, deckt er ihre Natur auf. Sie steht im Widerstreit
mit dem Organischen. Sie verkuppelt den lebendigen Leib
der anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt sie die
Rechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem sex
appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv.
Der Kultus der Ware stellt ihn in seinen Dienst.« Überle-
gungen solchen Stils führten in das geplante Baudelaire-
kapitel. Benjamin zweigte es von dem großen Entwurf ab,
um ein kürzeres dreiteiliges Buch daraus zu machen; ein
großes Stück erschien 1939-40 in der Zeitschrift für Sozial-
forschung als Aufsatz >Über einige Motive bei Baudelaire<.
Er zählt zu den wenigen Texten, die er aus dem Passagen-
komplex unter Dach und Fach brachte. Ein zweiter sind die
Thesen >Über den Begriff der Geschichte<, welche gleich-
sam die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammen-
fassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs beglei-
tet hat. Von diesem liegen Tausende von Seiten vor, Mate-
rialstudien, die während der Okkupation in Paris versteckt
waren. Das Ganze jedoch läßt sich kaum rekonstruieren.
Benjamins Absicht war es, auf alle offenbare Auslegung zu
verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte
Montage des Materials hervortreten zu lassen. Philosophie
sollte nicht bloß den Surrealismus einholen, sondern selber
surrealistisch werden. Den Satz aus der Einbahnstraße, Zi-
tate aus seinen Arbeiten seien wie Räuber am Wege, die her-
vorbrechen und dem Leser seine Überzeugungen abnehmen,
faßte er wörtlich auf. Zur Krönung seines Antisubjektivis-
mus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen. Nur
spärlich finden sich Interpretationen notiert, die nicht im
Baudelaire und den geschichtsphilosophischen Thesen auf-
gegangen wären, und kein Kanon besagt, wie das verwe-
gene Unterfangen einer vom Argument gereinigten Philo-
sophie etwa sich realisieren ließe, auch nur, wie die Zitate
einigermaßen sinnvoll aneinanderzureihen wären. Die frag-
mentarische Philosophie blieb Fragment, Opfer vielleicht
einer Methode, von der nicht entschieden ist, ob sie im Me-
dium des Gedankens überhaupt sich einlösen läßt.
Die Methode aber kann vom Gehalt nicht getrennt wer-
den. Benjamins Ideal von Erkenntnis beschied sich nicht bei
der Reproduktion dessen, was ohnehin ist. In der Ein-
244
schränkung des Umkreises möglicher Erkenntnis, dem Stolz
der neueren Philosophie auf illusionslose Reife, witterte er
die Sabotage am Glücksanspruch, die bloße Bekräftigung
des endlos Gleichen: den Mythos selber. Gepaart aber ist
das utopische Motiv mit dem antiromantischen. Unverführt
blieb er von allen dem Scheine nach verwandten Versuchen
- etwa dem Schelerschen -, aus natürlicher Vernunft Trans-
zendenz zu ergreifen, als wäre der grenzensetzende Prozeß
der Aufklärung widerruf bar, und es ließe auf vergangene
theologisch überwölbte Philosophien unbekümmert sich re-
kurrieren. Darum verwehrt sein Denken seinem Ansatz nach
sich selbst das »Gelingen« bruchloser Einstimmigkeit und
macht das Fragmentarische zum Prinzip. Um zustande zu
bringen, was ihm vorschwebte, wählte er die vollkommene
Exterritorialität zur manifesten Überlieferung der Philoso-
phie. Trotz aller Bildung gehen die Elemente ihrer appro-
bierten Geschichte nur versprengt, unterirdisch, quer in
sein Labyrinth ein. Das Inkommensurable beruht auf einem
unmäßigen sich Überlassen an den Gegenstand. Indem der
Gedanke gleichsam zu nah an die Sache herantritt, wird
diese fremd wie jegliches Alltägliche unterm Mikroskop.
Wollte man ihn, um der Absenz von System und geschlos-
senem Begründungszusammenhang willen, unter die Re-
präsentanten von Intuition oder Schau einreihen — und so
ist er oft selbst von Freunden mißverstanden worden —,
dann vergäße man das Beste. Nicht der Blick als solcher be-
ansprucht unvermittelt das Absolute, aber die Weise des
Blickens, die gesamte Optik ist verändert. Die Technik der
Vergrößerung läßt das Erstarrte sich bewegen und das Be-
wegte innehalten. Seine Vorliebe für minimale oder schä-
bige Objekte wie Staub und Plüsch in der Passagenarbeit
steht komplementär zu jener Technik, die von all dem an-
gezogen wird, was durch die Maschen des konventionellen
Begriffnetzes hindurchschlüpfte oder vom herrschenden
Geist zu sehr verachtet ist, als daß er andere Spuren daran
hinterlassen hätte als die des hastigen Urteils. Wie Hegel
hofft der Dialektiker der Phantasie, die er als »Extrapola-
tion im Kleinsten« definierte, die »Sache, wie sie an und für
sich selber ist, zu betrachten«, also ohne Anerkennung der
unauf hebbaren Schwelle zwischen Bewußtsein und Ding an
245
sich. Aber die Distanz solcher Betrachtung ist verrückt.
Weil nicht sowohl, wie bei Hegel, Subjekt und Objekt als
schließlich identisch entwickelt werden, sondern vielmehr
die subjektive Intention als im Gegenstand erlöschende vor-
gestellt ist, gibt dies Denken mit Intentionen nicht sich zu-
frieden. Der Gedanke rückt der Sache auf den Leib, als
wollte er in Tasten, Riechen, Schmecken sich verwandeln.
Kraft solcher zweiten Sinnlichkeit hofft er, in die Goldadern
einzudringen, die kein klassifikatorisches Verfahren erreicht,
ohne doch darüber dem Zufall der blinden Anschauung sich
zu überantworten. Die Herabsetzung der Distanz zum Ge-
genstand stiftet zugleich die Beziehung auf mögliche Praxis,
die später dann Benjamins Denken leitet. Was die Erfah-
rung im dejä vu unerhellt und ohne Objektivität vorfindet,
was Proust für die dichterische Rekonstruktion durch un-
willkürliche Erinnerung sich versprach, wollte Benjamin
einholen und zur Wahrheit erheben durch den Begriff. Die-
sen verpflichtet er, in jedem Augenblick selber zu leisten,
was sonst dem begrifflosen Erfahren vorbehalten wird. Der
Gedanke soll die Dichte der Erfahrung gewinnen und doch
auf nichts von seiner Strenge verzichten.
Die Utopie der Erkenntnis aber hat die Utopie zum In-
halt. Benjamin nannte sie die »Unwirklichkeit der Verzweif-
lung«. Philosophie verdichtet sich zur Erfahrung, daß ihr
die Hoffnung zuteil werde. Diese jedoch erscheint einzig als
gebrochene. Wenn Benjamin die Überbelichtung der Ge-
genstände veranstaltet um der verborgenen Konturen wil-
len, die einmal im Stande der Versöhnung an ihnen offenbar
werden sollen, dann tritt zugleich der Abgrund zwischen
diesem und dem Dasein schroff hervor. Der Preis für die
Hoffnung ist das Leben: »messianisch ist die Natur aus ihrer
ewigen und totalen Vergängnis« und Glück, nach einem
alles einsetzenden Fragment der Spätzeit, deren »eigener
Rhythmus«. Darum ist die Mitte von Benjamins Philosophie
die Idee der Rettung des Toten als der Restitution des ent-
stellten Lebens durch die Vollendung seiner eigenen Ver-
dinglichung bis hinab ins Anorganische. »Nur um der Hoff-
nungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«, schließt
die Abhandlung über die Wahlverwandtschaften, Im Para-
doxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm ein
246
letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefun-
den. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu ver-
raten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worin
stets die Philosophen sich einig waren: daß es nicht sein
soll.
Der Charakter des Rätsel- und Vexierbildes, den er selbst
den Aphorismen der Einbahnstraße verlieh und der alles
markiert, was er überhaupt schrieb, hat in jener Paradoxie
seinen Grund. Sie mit den einzigen Mitteln, über welche
Philosophie verfügt, den Begriffen, doch noch auseinander-
zulegen, ist das Eine, um dessentwillen er ins Mannigfaltige
rückhaltlos sich versenkte.
247
Aufzeichnungen zu Kafka
Für Gretel
Si Dieu le Père a créé les choses
en les nommant, c'est en leur
ôtant leur nom, ou en leur don-
nant un autre que l'artiste les
recrée. Marcel Proust
Mehr als leicht für einen anderen gilt für Kafka, daß zwar
nicht verum, wohl aber falsum index sui sei. Zur Verbrei-
tung des Falschen jedoch hat er selbst einiges beigetragen.
Den beiden großen Romanen >Schloß< und >Prozeß< schei-
nen, wenn schon nicht im Detail, so jedenfalls im großen
Philosopheme auf die Stirn geschrieben, die trotz ihres ge-
danklichen Gewichts den Titel Betrachtungen über Sünde,
Leid, Hoffnung und den wahren Weg< keineswegs Lügen
strafen, den man einem theoretischen Konvolut Kafkas ver-
liehen hat. Immerhin ist dessen Inhalt nicht kanonisch für
250
die Dichtung. Der Künstler ist nicht gehalten, das eigene
Werk zu verstehen, und man hat besonderen Grund zum
Zweifel, ob Kafka es vermochte. Jedenfalls reichen seine
Aphorismen kaum an die enigmatischsten Stücke und Epi-
soden heran, wie die >Sorge des Hausvaters < oder den >Kü-
belreiter<. Kafkas Gebilde hüteten sich vor dem mörde-
rischen Künstlerirrtum, die Philosophie, die der Autor ins
Gebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt. Wäre sie
es, das Werk wäre totgeboren: es erschöpfte sich in dem,
was es sagt, und entfaltete sich nicht in der Zeit. Vorm Kurz-
schluß auf die allzu frühe, vom Werk schon gemeinte Be-
deutung vermöchte als erste Regel zu schützen: alles wört-
lich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken.
Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum
Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal
helfen. In einer Dichtung, die unablässig sich verdunkelt
und zurücknimmt, wiegt jede bestimmte Aussage die Gene-
ralklausel der Unbestimmtheit auf. Kafka hat diese Regel zu
sabotieren gesucht, indem er an einer Stelle verkünden läßt,
die Mitteilungen aus dem Schloß wären nicht »wortwörtlich«
zu nehmen. Gleichviel, will man nicht jeden Boden unter
den Füßen verlieren, so muß man festhalten, daß am An-
fang des Prozesses steht, jemand müsse Josef K. verleum-
det haben, »denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde
er eines Morgens verhaftet«. Man darf auch nicht in den
Wind schlagen, daß K. am Anfang des Schlosses fragt: »In
welches Schloß habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein
Schloß?«, also unmöglich berufen sein kann. Auch ist ihm
nichts von jenem Grafen West-west bekannt, dessen Name
nur einmal genannt, dessen allmählich weniger und dann gar
nicht mehr gedacht wird, so wie, nach einer Parabel Kafkas,
Prometheus eins wird mit dem Felsen, an den er geschmiedet
ist, und dann vergessen. Das Prinzip der Wörtlichkeit, wohl
Erinnerung an die Thora-Exegese der jüdischen Tradition,
findet aber seine Stütze an manchen Kaf kaschen Texten. Zu-
weilen lösen die Worte, insbesondere Metaphern, sich los
und gewinnen eigene Existenz. »Wie ein Hund« stirbt Josef
K., und Kafka teilt die Forschungen eines Hundes mit. Ge-
legentlich wird die Wörtlichkeit bis zum Assoziationswitz
getrieben. So in der Geschichte der Familie des Barnabas im
251
Schloß, wo von dem Beamten Sortini gesagt ist, er sei wäh-
rend des Festes des Feuerwehrvereins »bei der Spritze« ge-
blieben. Die hemdsärmelige Redensart für die Pflichttreue
wird ernst genommen, die Respektsperson bleibt bei der
Feuerspritze, und zugleich wird wie in Fehlleistungen auf
die grobe Begierde angespielt, die den Beamten den ver-
hängnisvollen Brief an Amalia schreiben läßt - Kafka, Ver-
ächter der Psychologie, ist überreich an psychologischen
Einsichten, gleich der von der Beziehung zwischen trieb-
haftem und Zwangscharakter. - Das Prinzip der Wörtlich-
keit, ohne dessen Maß das Vieldeutige ins Gleichgültige zer-
fließen müßte, verbietet den geläufigsten Versuch, in der
Auffassung Kafkas den Anspruch auf Tiefe mit Unverbind-
lichkeit zu vereinen. Mit Recht hat Cocteau darauf aufmerk-
sam gemacht, daß die Einführung von Befremdendem als
Traum stets den Stachel entfernt. Kafka selber hat zur Ver-
hinderung solchen Mißbrauchs den Prozeß an einer ent-
scheidenden Stelle durch einen Traum unterbrochen — das
wahrhaft ungeheure Stück publizierte er im >Landarzt< —
und durch den Kontrast dieses Traums alles andere als
Wirklichkeit bekräftigt, wäre es auch jene aus den Träumen
geschöpfte, an welche zuweilen in >Schloß< und >Amerika<
so qualvoll ausgesponnene Partien gemahnen, daß der Leser
fürchten muß, nicht wieder auftauchen zu können. Unter
den Schockmomenten ist nicht das schwächste, daß er die
Träume ä la lettre nimmt. Weil alles ausgeschieden ist, was
nicht dem Traum und seiner prälogischen Logik gliche, ist
der Traum selber ausgeschieden. Nicht das Ungeheuerliche
schockiert, sondern dessen Selbstverständlichkeit. Kaum
hat der Landvermesser aus seinem Zimmer im Wirtshaus
die lästigen Gehilfen vertrieben, so kommen sie durchs Fen-
ster wieder herein, ohne daß der Roman, über die bloße Mit-
teilung hinaus, sich auch nur mit einem Wort darüber auf-
hielte ; der Held ist zu müde, um sie nochmals zu vertreiben.
So aber wie Kafka zu dem Traum sich verhält, soll der Le-
ser zu Kafka sich verhalten. Nämlich auf den inkommen-
surablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen be-
harren. Daß Lenis Finger durch eine Schwimmhaut verbun-
den sind oder daß die Exekutoren wie Tenöre aussehen, ist
wichtiger als die Exkurse übers Gesetz. Das betrifft zugleich
252
Darstellungsweise und Sprache. Oft setzen Gesten Kontra-
punkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den Intentionen
Entzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wie
eine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat.
»>Den Brief<, begann K., >habe ich gelesen. Kennst du den
Inhalt?< >Nein<, sagte Barnabas, sein Blick schien mehr zu
sagen als seine Worte. Vielleicht täuschte sich K. hier im
Guten, wie bei den Bauern im Bösen, aber das Wohltuende
seiner Gegenwart blieb.« Oder: »>Nun<, sagte sie versöhn-
lich, >es war Grund zum Lachen. Sie fragten, ob ich Klamm
kenne, und ich bin doch< - hier richtete sie sich unwillkür-
lich ein wenig auf, und wieder ging ihr sieghafter, mit dem,
was gesprochen wurde, gar nicht zusammenhängender Blick
über K. hin - >ich bin doch seine Geliebte. <« Oder, in der
Szene der Trennung Friedas vom Landvermesser: »Frieda
hatte ihren Kopf an K.s Schulter gelegt, die Arme umeinan-
der geschlungen, gingen sie schweigend auf und ab. > Wären
wir doch<, sagte dann Frieda langsam, ruhig, fast behaglich,
so als wisse sie, daß ihr nur eine ganz kleine Frist der Ruhe
an K.s Schulter gewährt sei, diese aber wolle sie bis zum
letzten genießen, >wären wir doch gleich noch in jener
Nacht ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheit
sein, immer beisammen, deine Hand immer nahe genug, sie
zu fassen; wie brauche ich deine Nähe, wie bin ich, seitdem
ich dich kenne, ohne deine Nähe verlassen, deine Nähe ist,
glaube mir, der einzige Traum, den ich träume, keinen an-
dern.<« Solche Gesten sind die Spuren der Erfahrungen,
die vom Bedeuten zugedeckt werden. Der jüngste Stand
einer Sprache, die denen im Munde quillt, die sie sprechen;
die zweite babylonische Verwirrung, der ohnehin Kafkas
ernüchterte Diktion ohne zu ermüden widersteht, nötigt
ihn dazu, das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Ge-
stus spiegelbildlich umzukehren. Der Gestus ist das »So ist
es«; die Sprache, deren Konfiguration die Wahrheit sein
soll, als zerbrochene die Unwahrheit. »>Auch sollten Sie
überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, was
Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur ein
paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen kön-
nen, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.<«
Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal
253
die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesunden
Menschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererken-
nen müssen. »Durch das offene Fenster erblickte man wieder
die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu
dem gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch
weiterhin alles zu sehen«, heißt es in der Verhaftungsszene
am Anfang des Prozesses. Wer hätte nicht schon, in einer
Pension, auf die gleiche, genau die gleiche Weise von Nach-
barn sich beobachtet gefühlt, und wem wäre nicht daran
samt allem Abstoßenden, Altgewohnten, Unverständlichen
und Unvermeidlichen das Bild des Schicksals aufgeblitzt.
Der aber solche Rebusse aufzulösen vermöchte, wüßte mehr
von Kafka, als wer in ihm die Ontologie illustriert findet.
257
Verewigte Gesten bei Kafka sind ein erstarrt Momentanes.
Der Schock ist wie die surrealistische Veranstaltung dessen,
den alte Photographien dem Betrachter erteilen. Eine solche,
undeutlich, fast verblichen, spielt im Schloß ihre Rolle. Die
Wirtin, die sie als Überbleibsel ihrer Berührung mit Klamm
-und dadurch mit der Hierarchie - aufbewahrt, zeigt sie K.,
der nur mühsam etwas darauf erkennen kann. Vorgestrig
grelle Tableaux, der Zirkussphäre entstammend, zu der
Kafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte,
sind vielfach in sein Werk eingelassen; vielleicht hätte alles
Tableau werden sollen, und einzig ein Überschuß an Inten-
tion hat es durch lange Dialoge verhindert. Was auf der
Spitze des Augenblicks balanciert wie ein Pferd auf den
Hinterbeinen, wird geknipst, als solle die Pose für immer
währen. Das grausigste Exempel enthält wohl der Prozeß:
Josef K. öffnet die Rumpelkammer, in der am Tag zuvor
seine Wächter geprügelt wurden, um die Szene getreu, auch
mit der Anrufung seiner selbst, wiederholt zu finden. »So-
fort warf K. die Tür zu und schlug noch mit den Fäusten
gegen sie, als sei sie dann fester verschlossen.« Das ist die
Gebärde von Kafkas eigenem Werk, das, wie manchmal
schon das Poes, von den äußersten Gesichten sich abwendet,
als könnte kein Auge den Anblick überleben. In diesem
durchdringen sich das Immergleiche und das Ephemere.
Stets wieder malt Titorelli jenes abgestandene Genrebild,
die Heidelandschaft. Gleichheit oder intrigierende Ähnlich-
keit einer Mehrzahl rechnet zu den hartnäckigsten Motiven
Kafkas; alle möglichen Halbgeschöpfe treten paarweise auf,
oftmals mit der Signatur des Kindischen und Albernen, oszil-
lierend zwischen Gutmütigkeit und Grausamkeit wie Wilde
aus Kinderbüchern. So schwer ist den Menschen die Indivi-
duation geworden, und so schwankend blieb sie bis zum
heutigen Tag, daß sie tödlich erschrecken, wenn ihr Schleier
um ein weniges sich hebt. Proust wußte von dem leisen Un-
behagen, das den überrieselt, der auf seine Ähnlichkeit mit
einem ihm fremden Verwandten aufmerksam gemacht wird.
Bei Kafka ist es zur Panik gesteigert. Das Reich des dejä vu
wird von Doppelgängern bevölkert, Wiederkehrern, Po-
258
jatzen, chassidischen Tänzern, Knaben, die den Lehrer nach-
machen und plötzlich uralt aussehen, archaisch; einmal
zweifelt der Landvermesser, ob seine Gehilfen ganz am
Leben sind. Zugleich aber Abdrücke des Heraufziehenden,
Menschen, die im Fließbandverfahren hergestellt sind, me-
chanisch reproduzierte Exemplare, Huxleysche Epsilons.
Der gesellschaftliche Ursprung des Individuums enthüllt
sich am Ende als die Macht von dessen Vernichtung. Kafkas
Werk ist ein Versuch, diese zu absorbieren. Nichts Irres -
wie bei dem Erzähler, dem er Entscheidendes absah, Robert
Walser - ist in seiner Prosa, jeden Satz hat der seiner selbst
mächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvor
der Zone des Wahnsinns entrissen, in die wohl im Zeitalter
der universalen Verblendung, welche der gesunde Men-
schenverstand bloß befestigt, jegliche Erkenntnis sich ge-
trauen muß, um eine zu werden. Das hermetische Prinzip
hat unter anderem die Funktion einer Schutzmaßnahme: den
andrängenden Wahn draußen zu halten. Das heißt aber: die
eigene Kollektivierung. Das Werk, das die Individuation
zerrüttet, will um keinen Preis nachgeahmt werden: darum
wohl ordnete er an, es zu vernichten. Wohin es sich begab,
dort soll kein Fremdenverkehr aufblühen; wer aber so sich
gebärdete, ohne dort gewesen zu sein, verfiele der puren
Unverschämtheit. Er möchte den Reiz und die Gewalt der
Verfremdung ohne Risiko einheimsen. Ohnmächtige Manier
wäre die Folge. Karl Kraus, zu gewissem Maß auch Schön-
berg, haben darin ähnlich reagiert wie Kafka. Solche Un-
nachahmbarkeit affiziert aber auch die Lage des Kritikers.
Seine Position Kafka gegenüber ist nicht mehr zu beneiden
als die des Nachfolgers: sie wäre vorweg Apologie der
Welt. Nicht daß es an Kafkas Werk nichts zu kritisieren
gäbe. Unter den Mängeln, die in den großen Romanen oben-
auf liegen, ist der empfindlichste die Monotonie. Die Dar-
stellung des Vieldeutigen, Ungewissen, Versperrten wird
endlos wiederholt, oft auf Kosten der überall angestrebten
Anschaulichkeit. Die schlechte Unendlichkeit des Darge-
stellten teilt sich dem Kunstwerk mit. Wohl mag in diesem
Mangel einer des Gehalts zutage kommen, ein Übergewicht
der abstrakten Idee, die selber der Mythos ist, den Kafka be-
fehdet. Die Gestaltung will das Unsichere nochmals unsicher
259
machen, aber provoziert die Frage: wozu die Anstrengung?
Wenn ohnehin alles fraglich ist, warum dann nicht ans ge-
gebene Minimum sich halten. Kafka würde darauf erwidern,
gerade zur hoffnungslosen Anstrengung forderte er auf, ähn-
lich wie Kierkegaard durch Weitschweifigkeit den Leser
verärgern und damit aus der ästhetischen Kontemplation
aufscheuchen wollte. Erwägungen über Recht und Unrecht
solcher literarischen Taktik sind aber darum so fruchtlos,
weil Kritik sich immer nur auf das an einem Werk beziehen
kann, worin es Muster sein will; wo es spricht: so wie ich
bin, so soll es sein. Genau dieser Anspruch wird von dem
ungetrösteten So ist es Kafkas emphatisch fortgewiesen.
Trotzdem hat die Gewalt der Bilder, die er beschwört, ihre
Isolierschicht zuweilen zerrissen. Einige stellen die Selbst-
besinnung des Lesers, vom Autor zu schweigen, auf eine
harte Probe: Strafkolonie und Verwandlung, Berichte, wie
sie erst durch die von Bettelheim, Kogon und Rousset ein-
geholt wurden, etwa wie Aufnahmen der von Bomben zer-
störten Städte aus der Vogelperspektive den Kubismus
durch die Verwirklichung dessen, worin er die Wirklichkeit
aufgekündigt hatte, gleichsam versöhnten. Kennt Kafkas
Werk Hoffnung, dann eher in jenen Extremen als in den
milderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußersten
standzuhalten, indem es Sprache wird. Sind es auch diese
Werke, welche den Schlüssel zur Deutung bieten? Fast wäre
es zu vermuten. In der >Verwandlung < läßt sich die Bahn
der Erfahrung an der Wörtlichkeit rekonstruieren, als Ver-
längerung der Linien. »Diese Reisenden sind wie Wanzen«,
heißt die Redensart, die Kafka aufgegriffen haben muß, auf-
gespießt wie ein Insekt. Wanzen, nicht wie die Wanzen. Was
wird aus einem Menschen, der eine Wanze ist, so groß wie
ein Mensch? So groß aber müßten einem Kind die Erwach-
senen aussehen und so verschoben, mit riesigen, zertreten-
den Beinen und fernen, winzigen Köpfen, wenn der kind-
liche Blick des Schreckens ganz isoliert, festgebannt würde;
mit schräger Kamera läßt sich das photographieren. Ein
ganzes Leben reicht bei Kafka nicht aus, um ins nächste
Dorf zu kommen; und das Schiff des Heizers, das Wirtshaus
des Landvermessers sind von so unmäßigen Dimensionen,
wie nur in verschollener Frühe dem Menschen das von Men-
260
sehen Gemachte dünkt. Der so blicken will, muß sich ins
Kind verwandeln und vieles vergessen. Er erkennt den
Vater wieder als den Oger, den er immer schon in winzigen
Anzeichen gefürchtet hat, der Ekel vor Käserinden erweist
sich als die schmähliche vormenschliche Begierde nach ihnen.
Sichtbar umdunstet die Zimmerherren, als ihre Emanation,
der Horror, der vordem unmerklich fast in dem Wort mit-
schwang. Die schriftstellerische Technik, die durch Asso-
ziation an Worte sich heftet, wie die Proustische der unwill-
kürlichen Erinnerung an Sinnliches, bewirkt deren Gegen-
teil: anstelle des Eingedenkens ans Menschliche die Probe
aufs Exempel der Entmenschlichung. Ihr Druck nötigt die
Subjekte zu einer gleichsam biologischen Rückbildung, wie
sie den Kafkaschen Tierparabeln den Boden bereitet. Der
Augenblick des Einstands aber, auf den alles bei ihm abzielt,
ist der, da die Menschen dessen innewerden, daß sie kein
Selbst - daß sie selbst Dinge sind. Die langen und ermüden-
den bilderlosen Partien verfolgen, seit dem Gespräch mit
dem Vater im >Urteil<, den Zweck, den Menschen zu demon-
strieren, was kein Bild vermöchte, ihre Unidentität, das Kom-
plement ihrer kopienhaften Ähnlichkeit untereinander. Die
minderen Beweggründe, die dem Landvermesser von der
Wirtin und dann auch von Frieda schlüssig nachgewiesen
werden, sind ihm fremd - den späteren psychoanalytischen
Begriff des Ichfremden hat Kafka großartig antizipiert. Aber
der Landvermesser gibt jene Motive zu. Sein individueller
und sein Sozialcharakter klaffen auseinander wie bei Chap-
lins Monsieur Verdoux; Kafkas hermetische Protokolle ent-
halten die soziale Genese der Schizophrenie.
5
Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auch
dort, wo sie hoch hinaus will, im >Naturtheater von Okla-
homa< - als hätte er die Wanderungen von Arbeitern aus
diesem Staat vorausgesehen - oder in der Sorge des Haus-
vaters ; der Schatz der Blitzlichtaufnahmen kreidig und mon-
goloid wie eine kleinbürgerliche Hochzeit Henri Rousseaus;
der Geruch der von ungelüfteten Betten, die Farbe das Rot
261
von Matratzen, deren Überzüge abhanden kamen; die Angst,
die Kafka hervorruft, die vorm Erbrechen. Und doch ist das
meiste in seinem Werk Reaktion auf grenzenlose Macht.
Benjamin hat diese Macht, die wütender Patriarchen, para-
sitär genannt: sie zehrt von dem Leben, auf dem sie lastet.
Aber das parasitäre Moment ist eigentümlich verschoben.
Gregor Samsa, nicht sein Vater wird zur Wanze. Nicht die
Mächte, sondern die ohnmächtigen Helden erscheinen über-
flüssig, keiner leistet gesellschaftlich nützliche Arbeit; selbst
daß der angeklagte Bankprokurist Josef K., vom Prozeß
präokkupiert, nichts Rechtes zustande bringt, wird verbucht.
Sie kriechen eigentlich zwischen Requisiten umher, die
längst amortisiert sind und ihnen ihr Dasein nur als Almosen
gewähren, indem sie über die eigene Lebensdauer hinaus
fortexistieren. Die Verschiebung ist der ideologischen Ge-
wohnheit nachgebildet, welche die Reproduktion des Le-
bens zum Gnadenakt der Verfügenden, der »Arbeitgeber«
verklärt. Sie beschreibt ein Ganzes, in dem die überzählig
werden, die es umklammert und durch die es sich erhält.
Aber darin erschöpft das Schäbige bei Kafka sich nicht. Es
ist das Kryptogramm der auf Hochglanz polierten kapita-
listischen Spätphase, die er ausspart, um sie desto genauer in
ihrem Negativ zu bestimmen. Kafka nimmt die Schmutz-
spuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht in
der Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Denn
keine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende,
die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zu-
sammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und des
Sinnes bar wie jegliches System. Alles, was er erzählt, gehört
der gleichen Ordnung an. Alle seine Geschichten spielen in
demselben raumlosen Raum, und so gründlich sind dessen
Fugen verstopft, daß man zusammenzuckt, wenn einmal
etwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat, wie
Spanien und Südfrankreich an einer Stelle des Schlosses,
während ganz Amerika, als imago des Zwischendecks, jenem
Raum einverleibt ist. So hängen Mythologien untereinander
zusammen wie Kafkas labyrinthische Schilderungen. Das
Mindere, Abstruse, Angestochene ist aber ihrem Kontinuum
so wesentlich wie Korruption und verbrecherische Asozia-
lität der totalitären Herrschaft und wie die Liebe zum Kot
262
dem Kultus der Hygiene. Systeme des Gedankens und der
Politik wollen nichts, was ihnen nicht gleicht. Je mehr sie
sich jedoch verstärken, je mehr sie was ist gleichnamig
machen, desto mehr unterdrücken sie es zugleich, desto
weiter entfernen sie sich davon. Deshalb gerade wird ihnen
die geringste »Abweichung« als Bedrohung des gesamten
Prinzips so untragbar, wie den Mächten bei Kafka Fremde
und Einzelgänger es sind. Integration ist Desintegration,
und in ihr findet der mythische Bann mit der herrschaftlichen
Rationalität sich zusammen. Das sogenannte Problem der
Zufälligkeit, an dem die philosophischen Systeme sich ab-
quälen, wird von ihnen selbst gezeitigt: nur um ihrer eige-
nen Unerbittlichkeit willen wird ihnen zum Todfeind, was
durch ihre Maschen schlüpft, so wie die mythische Königin
keine Ruhe hat, solange weit über den Bergen eine lebt, die
schöner ist als sie, das Kind des Märchens. Kein System
ohne Bodensatz. Aus ihm weissagt Kafka. Wenn alles, was
in seiner Zwangswelt sich ereignet, mit dem Ausdruck des
schlechthin Notwendigen den des schlechthin Zufälligen
kombiniert, der dem Schäbigen eignet, so entziffert er das
verruchte Gesetz in seiner Spiegelschrift. Die vollendete
Unwahrheit ist der Widerspruch ihrer selbst, darum braucht
ihr nicht ausdrücklich widersprochen zu werden. Kafka
durchschaut den Monopolismus an den Abfallsprodukten
der liberalen Ära, die von jenem liquidiert wird. Dieser ge-
schichtliche Augenblick, nicht ein angeblich durch Ge-
schichte hindurch scheinendes Überzeitliches ist die Kristalli-
sation seiner Metaphysik, und Ewigkeit bei ihm keine andere
als die des endlos wiederholten Opfers, aufgehend am Bilde
des jüngsten. »Nur unser Zeitbegriff läßt uns das Jüngste
Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.« Das
jüngste Opfer ist immer das gestrige. Darum gerade wird
fast jeder offene Hinweis auf Historisches - der aus der
Kohlennot herausgesponnene Kübelreiter ist eine seltene
Ausnahme — bei Kafka vermieden. Hermetisch verhält sich
sein Werk auch zur Geschichte: über ihrem Begriff liegt ein
Tabu. Der Ewigkeit des geschichtlichen Augenblicks korre-
spondiert die Ansicht von der Naturverfallenheit und Inva-
rianz des Weltlaufs; der Augenblick, das absolut Vergäng-
liche, ist Gleichnis der Ewigkeit des Vergehens, der Ver-
263
dammnis. Der Name von Geschichte darf nicht genannt wer-
den, weil das, was Geschichte wäre, das Andere noch nicht
begonnen hat. »An Fortschritt glauben, heißt nicht glauben,
daß ein Fortschritt schon geschehen ist.« Inmitten scheinbar
statischer, oft handwerkerlicher oder bäuerlicher Verhält-
nisse, solcher der einfachen Warenwirtschaft, wird Ge-
schichtliches von Kafka nur als Gerichtetes vorgeführt, so
wie jene Verhältnisse selber gerichtet sind. Seine Szenerie ist
immer obsolet; von dem »niedrigen langen Gebäude«, das
als Schule fungiert, wird gesagt, es vereinige »merkwürdig
den Charakter des Provisorischen und des sehr Alten«.
Schwerlich sind die Menschen anders. Das Veraltete ist das
Schandmal des Gegenwärtigen; von solchen Malen hat Kafka
ein Inventar aufgenommen. Zugleich aber das Bild dessen,
woran Kindern, die es mit dem Abfall der historischen Welt
zu tun haben, Geschichtliches überhaupt aufgeht, das »Kin-
derbild der Moderne«, die ihnen vermachte Hoffnung, daß
einmal noch Geschichte sein könnte. »Das Gefühl eines, der
in Not ist, und es kommt Hilfe, der sich aber nicht freut, weil
er gerettet wird — er wird gar nicht gerettet —, sondern weil
neue junge Menschen kommen, zuversichtlich, bereit, den
Kampf aufzunehmen, zwar unwissend hinsichtlich dessen,
was bevorsteht, aber in einer Unwissenheit, die den Zu-
schauenden nicht hoffnungslos macht, sondern ihn zur Be-
wunderung, zur Freude, zu Tränen bringt. Auch Haß gegen
den, dem der Kampf gilt, mischt sich ein.« Zu diesem Kampf
gibt es einen Aufruf: »In unserem Haus, diesem ungeheuren
Vorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichen
Ruinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute am
nebeligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbrei-
tet:
An alle meine Hausgenossen!
Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem
Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu den
andern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier,
so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbrin-
gen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlich-
keit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vor-
wärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Ver-
wendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist ver-
264
dorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knacken
noch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch wei-
tere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sind
mir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir,
die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augen-
blick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. Eine Kampfes-
weise, die sich bei den ersten amerikanischen Farmern gegen-
über den Indianern bewährt hat, warum sollte sie sich nicht
auch hier bewähren, da doch die Verhältnisse ähnlich sind.
Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzich-
ten, und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig,
und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sie
auch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andern
nicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. Dann werde also
ich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinen
Führer haben, und so werde auch ich mein Gewehr zerbre-
chen oder weglegen.
Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keine
Zeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu über-
denken. Bald schwammen die kleinen Papiere in dem
Schmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allen
Korridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mit
dem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt.
Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf:
Hausgenossen!
Es hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Ich war, so-
weit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muß, fort-
während zu Haus und für die Zeit meiner Abwesenheit, wäh-
rend welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf mei-
nem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschrei-
ben konnte. Niemand hats getan.« Das ist die Figur der Re-
volution in Kafkas Erzählungen.
270
mal das Ganze abhängen. Durchs gesamte Werk hindurch
jedoch geht Depersonalisierung im Bereich des Sexuellen.
Wie nach dem Ritus des Dritten Reichs die Mädchen den
Hoheitsträgern nicht nein sagen durften, so hat der Kafka-
sche Bann, das große Tabu, alle jene geringeren Tabus aus-
gelöscht, die der individuellen Sphäre zugehören. Der Schul-
fall dafür ist die Bestrafung Amalias und ihrer Familie -
Sippenhaft -, weil sie Sortini nicht zu Willen war. In den
Mächten triumphiert die Familie als archaisches Kollektiv
über ihre spätere, individuierte Gestalt. Widerstandslos, auf-
einander gehetzt wie Tiere müssen Männer und Frauen zu-
sammenkommen. Kafka hat das eigene neurotische Schuld-
gefühl, seine infantile Sexualität wie seine Obsession mit
»Reinheit«, zum Instrument geschaffen, das den approbier-
ten Begriff von Erotik wegkratzt. Das Wahl- und Erinne-
rungslose der Verhältnisse von Angestellten in den Groß-
städten des zwanzigsten Jahrhunderts wird, wie später in
einer berühmten Stelle aus Eliots >Waste Land<, zur imago
eines seit undenklichen Zeiten vergangenen Zustands. Er
ist alles eher als hetärisch. In der Suspension der Regeln der
patriarchalischen Gesellschaft wird deren eigenes Geheim-
nis entblößt, das unmittelbarer barbarischer Unterdrückung.
Frauen sind verdinglicht als bloßes Mittel zum Zweck: als
Sexualobjekte und als Konnexionen. Aber mitten im Trüben
fischt Kafka nach dem Bild vom Glück. Es ist aus dem Stau-
nen des hermetisch abgeschlossenen Subjekts über das Para-
doxon erzeugt, daß es gleichwohl geliebt werden kann. So
unbegreiflich wie die Neigung aller Frauen zu den Gefange-
nen im Prozeß ist jegliche Hoffnung; Kafkas entzauberter
Eros ist zugleich überschwengliche männliche Dankbarkeit.
Wenn die dürftige Frieda sich Klamms Geliebte nennt, so
strahlt die Aura des Wortes heller als in den erhobensten
Augenblicken bei Balzac oder Baudelaire; wenn sie, wäh-
rend sie die Anwesenheit des unter dem Tisch Versteckten
vor dem forschenden Wirt verleugnet, ihm »ihren kleinen
Fuß auf die Brust setzt« und dann sich zu ihm hinabneigt
und ihn »flüchtig küßt«, so findet sie die Geste, auf welche
die Sehnsucht eines Menschenlebens vergebens warten mag,
und die Stunden, welche die beiden »in den kleinen Pfützen
Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt
271
war«, zusammenliegen, sind die der Erfüllung in einer
Fremde, »in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Hei-
matluft« hat. Diese Schicht wurde von Brecht der Lyrik auf-
geschlossen. Wie bei diesem jedoch ist bei Kafka die Sprache
der Ekstase ganz fern der expressionistischen. Er hat die
Quadratur des Zirkels, dem Raum der objektlosen Inner-
lichkeit die Worte zu finden, während doch der Umfang
eines jeglichen über das absolute Dies da hinausreicht, das
angerufen werden soll - den Widerspruch, an dem alle ex-
pressionistische Dichtung scheiterte -, ingeniös gemeistert
durchs visuelle Element. Als das der Gesten behauptet es
den Vorrang. Nur von Sichtbarem läßt sich erzählen, wäh-
rend es zugleich vollkommen zum Bilde verfremdet wird.
Wahrhaft zum Bilde. Kafka rettet die Idee des Expressionis-
mus, indem er, anstatt Urlauten vergebens nachzuhorchen,
den Habitus expressionistischer Malerei auf die Dichtung
überträgt. Zu jener verhält er sich ähnlich wie Utrillo zu den
Ansichtspostkarten, nach denen er seine fröstelnden Straßen
soll gemalt haben. Dem panischen Blick, der alle affektive
Besetzung von den Objekten abgezogen hat, erstarren diese
zu einem Dritten, weder Traum, der nur sich fälschen läßt,
noch Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zu-
sammengefügt aus ihren zerstreuten Bruchstücken. Manche
entscheidenden Partien Kafkas lesen sich, als wären sie ex-
pressionistischen Gemälden nachbuchstabiert, die hätten ge-
malt werden müssen. Am Ende des Prozesses fallenjosef K.s
Blicke »auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch an-
grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die
Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch,
schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit
einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus.
Wer war es? Ein Freund, ein guter Mensch?« Solche Trans-
positionsarbeit bereitet Kafkas Bilderwelt. Sie beruht auf
dem strikten Ausschluß alles Musikalischen im Sinn des
Musikähnlichen, dem Verzicht auf die antithetische Abwehr
des Mythos; Kafka ist, Brod zufolge, nach den üblichen Be-
griffen unmusikalisch gewesen. Sein stummes Schlacht-
geschrei gegen den Mythos ist: ihm nicht widerstehen. Und
diese Askese beschenkt ihn mit der tiefsten Beziehung zur
Musik an Stellen wie jenem Gesang des Telephons im
272
>Schloß<, der Musikwissenschaft aus den Forschungen eines
Hundes< und in einer der letzten vollendeten Erzählungen,
>Josefine<. Indem seine spröde Prosa alle musikalischen Wir-
kungen verschmäht, verfährt sie wie Musik. Sie bricht ihre
Bedeutungen ab wie Lebenssäulen auf Friedhöfen des neun-
zehnten Jahrhunderts, und erst die Bruchlinien sind ihre
Chiffren.
9
Antinomistisch ist Kafkas Theologie - wenn anders von
einer solchen die Rede sein kann - gegenüber demselben
Gott, dessen Begriff Lessing gegen die Orthodoxie verfocht,
dem der Aufklärung. Das ist aber ein deus absconditus. Kafka
wird zum Ankläger der dialektischen Theologie, der man
ihn irrig zurechnet. Ihr schlechterdings Verschiedenes kon-
vergiert mit den mythischen Mächten. Der völlig abstrakte,
unbestimmte, von allen anthropomorph-mythologischen
Qualitäten gereinigte Gott verwandelt sich in den schicksal-
haft vieldeutigen und drohenden, der nichts erweckt als
Angst und Schauer. Seine »Reinheit«, dem Geiste nachge-
schaffen, den bei Kafka die expressionistische Innerlichkeit
als absolute aufrichtet, stellt im Entsetzen vorm radikal Un-
bekannten das uralte der naturbefangenen Menschheit wie-
der her. Kafkas Werk hält den Schlag der Stunde fest, da der
gereinigte Glaube als unreiner, die Entmythologisierung als
277
Dämonologie sich enthüllt. Aufklärer jedoch bleibt er im
Versuch, den Mythos, der dergestalt hervortritt, zu rekti-
fizieren, den Prozeß gegen ihn gleichwie vor einer Revi-
sionskammer nochmals anzustrengen. Die Variationen von
Mythen, die in seinem Nachlaß sich gefunden haben, bezeu-
gen sein Bemühen um solche Korrektur. Der Prozeßroman
selber ist der Prozeß über den Prozeß. Als Kritiker, nicht
als Erbe hat er Motive aus Kierkegaards Furcht und Zittern
verwandt. In Kafkas Eingaben an den, welchen es betreffen
mag, wird das Gericht über den Menschen beschrieben, um
das Recht zu überführen. Am mythischen Charakter des
letzteren hat er keinen Zweifel gelassen. Eine Stelle im Pro-
zeß handelt von der Göttin der Gerechtigkeit, des Krieges
und der Jagd als Einer. Kierkegaards Lehre von der objek-
tiven Verzweiflung greift auf die absolute Innerlichkeit selbst
über. Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein,
von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durch-
forscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierke-
gaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung.
Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objek-
tive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legi-
timation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, von
dem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt er-
scheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle sein
müßte. Im Mittelalter hat man Folter und Todesstrafe an
den Juden »verkehrt« vollzogen; schon an der berühmten
Stelle des Tacitus wird ihre Religion als verkehrt angepran-
gert. Delinquenten wurden mit dem Kopf nach unten auf-
gehängt. So wie diesen Opfern in den endlosen Stunden
ihres Sterbens die Erdoberfläche muß ausgesehen haben,
wird sie vom Landvermesser Kafka photographiert. Nicht
um Geringeres als um solche ungemilderte Qual bietet ihm
die Optik des Heils sich dar. Seine Einreihung unter die
Pessimisten, die Existentialisten der Verzweiflung ist ver-
fehlt wie die unter die Heilslehrer. Nietzsches Verdikt über
die Worte Optimismus und Pessimismus hat er geehrt. Die
Lichtquelle, welche die Schrunde der Welt als höllisch auf-
glühen läßt, ist die optimale. Aber was der dialektischen
Theologie Licht und Schatten war, wird vertauscht. Nicht
wendet das Absolute dem bedingten Geschöpf seine ab-
278
surde Seite zu - eine Doktrin, die schon bei Kierkegaard zu
Ärgerem führt als bloß der Paradoxie und die bei Kafka auf
die Inthronisierung des Wahns hinausliefe. Sondern die
Welt wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectus
archetypus wäre. Das mittlere Reich des Bedingten wird in-
fernalisch unter den künstlichen Engelsaugen. So weit
spannt Kafka den Expressionismus. Das Subjekt objekti-
viert sich, indem es das letzte Einverständnis aufkündigt.
Dem freilich widerspricht scheinbar, was an Lehre aus Kafka
herauszulesen ist, ebenso wie die Berichte vom byzantini-
schen Respekt, den er als Person absonderlichen Mächten
skurril zollte. Aber die oft bemerkte Ironie dieser Züge rech-
net selbst zu dem Lehrgehalt. Nicht Demut hat Kafka ge-
predigt, sondern die erprobteste Verhaltensweise wider den
Mythos empfohlen, die List. Ihm ist die einzige, schwächste,
geringste Möglichkeit dessen, daß die Welt doch nicht recht
behalte, die, ihr recht zu geben. Wie der Jüngste im Mär-
chen soll man ganz unscheinbar, klein, zum wehrlosen Opfer
sich machen, nicht auf dem eigenen Recht bestehen nach der
Sitte der Welt, der des Tausches, welcher ohne Unterlaß das
Unrecht reproduziert. Kafkas Humor wünscht die Versöh-
nung des Mythos durch eine Art von Mimikry. Auch darin
folgt er jener Tradition von Aufklärung, die vom homeri-
schen Mythos bis Hegel und Marx reicht, bei denen die
spontane Tat, der Akt der Freiheit, gleichkommt dem Voll-
zug der objektiven Tendenz. Seitdem aber ist die lastende
Schwere des Daseins außer allem Verhältnis zum Subjekt
angewachsen und mit ihr die Unwahrheit der abstrakten
Utopie. Wie vor Jahrtausenden wird von Kafka Rettung ge-
sucht bei der Einverleibung der Kraft des Gegners. Der
Bann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem das
Subjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll es
vollziehen. »Zum letztenmal Psychologie« - Kafkas Figuren
werden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzu-
lassen, in einem Augenblick des gesellschaftlichen Kampfes,
in dem die einzige Chance des bürgerlichen Individuums bei
der Negation seiner eigenen Zusammensetzung steht und
der der Klassenlage, die es zu dem verdammt hat, was es ist.
Gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mit
den Deserteuren. Anstelle der Menschenwürde, des obersten
279
bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingeden-
ken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seiner
Erzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum der
Individuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet,
stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen,
das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz.
Wiedergutmachung wird gesucht, indem das Subjekt ihn
fahren läßt. Kafka verherrlicht nicht die Welt durch Unter-
ordnung, er widerstrebt ihr durch Gewaltlosigkeit. Vor die-
ser muß die Macht sich als das bekennen, was sie ist, und
darauf allein baut er. Dem eigenen Spiegelbild soll der My-
thos erliegen. Schuldig werden die Helden von Prozeß und
Schloß nicht durch ihre Schuld - sie haben keine -, sondern
weil sie versuchen, das Recht auf ihre Seite zu bringen. »Die
Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat,
besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von
dem er nicht abläßt, daß ihm Unrecht geschehen ist, daß an
ihm die Erbsünde begangen wurde.« Darum haben ihre
klugen Reden, zumal die des Landvermessers, ein Törichtes,
Tölpelhaftes, Naives: ihre gesunde Vernunft verstärkt die
Verblendung, gegen welche sie aufbegehrt. Kafka will durch
die Verdinglichung des Subjekts, die ohnehin von der Welt
verlangt wird, diese womöglich noch überbieten: Toten-
haftes wird zur Botschaft der sabbatischen Ruhe. Das ist
die Kehrseite der Kafkaschen Lehre vom mißlingenden
Tod: daß die beschädigte Schöpfung nicht mehr sterben
kann das einzige Versprechen von Unsterblichkeit, das der
Aufklärer Kafka nicht mit dem Bilderverbot ahndet. Es
knüpft sich an die Rettung der Dinge; derer, die nicht län-
ger in den Schuldzusammenhang verflochten, die untausch-
bar, unnütz sind. Auf sie hat es die innerste Bedeutungs-
schicht des Obsoleten bei ihm abgesehen. Seine Ideenwelt
gleicht - wie im Naturtheater von Oklahoma - einer von
Ladenhütern: kein Theologumenon könnte ihm näher kom-
men als der Titel eines amerikanischen Filmlustspiels: Shop-
worn Angel. Während in den Interieurs, in denen Menschen
wohnen, das Unheil haust, sind Schlupfwinkel der Kindheit,
verlassene Stätten wie das Treppenhaus, solche der Hoff-
nung. Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Auto-
friedhof stattfinden. Die Schuldlosigkeit des Unnützen setzt
280
den Kontrapunkt zum Parasitären: »Müßiggang aller Laster
Anfang, aller Tugenden Krönung.« Nach dem Zeugnis von
Kafkas Werk befördert in der verstrickten Welt jegliches
Positive, jeglicher Beitrag, fast könnte man denken, die Ar-
beit selbst, die das Leben reproduziert, bloß die Verstrik-
kung. »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt: das Po-
sitive ist uns schon gegeben.« Heilmittel gegen die halbe
Nutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, wäre einzig die
ganze. So verbrüdert sich Kafka mit dem Tode. Die Schöp-
fung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Das Selbst, die
innerste Position des Mythos, wird zertrümmert, verworfen
der Trug bloßer Natur. »Der Künstler wartete, bis K. sich
beruhigt hatte, und entschloß sich dann, da er keinen andern
Ausweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erste
kleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, der
Künstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äußersten
Widerstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr so
schön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blaß und un-
sicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde der
Buchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, da
stampfte der Künstler wütend mit einem Fuß in den Grab-
hügel hinein, daß die Erde ringsum in die Höhe flog. End-
lich verstand ihn K.: ihn abzubitten war keine Zeit mehr;
mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Wider-
stand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein war
eine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnete
sich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K.,
von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, ver-
sank. Während er aber unten, den Kopf im Genick noch
aufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufge-
nommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zie-
raten über den Stein. Entzückt von diesem Anblick er-
wachte er.« Der Name allein, der offenbar wird durch den
natürlichen Tod, nicht die lebendige Seele steht ein fürs
unsterbliche Teil.
281
Vom selben Verfasser erschienen:
In englischer Sprache:
The Authoritarian Personality by T. W. Adorno, Else Fren-
kel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford (Stu-
dies in Prejudice, edited by Max Horkheimer and Samuel
H. Flowerman, Volume 1), New York 1950
282
Theodor W. Adorno
283
überall spüren Mitarbeiter der DEUTSCHEN
ZEITUNG wichtigen Geschehnissen und
ihren Zusammenhängen nach. Ununterbro-
chen gehen die Meldungen eigener Redak-
tionsbüros und Korrespondenten aus dem
In- und Ausland sowie die Informationen
der großen Weltnachrichtenagenturen ein
und werden von einem Stab erfahrener
Redakteure gesichtet und ausgewertet. Das
Wesentliche aus der Fülle dieses Berichts-
materials bildet zusammen mit dem Leit-
artikel aus der Feder eines namhaften Publi-
zisten, mit lebendigen Kommentaren und
anderem interessanten Stoff die täglich er-
scheinende