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Peter Zumthor

Architektur Denken

Zweite, erweiterte Auflage

Birkhäuser - Verlag für Architektur


Basel • Boston • Berlin
Eine Anschauung der Dinge 7

Der harte Kern der Schönheit 29

Von den Leidenschaften zu den Dingen 39

Der Körper der Architektur 53

Architektur lehren, Architektu r lernen 65

Hat Schönheit ei ne Form? 7I

D ie Magie des Realen 83

Das Licht in der Landschaft 89


Eine Anschauung der Dinge

Auf de r Such e nach d e r ve rlore nen Archite ktur

Wenn ich an Architektur denke. steigen Bilder in mir auf . Viele dieser

Bilder stehen im Zusammenhang mit meiner Ausbildung und Arbeit als

Architekt. Sie enthalten das berufliche Wissen über Architektur, das ich

mir im Laufe der Zeit erwerben konnte . Andere Bilder haben mit meiner

K indheit zu tun.lch erinnere mich an jene Zeit in meinem Leben, in der ich

Architektur erlebte. ohne darüber- nachzudenken. Noch glaube ich, die

Türklinke. jenes Stück Metall, geformt wie der Rücken eine s Löffels. in

meiner Hand zu verspüren .

Ich fasste es an. wenn ich den Garten meiner Tante betrat. Noch heute

erscheint mir jene Klinke wie ein besonderes Zeichen d es Eintritts in eine

Welt verschiedenartiger Stimmungen und Gerüche. Ich erinnere mich an

das Geräusch der Kieselsteine unter meinen Füssen, an den milden Glanz

des gewachsten Eichenholzes im Treppen haus, häre die schwere H austür

hinter mir ins Schloss fallen. laufe den düsteren Gang entlang und betre-

te die Küche ; den einzigen wirklich hellen Raum im H aus.

Nur dieser Raum, so will mir heute scheinen, hatte eine Decke, die

nicht im Zwielicht entschwand; und die kleinen sechseckigen Platten des

Bodens. dunkelrot und satt verfugt. setzten meinen Schritten eine un-

nachgiebige Härte entgegen. und dem Küchenschrank entströmte die-

ser eigentümliche Geruch von Ölfarbe.

All es in dieser Küche war so. wie herkömmlich e Küchen eben sind.

Es gab nichts Besonderes an ihr. Aber vielleich t ist sie, gerade weil sie

auf diese fast natürliche Weise einfach Küche war, in meiner Erinne-

rung so sehr als Inbild einer Küche präsent. Die Atmo sphäre dieses

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Raumes hat sich für immer mit meiner Vorstellung von einer Küche

verbunden.

Nun wäre mir danach, fortzufahr-en und zu erzählen: von al len Türklinken,

die auf jene Klmke am Gartentor meiner Tante fo lgten, und von Böden, von

weichen A sphaltflachen, von der Sonne erwä r-mt; von Steinpflästerungen,

bedeckt von Kastanienblattern im Her bst, und von T üren, die auf so unter-

schiedlicheWeise ins Schloss fielen: die einen satt und vor-nehm, andere dünn

und billig schepper-nd, wieder andere hart, grossartig, einschüchternd ...

Erinnerungen dieser A rt beinhalten die am tiefsten gegründecen Arch itek-

turerfahrungen, die ich kenne . Sie bilden den Grundstock von architekt:oni-

schen Scimmungen und Bildern. den ich in meiner A rbeit als Architekt aus-

zuloten versuche.

Wenn tch entwerfe. finde ich mich immer wieder eingetaucht in alte und

halbvergessene Ennnerungen. und ich versuche. mich zu fragen: Wi e genau

war jene architektonische Situation w irklich beschaffen. w as bedeutete sie

für mich damals. und was könnte mir helfen , jene reiche Atmosphäre wie -

der entstehen zu lassen. die gesattigt zu sein scheint von der selbstverständ-

lichen Präsenz der Dinge. wo alles seinen richtigen Ort und seine richtige

Form hat? Daber waren gar keine besonderen Formen auszumachen. Aber

dieser Anflug von Fulle wäre spürbar, von Reichtum auch, der einen denken

lasse das habe ich schon einmal gesehen. während ich gleichzeitig w eiss, dass

alles neu und anders ist und kein direktes Zitat einer alten Architektur das

Geheimnis der erinnerungsmichtigen Scimmung verrät.

Aus Stoff gebaut


Die Arbeiten von Joseph Beuys und einigen K ünstlern der A rte-povera-

Gruppe haben fur mich etwas Aufschlussreiches. Was mich beeindr-uckt,

ist der präzise und sinnliche Einsatz des Materials in diesen Kunstwerken.

Er scheint in einem alten W issen um den Gebrauch der Materialien durch

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den Menschen verankert zu sein und gleichzeitig das eigentliche Wesen

dieser Materialien. das bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung ist ,

freizulegen.

ln meiner Arbeit versuche ich, die Materialien auf ähnliche Weise einzu-

setzen. Ich glaube. dass Materialien tm Kontext eines architektonischen

Objektes poetische Qualitaten annehmen können. Dazu ist es notwendig.

tm Objekt selbst einen entsprechenden Form- und Sinnzusammenhang zu

generieren; denn Materialien an sich sind nicht poetisch.

Der Stnn, den es 1m Stofflichen z.u stiften gilt, liegt jenseits kompositorischer

Regeln. und auch die Fuhlbarkeit. der Geruch und der akustische A usdruck

der Materialien sind lediglich Elemente der Sprache. in der wir sprechen

mussen Sinn entsteht dann. wenn es gelingt. im archit ektonischen Gegen-

stand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumateria lien hervorzubringen,

die nur in dtesem einen ObJekt auf diese Weise spürbar werden.

Wenn wir auf dieses Ziel hinarbeiten, mussen wir uns immer wieder fra-

gen. was em bestimmtes Material in einem bestimmten architektonischen

Zusammenhang bedeuten kann. Gute Antworten auf diese Frage können

sowohl dte An. wie dieses Material fur gewöhnlich angewendet wird, als

auch seine ihm eigenen sinnlichen und sinnstiftenden Eigenschaften in ei-

nem neuen Lichte erscheinen lassen. Gelingt uns dies. können Materialien

in der Architektur zum Kltngen und Strahlen gebracht werden.

Di e A r beit in den Dingen

Etwas vom Etndrucklichsten an der Musik Johann Sebastian Bachs ist, sagt

man. thre «Archttektur».lhr Aufbau wirkt klar und durchsichtig. Es ist mög-

lich, dte melodischen. harmonischen und rhythmischen Elemente der Musik

tm Emzelnen z.u verfolgen, ohne das Gefuhl fur die KompoSition als Gan-

zes, tn der alle Einzelheiten ihren Sinn finden. zu verlieren. Eine klare Struk-

tur schemt dem Werk zugrunde zu liegen, und folgt man den einzelnen

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Fäden des musikalischen Gewebes. so ist es möglich, die Regeln, die den

konstruktiven Aufbau dieser Musik bestimmen, zu ahnen.

Konstruktion ist die Kunst. aus vielen Einzelteilen ein sinnvolles Ganzes

zu formen . Gebäude sind Zeugnisse der menschlichen Fähigkeit, konkre-

te Dinge zu konstruieren. Im Akt des Konstruierens liegt für mich der

eigentliche Kern jeder architektonischen Aufgabe. Hier, wo konkrete Ma-

terialien gefügt und aufgerichtet werden. wird die erdachte Architektur Teil

der realen Welt.

Ich empfinde Respekt für die Kunst des Fügens, für die Fähigkeiten der

Konstrukteure , der Handwerker und Ingenieure. D as Wissen der Men-

schen über die Herstellung von Dingen, das in ihrem Können enthalten ist.

beeindruckt mich. Ich versuche darum, Bauten zu entwerfen, die diesem

W issen gerecht werden und die es auch wert sind, dieses Können heraus-

zufordern.

«Da drin steckt viel Arbeit», pflegt man zu sagen, wenn man einen schön

gearbeiteten Gegenstand betrachtet und glaubt, die Sorgfalt und das Kön-

nen des Menschen, der den Gegenstand geschaffen hat, zu verspüren. Dass

unsere Arbeit wirklich in den Dingen steckt, die uns gelingen. ist eine Vor-

stellung, die an die Grenzen des Nachdenkens über den Wert eines Werkes

heranführe. Steckt unsere Arbeit wirklich in den Dingen? Manchmal, wenn

ein Bauwerk mich berührt wie eine Musik, ein Stück Literatur oder ein Bild,

bin ich versucht. daran zu glauben.

Für die Stille des Schlafs

Ich liebe Musik. Langsame Säue aus Mozarts Klavierkonzerten, John

Coltranes Balladen, der Klang der menschlichen Stimme in bestimmten

Liedern gehen mir nahe.

Das menschliche Vermögen. Melodien, Harmonien und Rhythmen zu

erfinden. versetzt mich in Erstaunen.

II
-

01e Weit der Tone umfasst aber auch d1e Gegensatze von Melodie. Har-

monie und Rhythmus. Wir kennen D isharmonien u nd gebrochene Rhyth-

men. Fragmente und Ballungen von Klangen. und es gibt die rein fun ktio-

nalen Gerausche. d1e w1r Larm nennen. Oie zeitgenössische Musik arbei-

tet m1t diesen Elementen.

Ich denke. dass die Zeltgenossische Architektur im Grunde uber einen eben-

so radikalen Ansatz verfugen sollte w ie die Neue Mu sik. Dieser Forderung

smd jedoch Grenzen gesetzt. Wenn die Komposition eines Bau werks auf

Disharmonie und Fragment1erung. auf gebrochenen Rhythmen. Clustel·ing

und Strukturbrüchen beruht, kann das W erk zwar Botschaften vermitteln.

aber m1t dem Verstehen der Aussage erlischt die Neugier. und was zurück-

bleibt. ist d1e Frage nach der Nutzlichkeit des architektonischen Objektes

fur das praktische Leben.

Architektur hat 1hren eigenen Existenzbereich. Si e steht in einer besonders

korperlich er, Verbmdung m1t dem Leben. ln mei ner Vorstellung ist sie zu -

nachst weder Botschaft noch Ze1chen, sondern Hulle und Hintergrund des

vorbeiziehenden Lebens. ein sensibles Gefass für den Rhythmu s der Schritte

auf dem Boden. fur die Konzentration der Ar·beit, fur die Stille des Schlafs.

Von Verlangen gezeichnet

Gebaute A rchitektur hat ihren Ort in der konkreten Weit. Dort hat sie ihre

Prasenz. Dort spncht sie fur sich. Architekturdarste llungen. d ie noch nicht

Gebautes zum Inhalt haben. sind geprägt von der A nstrengung. etwas zum

Sprechen zu bringen. das semen On in der konkreten W elt noch nicht ge-

funden hat. aber fur d1ese gedacht ist. Die Archi tekturzeichnung versucht,

d1e Ausstrahlung des ObJektes an seinem Ort moglichst prazise ins Bild zu

setzen Aber gerade die Anstrengung der Darstellung kann die Abwesenheit

des realen Ob1ektes besonders deutlich werden lassen.W as dann aufkommt.

ist E1nsicht rn d1e Unzulanglichke1 t jeglicher Darstellung. Neugier auf die

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in der Darstellung versprochene Wirklichkeit und vielleicht, wenn uns das

Versprochene zu berühren vermag. auch Sehnsucht nach seiner Gegenwart.

Wenn Realismus und graphische Virtuosität in einer Architekturdarstellung

zu gross werden, wenn die Darstellung keine «offenen Stellen» mehr ent-

hält, in die wir mit unserer Imaginat ion eindringen können und die Neugier

nach der Wirklichkeit des dargestellten Objektes aufkommen lassen, dann

wird die Darstellung selber zum Objekt der Begierde. Das Verlangen nach

dem w irklichen Objekt verblasst.Wenig oder nichts mehr verweist auf das

gemeinte Reale. das ausserhalb der Darstellung Liegende. Die Darstellung

enthält keine Versprechen mehr. Sie meint sich selber.

Encwurfszeichnungen, die ausdrücklich auf eine noch in der Zukunft liegen-

de W irklichkeit verweisen, sind in meiner Arbeit wichtig. Ich entwickle des-

halb meine Zeichnungen auf jenen delikaten Punkt der Anschaulichkeit hin,

an dem die erstrebte Grundstimmung fassbar wir d, ohne dass sie von Un-

w esentlichem abgelenkt würde. Dazu hat die Zeichnung selbst die Quali -

täten des gesuchten Objektes anzunehmen. Sie ist dann. ähnlich der Skiz-

ze eines Bildhauers fur seine Skulptur, nicht bloss Abbild einer Idee, son-

dern Bestandteil der schöpferischen A rbeit selber, die ihren Abschluss im

gebauten Objekt findet.

Z eichnungen dieser Art erlauben es einem zurückzutreten, zu schauen und

das verstehen zu lernen, w as noch nicht ist und doch zu werden beginnt.

Ritzen im versiegelten Objekt


Hauser sind künstliche Gebilde. Sie bestehen aus Einzelheiten, die miteinan-

der verbunden werden müssen. Die QualitätdieserVerbindungen bestimmt

in hohem Masse die Q ualität des fertigen Objektes.

ln der Bildhauerei gibt es eine Trad ition, die den Ausd ruck der Fugen und

Verbindu ngen zwischen den einzelnen Werkstücken zugunsten der Ge-

samtform zurücknimmt. Richard Serras Stahlobjekte zum Beispiel wirken

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ebenso homogen und ganzheitlich w ie Skulpturen älterer bildhauerischer

Traditionen aus Stein oder Holz.Viele Künstler der 60er und 70er Jahre

berufen sich in ihren Installat ionen und Objekten auf die einfachsten und

offensichtlichsten Methoden des Fügens und Verbindens, die wir kennen.

Beuys, Merz und andere haben immer wieder mit lockeren Setzungen im

Raum. mir Umwicklungen, Faltungen oder Schichtungen gearbeitet, um aus

den Teilen das Ganze zu bilden.

D ie direkte und scheinbar selbstverständliche Art. in der diese künstle-

rischen Objekte gefügt sind, ist aufschlussreich. Es gibt in diesen Arbeiten

keine Störung des Gesamteindruckes durch kleine Teile, die nichts mit der

Aussage des Werkes zu tun haben. Die W ahrnehmung des Ganzen wird nicht

durch unwesentliche Einzelheiten fehlgeleitet. Jede Berührung. jede Verbin-

dung, jede Fuge ist da. um der Idee des Ganzen zu dienen und die ruhige

Präsenz des Werkes zu verstärken.

Wenn ich Gebäude entwerfe. versuche ich, diesen eine ähnliche Präsenz

zu verleihen. Anders als der bildende Künstler muss ich dabei jedoch von

den funktionalen und technischen Aufgaben ausgehen, die jedes Bauwerk

zu erfüllen hat. Architektur ist herausgefordert, aus unzähligen Einzeltei len.

die sich in Funktion und Form. im Material und in der Grösse unterschei-

den. ein Ganzes zu bilden. Für die K anten und Fugen, dort wo di e Flächen

des Objektes sich schneiden und die verschiedenen Materialien aufeinan-

der treffen . sind sinnvolle Konstruktionen und Formen zu suchen. Mit die-

sen Detailformen werden die feinen Zwischenstufen innerhalb der grossen

Proportionen des Baukörpers festgelegt. Einzelheiten bestimmen den fo r-

malen Rhythmus. die Feinmassstäblichkeit des Gebäudes.

Details haben auszudrucken, was die Grundidee des Entwurfs an der betref-

fenden Stelle des Objektes verlangt: Zusammengehörigkeit oder Trennung,

Spannung o der Leichtigkeit, Reibung, Festigkeit, Zerbrech lichkeit . ..

Details. wenn sie uns glücken, sind nicht Dekoration. Sie lenken nicht ab,

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sie unterhalten n1cht. sondern sie fuhren hin zum Verstandnis des Gan-

zen. zu dessen Wesen sie unabdingbar gehoren. Es wohnt eine magische


Kraft m Jeder m s1ch geschlossenen Gestaltung. Es ist. als erläge man dem

Zauber e1nes voll entwickelten architektonischen Korpe rs. Vielleicht fallt

unser Blick erst jetzt auf ein Detail und verharrt m Erstaunen: D iese zwei

Nagel im Boden.d1e die Stahlplatten neben der abgenutzten Schwelle halten.

Gefühle kommen hoch. Etwas beruhrt uns.

je ns eits de r Zeic he n
«All es 1st moglich», hort man in der Welt der Macher. «Mainstreet is

almost all nghm. sagt Venrun. der Architekt. «N icht s geht mehr>>. sagen je-

ne. d1e an der Unwwtllchkelt unserer Zeit leiden. D 1ese Aussagen stehen

fur w1derspruchl1che Meinungen, wenn nicht fur w iderspruch liehe Tatsachen.

Wir schemen uns daran zu gewohnen, m1 t W iderspruchen zu leben, und

w 1r konnen auch ein1ge Grunde dafur benennen:Traditionen losen sich auf.

es g1bt keme geschlossenen kulturellen ldemitaten mehr. W irtschaft und

Politik entwickeln eine Dynamik, die niemand wirklich zu verstehen und zu

kontrollieren scheint. Alles vermengt sich mit allem, und die Massenkom-

munikation erzeugt eine kunstliehe Welt der Zeichen. BeliebigkeiL

Vielleicht kann man das postmoderne Leben so beschreiben:AIIes, w as über

unsere personliehen biographischen Daten hinausgeht. erscheint vage , ver-

schwommen und wgendwie unwirklich. D1 e Welt ist voll von Zeichen und

Informat ionen, die fur Dinge stehen, d1e niemand vollauf versteht, weil auch

drese s1ch letztlich w1ederum nur als Zeichen fur ande re D inge erweisen.

Das wahre Dmg ble1bt verborgen. Niemand bekommt es je zu sehen.

Trotzdem, ich bin uberzeugt. dass, wenn auc h gefahrdet, noch wahre

Dmge ex1st1eren. Es g1bt Erde und Wasser. das L1cht der Sonne. Landschaft

und Vegetation. und es gibt vom Menschen gescha ffene Gegenstände w ie

Maschinen.Werkzeuge oder Musikinstrumen te, die sind. was sie si nd, die kei-

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ne künstlichen Botschaften tragen. deren Gegenwart selbstverständlich ist.

Wenn w ir Gegenstande oder Bauwerke betrachten, die in sich selbst zu ru-

hen scheinen. wird unsere Wahrnehmung auf eine besondere Weise ruhig

und stumpf. Das Objekt, das wir wahrnehmen. drängt uns keine Au ssage

auf, es ist einfach da. Unsere Wahrnehmung wird still, unvoreingenommen

und nicht besiuergreifend. Sie liegt jenseits der Zeichen und Symbole. Sie

ist offen und leer. Es ist, als ob man etwas sähe. das sich nicht ins Zentrum

des Bewusstseins rücken lässt. Jetzt, in diesem Vakuum der Wahrnehmung,

kann im Betrachter eine Erinnerung auftauchen. die aus der Tiefe der Zeit

zu stammen scheint. Das Objekt sehen. heisst jetzt auch, die Welt in ihrer

Ganzheit erahnen; denn es ist nichts da, was nicht zu verstehen wäre.

Es liegt eine besondere Kraft in den gewöhnlichen Dingen des alltäglichen

Lebens, scheinen die Gemälde von Edward Hopper zu sagen. Man muss nur

lange genug hinschauen. um sie zu sehen.

Vervollständigte Landschaften

Die Gegenwart bestimmter Bauten hat für mich etwas Geheimnisvolles. Sie

scheinen einfach da zu sei n. Man schenkt ihnen kei ne besondere Beachtung.

Und doch ist es schier unmöglich, sich den Ort, an dem sie stehen, oh ne

sie vorzustellen. Diese Bauten schei nen fest im Boden verankert zu sei n.

Sie wirken als selbstverständlicher Teil ihrer Umgebung, und sie scheinen zu

sagen: «Ich bin so, wie du mich siehst. und ich gehöre hier hin.»

Gebäude entwerfen zu können, die im Laufe der Zeit auf diese selbstver-

standliehe Weise mit der Gestalt und Geschichte ihres Ortes verwachsen,

weckt meine Leidenschaft.

M1t jedem neuen Bauwerk wird in eine bestimmte historische Situation

eingegriffen. Fur die Qualität dieses Eingriffes ist es entscheidend. ob es

gelingt. das Neue mit Eigenschaften auszustatten, die in ein sinnstiftendes

Spannungsverhältnis mit dem schon Dagewesenen treten. Denn damit das

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Neue semen Platz fi nden kann. muss es uns erst dazu anregen. das Beste-
hende neu zu sehen. Man wrrft emen Stem ins Wasser. Sand wirbelt auf und
setzt sich wieder. De r· Aufr uhr war notwendig. Der Stein hat seinen Platz
gefunden. Aber der Terch rst nicht mehr derselbe wie vorher·.
Ich glaube. dass Gebaude. dre von rh rer Umgebung allmah lich angenommen
werden. dre Fahrgkert besrtzen mussen. Gefuhl und Verstand auf vielfaltige
Weise anzusprechen. Unser Fuhlen und Verstehen aber wurzelt in der Ver-
gangenheit. Deshalb muss der Sinnzusammenhang, den wir mit einem Ge-
bäude schaffen. den Prozess des Ennnerns respektieren. Das Erinnerte je-
doch ist nicht mrt dem Endpu nkt am Schluss einer Linie vergleichbar. sagt
John Berger 1n semem Buch ube r das Sehen. «Es grbt verschiedene Mog-
li chkeiten. die zur Ennnerung fuhren und 10 ihr zusammenlaufen. Bilder.
Strmmungen. Formen.Worter. Zerehen und Vergleichemussen Möglichkei-
ten der Annaherung eroffnen. Um das Werk im Zentrum muss ein strah-
lenform iges System der Annaherung gelegt werden. so dass wir es giereh-
zeitig unter verschiedenen Aspekten betrachten konnen: historisch. asthe-
tiSch. funktronal. alltaglrch. personlrch. lerdenschaftlrch.»

Die S pannung im lnn e rn e in e s Körpe r s


Von all den Zeichnungen. die Archi tekten hervorbrrngen, mag ich die Werk-
zeichnungen am besten.Werkzerchnungen smd ausfuhrlieh und sachlrch. Ge-
rrchtet an dre Fachleute. dre dem erdachten ObJekt matenelle Gestalt ver-
leihen. sind sre frer von assozrativer Darstellungsregre. Sie versuchen nicht
meh r· zu uberzeugen und einzunehmen wre Projektzeichnungen. lhr Merk-
mal sind dre Gewissheit und Zuversrcht. Sie scheinen zu sagen: <<Genau so
wird es.»
Werkplane haben den Charakter von anatomrschen Zerchnungen. Sre zei-
gen etwas vom Gehermnrs und der rnneren Spannung. die der fert ig ge-
fugte architektonrsche Ko rper nrcht mehr ohne weiteres pre isgibt: di e

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Kunst des Fügens, verborgene Geometrien, die Reibung der Materialien, die

inneren Kräfte des Tragens und Haltens. die menschliche Arbeit, die in den

Dingen steckt.

Für eine Documenta in Kassel errichtete Per Kirkeby eine Backsteinskulp-

tur in der Form eines Hauses. Das Haus hatte keinen Eingang. Sein Inneres

war unzugänglich und verborgen. Es blieb ein Geheimnis, das der Skulptur

zusammen mit anderen Eigenschaften eine Aura mystischer T iefe verlieh.

Ich denke. dass die verborgenen Tragstrukturen und Konstruktionen eines

Hauses so anzulegen sind, dass sie den vollendeten Körper in einen Zustand

der inn eren Spannung und Vibration verseuen. Geigen sind so gebaut. Sie

erinnern uns an die lebendigen Körper in der Natur.

Une rwartete Wahrheite n


ln meiner Jugend hatte ich die Vorstellung. Poesie sei eine Art farbige Wol-

ke von mehr oder weniger diffusen Metaphern und Anspielungen, die un-

ter Umständen zu geniessen, aber nur schwer an eine verbindliche Sicht

der Welt zu knüpfen sei. Als Architekt habe ich gelernt zu verstehen, dass

das Gegenteil dieser jugendlichen Definition von Poesie der Wahrheit wohl

näher kommt.

Ein Bauwerk kann über künstlerische Qualitäten verfügen, wenn seine viel-

fältigen Formen und Inhalte in einer starken Grundstimmung zusammen-

fallen. die uns zu berühren vermag. Diese Kunst hat nichts mit interessan-

ten Konfigurationen oder Originalität zu tun. Sie handelt von Einsicht,Ver-

stand und vor allem von Wahrheit. U nd viellei cht ist Poesie die unerwar-

tete Wahrheit. Ihr Auftreten bedarf der Stille. Dieser stillen Erwartung Ge-

stalt z.u verleihen. 1st die klinstlerische Aufgabe der Architektur. Denn das

Bauwerk selber ist niemals poetisch. Es mag lediglich über diese delikaten

Qualiciten verfugen. die uns in besonderen Momenten etwas verstehen las-

sen. was wir zuvor noch nie so verstehen konnten.

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Begierd e
Um ein Bauwerk klar und logisch aufzubauen, ist es notwendig, nach ratio-

nalen und objektiven Kriterien zu entwerfen.Wenn ich es zulasse, dass der

sachliche Ablauf des Entwurfsprozesses immer wieder von subjektiven und

unreflektierten Ideen durcheinander gebracht wird , anerkenne ich die Be-

deutung persönlicher Gefühle beim Entwerfen.

Wenn Architekten über ihre Bauten sprechen, passt dies oft nicht genau

zu dem, was uns ihre Bauten erzählen. Vermutlich hängt das damit zusam-

men, dass sie viel über die durchdachten Aspekte ihrer Arbeiten sagen und

wenig von den geheimen Leidenschaften zu erkennen geben, die ihre Ar-

beit wirklich beseelen.

Der Vorgang des Entwerfens beruht auf einem ständigen Zusammenspiel

von Gefühl und Verstand. Die Gefühle. die Vorlieben. Sehnsüchte und Begier-

den, die aufkommen und Form werden wollen. sind mit kritischem Verstand

zu prüfen. Ob abstrakte Überlegungen stimmig sind. sagt uns das Gefühl.


Entwerfen heisst zum grossenTeil verstehen und ordnen. Aber die eigent-

liche Kernsubstanz der gesuchten A rchitektur entsteht durch Emotion und

Eingebung. denke ich. Die kostbaren Augenblicke der Eingebung stellen sich

bei geduldiger Arbeit ein. Mit einem plötzlich auftauchenden inneren Bild, ei-

nem neuen Strich auf der Zeichnung scheint sich das ganze Entwurfsgebäu-

de in Bruchteilen von Sekunden zu verändern und neu zu formieren. Es ist,

als ob man mit einem Male die Wirkung einer seltsamen Droge verspürte.

Alles, w as ich noch eben zuvor über das zu schaffende Objekt wusste, er-

scheint in einem hellen, neuen Licht. Ich empfinde Freude und Leidenschaft.

und etwas in mir scheint zu sagen: «Dieses Haus will ich bauen!»

ln den Raum geschrieben

Geometrie lehrt die Gesetzmässigkeiten der Linien. Flächen und Körper im

Raum . Geometrie kann uns helfen zu verstehen, wie w ir in der Architektur

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m1t dem Raum umgehen kennen. Die Architektur kennt zw ei grundsätzl i-

che Mögltch keiten der Raumbildung: den geschlossenen Korper. der in sei -

nem lnner n Raum 1sohert. und den offenen Korper. der einen mit dem un-

endlichen Ko ntinuum verbundenen Raumteil umschliesst. D 1e A usdeh nung

des Raumes kann durch offen in die Tiefe des Raumes gese tzte oder gereih-

te Korper w1e Platten oder Stabe sichtbar gemacht werden.

Ich nehme nicht tn Anspruch zu wissen, was Raum w irkli ch bedeutet. Je län -

ger ich uber das Wesen des Raumes nachdenke. des to geheimnisvo ll er er-

scheint er mir. Eines jedochweissich bestimmc:W enn w ir un s als A rchitek-

ten mit dem Raum beschäfttgen. dann befassen w ir uns lediglich mit einem

kleinen Teil dieser Unendlichkeit. die die Erde umgibt. A ber jedes Bauwerk

bezeichnet e1nen Ort tn d1eser Unendlichkeit.

M1t dieser Vorstellung zeichne tch die ersten Grundnsse und Schnitte mei-

ner Entwürfe. Ich ze1chne raumliehe Diagramme und einfache Korper. Ich

versuche. d1e erdachten Korper als prazise Objekte im Raum zu sehen, und

es ist mir w tchttg zu spuren. wie sie aus dem Raum. der sie umgibt. einen

Innenraum ausgrenzen oder w1e sie das unendliche RaumkontintJ um in der

An eines offenen Gefasses einfangen.

Gebäude, die uns beeindrucken. vermitteln uns immer ein sta rkes Gefühl

für ihren Raum. Sie umschliessen diese geheimnisvolle Leere, die wi r Raum

nennen. auf eine besondere Weise und bringen sie zum Schwingen.

P ra kti sche Ver nunft

Entwerfen hetsst erfinden. Damals, tn der Kunstgew erbeschule versuchten

wtr, d1esem Gr undsatz nachzuleben. Wtr suchten fur Jedes Pro blem

eme neue Losung AvantgardiStisch zu sein, war uns WIChtig. Spat er er st

musste 1ch feststellen. dass es im Grunde nur wenige archi tektonisc he

Probleme gtbt, fur dte ntcht schon fruher etnmal gultige Losungen gefunden

wurden Im Ruckblick kommt mir meine Entw urfserziehu ng ahi storisch

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vor. Unsere Vorbilder waren die Pioniere und Erfinder des Neuen Bauens.

Architekturgeschichte verstanden wir als Allgemeinbildung, die kaum in

unsere Entwürfe einfloss. So erianden wir häufig das bereits Erfundene und

versuchten uns vielfach am Unerfindbaren.

Die hier geschilderte Art der Entwurfsausbildung hat ihre didaktischen

Werte. Spätestens als praktizierender Architekt tut man jedoch gut dar-

an, sich des immensen Wissens und der Erfahrung zu versichern. die in der

Geschichte der Arch itektur enthalten sind. W enn wir diese in die Arbeit

einbeziehen, denke ich. wird unsere Chance grösser, einen eigenen Bei-

trag zu leisten.
Nun ist das Entwerien allerdings kein linearerVorgang. der aus der Architek-

turgeschichte heraus gleichsam logisch und direkt zu einem neuen Gebäude

führen würde. Auf der Suche nach der Architektur. die mir vorschwebt, erle-

be ich immer wieder diese schalen Momente der Beengung. Nichts, was ich

kenne, scheint zu dem w passen, was ich will und von dem ich noch nicht

weiss, wie es sein soll.ln diesen Situationen versuche ich mich von meinem

architektonischen Schulwissen. das mich nun plötzlich behindert. zu befrei-

en. Dieses Verfahren hilft. Mein Atem wird freier. Ich rieche die altbekannte

Luft der Erfinder und Pioniere. Entwerfen is t nun auch wieder Erfinden.

Der schöpferische Akt. in dem ein architektonisches Werk entsteht, geht

uber geschichtliches und handwerklichesWissen hinaus.ln seinem Zentrum

steht die Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit. Architektur ist im

Moment ihrer Entstehung auf eine besonder e Weise mit der Gegenwart

verbunden . Sie widerspiegelt den Geist ihrer Erfinder und gibt ihre eige-

nen Antworten auf die Fragen der Z eit, nämlich mit der Form ihrer Nut-

zung und Erscheinung. mit ihrem Verhältnis zu anderen Architekturen und

mit ihrer Beziehung zum Ort, an dem sie steht.

Oie Antworten auf diese Fragen, die ich als A rchitekt zu formulieren

vermag, sind beschränkt. Unsere Zeit des Umbruchs erlaubt keine grossen

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Gesten W1r alle teilen nur noch wemge gemeinsame W erte. auf die sich

bauen liesse. Ich pladiere darum fur eme Architektur der p•·aktischen Ver-

nunft. die ausgeht von dem. w as w1r alle noch kennen. verstehen und füh-

len konnen. Ich berrachte d1e gebaute Weit genau und versuche mit mei-

nen Bauten aufzunehmen. was m1r w ertvoll erscheint. zu korrigieren . was

stört, und neu zu schaffen. was uns fehl t .

Melancholische W ah rn ehmung

Ettore Seclas Film Le bal zeigt einen Tanzsaal. in dem die ganze Handlung

stattfindet.Wenn 1ch m1ch ncht1g ennnere. hat der Film weder gesprochene

D ialoge noch Szenenwechsel; es g•bt nur Mus1k und Menschen in Bewegung.

Man s1eht immer denselben Saal. m den d1eselben Leute treten. um zu tan-

zen, wah rend d1e Zeit vergeht und die tanzenden Menschen älte•· werden .

Im Zentrum des Films stehen die handelnden Personen. Aber es is t dieser

Tanz.saal mit se1nem plattenbelegten Boden und seiner T äfelung. dem Trep-

penaufgang im Hmtergrund und der Lowenpranke auf der Seite. der die

dichte Atmosphare des Films entstehen lasst. Oder sind es umgekehrt die

Leute, die dem Raum d1ese eigenartige Stimmung verleihen?

Ich stelle hier diese Frage. weil ich uberz.eugt bin, dass ein gutes Gebäude

fahig sem muss. die Spuren des menschlichen Lebens zu absorbieren. und

dass es dadurch emen besonderen Re1chtum annehmen kann.

Naturlieh denke 1ch h1er an d1e Pa tma des Alters auf den Materialien. an

die z.ahllosen klemen Schrammen m den Oberflachen. an den swm pf und

bruchig gewordenen Glanz des Lackes und an die von der Abnutzung

polierten Kanten. Aber wenn 1ch meine Augen schliesse und versuche.

alle diese phys1schen Spuren und meme ersten Assoz.iationen ausser Acht

zu lassen bleibt noch em anderer Emdruck. ein tieferes Gefuhl zuruck -

es ISt em Bewusstsem fur das Verstromen der Z e1t und em Gefuhl fur

das menschl1che Leben. das s1ch an Orten und in Räumen vollzieht und

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diese auf eine besondere Weise auflädt. Die ästhetischen und prakt ischen

Werte der Architektur werden nun zweitrangig. Ihre stilistische oder histo-

rische Bedeutung hat in diesem Moment keine W ichtigke it mehr. Was

jetzt zäh lt. ist allein dieses melancholische Gefü hl. das mich er·greift. A rc hi-

tektur ist dem Leben ausgese tzt. Ist ihr Korper em pfi ndlich genug, kan n sie

eine Q ualität entwickeln, die die W irklichkeit des verga ngen en Lebens

verbürgt.

Hi nter sic h gelassene Schri t t e


Wenn ich an einem Entw urf arbeite, lasse ich mich vo n erinner-ten Bildern

und Stimmungen leiten. die ich mit der gesuchten A rchitektu r in Verbindung

bringen kann. Die Bilder, die mir einfallen, gehen in der Mehrzah l auf meine

persönlichen Erlebnisse zuruck und sind deshalb nur selten mit einem er-

innerten architektonischen Kommentar versehen. W ährend ich entwerfe,

versuche ich herauszufinden, was sie bedeuten, um daraus zu lernen , wie

man bestimmte bildhafte Formen und Stimmungen erzeugt.

Nach einer gewissen Z eit nimm t das Entwurfso bje kt in der Vorstellung be-

stimmte Eigenschaften der verw endeten Vorbilder an. Und wen n es gel ingt,

diese Eigenschaften sinnvoll zu Liberiagern und mit einander zu verschrän-

ken, gewinnt das Objekt Reichhal t igkeit und Tiefe. Um diese W irkung zu er-

reichen. müssen die Eigenschaften, die ich in den Entwurf ei nbr·inge, mit der

konstruktiven und formalen Strukt ur des fertigen Hauses widerspru chslos

verschmelzen . Form und Konstrukt ion, Erscheinung und Fu nktion können

nun nicht mehr venemander getrennt werden. Sie gehö ren zusammen und

bilden ein Ganzes.

jetzt bet rachten wrr das Bauwerk. U nser Blick. vom analytischen Versta nd

geleitet, schweift ab und sucht sich an Einzelheit en fesczuhalten. Aber die

Synthese des Ganzen gewährt kein erschöpfendes Ver ständnis im Einzel-

nen. Alles verweist auf alles.

26
ln di esem Moment treten die ursprünglichen Motive des Entwurfes in den

Hintergrund. Die Vorbilder. Worte und Vergleiche, die nötig waren, um das

Ganze zu schaffen, verblassen . Sie erscheinen nun wie hinter sich gelasse-

ne Schritte. Der neue Bau steht im Zentrum und ist sich selbst. Seine Ge-

schichte beginnt.

Wid erstand
Ich glaube. dass sich die Architektur heute auf ihre ureigenen Aufgaben und

Möglichkeiten besinnen muss. Architektur ist kein Vehikel oder Symbol für

Dinge. die nicht zu ihrem Wesen gehören. ln einer Gesellschaft, die das Un-

wesentliche zelebriert. kann Architektur in ihrem Bereich Widerstand lei-

sten, dem Verschleiss von Formen und Bedeutungen entgegenwirken und

ihre eigene Sprache sprechen.

Die Sprache der Arch itektur ist in meinen Augen keine Frage eines bestimm-

ten Baustils. Jedes Haus wird für einen bestimmten Zweck, an einem be-

stimmten Ort und für eine bestimmte Gesellschaft gebaut. Die Fragen, die

sich aus diesen einfachen Tatsachen ergeben, versuche ich mit meinen Bau-

ten so genau und kritisch. wie ich kann , zu beantworten.

27
D er harte Kern der Schönheit

Vor zwei Wochen habe ich zufallig in eine Radiosendung über den ameri-

kanischen Dichter William Carlos Williams hineingehört. D ie Sendung trug

den Titel: Der horte Kern der Schönheit. D ieser Sat z liess mich aufhorchen.

Dass die Schönheit einen harten Kern hat, stelle ich mir gerne vor, und an

Architektur denkend, kommt mir dieser Z usammenhang von Schönheit

und hartem Kern vertraut vor. «Die Maschine ist ein D ing. das keine über-

flüssigen Teile hat», höre ich. soll W illiams gesagt haben. U nd ich glaube so-

fort zu wissen. was er damit mein t. Es ist ein Gedanke, den Peter H andke

anspricht. denke ich. wenn er sinngernäss sagt, dass die Schönheit in den

naturhaften, naturwüchsigen Dingen liege. die nicht von Z eichen o der

Botschaften beseut sind, und dass er verst immt sei, wenn er den Sinn der

D inge nicht selber entdecke. entdecken könne.

Und dann erfahre ich weiter aus dieser Sen dung, die Poetologie von W il-

liams ber uhe auf der Anschauung, dass es keine Ideen gebe, ausser in den

Dingen, und dass es in seiner Kunst darum gehe. die sinnliche W ahrnehmung

auf die dingliche Welt zu richten, um sich diese anzuverwandeln.

BeiWilliams,so sagt der Radiokommentat or,geschehe dies scheinbar emo-

tions los und lakonisch und gerade deswegen entwickelten seine Texte eine

derart starke emotionale Kraft.

Was ich da höre. spricht mich an: Emotionen mit Bauwer ken nicht hervo r-

ru fen wollen , sondern Emotionen zulassen, denke ich mir. U nd: Hart an der

Sache selber bleiben, nahe am eigentlichen Wesen des D inges, das ich zu

schaffen habe. und darauf vertrauen, dass das Bauwerk, ist es nur präzise

genug fur seinen Ort und seine Funktion erdacht, seine eigene Kraft ent-

w ickelt. die keiner kunstlerischen Z utat bedarf.

29
Der harte Kern der Schönheit: konzentrierte Substanz. Aber wo liegen die

Kraftfelder· der Architektur, die ihre Substanz jenseits von Oberflächlich-

keit und Beliebigkeit ausmachen?

Itala Calvino berichtet in seinen Lezioni americane vom italienischen Dich-

ter Giacomo Leo pard i, der· die Schö nheit eines Kunstwerkes. in seinem

Falle die Schönheit der Literatur, im Vagen, im Offenen und Unbestimmten

ans iedelt, weil es die Form fur vielfaltige Sinnerfüllungen offen hält.

LeopardisAussage leuchtet zu nachst einmal ein. Dinge, Kunstwerke , die uns

beruhren, sind vielschichtig, haben vrele, vielleicht unendlich viele Bedeu-

tungsebenen, die sich überlagern und verschränken und die sich im Lichte

der unterschiedlichen Betrachtungsweisen ver-ä ndern.

Aber wie erreicht man diese Tiefe und Vielschichtigkeit in einem Bauwerk,

das man als Architekt zu schaffen hat? Lässt sich das Vage und Offene ent-

werfen? Liegt hier nicht ein Widerspruch vor, zum Anspruch auf Genauig-

keit. den der Ansatz von W illiam s zu implizieren scheint?

Calvino gelangt anhand eines Textes des D ichters Leopandi, der dasVage fo r-

dert. zu einer überraschenden Antwor t: Er stellt fest. dass dieser Liebhaber

des Unbestimmten sich in seinen Texten mit Akribie und Treue an die Din -

ge hält, die er beschreibt und beschreibend hervorbringen will, und kommt

zum Schluss: «Dies also ist es, was Leopardi von uns verlangt, damit w ir die

Schönheit des Unbestimmten und Vagen geniessen können! Er fordert ei-

ne äusserst genaue und pedantische Aufmerksamkeit bei der Komposition

jedes Bildes, bei der minutrösen Definition der Details, bei der Wahl der

Objekte, der Beleuchtung und Atmosphäre, um die erwünschte Vagheit zu

erreichen.» Calvino schliesst mit dem scheinbar paradoxen Ausruf: «Der

Dichter des Vagen kann nur der Dichter der Präzision sein!»

Was mich an dieser Geschichte. die Calvino berichtet. interessiert, ist nicht

die Aufforderung zur geduldigen Kleinarbeit und Präzis ion, die w ir alle ken-

nen, sondern der H inweis darauf, dass Vielschichcigkeit und Reichtum aus

30
den Dingen selber sprechen. wenn wir sie genau erkennen un d zu ihrem

Recht kommen lassen.

Ins Architektonische gewendet, heisst das für mich. Kraft und Vielschichtig-

keit aus der Bauaufgabe entwickeln, das heisst, aus den Dingen, die sie aus-

machen oder eben: be-dingen.

John Cage sagt in einer Vorlesung sinngemäss, er sei kein Komponist. der

im Geiste Musik höre und dann versuche, diese aufzuschreiben. Seine Ar-

beitsweise sei eine andere. Er erarbeite sich Konzepte und Strukturen und

lasse sie aufführen. um erst dann zu erfahren, wie sie tönen.

Als ich diese Aussage las, ist mir in den Sinn gekommen, wie wir unlängst

im Atelier ein Projekt für ein Thermalbad in den Bergen entwickelten, oh-

ne uns zunächst einmal geistige Bilder für diese Bauaufgabe vorzugeben und

diese dann auf unsere Bauaufgabe bezogen abzuwandeln, sondern wie wir

versuchten. grundsätzliche Fragestellungen zu beantworten, die den Ort.,

die Bauaufgabe und die Baumaterialien- Berg.St ein.Wasser - betreffen und

die zunächst nicht bildhaft waren.

Erst nachdem es uns möglich geworden war. die Fragen an den Ort. das

Material und die Bauaufgabe schrittweise zu beantworten, sind nach und

nach Strukturen und Räume entstanden. die uns selber überraschten und

von denen ich glaube, dass sie das Potenzial einer ursprünglichen Kraft

haben. die hinter das Arrangieren von stilist isch vorgefertigten Formen

z.urückreicht.

Sich mit den Eigengesetzlichkeiten von konkreten Dingen wie Berg, Stein,

Wasser auf dem Hintergrund einer Bauaufgabe zu befassen. birgt die Mög-

lichkeit in sich. etwas vom ursprungliehen und gleichsam «zivilisatorisch

unschuldigen» Wesen dieser Elemente zu fassen, zum Ausdruck zu bringen

und eine Architektur zu entwickeln, die von den Dingen ausgeht und zu den

Dingen zuruckkehrt.Vorbilder und stilistisch vorgefertigte Formvorstellun-

gen kennen den Zugang hier nur versperren.

31
Meine Schweizer Kollegen Herzog und de Meuron reden davon, dass es -

ich zitiere sinngernäss -die Architektur als Ganzheit heute nicht mehr ge-

be und sie deswegen künstlich , sozusagen im Kopf des Entwerfers, in einem

Akt des Denkens. herzustellen sei. Die beiden Arch itekten leiten aus die-

sem Ansatz ihre Theorie der Architektur als D enkform ab, einer A rchitek-

tur. die, so nehme ich an. ihre erdachte und somit künstliche Ganzheit auf

eine besondere Weise reflektieren soll.

Die Architektur als Denkform-Theorie dieser Arch itekten möchte ich hier

nicht weiter verfolgen , wohl aber die dieser Anschauung zugrunde liegende

Annahme, dass es die Ganzheit eines Bauwerkes im alten. baumeisterliehen

Sinne heute nicht mehr gebe.

Ich persönlich glaube an die sich selbst genügende, körperliche Ganzheit

des architektonischen Objektes, wenn auch nicht als se lbstverstän dliche

Gegebenheit, sondern als schwieriges, jedoch unabdingbares Ziel meiner

Arbeit.

Aber wi e ist es möglich, diese Ganzheit in der A rchit ektu r zu erreichen. in

einer Zeit. in der das sinnstiftende Gottliehe fehlt und die W irklichkeit sich

1m Strom der vorüber ziehenden Bilder und Zeichen aufzulösen droht?

Bei Peter Handke lese ich vom Bemühen. Texte. Beschreibungen Tei l der

Umgebung werden zu lassen, von der sie handeln.Wenn ich seineAussagen

richtig verstehe, begegnet mir h1er nicht nur das mir bekannte Bewusstsein

von der Schwiengkeit. den in einem künstlichen Akt zu schaffend en Dingen

ihre Künstl ichkeit zu nehmen und sie der W elt der alltäglichen und natur-

haften D inge anzuverwandeln, sondern auch und einmal mehr der Glaube

daran, dass die Wahrheit in den Dmgen selbst liegt.

Ich denke, dass in künstlerischen Prozessen, die nach der Ganzheit ihrer

H ervor bringungen streben, immer w ieder versucht wird, diesen eine Prä-

senz zu verleihen, wie sie den Dingen in der Natur oder in der gewachse-

nen Umgebung e1gen ist.

32
So verstehe ich gut. wenn Handke, der sich im selben Interview als ein

Schriftsteller der Orte bezeichnet, von seinen Texten verlangt: «D ass da

keine Z utat passiert, sondern eine Erkenntnis der Einzelheiten und deren

Verknüpfung zu einem ( ... ) Sachverhalt.»

Das Wort Sachverhalt, das Hand ke hier wählt, erscheint mir erhellend im

Hinblick auf das Ziel, ungekünstelte, ganzheitliche D inge zu schaffen: Ge-

naue Sach-Verhalte herstellen. Bauwerke als Sach-Verhalte denken, deren

Einzelheiten richtig erkannt und in ein sachliches Verhältnis zueinander

gebracht werden müssen. Ein sachliches Verhältnis.

Was hier aufscheint, ist die Reduktion auf die Sachen und D inge, die sind.

Handke spricht in diesem Zusammenhang auch von der Treue zu den D in-

gen. Er möchte, so sagt er, dass seine Beschreibungen als Treue zum Ort,

den sie beschreiben, erlebbar sind und nicht als zusätzliche Färbung oder

Farbigkeit.
Säue dieser Art helfen mir, mich mit der Unlust abzufinden, die mich häufig

überkommt, wenn ich neuere Architektur anschaue. Immer wieder begeg-

ne ich Bauten, die mit A ufwand und dem Willen zur besonderen Form ge-

staltet sind, und bin verstimmt. Der Architekt, der das Ding gemacht hat, ist

zwar nicht anwesend, aber spricht zu mir oh ne Unter lass aus jedem D etail

des Gebäudes. und er sagt mir immer das Gleiche, das mich doch so rasch

nicht mehr interessiert. Gute Architektur sollte den Menschen aufnehmen,

ihn erleben und wohnen lassen, nicht ihn beschwatzen.

Warum, denke ich oft,wird das Naheliegende, Schwier-ige so selten versucht?

Warum begegnet man in jüngeren Architekturen so wenigVertrauen in die

ureigensten D inge. die A rchitektur ausmachen: Material, Konstruktion. Tra-

gen und Getragenwerden, Erde und Himmel, und Vertrauen in Räume. die

wirkliche Räume sein dürfen; Räume. zu deren raumbildender Umhüllung

und raumprägender Stofflichkeit, zu deren Hohlform, deren Leere, Licht, Luft,

Geruch.A ufnahmef.ihigkeit und Resonanzfähigkeit man Sorge trägt?

33
Personlieh stelle ich mir gerne vor, Hauser zu emwerien und zu bauen. aus

denen ich mich als Encwerier am Ende des Bauprozesses gleichsam zu-

rückziehe und dabei ein Bauw erk zurücklasse. da s sich selber ist, das dem

Woh nen dient als Teil derWeltder Dinge. das ohne meine personliehe Rhe-

torik auskommt.

Es gibt für mich ein schönes Schweigen von Bauten. das ich verbinde mit

Begnffen w1e Gelassenheit, Selbstverstandlichkeit, Dauer, Prasenz und In-

tegrität, aber auch W ärme und Sinnlichkeit: sich se lber sein, ein Gebäude

sein, nicht etwas darstellen. sondern etwas sein.

Say that it is a crud e effect. black reds.

Pink yellows, orange whites. too much as t hey are

To be anything else in ehe sunlight of ehe room ,

Too much as they are co be changed by mecaphor.

Too actua l, th ings that in being real

Make any imaginings of them lesser things.

Dies ist der Anfang des Gedichtes Bouquet of Roses in the Sunlighc des ame-

rikanischen «Lyrikers des stillen Schauens». Wallace Stevens.

Wallace Stevens, so lese ich im Beglei ttext zum Gedichtband. hat sich

der Herausforderung gestellt, lange. geduldig und genau hinzuschauen

und die D inge zu entdecken. ganz zu verstehen . Seine Gedichte sind nicht

Protest oder Klage um d1e verlorene Ordnung, auch nicht Ausdruck einer

Verscorung. sondern sie suchen eine dennoch mögliche Harmon ie, die -

m seinem Falle - nur die des Gedichtes sein kann. (Calvino argumentiert

ahnlich. wenn er sagt. dass er dem Verlust an Fo rm. den er überall kon-

statiert. nur eine einzige Abwehr entgegenzusetzen habe: eine Idee der

Literatur.)

34
Für Stevens ist die Realität das gesuchte Ziel. Der Surrealismus, so wird

er· zitiert, beeindrucke ihn nicht, denn er erfinde, ohn e zu entdecken. «Eine

Muschel Akkordeon spielen zu lassen, heisst erfinden, nicht entdecken».

sagt er. Hier erscheint er noch einmal, dieser Grundgedanke, den ich von

W illiams und Handke zu kennen glaube und den ich auch aus den Bildern

Edward Hoppers herauszuspüren vermeine: Nur zwischen der Wirklichkeit

der Dinge und der Imagination zündet der Funke des Kunstwerkes.

Wenn ich den eben zitierten Satz ins Arch itektonische übersetze, sage ich

mir: Nur zwischen der Wirklichkeit der Dinge, von denen ein Bauwerk

handelt. und der Imagination zündet der Funke des geglückten Bauwerks.

Und der Satz ist mir keine Offenbarung, sondern Bestätigung einer Erfah-

rung. die ich in meiner Arbeit immer wieder mache. und Bestätigung eines

Wollens. dessen Wurzeln in mir se lber zu liegen scheinen.

N un nochmals die Frage: Wo finde ich die Wirkl ichkeit. auf die ich meine

Einbildungskraft richten muss. wenn ich versuche. ein Gebäude für einen

bestimmten Ort und Zweck zu entwerfen?

Ein Schlüssel zur Antwort auf diese Frage liegt in den Wörtern Ort und

Zweck. glaube ich.

ln seinem Aufsatz «Bauen Wohnen D enken» sagt Martin Heidegger: «Der

Aufenthalt bei den D ingen ist Grundzug des Menschseins», was ich so ver-

stehe, dass wir uns niemals in einem Abstraktum, sonder n immer in einer

Dingwelt befinden, auch wenn w ir denken. Und weiter lese ich bei H eideg-

ger: «Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu den Räumen

beruht im Wohnen.»

Der BegriffWohnen, so weit gefasst w ie das H eidegger tut als Leben und

Denken an Orten und in Räumen, enthält einen genauen Hinweis auf das,

was Wirklichkeit für mich als Architekt bedeutet.

Es ist nicht die Wirklichkeit der von den D ingen abgelösten Theor ien, es

ist die Wirklichkeit der konkret en Bauaufgabe, die auf dieses Wohnen zielt,

36
die mich interessiert, auf die ich meine Einbildungskraft richten w ill. Es ist

die Wirklichkeit der Baumaterialien - Stein. Tuch, Stahl, Leder ... - und die

Wirklichkeit der Konstruktionen, die ich verwende, um das Bauwerk aufzu-

richten, in deren Eigen schaften ich mit meinerVorstellungskrafteinzudringen

versuche, um Sinn und Sinnlichkeit bemüht, damit vielleicht der Funke des

geglückten Bauwerkes zündet. das den Menschen zu behausen vermag.

Oie Wirklichkeit der Ar·chitektur ist das Konkrete, das Form-, Masse- und

Raumgewordene, ihr Körper. Es gibt keine Idee, ausser in den Dingen.

37
Von den Leidenschaften zu den Dingen

Es ist mir wichtig, über A rchitektur nachzudenken, Di stanz zu nehmen von

der tagliehen Arbeit, zurückzutreten und zu schauen, was ich mache und

warum ich es so mache. Ich liebe das und brauche es wohl auch. D enn ich

bin kein Architekt. der von der Theorie ausgeht, der von einem theoret isch

umrissenen Standort aus sozusagen in die Architekturgeschichte hinein ent-

wirft, sondern ich bin vielmehr dem A rchitektur-Machen, dem Bauen, dem

perfekt gemachten D ing verfallen, so w ie ich als Junge meine Dinge, die ei-

ner innern Vorstellung zu genügen hatten, gemacht habe. D inge, die so und

nicht anders sein konnten, aus Gründen, die ich eigentlich nicht kenne. Es

gab nur immer schon dieses sehr persönliche Gefühl für die Gegenstände.

die ich fur mich herstellte, die andere Menschen herstellen.

Dieses Gefühl ist mir nie als etwas Besonderes aufgefallen. Es war ein-

fach immer da. Heute w eiss ich, dass ich in mein er Arbeit als Architekt im

Grunde diesen frühen Leidenschaften, vielleicht sogar Obsessionen nach-

spüre, sie besser zu verstehen un d zu verieinern versuche. Und wenn ich

mir heute überlege. ob seit meiner Jugend nicht doch auch neue Bilder

und Leidenschaften zu den alten getreten sind. so will mir scheinen, ich

hätte den gefühlsmässigen Kern des neu Entdeckten irgendwie schon

immer gekannt.

Orte
Ich arbeite in Graubünden. in einem Bauerndori, umgeben von Bergen, ar-

beite aus diesem Ort heraus. wohne dort. Manchmal frage ich mich. ob die-

se Tatsache meine Arbeit beeinflusst, stelle mir auch nicht ungern vor. dass

dem so sein konnte.

39
Wurden meine Häuser anders ausschauen. wenn ich die letzten 25 Jahre

nicht in Graubünden. sondern in meiner Jugendlandschaft am Juranordfuss

mit ihren welligen Hügeln. Buchenwäldern und der vertrauten Nähe zur

Urbanität der Stadt Basel gear beitet hätte?

Sobald ich beginne. über diese Frage nachzudenken, merke ich, dass meine

Arbeit von vielen Orten geprägt ist.

Wenn ich mich auf einen bestimmten Ort konzentriere. für den ich zu

entwerfen habe, wen n ich versuche. diesen Ort auszuloten. seine Gestalt,

seine Geschichte und seine sinnlichen Eigenschaften zu begreifen, dann

beginnen in diesen Prozess des genauen Hinschauens schon bald Bilder

von anderen Orten einzudringen: Bilder von Orten, die ich kenne. die

mich einmal beeindruckt haben. Bilder von alltäglichen oder besonderen

Orten. deren Gestalt ich als Inbil d bestimmter Stimmungen und Quali-

täten in mir trage; Bilder von Orten oder architekt onischen Situationen

auch, die aus der Welt der bildenden Kunst. des Films. der Literatu r. des

T heaters, stammen.

Sie fallen mir zu. diese anderen, auf den ersten Blick oft unpassenden oder

fremden Orts-Bilder unterschiedlichster Herkunft. Oder ich zwinge sie

herbei. Ich brauche sie. Erst w enn ich im Geiste in den konkreten Ort ein-

strahlen lasse. was diesem ähnlich, verwandt oder zunächst fremd ist, ent-

steht dieses vielschichtige und t iefenschade Bild des Lokalen. das Bezüge

freilegt. Kräftelinien erkennen lässt, Spannungen aufbaut; es entsteht der

entwerferische Malgrund, das Netz der unterschiedlichen Wege der An-

näherung an den Ort kommt zum Vorschein, was mir die Entscheid ungen

des Entwerfens ermöglicht. So tauche ich in den Ort meines Entwurfes ein.

spure ihm nach. und gleichzeitig blicke ich nach aussen, in die W elt meiner

anderen Orte.

Von Bauwerken. die an ihrem Ort eine besondere Präsenz entwickeln, ha-

be ich oft den Eindruck. sie stünden unter einer inneren Spannung, die über

41
den Ort hinausweist. Sie begrunden ihren konkreten Ort indem sie von

der Welt zeugen. Das aus der Welt Kommende tst in ihnen eine Verbindung

eingegangen mit dem Lokalen.

Schöpft ein Entwurf alleine aus dem Bestand und der Tradition. wiederholt

er das, was sein Ort ihm vorgibt, fehlt mir die Auseinandersetzung mit der

Welr, fehlt mir die Ausstrahlung des Zeitgenössischen. Erzählt ein Stück

Architektur nur Weltläufiges und Visionäres. ohne ihren konkreten Ort

zum Mitschwingen zu bringen, vermisse ich die sinn liche Verankerung des

Bauwerkes an seinem Ort. das spezifische Gewi cht des Lokalen.

Beobachtu ngen

I Wir stehen um den Zeichentisch und reden uber ein Projekt, das ein

Architekt verfasst hat, den wir alle schätzen. Ich finde das Projekt in ver-

schiedener Hinsicht interessant, erwähne es in der D iskussionsrunde be-

stimmter Qualitäten wegen und füge dann noch bei. dass ich es vor einiger

Zeit einmal - ohne das positive Vorurteil meiner Wertschätzung für den

Projektverfasser - angeschaut habe und dabei feststellte, dass es mir als

Ganzes eigentlich gar nicht gefallt. Wir erörtern die möglichen Gründe für

meinen Eindruck, werden fündig in Einzelheiten. ohne aber zu einem Ge-

samturteil zu gelangen, bis dann einer der jungen Architekten aus der Run -

de sagt: Dieses Gebäude ist aus emwurfstheoretischen, konstruktiven und

anderen Gründen interessant; das Problem ist , es hat keine Seele.

Wochen später spreche ich mitAnnalisa beim Kaffee unter freiem Himmel

uber Hauser, dte eine Seele haben. Wir lassen viele Bauten, die wir kennen,

Revue passieren. beschreiben sie uns gegenseitig. Wenn wir dabei auf Bau-

ten stossen, die der gesuchten Qualität entsprechen, und uns das Besonde-

re, das sie an sich haben. in Erinnerung rufen, merken wir, dass wir bestimm-

te Häuser lieben.Viele sind es nicht. die uns in den Sinn kommen. Und ob-

wohl wir jew ei ls rasch w issen. welche in die gesuchte Kategorie gehören.

42
tun wir uns schwer damit, die dafür massgebenden Merkmale auf einen ge-

meinsamen Nenner zu bringen. Unser Versuch zu verallgemeinern, z.u ab-

strahieren, scheint den individuellen Bauten ihren Glanz, ihre Lebendigkeit

zu nehmen. Da mich das Thema nicht loslässt, nehme ich mir vor, anhand

von persönlichen Erlebnissen, in denen ich eine Beziehung zu meiner Arbeit

sehe, kleine Beschreibungen, fragmentarische Annäherungen zu versu chen

und mich dabei im Rahmen der Kategorien zu bewegen, mit denen ich ar-

beite, wenn ich mich um den Gehalt eines Bauwerks bemühe.

2 D ie Haupträume des kleinen Berghotels liegen an der breiten Seite des

länglichen Baukörpers und schauen ins Tal. Zu ebener Erde befinden sich

nebeneinander zwei holzgetäfelte Stuben, beide vom Gang aus zu betre-

ten und untereinander durch eine Tür verbunden. Oie kleinere scheint zum

bequemen Sitzen und Lesen einzuladen, die grössere ist offensichtlich der

Raum , in dem gegessen wird: Darin fünfTische. alle schön plauien. lm mitt-

leren Stock befinden sich Gästezimmer mit tiefen, schattigen Holzlauben

davor und zuoberst Gästezimmer hinter offenen Balkonen.

ln den oberen Zimmern würde mir der freie Himmel, der weite Ausblick

zu den Bergketten am Horizont gefallen. denke ich, als wir uns dem Haus

zum ersten Mal nähern. Aber auch die Vorstellung, eines der unteren Zim-

mer zu erhalten und die Intimität der Lauben am späten Nachmittag beim

Lesen oder Schreiben zu geniessen, scheint verlockend.

Am Fuss der Treppe. die von den 9beren Stockwerken zum Eingang hin-

unterführt. ist in der Stubenwand eine Öffnung angebracht. Eine Durch-

reiche fur Speisen. Auf dem Simsbrett der Durchreiche stehen am frühen

Nachmittag Früchtekuchen und weisse Teller fur die Gäste bereit. Der Duft

der frischen Kuchen überrascht uns. als wir die Treppe herunterkommen.

Die Tür zum gegenüberliegenden Raum steht halb offen. Küchengeräusche

dringen heraus.

43
Nach ein. zwei Tagen kennen w1r uns aus. Auf derjenigen Seite des

Hauses, die an die grosse Wiese angrenzt. sind Liegestühle gestape lt.

Drüben. 1m Halbschatten des Waldrandes bemerken wir in einem solchen

Stuhl eine lesende Frau. Wir nehmen zwei Liegen und suchen uns auch

einen Platz. Tagsüber setzen wir uns zum Kaffeetrinken meist an einen

der Holzklapptische auf der schmalen Veranda vor· den Stuben. Die schma-

len Holzbretter der Klapptische sind in regelmässigen Abständen an de r

vorderen Brüstung der Veranda angebracht. Gut zum Lesen , diese

kleinen, an die Brustung angeschmiegten Tisch-Orte. der Ellbogen ruht auf

dem breiten Verandasims. Das Brett hat dafür die richtige Höhe.

Bei den Gesprächen mit anderen Gasten des Hauses in der Däm-

merung sitzen wir meist an einem der grösseren Verandatische . Die-

se sind an der Hauswand aufgereiht und geschützt durch die vorsprin-

genden oberen Teile des Hauses. N ach dem Abendessen wird die Fen-

stertür zur Veranda geöffnet. man vertritt sich die Füsse, schaut ins Tal,

trinkt noch etwas, kommt ins Gespr-äch und setzt sich hin in der N ä-

he der Wand. d1e noch warm ist von der Sonne des Tages. Nur einmal

sitzen wir abends am grossen Ecktisch am unteren Ende der Veran -

da. der zum Eingangsbereich des Hauses gehört und der tagsüber mehr-

heitlich von Leuten benutzt wird, die zum Haus zu gehören scheinen.

Den Stunden an jenem Tisch ging eine E1nladung voraus. dort nach dem

Essen zusammenzukommen. Am Morgensonnentisch am anderen Ende

der Veranda war ich nie. An den sonnigen Morgentagen sass dort meist

jemand und las.

Wenn ich an Gebäude denke. die mrr auf ungezwungene und natürliche

Weise räumliche Situationen anbieten, die zum Ort, zum Tagesabla uf. zu

meiner Tätigkeit und meinem Befinden passen, wenn ich mir Architektur

vorstelle. dre m1r Raum zur Verfugung stellt. mich wohnen lasst. die meine

Bedurfnisse vorausahne und sie ohne grosses Aufheben erfullt. dann kommt

44
mir dieses Berghaus in den Sinn. Gebaut hat es ein längst verstorbener

Maler für sich und seine Gäste.

3 Aufgr und des ersten Eindruckes von aussen. bevor wir hineingingen,

rechneten wir mit der Möglichkeit , etwas Besseres als die anderen Lokale

an der Hauptstrasse des Touristenortes zu finden. Wir werden nicht ent-

täuscht. Durch den engen Windfang. der, wie sich herausstellt, in der Art ei-

nes Holzverschlages von innen vor die Eingangstür gebaut ist, betreten wir

einen grossen Raum. saalartig. hoch, die Wände und Decken sind mit dunk-

lem. matt glänzendem Holz verkleidet: Rahmen, Fü llungen, regelmässig ge-

gliederte Paneele, Sockelleisten, Gesimse, profilierte Balkenumerzüge. die

auf in Voluten auslaufenden Konsolen ruhen .

Die Stimmung im Raum ist dunkel. solange sich die Augen nicht angepasst

haben sogar düster. Der düstere Eindruck verliert sich rasch . das Licht im

Raum wirkt nun mild.Tageslicht, das im Rhythmus der hohen Fenster ein-

fallt . hebt Raumzonen hervor. während andere Tei le des Raumes, die nicht

vom Abglanz des Tageslichtes auf der Täfelung profitieren. im Halbschatten

liegen und zurücktreten.

Der Saal hat in der Mitte der grossen Stirnwand einen Schwerpunkt. der

meinen Blick schon beim Eintreten angezogen hatte: eine halbkreisförmi-

ge A usweitung des Raumes. eine Ausbuchtung der Aussenwand, so gross.

dass fünfTis che. entlang der Wandrundung an die Fenster gerückt, gut in ihr

Platz. finden. Der Fussboden in dieser raumhohen Nische liegt eine niedri-

ge Stufe höher als der restliche Saalboden. Keine Frage, dort möchte ich

sitzen. Zwei oder drei T ische in dieser Nische sind noch frei, drei sind be-

setzt. Oie Leute. die dort sitzen. ohne Zweifel gewöhnliche Gäste, kom-

men mir privilegiert vor.

Wir zögern , entscheiden uns schliesslich für einen Tisch im fast leeren

Hauptsaal,lassen uns dort aber doch nicht nieder. sondern gehen lange We-

45
ge auf der Suche nach einer Bedienung. Nach einerWeile tritt ein Mädchen

aus einer Tür in der Täfelung der Innenwand und führt uns gleich zu einem

Tisch in der Nische. Wir setzen uns hin. Die leichte Irritation. hervorgeru-

fen durch unser Eindringen in die vorhandene Gesellschaft der Gäste, klingt

rasch ab. Wir rauchen unsere ersten Zigaretten und bestellen W ein.

Am Nebentisch führen zwei Frauen ein angeregtes Gespräch. Oie eine

spricht amerikanisches Englisch, die andere Schweizerdeutsch. Keine der

beiden sp1·icht je ein Wort in der Sprache der anderen. Die Stimmen der

Gruppe am übernächsten Tisch klingen angenehm entfernt. Ich schaue gele-

gentlich in die Runde und nehme allmählich die Stimmung auf. Ich geniesse

es. im L1cht zu sitzen. eines der Fenster. die nun noch höher wirken. neben

mir zu haben. in die abgedunke lte Weite des Saals zu schauen. Die Leute,

mit ihren Gesprächen und Verrichtungen beschäftigt. scheinen gerne hier zu

sein. geben sich naturlieh und fühlen sich bei gerade noch spürbarer Rück-

sichtnahme, die ihrer Haltung einen Anflug von Würde verleiht, durch die

Anwesenheit der anderen nicht gestört. Ab und zu begegnet mein Blick ih-

ren Gesichtern. und mit meinem eigenen Tun beschäftigt, weiss ich sie nicht

ungern neben mir, in diesem Raum, in dem wir alle gut aussehen.

4 Wir fahren auf einer kalifornischen Küstenstrasse und finden schliess-

lich die Schule. die der Architekturführer ohne besonderen Nachdruck

auflistet: weitläufige Pavillonstruktu ren auf einer grossen Abflachung

des Geländes hoch über dem Pazifik. Kaum Bäume. durch die Grasnar-

be druckt der karstige Fels. wenige Häuser in der näheren Umgebung.

Asphaltierte Wege, überdeckt mit Betonplatten auf Stahlstützen. verbin-

den d1e meist emgeschossigen, aber hohen Trakte, deren flache Dach-

scheiben an vielen Stellen weit überstehen. W ir gehen durch die offe-

nen Verbindungsgänge. Das Gefüge der Wege und Pavillonzeilen. die die

Klassenzimmer zu enthalten scheinen, ist regelmässig. bricht dann aber

46
plötzlich ab bei Gebäuden, deren besondere Funktion wir mehr erahnen

als erkennen. Der Ort ist menschenleer. es ist Ferienzeit. Einen Blick in

die Klassenräume zu werfen ist schwierig, ihre Fenster liegen hoch. Irgend-

wo steht ein grosses Metalltor ein klein wenig offen, das einen seitlichen

Hofraum abschliesst, der zu einem Klassenzimmer zu gehören scheint. Hier

gelingt uns ein Blick in den Raum mit den Tischen und der Wandtafel. Die

Ausstattung ist nüchtern. Die Wände und der Boden zeige n Spuren inten-

siver Benutzung. Das hoch einfallende Tageslicht verleiht dem Raum eine

Stimmung. die ich als mild und konzentriert empfinde.

Schutz vor der Sonne. Schutz vor dem Wind, sinnvoller Umgang mit dem

Licht. denke ich und weiss, dass ich damit längst nicht alle Besonderheiten

dieser Architektur verstanden habe, weder ihre einfache bauliche Struk-

tur zum Beispiel, die an industrielle Betonvorfertigung erinnert, noch ihre

Grosszügigkeit oder das Fehlen von pädagogisch gedachten Verschönerun-

gen, die ich von europäischen Schulhäusern kenne.

Der Besuch hat sich gelohnt. Ich nehme mir einmal mehr vor, in meiner Ar-

beit an die einfachen und praktischen Dinge zuerst zu denken, sie gross. gut

und schön zu machen, sie zum Anlass für die besondere Form zu nehmen,

wie ein Baumeister, der sein Metier versteht.

5 Mit 18 Jahren. meine Lehrzeit als Möbelschreiner näherte sich dem En-

de, baute ich mir meine ersten, selbst entworfenen Möbel. Normalerwei-

se stellten wir in der Werkstatt Möbel her, deren Form und Konstruktion

der Meister oder die Kunden bestimmten und die mir nicht gefielen. Auch

das Holz, das wir für alle besseren Stücke verwendeten, gefiel mir nicht:

Nussbaum. Fur meine Möbel wählte ich die helle Esche. und die einzel-

nen Stücke arbeitete ich so. dass sie von allen Seiten gut aussahen: hinten

und vorne waren sie mit derselben Sorgfalt und mit dem gleichen Material

verfertigt. Über den Brauch der Schreiner, Rückseiten von Möbeln etwas

47
billiger und weniger aufwendig auszufüh ren , weil sie ja sowieso niemand

sieht. setzte ich mich hinweg. Endlich konnte ich nun auch die Kanten meiner

Möbel nur ganz wenig abrunden, ohne korrigiert zu werden. Leicht und rasch

fuhr ich mit dem Schleifklotz über die Kanten der fertig zusammengebauten

Heizkörper. um ihnen die störende schneidende Schärfe zu nehmen und die

Eleganz der feinen Linie zu erhalten. Die Ecken. in denen jeweils drei Kan-

ten des Körpers zusammenlaufen, berührte ich mit dem Schleifklau kaum.

Mit minimalen Fugen baute ich die Tür des kleinen Schranks in den Rah-

men der Front, so dass sie mit einem sanften Reibungswiderstand und ei-

nem schwach wahrnehmbaren Luftgeräusch bündig schloss.

Meine Gefühle bei jener Arbeit waren gut. Die präzisen Formen und

satten Fugen herzustellen, versetzte mich in einen Zustand der Konzen-

tration, und die fertig gestell ten neuen Möbel brachten etwas Frisches in

meine Umgebung.

6 Unsere Vorstellung ist folgende: Ein länglicher, schmaler Block aus Ba-

saltstein ragt gut drei Geschosse hoch aus dem Bod en. Der Block wird

von allen Seiten her ausgehöhlt. bis nur noch eine Längsrippe in der Mit-

te. Querrippen und drei waagrechte Horizontalrippen stehen bleiben. Von

der gedachten Masse des Blockes ist nun im Querschnitt betrachtet eine

Art Baum, ein T mit drei Querstrichen. übrig geblieben: ein Steinobjekt am

Rande der Altstadt. dunkel, fast scnwarz, matt glänzend - die Tragstruktur

und RaumstruktUr eines dreigeschossigen Gebäudes, gegossen aus dunkel

eingefärbtem Beton, fugenlos, mit Steinöl eingelassen, mit Oberflächen, die

sich anfühlen wie Paraffin.Türgrosse Ausschnitte in den Rippen, Löcher im

Stein. machen dessen Masse deutlich.

Wir gehen sorgfaltig um mit dieser Steinskulptur, denn sie ist schon fast das

ganze Haus. Das Fugenbild der Heizplatten. in denen sie gegossen wird. ge-

stalten wir als feines Netz, das alle Oberflächen regelmässig überzieht, und

49
achten darauf. dass die Fugen. die beim abschnittsweisen Giessen des Be-

tons entstehen, in diesem Netz aufgehen. D ünne Stahl rahmen , die wie Klin-

gen in der Mitte der Türleibungen aus dem Steine vorspringen. halten die

Türflügel. Leichte Glas- und Metallpaneele setzen wir von aussen zwischen

die Konsolen der Geschossplatten,damit die Zwischenräume zwischen den

Rippen zu Räumen, zu verglasten Veranden werden.

Unsere Auftraggeber finden die Art und Weise. wie wir die Materialien ein-

setzen wollen , wie wir die Fugen und Übergänge von Bauteil zu Bauteil ent-

wickeln. die Genauigkeit im Detail, die wir erreichen wollen, zu aufwendig.

Sie möchten, dass wir mehr auf allgemein übliche Bauteile und Konstruk-

t ionen zurückgreifen und an die Handwerker und Techniker. die das Haus

mit uns planen und bauen, nicht so hohe Anforderungen stellen - dass wir

billiger bauen.

Wenn ich mir die Ausstrahlung des Hauses am Ort, für den wir es erdacht

haben, in fünf Jahren, in fünf Jahrzehnten vorstelle. wenn für alle Leute, die

dem Haus in irgendeiner Form begegnen. nur noch zählt, was gebaut ist ,

fällt es mir nicht so schwer, den Vorstellungen der Auftraggeber zu w ider-

stehen.

7 D en Saal mit der Sitznische in der Stirnwand, der mir so gut gefallen hat,

dass ich darüber schrieb. habe ich später nochmals besucht. Ich war mir

nicht sicher, ob die niedrige Stufe. die den Boden der Nische vom Haupt-

raum abhebt, tatsächlich existiert. Es gibt sie nicht. Auch die Unterschiede

in der Helligkeit zwischen N isch e und Saal sind nicht so ausgeprägt wie ich

mich an sie beim Schreiben zu erinnern glaubte , und die fade Helligkeit der

Wandverkleidung hat mich enttäuscht.

Diese Unterschiede zwischen der W irklichkeit und meiner Erinnerung ha-

ben mich nicht überrascht. Ich war nie ein guter Beobachter, wollte nie

so r ichtig einer w erden. Ich nehme gerne Stimmungen auf, bewege mich

50
gerne in räumlichen Situationen, bin zufrieden , wenn ein gutes Gefühl, ein

Eindruck zurückbleibt, aus dem ich später, wie beim intensiven Betrachten

eines Bildes. Einzelheiten herauslesen und mi ch fragen kann. was wohl das

Gefühl der W ärme. der Geborgenheit, der Leichtigkeit oder der Weite

ausgelöst hat, das mir in Erinnerung blieb. Wen n ich so zurückblicke, las-

sen sich A rchitektu r und Leben, die räumliche Situation und was ich in ihr

erlebte. nicht mehr trennen. Auch wenn ich mich nur auf die A rchitektu r

konzentriere. versuche zu verstehen, was ich sah. schwingt das Erlebte mit

und farbt das Gesehene ein. Und Erinnerungen an ähnliche Erfahru ngen

dringen ein. Die Bilder verwandter architektonischer Situationen über-

lagern sich und verdichten sich gegenseitig. D ie Stufe in der Nische hätte

sein können. Vielleicht war sie sogar einmal dort und wurde nachträglich

entfernt? Oder· wenn sie nie dort war. müsste man sie vielleicht einbau-

en, um den Raum zu verbessern? Jeut bin ich schon wieder Architekt, und

ich merke, wie gern ich mi t diesen offenen Bildern arbeite und wie sie mir

helfen. das Gesuchte zu finden.

SI
Der Körper der Architektur

Beobachtungen

1 Der Kurator des Museums macht ein Interview mit mir. Mit klugen und

überraschenden Fragen versucht er. mich auszuhorchen. Wie ich über Ar-

chitektur denke. was mir bei meiner Arbeit wichtig ist, soll deutlich werden.

Das Aufnahmegerät läuft. Ich tue mein Bestes. Am Schluss des Interviews

bin ich mit meinen Antworten nicht so richtig zufrieden.

Später am Abend unterhalte ich mich mit einer Freundin über den jüngsten

Film von Aki Kaurismäki.lch bewundere die Sympathie und den Respekt, die

der Regisseur seinen Filmfiguren entgegenbringt. Er hat seine Schauspieler

nicht am Gängelband des Dirigenten, der mit ihnen ein Konzept zur Dar-

stellung bringen will, sondern setzt vielmehr die Schauspieler selbst ins Bild.

lässt uns ihre Würde. ihr Geheimnis spüren. Die Kun st Kaurismäkis verleiht

seinen Filmen einen Ausdruck von Wärme. sage ich zu meiner Kollegin und

weiss nun, was ich am Morgen gerne aufs Tonband gesprochen hätte. Häu-

ser bauen zu können. so wie Kaurismäki Fi lme macht. das w äre schön.

2 Das Hotel, in dem ich wohnen soll, stammt von einem französischen Star-
designer, dessen Arbeit ich nicht kenne. weil mich trendiges Design eigent-

lich nicht interessiert. Aber schon beim Eintreten in die Hotelhalle beginnt

seine Inszenierung, auf mich zu wirken. Kunstlicht erhellt die Halle wie ei-

nen Bühnenraum. Viel gedämpftes Licht. ln den Wandnischen auf den aus

unterschiedlichen Natursteinen gearbeiteten Empfangspulten hat es helle

Akzente . Wer die elegant sich abhebende Treppe zum umlaufenden Gale-

riegeschoss benützt, geht vor einer strahlenden Wand aus Blattgol d. Oben

setzt man sich in eine der Balkonlogen. die auf die Halle hinunterschauen,

53
fur einen Drink. zum Essen. Es gibt nur gute Plätze. Christopher Alexander.

der in Pattern Language von raumliehen Situationen spricht. die den Men-

schen mstinktiv behagen, ware wohlzufrieden.Ais Z uschauer sitze ich oben

und fuhle mich gut als Tei l der Inszenierung des Designers. Es ist mir an-

genehm. auf den Bemeb m der Halle hinunterzuschauen, in der die Leute

kommen und gehen, ihren Auftritt haben. Der Erfolg des Designers scheint

mir verstandlich .

3 Sie habe ein klemes Wohnhaus von Frank Lloyd Wright gesehen, das sie

sehr beeindruckt habe, sagt H. D ie Räume seien niedrig gewesen. klein und

intim. Eine winzige Bibliothek habe es gehabt. mit einer besonderen Leuch-

te. und viele architektonische Verzierungen überall. und das ganze Haus habe

diesen starken A usdruck von Horizontalität verm ittelt, wie sie es noch nie

gesehen habe. und die alte Frau habe noch gelebt und das Haus bewohnt.

Ich brauche m1r das H aus nicht anzuschauen. denke ich. ich we iss. was sie
meint, kenne d1eses Gefühl für ein W ohnhaus.

4 Unserer Jury werden Bauten vorgelegt von Architekten. die sich um eine

Auszeichnung für gute ArchitektUr bewerben. Ich studiere die D okumenta-

tion eines kleinen roten Holzhauses in ländlicher Umgebung. eine als Wohn-

haus umgebaute Scheune. die von den A rchitekten und Bewohnern erwei-

tert w urde. D ie Erweiterung ist gelungen. denke ich für mich. D er Baukörper

unter dem Satteldach lässt den Anbau erkennen. wirkt gut modelliert und

ganzheitlich. Die Fensteroffnungen sind mit Gefühl gesetzt. Alt und neu ist im

Gleichgewicht. Die neuen Teile des Hauses scheinen nicht sagen zu wollen:

«Ich bin neu». sondern vielmehr: «Ich bin Teil des neuen Ganzen.» Es ist nichts

Spektakuläres oder Innovatives da, etwas. das ins Auge springen w ürde.Vom

Pnnzip der Gestaltung her ist dies vielleicht eher eine altmodische. handwerk-

liche Haltung. Wir waren uns emig. dass man diesem Umbau keine Design-

54
auszeichnung z.usprechen kann. Dafür ist er im architektonischen Anspruch

zu besche1den.Troczdem denke ich gerne an das kleine rote Haus zurück.

5 ln emem Buch uber da s Bauen m it Ho lz w ecken Bilder von grossen

Wasserflachen. auf denen dicht gedrängt riesige Felde1· von Baumstäm-

men schwimmen. mein Interesse. Auch das Bild auf dem Umschlag des

Buches.eme Collage mitgeschnitt enen Holzern in querschnittartigen Schich-

tungen. spricht m1ch an. Die vielen abgebildeten Bauten aus Holz. obwohl

von guter Qual itat, tun dies weniger. Die Zeit meiner eigenen Holzbauten

liegt em1ge Jahre zuruck.

«Wie wurdest du heute. nachdem du uber Jahre an Ba uten aus Stein und

Beton. Stahl und Glas gearbei tet hast. ein H olzhaus bauen wollen?» fragt

m1ch me1n junger Kollege Das Bild. von dem ich meine Antwort ableiten

kann. 1st sofon da: Ein hausgrosser Block aus massivem Holz. ein dichtes

Volumen aus der biologischen Masse Holz, waagrecht geschichtet, w ird aus-

gehehlt. mit raumhohen Nuten und prazisen Höhlungen versehen, wird zum

Gebaude .. . «Und die Tatsache. dass der Körper des derart konstruierten

Hauses. verursacht durch das Quellen und Schwinden des Holzes. seine

Ausdehnung verandern wü rde, dass er sich bewegen würde , am Anfang be-

trachdlch an Hohe verl1eren wu r de. ware als Qual ität zu begreifen und im

Entwurf zu thematisieren», sage ich.«ln meiner Muttersprache,auf Spanisch».

g1bt mem Junger Kollege zur Antwo rt. «gibt es diese N ähe der W ö rter Holz.

Mutter und Stoff: madero. modre. mateno. » W ir beginnen ein Gespräch uber

d1e smnl1chen Eigenschaften und die kulturelle Bedeutung der primären

Werkstoffe Holz und Stem und w ie wir diese in unseren Gebäuden zum

A usdruck bnngen konnten .

6 Central Park Sout h. New York. Saal im obersten Stock. Es ist Abend.

Vor m1 r hegt das nesige Baumrechteck des Parks. eingerahmt von der auf-
ragenden, steinernen. erleuchteten Masse der Stadt. Grassartigen Städten
liegen klare und grosse Ideen der Ordnung zugrunde, denke ich. Das recht-
winklige Strassenraster. die schräge Linie des Broadway, die Uferlinien der
Halbinsel. ln den Planquadraten drängen sich die Gebäude, wuchern in die

Höhe, individualistisch, selbstverliebt, anonym, rücksichtslos, gebändigt im

Raster.

7 Etwas verloren steht die ehemalige Stadtvilla in der parkartigenWeite.Ais


einziges Wohngebäude des Stadtteiles hat sie die Zerstörungen des Zwei-
ten Weltkrieges überlebt. Schon lange als Botschaftsgebäude benutzt. wird
die Villa nach den Plänen eines fahigen Architekten um einen Drittel ihres

bisherigen Volumens vergrössert. Hart und selbstbewusst steht der neue


Anbau zum Altbau. Hier Hausteinsockel, Fassadenstuck und Balustraden -
da ein zeitgenössisch reduzierter N ebenkörper aus Sichtbeton, kontrolliert
im Zuschnitt des Volumens, das sich an den alten Hauptbau anlehnt, jedoch

auf dialogischer Distanz zum Alten, was die Gestaltung betrifft. Ich muss an

das alte Schloss in meinem Dorf denken. Viele Male wurde es über die Jahr-
hunderte umgebaut und vergrössert. Es entwickelte sich schrittweise aus

freistehenden Bauten zur heutigen geschlossenen Anlage mit Innenhof. Und

in jedem Bauzustand wurde wieder eine neue architektonische Ganzheit


hergestellt. Geschichtliche Brüche wurden nicht gestalterisch thematisiert.
Das Alte wurde dem Neuen angepasst oder das Neue dem Alten, weil man

offenbar ganz selbstverständlich stets die in sich geschlossene Erscheinung


des neuen Zustandes anstrebte. Erst wenn man ihre Substanz analysiert,

den Putz entfernt und die Fugen in de n Mauern untersucht, geben diese
alten Bauten ihre komplexe Entstehungsgeschichte zu erkennen.

8 Ich betrete den Ausstellungspavillon. Noch einmal die Inszenierung

der schiefen Wände. schrägen Ebenen, locker und spielerisch miteinander

57
verbundenen Flachen, der Stäbe und Seil e. die hängen. lehnen. schweben,

ziehen. spannen oder auskragen. Die Komposition verweigert den rechten

Wmkel. sucht em Informelles Gleichgew icht. Arch itektur, die dynamisch

w irkt, Bewegung symboli si ert. Ihre Gestik beansprucht den Raum, w ill

wirken und angeschaut werden. Fur mich bleibt wenig Raum. Ich folge dem

gew undenen Pfad, den die A rchit ektur vorgibt.

Im nachst en Pavillon begegne ich der weit ausholenden, mit grossen Lini-

en und Formen arbei t enden Eleganz der Bauten des brasilianischen Altmeis-

t er s N 1emeyer. Einmal mehr wecken die grossen Raume, die Leere der

riesigen Platzflachen auf den Fotos mein Interesse.

9 Am Str and des kleinen Badeortes in der Region Cinque Terre. vornehm-

lich besucht von Italienischen Gast en. tragen auffallend viele Frauen eine

Tät ow ierung auf der Haut, erzählt mir A. Man versichert sich seines Kör-

pers. setzt ihn ein. um die eigene Identität zu behaupten. Der Körper als

Z uflucht in etner W ei t, die von künstlichen Zeichen des Lehens verste llt zu

sein schemt. m der Philosophen über virtuelle Realitäten nachdenken.

D er menschliche Körper als Gegenstand der zeitgenössischen Kunst. N ach

Erkenntnis strebende Befragungen. Offenlegungen. oder der eigene Körper

als Vers icherung eigener Identität. die nur noch glückt. wenn ich ihn im Spie-

gel oder mit den Augen der anderen sehe?

Ich besuche den Raum mi t der Ausstellung von zeitgenössischen Architek-

turp roJekten aus Frankre ich. Glänzende Objekte aus Glas. kantenlose, sanft

geformte Korper fallen m1r auf. Elegant gespannte Rundungen, die die geo-

memschen Grundvolumen der Objekte an bestimmten Stellen aufwölben,

deren Umnsse m1ch an lange Lin1en in den Aktzeichnungen Rodins erin-

nern. verlerhen den Ob1ekten die Qualität von Skulpturen.

Arch1tekturmodelle. Modelle. Schone Korper. Z el ebriert wird ihre Oberfla-

che. rhre Haut. H ermetisch und makellos umspannt sie die Körper.

58
I0 Ein Glasabschluss unterteilt die Länge des schlanken Korr·idors des

alten Hotels. Ein Türflügel unten, ein festes Glas oben, keine Rahmen. die

Gl äser an den Eckpunkten zwischen zwei Metallplatten festgeklemmt und

gehalten. Eine gewöhnliche Ausführung, nichts Besonderes. Sicher keine

Gestaltung einesArchitekten.Aber· die Tür gefällt mir. Sind es die Proportio-

nen der beiden Gläser, die Form und Position der Beschläge auf dem Glas,

der Glanz des Glases in der abgedämpften Farbigkeit des düsteren Ganges

oder ist es die die Höhe des Ganges sichtbar machende Tatsache, dass das

obere Glasfeld viel höher ist als der normal hohe Türflügel darunter. was

mir gefallt? So r ichtig finde ich es nicht heraus.

I I Man zeigt mir Fotos eines komplex geformten GebäudesVerschiedene

Felder, Ebenen und Volumen scheinen sich zu überlagern. stehen schief und

gerade. sind ineinander verschachtelt. Das Gebäude, dessen ungewöhnliche

Erscheinung mir keine direkten Hinweise auf seine Funktion gibt, macht auf

mich einen seltsam überladenen und gequälten Eindruck. Es kommt mir ir-

gendwie zweidimensional vor. Für einen Moment ,glaube ich. Aufnahmen

eines bunt bemalten Kartonmodells vor mir zu haben. Später erfahre ich

den Namen des Architekten. und mich durchzuckt ein kurzer Schrecken.

Habe ich mich getäuscht. aus Unkenntnis voreilig geur·teilt? Der Archi-

tekt trägt einen international klingenden Namen. Seine sti lvollen Architek-

turzeichnungen sind bekannt, und seine schriftlichen Äusserungen zur

Architektur der Gegenwart. die auch phi losophische Themen behandeln,

das weiss ich. werden häufig publiziert.

12 Wir besuchen eine Stadtvilla in Manhattan. Sie hat eine gute Adresse

und ist soeben fertig geworden. Die neue Fassade in der Strassenflucht ist

nicht zu übersehen. Auf den Fotos wirkte der von Glas umrahmte Schild

aus N atursteinplatten kulissenhaft. Nun, in Wirklichkeit, erscheint die Fassa-

60
de ganzheitlicher, mehr gebunden und in die Umgebung eingebunden. Mei-

ne Gewohnheit, das, was ich sehe, kritisch zu kommentieren, erlischt beim

Betreten des Hauses. Die Qualität, mit der das Haus gebaut wurde , nimmt

mich sofort gefangen. Der Architekt empfängt uns, führt uns ins Vestibül

und von Zimmer zu Zimmer. Die Räume sind grosszügig, die Abfolgen lo-

gisch. Man freut sich auf den nächsten Raum und wird nicht enttäuscht. Die

Qualität des Tageslichts, das über die verglaste Rückfassade und ein Ober-

licht über der Treppe einfallt, ist angenehm. Der intime Hinterhof, an den

die Haupträume grenzen, wirkt von Geschoss zu Geschoss in die Tiefe des

Hauses hinein.

Der Architekt spricht mit freundschaftlichem Respekt von den Auftragge-

bern,den soeben eingezogenen Bewohnern, von ihrem Verständnis für seine

Arbeit. von ihren Bedürfnissen, die er zu erfüllen suchte, von ihrer Kritik an

unpraktischen Dingen, die er verbessern musste. Dabei öffnet er Schrank-

türen, senkt die grossen Markisen aus Gitterstoff, die den Wohnraum in ein

mildes Lich t tauchen, führt uns Faltwände vor und bewegt riesige Schwing-

türen, die sich an zwei Zapfenbändern geräuschlos bewegen und präzise

schliessen.Ab und zu berührt er die Oberfläche eines Materials, fahren sei-

ne Hände über einen Handlauf. eine Fuge im Holz, eine Glaskante.

13 ln der Stadt, die ich besuche, gibt es ein schönes Quartier. Gebäude

aus dem 19. Jahrhundert und der Jahrhundertwende, massive Körper ent-

lang den Strassenzügen und Plätzen. a1.1s Stein und Ziegel gebaut. Nichts

Aussergewöhnliches. Aber typisch städtisch. Die öffentlichen Lokale sind

zur Strasse hin orientiert, die Wohnungen und Arbeitsräume dagegen zie-

hen sich hinter den Schutz der Fassaden zurück, verbergen die Sphäre des

Privaten hinter repräsentativen Gesichtern, hinter anonymen Gesichtern,

hinter klaren Abgrenzungen zum öffentlichen Raum, der hart am Fusspunkt

der Fassaden beginnt.

61
Man hatte mir gesagt. dass viele Architekten in diesem Quartier wohnen

und arbeiten. Daran wurde ich erinnert, als ich einige Tage später in der

gleichen Stadt eine von namhaften Architekten geplante Stadterweiterung

anschaute und an das eindeutige H in ten und Vorne urbaner Strukturen.

an genau artikulierte öffentliche Räume, an vornehm zurückhaltende Fas-

saden und an passgenau zugeschnittene Bauvolumen für den Körper der

Stadt denken musste.

14 Über Jahre arbeiten wir am Konzept. an der Form, an den Plänen für

unser Therma lbad aus Stein. Dann wird es gebaut . Ich stehe vor den ersten

Blöcken, die die Maurer mit den Steinen aus dem nahe gelegenen Stein-

bruch aufgemauert haben. Ich bin überrascht und irritiert. A lles entspricht

zwar genau unseren Plänen. Aber diese harte und zugleich weiche, die-

se glatte und felsähnliche, diese in vielen Grau- und Grüntönen schi llern-

de Prasenz der aus Steinplatten gefügten Quader habe ich nicht vorausge-

ahnt. Fur einen Moment beschlei cht mich das Gefühl, unser Projekt ent-
gleite mir und verselbständige sich. weil es nun Materie wird und eigenen

Gesetzmässigkeiten folgt.

15 Im Guggenheimmuseum sehe ich mir das Schaffen der Künstlerin Meret

Oppenhe im an. Ihre hier versammelten A rbeiten sind in der Technik auffal-

lend unterschiedlich. Ein durchgehender Stil ist nicht zu erkennen. Ihre Art

zu denken, ihre A rt, die W elt zu betrachten und mit ihren Arbeiten in die

Welt einzugreifen, empfinde ich jedoch als kohärent und ganzheitlich. So

ist es wohl müssig, darüber nachzudenken. was die berühmte Pelztasse mit

der aus Koh lestucken gefügten Sch lange verbindet. Jede Idee brauche ihre

Form. damit sie wirksam wird. soll sie sinngernäss gesagt haben.

62
Architektur lehren, Architektur lernen

Junge Menschen kommen an die Universität, wollen Architekten oder Ar-


chitektinnen werden. wollen herausfinden. ob sie das Zeug dazu haben.Was
vermittelt man ihnen zuerst ?
Zunächst ist ihnen zu erklären. dass kei n Lehrer vor ihnen steht, der Fragen
stellt, auf die er die Antwort schon im Voraus weiss. Architektur machen
heisst, sich selber Fragen stellen, heisst. die eigene Antwort mit Unterstüt-
zung de r Lehrer annähern, einkreisen. finden. Immer wieder.
Die Kraft eines guten Entwurfes liegt in uns selbst und in unserer Fä-
higkeit, die We lt mit Gefüh l und Verstand wahrzunehmen. Ein guter
architektonischer Entwurf ist sinnlich. Ein guter architektonischer Entwurf

ist klug.
Architektur haben wir alle erlebt, noch bevor wir das Wort Architektur
überhaupt kannten. Die Wurzeln unseres Arch itekturverständnisses lie-
gen in unseren frühen Architektu rerfahrungen: Unser Zimmer, unser Haus,
unsere Strasse, unser Dorf, unsere Stadt, unsere Landschaft - früh haben
wir sie erfahren, unbewusst, und sie später verglichen mit den Landschaf-
ten. Städten und Häusern. die neu dazukamen. Die Wurzeln unseres Archi-
tekturverstän dnisses liegen in unserer Kindheit, in unserer Jugend; sie lie-
gen in unserer Biographie.
Die Studenten müssen lernen, mit ihren persönlichen biographischen Ar-
chitekturerfahrungen als Grundlage des Entwerfens bewusst zu arbeiten.
Die gestellten Entwurfsaufgaben sind so angelegt, dass sie diesen Prozess
in Gang bringen.
Wir fragen uns. was hat uns damals an diesem Haus, in dieser Stadt ge-
fallen. beeindruckt, berührt - und warum? Wie war der Raum, der Platz

65
beschaffen, wie hat er ausgesehen, welcher Geruch lag in der Luft, wie haben

meine Schritte in ihm geklungen, wie hat meine Stimme in ihm getönt, wie

haben sich der Boden unter meinen Füssen. die T ürklinke in meiner Hand

angefühlt. wie war das Licht auf den Fassaden. der Glanz auf den Wänden?

War da ein Gefühl von Enge oder Weite, von Intimität oder Grösse?

Bretterböden wie leichte Membranen, schwere Massen aus Stein, weiche

Tücher. polierter Granit, sanftes Leder, roher Stahl, poliertes Mahagoni. kris-

tallines Glas. weicher Asphalt von der Sonnen gewärmt - die Materialien

der Architekten , unsere Materialien. Wir kennen sie alle. Und wir kennen

sie doch nicht. Um zu entwerfen. um Architekturen zu erfinden, müssen

wir lernen. bewusst mit ihnen umzugehen. D as ist Forschungsarbeit; das ist

Erin neru ngsarbeit.

Arch itektu r ist immer konkrete Materie. Architektur ist nicht abstrakt,

sondern konkret. Ein Entwurf. ein Projekt, aufgezeichnet auf Papier, ist nicht

Architektur, sond ern nur eine mehr oder weniger mangelhafte Repräsen-

tation von Architektur, vergleichbar mit den Noten der Musik. Die Musik

bedarf der Aufführung. Architektur bedarf der Ausführung. Dann entsteht

ihr Körper. Und dieser ist immer sinnlich.

A lle Entwurfsarbeiten des ersten Jahreskurses des Architekturstudiums

gehen von dieser körperlichen, gegenständlichen Sinnlichkeit der Architek-

turen, von ihrer Materialität aus. Architektur konkret erfahren, das heisst

ihren Kö rper berühren, sehen. hören. r iechen. Diese Qualitäten entdecken

und bewusst damit umgehen - das sind die Themen des Unterrichts.

ln allen Übungen w ird mit wirklichen Materialien gearbeitet. Die Entwurfs-

arbeiten zielen immer direkt auf konkrete Gegenstände, Objekte, Installa-

tionen aus w irklichen Ma terialien (Ton, Stein, Kupfer, Stahl. Filz. Stoff, Holz,

Gips, Z iegel . .. ). Kartonmodelle gibt es nicht. Ja eigentlich sollen gar keine

« Modelle» im hergebrachten Sinn hergestellt werden, sondern konkrete

Objekte, plastische Arbeiten in einem bestimmten Massstab.

66
Auch das Zeich nen von massstäblichen Plänen soll immer von einem

konkrete n Objekt ausgehen. (Der in der professionellen Architektur-

welt übliche Ablauf - Idee, Plan, Modell. kon kretes Objekt - wird um-

gekehrt.) Die konkreten Objekte werden zuerst geschaffen und dann

massstäblich aufgezeichnet. Auch das Verständnis für die verschiedenen

massstäblichen Dimen sionen der Architektur w ird an konkreten Objek-

t en eingeübt (z.B.: Massaufnahme eines Querschnittes oder Ho rizontal-

schnittes durch einen Strassenzug, Detailzeichnungen eines bestehenden

Innenraumes usw.).
Von den Arch itekturen. die uns geprägt haben. tragen w ir Bilder in uns.

Diese Bilder können w ir im Geiste wieder entst ehen lassen und befragen.

Aber daraus entsteht noch kein neuer Entwurf. keine neue Architektur.

Jeder Entwurf verlangt nach neuen Bildern. Unsere «alten» Bilder können

uns lediglich helfen. die neuen Bilder zu finden.

D as Denken in Bildern beim Entwerfen ist immer ganzheitlich. Denn das

Bild zeigt naturgernäss immer das Ganze des ins Auge gefassten Ausschnit-

tes der erdachten Realität: Wand und Fussboden. D ecke und Materialien,

LichtStimmung und Farbigkeit eines Raumes zum Beispiel. Und w ir sehen

auch alle Details der Übergänge vom Fussboden zur Wand und von der

Wand zum Fenster. ganz w ie im Kino.

Sie sind allerdings häufig nicht einfach da, diese Bildelemente, wenn wir

mit einem Entwurf beginnen und uns ein Bild des erdachten Objektes zu

machen versuchen. Am Anfang des Entwurfsvorganges ist das Bild meist

unvollständig. So versuchen wir unser Entwurfsthema immer wieder neu

zu fassen und zu klären, um die fehlenden Teile in unser Bild einzuseuen.

Oder anders ausgedrückt: W ir entwerfen. Die konkrete Sinnfalligkeit unse-

rer vorgestellten Bilder hilft uns dabei. Sie hilft uns, uns nicht in der Dürre

abstrakter theoretischer Annahmen zu verlieren, sie hilft uns, den Kontakt

zu den konkreten Qualitäten der Architektur nicht zu verlieren. Sie hilft uns,

67
uns nicht in die graphische Qualität unserer Zeichnungen zu verlieben und

diese mit wirklicher architektonischer Qualität zu verwechseln.

Innere Bilder zu produzieren ist ein natürlicher Vorgang, den w ir alle

kennen. Er gehört zum D enken.

Assoziatives, wildes, freies, geordnetes und systematisches Denken in

Bildern, in architektonischen, räumlichen. farbigen und sinnlichen Bildern

- das ist meine liebste D efinition des Entwerfens. Das Denken in Bildern

als Methode des Entwerfens würde ich den Studenten und Studentinnen
gerne vermitteln.

69
Hat Schönheit eine Form?

Die Aprikosenbäume gibt es. Die Farne gibt es; und Brombeeren. Aber

Schönheit? Ist Schönheit eine konkrete Eigenschaft einer Sache. eines Ob-

jektes. beschreibbar und benennbar. oder eher ein Geisteszustand, eine

Empfindung des Menschen? Ist Schönheit ein besonderes Gefühl, ausgelöst

durch eine besondere Form. Gestalt oder Gestaltung, die wir wahrnehmen?

W ie ist das Ding beschaffen, das in uns die Empfindung von Schönheit aus-

löst. dieses Gefühl, in einem bestimmten Moment Schönheit zu erfahren,

Schönheit zu sehen? Hat Schönheit eine Form?

1 Musik unterbricht mein Schreiben. Peter Conradin spielt eine alte Auf-
nahme von Charles Mingus. Eine besondere Stelle hat meine Aufmerksam-

keit geweckt , eine Stelle voller Intensität und von grosser Freiheit im ruhi-

gen. fast naturwüchsigen Ausschwingen des langsamen Rhythmus', in des-

sen Puls das Tenorsaxophon eine warme und rauhe und unhastige Rede

führt. die ich fast w örtl ich verstehe. Booker Erwin mit hartgepresstem Ton,

schrill aber nicht spröde, porös geblasen bei aller Härte; trockene Pizzica-

t i im Bass von Mingus. kein erotisch fetter «gr oove», der entwaffnen und

einnehmen will. Die Musik könnte. so gehört, eigentlich auch zickig t önen,

denke ich. Tut sie aber nicht. Sie ist wunderbar. <<Unglaublich schön!» sagen

mein Sohn und ich fast gleichzeitig und schauen uns an. Ich höre in die M u-

sik hinein. Sie ist ein Raum. Farbig und sinnlich; mit Tiefe und Bewegung. Ich

bin in ihr. Für Augenblicke gibt es nichts Anderes .

2 Ein Bild von Rothko. vibrierende Farbfelder. reine Abstraktion. Die Er-

fahrung handelt allein vom Sehen, ist für mich rein visuell, sagt sie. Andere

71
Sinneseindrücke wie Geruch oder Geräusch, das Material oder der Tast-

sinn spielen keine Rolle. Du gehst in das Bild. das du anschaust. hinein. Der

Vorgang hat etwas mit Konzentration und Meditation zu tun. Es ist wie

Meditation, aber nicht mit leerem. sondern mit vollem Bewusstsein. Die

Konzentration auf das Bild macht Dich frei. meint sie, Du erreichst eine

andere Ebene der Wahrnehmung.

3 Die intensive Erfahrung eines Momentes. das Gefühl des völligen Aufge-

hobenseins in der Zeit, das kein Bewusstsein für die Vergangenheit und die

Zukunft zu kennen scheint, gehört zu vielen. vielleicht zu allen Schönheits-

empfindungen. Etwas, das die Ausstrahlung von Schönheit hatte, hat in mir

etwas zum Klingen gebracht. von dem ich nachher. wenn es vorbei ist. sa-

ge: Da war ich ganz bei mir und gleichzeitig ganz in derWelt, zuerst und für

einen Augenblick mit stockendem Atem. dann vollständig eingenommen und

versun ken, staunend, mitschwingend, erregt. ohne Anstrengung und auch

ruhig. gebannt vom Zauber der Erscheinung, der mich traf. Gefühle der

Freude. Glück. Das Antlitz eines schlafenden Kindes, das nicht w eiss. dass

es betrachtet wird. Gelassene, ungestörte Schönheit. Nichts ist vermittelt.

Alles ist sich selbst.

Der Fluss der Zeit ist angehalten. das Erleben geronnen zum Bild. dessen

Schönheit in die Tiefe zu weisen scheint. Für die D auer der Empfindung ha-

be ich eine Ahnung vom wirklichen Wesen der Dinge. von ihren allgemein-

sten Eigenschaften, von denen ich jetzt vermute, dass diese jenseits aller

Kategorien des Denkens liegen.

4 Das Renaissancetheater in Vicenza. Steile Ränge. Abgegriffenes Holz.

grosse Intimität. Ein starkes Gefühl für den Raum . Intensität . «Alles stimmt

zusammen». sagt sie. «so erstaunlich, so überraschend. wie eine Hand. so

natürlich.»

72
Und dann später die Villa auf dem Hügel: Sie ging durch die Landschaft und

erblickte plötzliche ein Juwel, das ihr den Atem stocken liess. Das Gebäu-

de strahlte, gehörte zur Landschaft und die Landschaft zu ihm, so sei es ihr
vorgekommen.

S D ie Schönheit der Natur berührt uns als etwas Grosses, das über uns

hinausweise. Der Mensch kommt aus der Natur und kehrt in sie zurück. Ei-

ne Ahnung vom Mass unseres Lebens in der Unermesslichkeit der Natur

tauche in unserem Bewusstsein auf, wen n wir eine Landschaft, die wir nicht

domeseiziert und auf unseren Massstab gebracht haben, als schön empfin-

den .Wir fühlen uns aufgehoben; bescheiden und stolz in Einem. Wir sind in

der Natur, in dieser grossen Form, die wir letztlich nicht verstehen und die

Wir jeuc im Augenblick des gesteigerten Erlebens auch nicht zu verstehen

brauchen, weil wir spüren, dass wir selbst ein Teil von ihr sind.

Ich schaue in die Weite der Landschaft; ich blicke auf den Horizont des

Meeres, schaue in die Masse des Wassers; ich gehe über die Felder hinüber

zu den Akazien, ich betrachte die Blüten des Holunders, den Wacholder-

baum. Ich werde ruhig.

Sie schwimmt im sizilianischen Meer, taucht für eineWeile uncerWasser.lhr

Stockt der Atem. Ein riesiger Fisch schwimmt dicht an ihr vorbei; lautlos,

scheinbar unendlich langsam. Seine Bewegungen sind gelassenen und kraft-

voll und elegant und von einer Jahrtausende alten Selbstverständlichkeit.

6 Sie liebt schöne Damenschuhe. Sie bewundert ihre Machart, das Mate-

rial und vor allem ihre Form, die Li nien; sie schaut sich Schuhe gerne an,

nicht am Fuss , sondern a ls Objekte, deren Form passgenau aus den Not-

Wendigkeiten des Gebrauchs hervorgeht und deren Schönheit diese prak-

tischen Anforderungen auf eine Weise überhöht, die wiederum auf den Ge-

brauch verweist: «Brauch mich, zieh mich an». sagen schöne Schuhe zu ihr.

73
Die Schönheit eines zweckhaften Objektes ist für mich die höchste Form
der Schönheit, fügt sie bei.

7
Die Schönheit eines von Menschenhand geschaffenen Objektes habe ich,
solange ich mich erinnern kann, immer als eine besondere Präsenz der Form

erfahren. als ein selbstverständliches und selbstbewusstes Dasein, das dem

Objekt eigen ist. Manchmal. wenn ein Objekt dieser Art sich in der Natur
behauptet. sehe ich Schönheit. Dieses Bauwerk. Stadt, Haus o der Strasse.

erscheine bewusst gesetzt. Es erzeugt einen Ort. Dort, wo es steht. gibt es


ein Hinten und Vorne,gibt es ein Links und ein Rechts, gibt es Nähe und Ent-

fernung, ein Drinnen und Draussen, gibt es Formen der Fokussierung. der

Verdichtung oder der Bearbeitung der Landschaft. Es entsteht Umgebung.

Das Objekt und seine Umgebung: Ein Zusammenklingen von Natur und
künstlich geschaffenem Werk, das anders ist als reine Naturschönheit- und
anders als reine Objektschönheit. Architektur, die Mutter der Künste?

8 Sie steht in einer Gruppe von jüngeren Leuten, mehrheitlich Arch itek-

ten. Es falle ein feiner Nieselregen; die Luft ist lauwarm. Die Männer und

Frauen stehen im Hof einer Villa. Ihre aufges pannten Regenschirme und die
langen. halboffenen Regenmäntel verleihen ihnen erwas weltstädtisch Ele-
gantes. Das Tageslicht, das über der Gruppe liegt, ist mild. Eine hellgraue

Wolken decke, die man auch für dichten Nebel halten könnte, ist von oben

erleuchtet und strahlt nach unten. Das durchscheinende Licht verwan-

delt die feinen Tropfen des Regens in LichtpartikeL Die Landschaft ist von

einem zarten Strahlen erfüllt.


Die Gesichter der dastehenden Männer und Frauen wirken heiter. Ohne
Eile, fast beiläufig. werden das herrschaftliche Landhaus, der Hof. die an-
grenzenden Wirtschaftsbauten, die Flügel der Gittertore. die offen stehen,

betrachtet. Ab und zu blicke jemand in die hügelige Landschaft. Dampf steigt

75
auf. Die Pflastersteine im Hof, die Blätter der· Bäume, die G r·äser derWiesen

glanzen. Man hält Ausschau, sucht einen Weg zur Villa Rotonda von Andrea

Palladio. die hier ganz in der Nähe liegen soll. Die Szene ist ihr als Bild in

Errnnerung geblieben. Sie hat darüber geschrieben.

9 Ich erinnere mich an Erfahrungen von Häusern. Dörfern. Städten und

Landschaften, von denen ich heute sage, sie hätten mir den Eindruck der

Schonheit vermittelt. Sind mir diese Situationen damals, als ich sie erlebte,

auch schon schön vorgekommen? Ich glaube ja. aber ich bin mir nicht ganz

sicher. Zuerst war wohl der Eindruck da. die Reflexion darüber kam spä-

ter. Und ich weiss auch, dass mir bestimmte Dinge erst nachträglich schön

geworden sind, durch spätere Anregungen, Gespräche mit Freunden oder

bewusstes Durchforschen meiner noch nicht ästhetisch klassifizierten Erin-

nerungen.Auch Schönheit. die andere erlebt haben, kann ich nachempfinden

und zu einem eigenen Gefühlseindruck werden lassen. wenn ich mir von der

Schonheit, von der mir die anderen erzählen, ein Bild machen kann.

Die Schonhei t erscheint mir immer in gefassten Bildern, in klar begrenz-

ten Ausschnitten der Wirklichkeit, objekthaft, oder stilllebenartig, oder

wie eine in sich geschlossene Szene, auskomponiert ohne eine Spur von

Anstrengung oder Kunstlich keit. Alles ist so, wie es sein soll. alles ist an

seinem Plau. Nichts stbrt. kein Zuviel an Arrangement, keine Kritik, keine

Anklage. keine artfremde Absicht; kein Kommentar, keine Bedeutung. Die

Erfahrung ist unwillkürlich.Was ich sehe. ist die Sache selbst. Sie nimmt mich

gefangen. Das Bild. das ich sehe, w irkt w ie eine Komposition. die mir aus-

serordentlich natürlich und in dieser Eigenschaft dann aber auch gleichzei-

tig wreder sehr kunstvoll vorkommt.

I 0 Sre bregt um die Ecke des kleinen Schuppens und sieht zum ersten Mal

das neue Gebäude. Uberrascht bleibt sie stehen, elektrisiert. Etwas in der

76
Art, wie das neue Pfeilergebäude dasteht, wie es gebaut ist aus porösem

Stein und Glas und fein jährigem Holz und wie es mit den älteren Nachbar-

bauten zusammen einengrossen H ofraum bildet - der neue Körper mit un-

geometrischer Genauigkeit ins Gleichgewicht der Massen und Materialien

des O r tes gesetzt -, vermittelt ihr ein Gefühl von Anziehung und Ausstrah-

lung, von Energie und Präsenz. »Es war, wie wenn sich alles. was ich sah, in

einem gespannten Zustand der Schwebe befunden hätte. Und der Körper

des neuen Hauses schien zu vibrieren», beschreibt sie mir.

1 1 Er steht im Portal von St. Andrea in Mantua. Ein hoher Vor raum, Licht

und Schatten, einzelne Sonnenstrahlen auf den Pilastern. Eine Welt für sich,

nicht mehr Stadt, noch nicht der Innenraum der Kirche. Oben im Halb-

schatten. wo sich die gerneisselten Figuren und Gesimse im Dunkel verlie-

ren, fliegen die Tauben, die ich häre, aber nicht sehe. Viel D unkelheit. Das

eindringende Licht macht fein ste Staubpart ikel in der Luft sichtbar. Die

Luft w irkt dicht, hat fast taktile Qualität. Es kam mir vor, als hätten sich die

D inge im Raum des Portals, in dem ich stehe, die ich mehr spüre als sehe,

gegenseitig aufgeladen, als befanden sie sich in einem einmaligen Z ustand

des Beieinanderseins, sagt er.

12 Schönheit ist eine Empfindung. D er Verstand spielt dabei eine unter-

geordnete Rolle. Schönheit, die aus unserer Kultur hervorgeht und unse-

rer Bildung entspricht, erkennen wir sofort, glaube ich.Wir sehen eine ge-

fasste, zu einem Sinnbild verdichtete For m. eine Gestalt oder Gestaltung,

die uns berührt, die die Eigenschaft hat, vieles, ja vielleicht alles in Einem zu

sein: selbstverständlich, ru hig, gelassen, natürlich, würdevoll, tiefgründend,

geheimnisvoll. anregend, aufregend. spannungsvoll...

Ob die Erscheinung. die mich berührt, wirklich schön ist, ist an der Form

selbst kaum je richt ig nachzuweisen. denn nicht die Form an sich, sondern

77
erst der Funke. der uberspnngt von ihr zu m1r, erzeugt d1e besondere Erre-

gung und Tiefenscharfe des Gefuhls. die zum Schonheitserlebnis gehoren.

Aber d1e Schonhe1t g1bt es. S1e tritt zwar eher selten auf und wenn sie auf-

tritt. dann haufig an unerwarteten Orten. Und an anderen Orten. wo wir

sie erwarten wurden . fehlt s1e. Aber die Schonheit g1bt es.

Lasst c;1ch Schonhe1t entwerfen und herstellen? Wo sind die Regeln. die uns

Schonheit für unsere Hervorbringungen garantieren? Uber Kontrapun kt,

Harmonielehre. Farbenlehre. Goldener Schnitt und «Form folgt Funktion»

Bescheid zu w1ssen. reicht nicht aus. Methoden und Hilfsmittel, diese schö-

nen Instrumente. ersetzen weder die Inhalte, noch vermogen sie den Zau-

ber der schonen Gestalt zu garantieren.

13 Meme Aufgabe als Gestalt er bleibt schw1erig. Sie hat mit Kunst und Ge-

lingen. Intuition und Handwerk zu tun. Und mit Einlassl1chkeit . Sachlichkeit

und A uchentiZitat.

Um Schonhe1t zu erreichen, muss 1ch ganz bei mir sein. meine eigene

Sache tun und keine andere, denn die besondere Substanz. die Schonheit

erkennt und mit Gluck zu schaffen vermag. liegt in mir selbst. Andererseits

muss ich die Dinge, d1e 1ch schaffen w ill. Tisch. Haus und Brücke, zu ihrem

Recht kommen lassen. Ich glaube. Jedes gut geschaffene Ding hat ein ihm

angemessenes Ordnungsgefuge. das seine Form bestimmt und zu seinem

Wesen gehort. Dieses Wesentliche w1ll 1ch entdecken und bleibe darum

be1m Entwerfen hart an der Sache selbst. Ich glaube an eine Genauigkeit der

A nschauung. an emen Wahrheitsgehalt der realen s1nnlichen Erfahrung. die

Jenseits von abstrakten Meinungen oder Ideen liegen.

Was will d1eses Haus werden. als Objekt des Gebrauchs. als smnlicher Kör-

per. m1t Macenal gefugt und fest konstruiert. als Gestalt. zur Form gebracht,

die dem Leben d1ent? So frage 1ch mich und frage weiter : Was will dieses

Haus sem. fur se1nen O rt 1n der N ebenstrasse der Stadt. in der Vorstadt.

78
in der geschundenen Landschaft, am HLigel vor den Buchen, in der Anflug-

schneise. im Licht des Sees, im Schatten des Wa ldes?

14 «Die Aprikosenbäume gibt es. die Aprikosenbäume gibt es I Die Farne

gibt es; und Brombeeren und Brom ...»

DenAnfang dieses Aufsatzes wie auch den gleich nachfolgenden Schluss ver-

danke ich der Ly rikerin lnger Christensen, die mit diesen Wor·ten ihr mit

«Alphabet» überschriebenes Gedicht beginnt; eine Dichtung, nachgebaut

dem ins Unendliche ansteigenden Rhythmus der· Fibonacci-Zahlenreihe.

eine Verdichtung aus Wörtern. in der sie sich der Welt versichert und

dabei Partikel freilegt. die funkeln und irritieren.

«Die Junmacht gibt es. Die Juninacht gibt es ...

und kerner rn

diesem fliegenden Sommer. keiner begreift dass

es den Herbst gibt, den N achgeschmack und das Nachdenken

gibt, nur die schw indelerregenden Reihen dieser

rastlosen U ltrageräusche gibt es und das Jadeohr

der Fledermaus, dem tickenden Dunst zugewandt;

nie war die Neigung des Erdballs so herrlich,

niemals die zinkweissen N ächt e so w eiss ... »

Am intensrvsten, das kommt m ir beim Lesen dieser Ze ilen in den Sinn,

strahlt die Schonhert, die aus dem Mangel hervorgehe. Ich vermisse etwas,

eine Stärke des Ausdrucks, ein Mitgefühl, das mir in einer Schönheitserfah-

rung unvermittelt entgegentritt und von dem ich. bevor ich es erfuhr, noch

nrcht oder nicht mehr wusste, dass es mir fehlte und von dem ich jetzt

wieder zu wissen glaube, dass es mir immer fehlen w ird. Sehnsucht. Im

Schönheitserlebnis wird mir ein Mangel bewusst. Das, was ich erfahre, das.

80
was m ich berührt. enthält beides: Freude und Schmerz. Es schmerzt der

Mangel und es beglückt die anrührend Form. die schon e Gestalt. die sich
am Gefü hl des Mangels entzündet. Oder mit den Worten d es Schriftstel-
lers Martin Walser: «Je mehr einem fehle, desto schöner kann werden. was

man , den Mangel zu ertragen. mobilisieren muss.»

81
Die M agie des Realen

Es gibt die Magie der Musik. Die Sonate beginnt. eine erste fallende Melodie-

linie der Bratsche, das Piano setzt ein. und schon ist sie da, die Berüh rung;

die Atmosphäre aus T ön en, die mich umfangt und berührt, die mich in eine

besondere Stimmung versetzt.

Es gibt die Magie der Malerei und des Gedichts. des Films, der Wörter und

Bilder. es gibt den Zauber der funkelnden Gedanken. Und es gibt die Ma-

gie des Realen, des Stofflichen, des Körperhaften . der Dinge, die mich um-

geben, die ich sehe und berühre. die ich rieche und höre. Manchmal, in be-

stimmten Momenten. ist dieser Zauber, den eine bestimmte architektoni-

sche oder landschaftliche Umgebung. ein bestimmtes Milieu auf mich aus-

übt, plötzlich da, hat sich eingestellt. wie ein langsames Wachstum der See-

le. das ich zunächst gar nicht bemerke.

Es ist Gründonnerstag. Ich sitze in der langen Loggia der Tuchhalle.Vor mir

das Panorama des Platzes mit Häuserfront, Kirche und Monumenten. D ie

Wand des Cafes im Rücken. Die richtige D ichte von Menschen. Ein Blumen-

markt. Sonne. Es ist I I Uhr vormittags. Die gegenüberliegende Platzwand

liegt im Schatten, wirkt angenehm bläulich. Wunderbare Geräusche: nahe

Gespräche. Schritte auf dem mit Steinplatten belegten Platz. leichtes Ge-

murmel der Menge (keine Autos, kein Motor.enlärm), ab und zu entfernte

Baugeräusche.Vögel, schwarze Punkte, fliegen, eifrig und freudig, so kommt

es mir vor. ein kurzwelliges Linienmuster in die Luft. Die beginnenden Feier-

tage haben die Schritte der Menschen bereits verlangsamt. so scheint es.

Zwei N onnen,lebhaft gestikulierend, gehen quer über den Platz; leichtfüs-

sig, ihre Hauben wehen im Wind. Jede trägt eine Plastiktasche. Die Tempe-

ratur ist angenehm frisch und war m zugleich. Ich sitze auf einem gepolster-

83
ten Sofa aus bleichgrünem Samt. Die Bronzefigur auf dem hohen Sockel vor

mrr auf dem Platz dreht mir den Rücken zu und schaut w ie ich auf die zwei-

türmige K11·che. Die zwei Türme der Kirche haben ungleiche Helme. begin-

nen unten gleich und werden gegen oben hin individueller. Einer ist höher

und hat eine um die Helmspitze gelegte Goldkrone. Bald wird B. von rechts

schrag über den Platz auf mich zukommen.

Diese Stichworte zur Atmosphäre des Platzes habe ich m ir damals in mein

Notizbuch geschrieben. weil mir· alles. was ich sah. so gut gefiel. H eute, beim

Wiederlesen, frage ich mich. was hat mich denn damals so berührt?

Alles! Alles. die Dinge. die Menschen, die Qualität der Luft, das Licht, die

Gerausche, dieToneund Farben. Materielle Prasenzen.Texturen. auch For-

men. Formen, dre ich verstehen kann. Formen. die ich versuchen kann. zu

lesen. Formen. dre ich als schön empfinde.

Aber war da. abgesehen von all diesen materiellen Präsenzen. den Dingen

und Menschen, nicht noch etwas anderes, das mich berührte - etwas. das

nur mit mir zu tu n hatte. mit meiner Stimmung. meinen Gefühlen. meinen

Erwartungen von damals. als ich da sass?

«The beautylies in the eyes of the beholder» - dieser Satz kommt mir jetzt

in den Sinn.Will dieser Satz sagen. dass alles, was ich damals empfand. allein

oder vornehmlich Ausdruck und Ausfluss meiner damaligen Verfassung. mei-

ner persönlichen Stimmungslage war? Hatte mein Erlebnis von damals im

Grunde wenig mit dem Platz und seiner Atmosphäre zu tun?

Um mir diese Frage zu beantworten, mache ich ein einfaches Experi-

ment: Ich denke mir den Platz weg und schon beginnen meine Gefühle

fur die damalige Srtuation merkwürdig blass zu werden. drohen. zu ver-

schwinden.

Ohne die Atmosphare dieses Platzes. merke ich, hätte ich diese Gefühle

damals so nie gehabt. Jetzt spüre ich es wieder: Es gibt eine Wechselwir-

kung zwischen unseren Empfindungen und den Dingen. die uns umgeben.

84
Damit habe ich als Architekt zu tun. Ich arbeite an den Formen, Gestalten

(Physiognomien). an den materiellen Präsenzen, die unseren Lebensraum

ausmachen. Mit meiner Arbeit trage ich bei zu den realen Gegebenheiten,

den atmosphärischen Secrungen im Raum, an denen sich unsere Empfin-

dungen enuünden.

Die Magie des Realen, das ist für mich diese «Alchemie» der Verwandlung

von realen Substanzen in menschliche Empfindungen, dieser besondere Mo-

ment der emotionalen Aneignung oder Anverwandlung von Materie, von

Stoff und Form im architektonischen Raum.

Als A rchitekt ka nn ich ein Ferienhaus. Geschäftshaus oder einen Flughafen

zum Funktiomeren bringen. Ich kann Wohnungen mit guten Grundrissen

zu erschwinglichen Preisen bauen, kann Theater. Kunstmuseen oder Show-

rooms entwerfen, die von sich reden machen, ich kann meine Bauten m it

Formen versehen. die die Bedürfnisse nach Innovat ion oder N euartigkeit,

Repräsentat ion oder Lifestyle erfüllen.

A ll dies zu tun ist nicht so einfach. Es braucht A r beit. Und Talent. Und noch-

mals A rbeit. A ber meine Ansp rüche an die geglückte architektonische A r-

beit, geboren aus jenen besonderen Momenten der persönlichen A rch i-

tekturerfahrung. gehen weit er und lassen mich die Frage stellen: Kann ich

als Architekt auch das entwerfen, was eine architektonische Atmosphäre

wirklich ausmacht, diese einmalige Dichte und Stimmung, dieses Gefühl von

Gegenwart, Wohlbefinden , Stimmigkeit. Schönheit? Lässt sich das entwer-

fen , was in einem bestimmten Moment die Magie des Realen ausmacht, in

deren Bann ich etwas erlebe und erfahre. was ich in dieser Qualität sonst

nicht erleben würde?

Es gibt kleine und grosse, eindrückliche und w ichtige Gebäude oder

bauliche Ensembles. die mich klein machen, die mich bedrängen, die mich

ausschliessen, abweisen. Es gibt aber auch Gebäude oder Ensembles. klein

oder riesig. in denen ich mich gut fühle. ich denen ich gut aussehe, die mir

85
ein Gefuhl von Würde und Freiheit vermitteln. in denen ich mich gerne

aufhalte. die 1ch gerne benuue.

Diesen Werken gilt meine Leidenschaft.

So achte ich 1n meiner Arbeit darauf. meine Gebäude als Körper zu den-

ken und auch so zu bauen: Als Anatomie und Haut, als Masse, Membrane,

als Stoff oder Hulle. Tuch, Samt, Seide und glänzenden Stahl.

Ich achte darauf, dass die Materialien zusammen klingen und zum Strah-

len kommen. nehme eine bestimmte Menge von Eichenholz und eine ande-

re Menge von Tuffstein und gebe noch etwas hinzu: drei Gramm Silber. ein

Griff zum Drehen. Flächen von glänzendem Glas. damit mit jeder Material-

komposition etwas Einmaliges entsteht.

Ich achte auf den Klang des Raumes. auf die Anschlagsqualitaten der Mate-

rialien und Oberflächen und auf die Stille. als Voraussetzung des Hörens.

Die Temperatur des Raumes ist m1r wichtig, das Kuhle. Erfrischende und die

Schattierungen der Warme . d1e dem Korper schmeicheln.

Ich denke an die personliehen Dinge. die Menschen in bestimmten Räumen

um sich herum versammeln um zu arbeiten. um sich zu Hause zu fühlen und

für die ich Ort und Gehäuse schaffe.

Mir gefällt die Vorstellung. die inneren Strukturen meiner Gebäude anzule-

gen in räumlichen Sequenzen, die uns führen. hinführen. aber auch loslas-

sen und verfuhren . Architektur als Raum- und Zeitkunst zwischen Gelas-

senheit und VerfLihrung.

Ich achte auf die sorgfaltige Inszenierung der Spannung zwischen Innen

und Aussen . Offentliehkelt und Intimität. achte auf Schwellen. Ubergange

und Grenzen.

Und das Sp1el mit dem Massstab der Architektur, die Arbeit an der richtigen

Gr osse der Dinge ist gele1tet vom Wunsch. Stufen der lntimirat.Abstufun-

gen von Nahe und D istanz zu schaffen und ich freue mich daran, die Mate-

r ialien. Oberflachen und Kanten. glanzend und matt. ins Licht der Sonne zu

86
setzen und geheimnisvoll tiefe Massen und Abstufungen von Schatten und

D unkelheit entstehen zu lassen, um den Zauber des Li chts auf den Dingen

hervortreten zu lassen. Bis alles stimmt.

87
Das Licht in der Landschaft

Das Licht des Monde s


Das Licht des Mondes ist ein ruhiger W iderschein; gross, gleichmässig und

mild. Das Licht des Mondes kommt von weit her. D as macht es ruhig. Oie

Schatten. die die Dinge auf der Erde im Mondlicht w erfen, streben woh l

unmerklich auseinander. stelle ich mir vor. Aber ich kann das von blossem

Auge nicht sehen. Ich bin zu klein oder habe zuwenig A bstand, um die kos-

mischen Winkel zwischen der Lichtquelle und den angest rahlten Dingen auf

der Erde erkennen zu können.

Wenn ich beginne. Licht und Schatten zu studieren, Licht und Schatten des

Mondes, Licht und Schatten der Sonne, das Licht und die Schattenwürfe,

die von meiner Stubenlampe ausgehen, bekom me ich ein Gefühl für Mass-

stäbe und Grössenunterschiede.

Schon immer wollte ich ein Buch über das Licht schreiben. lch wüsste nichts,

das mich mehr an die Ewigkeit erinnerte. sagt Andrzej Stasiuk. den ich eben

lese, in seinem Buch Die Welt hinter Dukla. Ereignisse oder Gegenstände hö-

ren auf oder verschwinden oder ze rfallen unter ihrem eigenen Gewicht und

wenn ich sie betrachte und beschreibe, dann nur deshalb, weil sie das Licht

brechen. weil sie es gestalten und ihm eine Form verleihen, die zu begr ei -

fen wir im Stande sind. sagt er.

Das Licht. das von weit her auf die Erde trifft
Ich will uber künstliches Licht in meinen Häusern. in unseren Städt en und

Landschaften nachdenken und ertappe mich dabei, wie ich w ie ein Verlieb-

cer ständig zum Gegenstand meiner Bewunderung zurückkehre: dem Licht ,

das von weit her auf die Welt trifft, auf die endlose Anzahl von Körpern,

89
Strukturen. Materialien. Fli.Jssigkeiten. Oberflachen. Farben und Formen. die

aufstrahlen im Licht. D as Licht. das von ausserhalb der Erde kommt, macht

mir die Luft sichtbar. Im herbstlichen Oberengadin zum Beispiel. wo der

H immel schon sudlieh 1sc, die Luft aber frisch.

Aus grosser Höhe betrachtet


Von oben aus grosser Hö he betrachtet, haben die künstlichen Nachtlichter

der Menschen fur mich etwas Berührendes.Wir beleuchten unsere Häuser

und Strassen,wir beleuchten unseren Planeten, vertreiben kleine Stücke der

Finsternis, schaffen Inseln des Lichts. auf denen wir uns selbst und die Din-

ge. die w ir um uns herum versammelt haben, sehen können.

Spüren. R1echen. Tasten. Schmecken. im Dunkeln traumen - das reicht uns

nicht.Wir wollen sehen. A ber wieviel Licht braucht der Mensch, um Leben

zu kennen? Und w1ev1el Dunkelheit ?

G1bt es einen Seelenzustand oder Lebenszustand von besonderer Empfind-

lichkeit. in dem geringste Lichtmengen für ein gutes Leben ausre iche n? Oder

mehr noch: Brauchen wir dunkle, verschattete Orte, das Dunkel der N acht,

um bestimmte Erfahrungen überhaupt machen zu können?

Zwei Jäger aus San Bernardino, die nach drei oder vier Tagen und N äc h-

ten in ei nem unzivil isierten Seitental, nachts, bei ihrer Rückkehr auf ihr be-

leuchtetes D orf, das Tunnelportal. die Tankstelle und die Autos hinunrer se-

hen. berichten davon, dass ihnen das vertraute Dorf plötzlich verschmutzt

vorkam .

Tanizaki Jun'ichiro, der Autor von Lob des Schottens, hatte sich entschieden,

den Vollmond be1m lsh1yama-Tempel zu betrachten. verzichtete aber auf den

Besuch als er erfuhr, dass man dort zur Unterhal tung des Mondschau-Pu-

blikums die Mondschemsonate abspielen und den Ort mit Lichtern und Illu-

minationen ausstaffieren wolle.

90
Das Licht de r Sonne
Viele kleine Lichtpunkte: der Sternenhimmel. Leuchtkäfer im Wald, Kunst-

licht-Nachtlandschaften auf der Erde. Kleine Lichtobjekte, die strahlen oder

reflektieren. Oie Glasperlen im Kronleuchter zum Beispiel.

Das Licht der Sonne, des Tages. das die Oberfläche der Erde aus dem Kos-

mos erreicht, ist gross und stark und gerichtet. Es ist ein Licht. Die Dunkel-

heit wohnt in der Erde.

Annalisa hat kürzlich auf einer Bergwanderung beobachtet, dass die Far-

ben der Alpenblumen am Wegrand kurz nach dem Einbruch der Dämme-

rung noch für eine Weile nachglühen. als hätten die Blumen Licht gespei-

chert. das sie nun noch abgeben müssen, erzählt sie mir.

Oie Dunkelheit wohnt in der Erde. Sie steigt aus ihr auf und kehrt zurück

wie ein starker Atem. lese ich bei Andrzej Stasiuk.

Je älter ich werde. desto mehr interessieren mich die vielfältigen Erschei-

nungsformen des Lichtes in der Natur. Ich staune und lerne, und ich bin mir

bewusst, dass es das Licht der Sonne ist, das die Gebäude. die ich mir aus-

denke. beleuchtet. Räume , Materialien, Texturen. Farben, Oberflächen, For-

men halte ich ins Licht der Sonne, ich fange dieses Licht ein, reflektiere. fil-

tere. blende es ab. ich dünne es aus, um am richtigen Ort einen Glanz auf-

leuchten zu lassen. Das Licht als W irkstoff. es ist mir vertraut. Aber wenn

ich es mir richt ig überlege. verstehe ich kaum etwas davon.

Das Licht in der Landschaft


Das Ucht in der Landschaft. Friederike Mayröcke r setzt diesen Titel als Bild
über einen mir sehr autobiographisch erscheinenden, vielfach verschatte-

ten Text. der immer wieder aufbricht und aufst rahlt, wenn das von ihr auf-

geschichtete Wortmaterial innere und äussere Landschaften beschreibt

und erzeugt.

91
Persönliche Landschaften. Bilder und Landschaften der Sehnsucht, der Trau-

er, der Ruhe, des Jubels, der Einsamkeit, des Aufgehobensei ns, der Hässlich-

keit, der Anmassung und Verführung. in meiner Erinnerung haben sie alle

ihr beson deres Licht.

Kann ich mir uberhaupt D inge vorstellen ohne Licht?

Tanizaki Jun'ichiro lobt den Schatten. ln der dunklen Tiefe des traditionel-

len japanischen Haus es, wo in allen W inkeln die Schatten kauern. glänzt das

Gold einer Lackmalerei auf. verbreitet das durchscheinende Papier, das über

den feinen Holzrahmen einer Schiebetür gespann t ist. einen mild en Schein

und man sieh t kaum , wo das Tageslicht herkommt, das diese Gegenstände

im Halbschatten so schön auffangen und reflektieren.

Jun'ichiro lobt den Schatten. Und der Schatten lobt das Licht.

Die schattenlose Moderne

Wenn ich mich richtig erinnere. so habe ich Häuser der klassischen Mo-

derne gesehen, die das Licht und die Landschaft feiern. Häuser von Richard

Neutra in Kalifornien zum Beispiel. Schatten scheint in diesen architekto-

nischen Kompositionen keine grosse Rolle zu spielen. Dafür aber Helligkeit.

Licht und Luft und die Aussich t in die Landschaft, das Gefühl, in der Land-

schaft zu wohnen, der Wunsch, die Landschaft in den Raum hineinfliessen

oder durch den Raum hindurchfliessen zu lassen - die Landschaft mit all

ihren Lichtern und Schattierungen. ln diesen Häusern den Sonnenunter-

gang zu erleben, ist grossartig. Später, wenn das Haus nicht mehr von Aus-

sen beschienen ist, muss es im lnnern seine eigene Lichtstimmung aufbau-

en. Mit Menschenlicht.

Los Angeles in der Nacht

Aus dem einfliegenden Flugzeug be~:rachtet. das langsam an Höhe verliert.

bietet mir das nächtlich beleuchtete Los Angeles ein zauberhaftes Bild.

92
Spater. auf dem Boden der Stadt, habe ich dasselbe Licht als fahl und kränk-

lich erlebt, als eine unwirkliche H elle, in der die grünen Rasen und Büsche

in den Vorgärten der Häuser aussahen, als wären sie aus Plastik gemacht.

Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang

Z wischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang richten w ir uns ein mit den

Lichtern. die wir selber herstellen und anzünden. Mit dem Tageslicht sind die-

se Lichter nicht zu vergleichen, dazu sind sie zu schwach und zu kurzat mig

mit ihren flackernden lntensitäten und rasch ausgreifenden Schatten.

Aber wenn ich diese Lichter. die wir uns selber machen, nicht als Anstren-

gung zur Aufhebung der Nacht begreife. sondern sie als Lichter in der Nacht,

als Akzentuierung der Nacht, als intime. vom Menschen geschaffene Orte

des Lichtes in der Dunkelheit zu denken versuche, dann werden sie schön,

dann können sie ihren eigenen Zauber entfalten.

Welche Lichter wollen wir zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang

anzünden? Was wollen wir in unseren H äusern, Städten und Landschaften

beleuchten? Wie und wie lange?

93
Eine Anschauung der Din ge

Vorcrag. geschneben November 1988. Souehern Cahforma Insmute

of Arch1tecrure. Santa Momca. Los Angeles

Der harte Ke rn der Sc hönhe it

Vortrag. geschrieben Detember 1991 . Sympos1um P1ran. Slowen1en

Von den Leidenscha ften zu den Dinge n

Vortrag. geschneben August 1994. Alvar Aalco Sympos1um. «Arch1tec tu re of the Essential».

Jyvaskyla. Fmnland

De r Körper de r A rchite ktu r

Vo rrrag. geschneben Oktober 1996. Sympos1um «Form Fellows Anythmg». Stockholm

A rchite ktur lehren, Architek ur le rnen

Geschneben September 1996. Accademia d1 arch1tettura. Mendns1o

H at S chö nhe it eine Form?

Le1chl uberarbeitete Fassung des Vortrages zum Thema <Nenusras». gehalten an der Ard'u-

tekcurabteilung der ETH Zunch. November 1998

Das auszugswe1se Zitierte Ged1cht «Aiphabem von lnger Chris tensen finde t sich in: lnge r

Chnstensen. E.m chem1sches Gedtcht zu Ehren der Erde.Auswohl ohne An(ong ohne Ende. heraus-

gegeben von Pecer Water house, Resrdenz Verlag. Salzburg und W1en. 1997.

Die Magie des Re ale n

Lewo Doctoralis, gehalten am I 0 Dezember 2003 anlassl1ch der Verlcrhung de r

Laurea Honons Causa m Arch1teuura der Un1vers1ta degli Studr d1 Ferrara. Facolta d1 Ar-

chilettura

Da s Licht in der Landscha ft

Vortrag. geschneben 1m Rahmen des Nationalfonds Prorektes <<Fiat Lux». gehalten am

I 3 August 2004 '" Ch1asso

94
Pe te r Zumthor

1943 geboren in Basel. Ausbildung als Möbelschreiner. Gestalter und Ar-

chitekt an der Kunstgewerbeschule Basel und am Pratt Institute, N ewYork.

Seit 1979 eigenes Architekturbüro in Haldenstein, Schweiz. Professor an

der Accademia di architettura, Universita della Svizzera italiana.

W ichtigste Bauten: Schutzbauten fur Ausgrabung mit römischen Funden,


Chur. 1986; Caplutta Sogn Benedetg, Sumvitg. 1988; Wohnungen fur Betagte.

C hur-Masans. 199 3; Thermo/bad Vo/s, 1996; Kunsthaus Bregenz. 1997;

Schweizer Pavillon Expo 2000, Hanno ver; Dokumentationszentrum <Topogra-


phie des Terrors>. 1997 gebaute Bauteile 2004 vom Land Berlin abgebrochen;
Kunstmuseum Kolumba, Köln, 2007; Feldkapelle fur den Heiligen Bruder Klaus,
Hof Scheidtweiler. Mechernich. Deutsch land. 2007.

95
© Fotographien von Laura Padgett, Frankfun:/Main.
aufgenommen im Haus Zu mthor. Juli 2005

Gestaltung und Cover: Hannele Gronlund. Helsink1

© Texte: Peter Zumthor. Haldenstein

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Diese Publikatton ISt auch in englischer Sprache ersch1enen (ISBN 3-7643-7497-7)

Erste Auflage 1998. Verlag Lars Mull er. Baden. SchweiZ.


Nachdruck 1999 und zwe1te. erwe1tene Auflage 2006.
B1rkhauser -Verlag fur Architektur. Basel. Schwe1z.

© 2006 B1rkhauser Verlag fur Architektur. Postfach 133 CH-40 I 0 B:lSel. Schwerz. Ern Unter·
nehmen der Fachverlagsgruppe Spnnger Setence+Busmcss Med1a

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Pnnted 111 Germany

ISB N-10: 3-7643-7496-9


ISBN- 13. 978-3-7643-7496-9

987654 321
www b1rkhauser.ch

96
74 , 75

Brldnachwers·
6 © Kunstmuseum Basel. Martin Bühler. Deposrtum der Gottlrred
Keller-Strhung
10 Aus G E Krdder Smrth. Architecture in America. Amencan Herrtage
Publtshing Co. lnc New York 1976
12 © Sammlung Ernst Brunner. Schweizerische Gesellschaft rür Volkskunde.
Basel
14 © Architekturbüro Zumthor. Haldenstein
18 © Sammlung Hans Baumgartner. Fotostrltung Schwerz. Wrnterthur.
VG Brld-Kunst
20 - 26 © Archrtekturbüro Zumthor. Haldenstein
22 © Architekturbüro Zumthor. Haldenstern
28 © Hel ~ne Brnet
30 © Thomas Flechtner
32 © Architekturbüro Zumthor. Haldenstern
34 - 36 © Giovannr Chiaramonte
38 © Archrtekturbüro Zumthor. Haldenstein
42 © Archrtekturbüro Zumlhor. Haldenstern
46 © Archrtekturbüro Zumthor, Haldenstein
48 © 2005. Prolrueris. Zünch
50 © Hel~ne Binet
56 © Jules Sprnatsch
58 © Archrtekturbüro Zumthor. Haldenstein
60 - 70 © Archrtekturburo Zumrhor. Haldenstern
72 © Brrdgeman Giraudon
Peter Zumthor

1943 geboren 1n Basel. Ausbildung als Möbelschre1ner. Gestalter und Architekt


an der Kunstgewerbeschule Basel und am Prau Institute. New York Seil 1979
e1genes Architekturbüro m Haldenste1n. Schwe1z Professor an der Accadem1a d1
archltettura. Un1versitä della Sv1zzera 1tahana
W1cht1gste Bauten Schutzbauren Iur Ausgrabung mrt römrschen Funden. Chur. 1986.
Gaplu/la Sogn Benedetg. Sumv1tg. 1988: Wohnungen für Betagte. Chur-Masans.
1993; Thermalbad Vals. 1996. Kunsrhaus Bregenz. 1997 Schweuer Pav1/lon Expo
2000. Hannover. Dokumentauonszenuum <Topographie des Terrors>. 1997 gebaute
Baute11e 2004 vom land Berhn abgebrochen. Kunstmuseum Kofumba Koln. 2007
Feldkapelle fur den He1flgen Bruder Klaus. Hol Sche1dtwe1ler. Mechern1ch.
Deutschland. 2007

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