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T Cultivating Coexistence

XL, der Flughafen Berlin-Tegel, ist seit 1974 Foto links: Das Videomobile Unten: Der Palermo Atlas
steht im Innenhof des Pa­ widmet ein Kapitel den in­
im Betrieb, 2012 sollte er vom Netz gehen.
lazzo Costantino an der be­ formellen religiösen Stätten.
Die Nachnutzung für den Fall, dass der Flugbe- lebten Via Maqueda. Foto: Delfino Sisto Leg-
trieb doch einmal eingestellt wird, ist seit langem nani/image courtesy OMA
geplant und soll für die Hauptstadt wirtschaft- Text und Fotos Josepha Landes
lich extrem lukrativ sein. Durch den Aufbau des
Forschungs- und Industrieparks Berlin TXL soll
bis 2037 eine zusätzliche Wirtschaftsleistung
bis zu 4,6 Mrd. Euro möglich sein. Die Beuth Hoch-
schule möchte mit ihrem Campus Kern der ent-
stehenden „Urban Tech Republic“ werden. Da- gion sind ein Aspekt, die Ausstellungsblöcke in
für muß das Hauptgebäude radikal umgebaut Palazzi, Kirchen und Gärten verstreut über Pa­
werden. Dieses wird von agn Niederberghaus & lermo ein anderer der Kunstschau. Sie widmen
Partner geplant. Der Beauftragung ging ein du- sich, rankend rundum den Botanischen Garten
bioses Verfahren mit drei eingeladenen Büros als Herzstück, zum Beispiel den Pflanzen der Re­
voraus, darunter auch gmp, deren Erfolgsge- gion, die ein Potpourri der über das Land ge­
schichte mit dem Bauwerk begann. Einen Archi- schwappten Kulturen darstellen. Sizilien war u.a.
tekturwettbewerb für den 140 Mio. Euro teuren griechisch, römisch, arabisch, normannisch,
Umbau gab es nicht. Das architektonisch spanisch. Über die Jahrhunderte blieb oder wur­
einmalige an dem sechseckigen, ringförmigen de es nichtsdestotrotz vor allem eins: sizilia­
Hauptgebäude des Flughafens ist seine Vorfahrt. nisch. Die Zitrusfrüchte kamen mit den Arabern,
Sie erlaubt die Einfahrt in den Innenring. Direkt die Aquädukte waren schon von den Römern
auf der gegenüberliegenden Seite des Flugplatz- und die Tempel von den Griechen errichtet wor­
vorfeldes steigen die Passagiere aus, betreten den. Die Kultur der Gegenwart ist zudem ge­
den Flughafen, geben ihr Gepäck ab, verlassen spickt mit Elementen der jüngeren Vergangen­
das Gebäude auf der Flugfeldseite und betreten heit. Italienisch zum Beispiel wurde Sizilien erst
das Flugzeug. Ganze 22 Meter haben sie dabei 1861 – eine Zeit, die Guiseppe Tomasi di Lampe­
im Idealfall zurückgelegt, kürzer geht es nimmer. dusa in seinem „Gattopardo“ festhält, ein Buch,
Das gesamte Gebäude inklusive der Innenaus- das eine bereichernde Lektüre-Ergänzung zum
stattung und der Möblierung ist von dieser gran- Palermo Atlas ist. Dieser Gattopardo läuft ei­
diosen Idee geprägt. Der Flughafen ist aber nicht nem auch bei der Manifesta hier und da über den
nur architektonisch bedeutend. Historisch war Weg. Etwa als Graffito oder im „Videomobile“,
TXL in der Zeit der Teilung von Berlin ein Symbol einem zum rollenden Kino umgebauten Klein­
für den Anschluß an Westdeutschland. Deswe- transporter, der Film, Musik und Poesie übers
gen ist er im Standardwerk „Wegweiser zu den Land fuhr und jetzt Plätze zum Schauen von
deutschen Kunstdenkmälern“ gelistet und der Dokumentarfilmen bereithält. „Gattopardo“ steht
Berliner Landesdenkmalrat empfiehlt folgerich-
tig in seiner Sitzung am 27. April das Erstwerk In Palermo läuft noch bis Anfang cker Portikus, daraus dringt die rhythmisch An­
von Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg in die betung einer indischen Gottheit und untermalt
November die Manifesta 12 –
Berliner Denkmalliste einzutragen. Das ist bis- die mediterrane Nacht. Ähnliches zu dieser Situa­
her nicht geschehen. Der Entwurf von agn sieht Kunst als alternativer Reiseführer tion in Palermo erlebt man in Catania: Es könnte
vor, die architektonisch prägende Vorfahrt ab- für Sizilien ein Ladenlokal sein und ist doch ein Gemeinde­
zureißen, um Tageslicht in die Untergeschosse zentrum. Schuhe stapeln sich am Eingang, und
zu leiten. Mit den Auflagen der Denkmalpflege Palermo, heißt es im Manifest zur Manifesta 12, der Gehweg dient den bunt gewandeten Gästen
ist dies nicht vereinbar. Deswegen macht es aus sei ein Destillat der alten Welt. Die Hauptstadt zum Plaudern. Ganz Sizilien ist ein Destillat.
wirtschaftlicher Sicht für Berlin Sinn, dem Bau- Siziliens, dieser Insel in der Mitte des Mittelmee­ Die Manifesta 12 widmet sich mit dem Thema
werk seine Denkmalwertigkeit abzusprechen, res, gelegen zwischen Europa, Asien und Afrika, „Cultivating Coexistence“ dem „Planetary Gar­
um die Nachnutzung nicht zu gefährden. Aus lässt an vieles denken: Mafia, Zitronenduft, Man­ den“ und stützt sich dafür auf die Gegebenhei­
baukultureller Sicht macht das aber gar keinen delgebäck und den ein oder anderen Film. Kul­ ten in Palermo. Es geht um Miteinander, von
Sinn. turelle Vielfalt könne man hier vorzüglich bestau­ Menschen aber auch Natur, hier, in Europa, der
nen, lernt der Leser aus dem „Palermo Atlas“, Welt und darüber hinaus. Die begleitenden Ver­
jenem Manifest, das OMA als Co-Kuratoren an­ anstaltungen tasten sich zum Teil vor, an die
Ein anderes lässlich der nomadischen Kunstausstellung, die Grenzen der Stadt, etwa ins stigmatisierte Neu­
in diesem Sommer in Palermo gastiert, heraus­ bauviertel Z.E.N.2 oder hinauf in die Berge, wo
Verfahren gegeben haben. Und so wie Mafia, Zitronenduft dem, der ein Kunst-Biglietto erstanden hat, die
etc. bei weitem auch außerhalb der Stadtgren­ Relikte einer spekulativ mafiösen Bauvergan­
zen zu finden sind, ist es jene Vielfalt. Religiöse genheit, sogenannte „incompiuti“ – unvollendete
Boris Schade-Bünsow Vielfalt zum Beispiel spielt sich oft im Banalen Betonrohbauten – oder die Überbleibsel der
hätte sich ein denkmalkonformes Verfahren ab: eine angelehnte Tür zu einem jener halb ver­ 1968 durch ein Erdbeben zerstörten Stadt Gibel­
für die Zukunft von TXL gewünscht
moderten Häuser, die Fassade ziert ein baro­ lina gezeigt werden. Diese Eigenarten der Re­

4 MAGAZIN Bauwelt 19.2018 StadtBauwelt 219


Manifesta 12 Palermo – The European Nomadic Biennale
bis 4. November
Wer Wo Was Wann sen sowie soziale und kulturelle Aspekte des Bauens frei
zu wählen. Fakultäten und Fachbereiche für Architektur an
deutschen und europäischen Hochschulen sind eingela­
Thieler und Marc Zimmermann. Er war Gründungsmitglied
der Galerie Grossgörschen 35, der Gruppe Aspekt und er
erhielt den Burda-Kunstpreis. Die Kritik am Vietnamkrieg
Festivalzentrum: Teatro Garibaldi, Via Teatro Garibaldi 46/56 den, sich bis zum 31. Januar 2019 zu bewerben. Die Gewin­ und an der Zerschlagung des Prager Frühlings sind eben­
90133 Palermo, Tel.: +39 091 6230804 StadtBauKultur NRW Von März 2013 bis August 2018 war ner werden von einer Jury Anfang Februar ausgewählt, die so Themen seines Werkes, wie Hungersnöte oder der Be­
m12.manifesta.org/ Tim Rieniets Geschäftsführer der Landesinitiative Stadt­ Mittel können dann zeitnah abgerufen werden. www.sto- such des Schahs in Berlin. www.poll-berlin.de/Galerie
BauKultur NRW 2020. Unter seiner Leitung wurden über stiftung.de
100 Projekte initiiert und umgesetzt, darunter „big beauti­ Jan Gehl erhält den Julius Posener Preis 2018 des Deut­
ful projects“ zur Zukunft von Großwohnungsbauten sowie „Design for the Real World“ (Foto) schen Werkbund Berlin. Mit der Verleihung verbindet die
Foto links: Am Hafen streift Foto rechts: Der Gattopardo zur Umnutzung ehemaliger Warenhäuser. Rieniets folgte und „Design for Human Scale“ sind Jury die Hoffnung, dass die Konzepte des dänischen Stadt­
die Abendsonne Wellen­ nebst Slogan „Wir sind nun dem Ruf an die Leibniz Universität Hannover und über­ die wohl bekanntesten Werke des planers zur Lebensqualität der Menschen auch in Berlin
brecher mit Manifesta-Re­ Leoparden, Löwen! Nach uns nimmt die Professur für „Stadt- und Raumentwicklung Designers, Autors und Aktivisten umgesetzt werden. Die Preisverleihung findet am 4. Novem­
klame. kommen Schakale, Hyänen.“ in einer diversifizierten Gesellschaft“. Seine Aufgaben wer­ Victor J. Papanek (1923-1998). Erste­ ber um 11.30 Uhr in der Universität der Künste Berlin statt.
den bis aus Weiteres von den langjährigen Mitarbeiterin­ res gilt als das meistgelesene Buch www.werkbund-berlin.de
nen Ilka Dietrich-Kintzel und Hanna Hinrichs übernommen. über Design, das jemals veröffent­
Zum Frühjahr 2019 soll die Geschäftsführung im Sinne der licht wurde. Er war ein Verfechter in­ Roboter, Roboter, Roboter Das Ge­
bereits angestoßenen Initiativen und Projekte neu besetzt klusiver, sozial gerechter und ökolo­ werbe Museum Winterthur befasst
werden. www.stadtbaukultur-nrw.de gischer Gestaltung. Im Vitra Design sich bis zum 4. November in einer
Museum werden ab dem 29. September seine Designob­ großen Ausstellung mit dem zuneh­
Die Otto-Schau Der Ostfriese und jekte und sein kritisches Designverständnis in einer um­ mend gesellschaftsrelevanten
Vater der Ottifanten Otto Waalkes fassenden Ausstellung thematisiert. Ergänzt wird die Aus­ Phänomen der Robotik. Neben künst­
ist bekannt als Komiker, Schauspie­ stellung durch Werke von Zeitgenossen Papaneks, wie lerischen Exponaten sind Roboter
ler und Musiker. Die Zeichnungen Buckminster Fuller, George Nelson und Marshall McLuhan aus dem Wohn- und Pflegebereich
der kleinen Elefantenwesen wurden sowie zeitgenössische Werke aus den Bereichen Critical sowie der Industrie zu sehen, außer­
sein Markenzeichen. Seit einigen Design und Social Design. Sein nachhaltiger Einfluss bis in dem Computerspiele und Beispiele
Jahren findet Otto Zeit um sich auch die Gegenwart soll dadurch gewürdigt werden. www.de- aus Film und Literatur. Besonders erwähnenswert ist der
der Malerei zu widmen. Seine Werke sign-museum.de „Rock Print Pavillon“ von Fabio Gramazio, Professor an der
sind ab dem 14. September im ETH Zürich. Dabei handelt es sich um ein „Haus“, das auf
Hamburger Museum für Kunst und Peter Sorge Zum 50 jährigen Bestehen widmet die Galerie dem Kirchplatz vor dem Gewerbemuseum aus 30 Tonnen
Gewerbe zu sehen. Dali (Foto), Da Vinci, Hopper, Picasso, Poll dem kritischen Berliner Realisten Peter Sorge (1937- losem Schotter und 120 Kilometern Schnur von einem mo­
Munch und Liebermann (u. A.) gaben Inspiration und wurden 2000) erneut eine Einzelausstellung unter dem Titel „Does bilen Roboter errichtet wird. Die Eröffnung des Pavillons
Otto-typisch persifliert. www.mkg-hamburg.de sex cause cancer?“ mit einem Querschnitt durch sein Werk findet am 4. Oktober statt. Gramazio hält eine Einführung
aus Malereien, Zeichnungen und Graphiken. Bereits zur zum Thema „Digitale Materialität“. www.gewerbemuse-
Summerschool-Förderung Die gemeinnützige Sto-Stiftung Eröffnung der Galerie am 8. Oktober des legendären Jahres um.ch
fördert erneut internationale Summerschools für Selbst­ 1968 wurde eine Einzelausstellung des späteren Kunst­
bauprojekte mit internationaler studentischer Beteiligung. professors gezeigt. Sorge studierte an der Hochschule für
Das Thema ist mit einem Fokus auf ökologische Bauwei­ Bildende Künste in Berlin und war Meisterschüler von Fred

für die Aristokratie, wie sie vor der Landung Gari­ ein Transitort. Die Arbeitslosenquote ist hoch, die
baldis existierte. Er steht für eine Gesellschaft, Altersstruktur merklich aus dem Gleichgewicht,
in der Privilegien so ungerecht verteilt waren, wie selbst die Einwanderer aus Afrika wollen meist
sie mittlerweile, zwar neugewandet – so konsta­ weiter nach Norden.
tiert ein Barista in einer der Dokus – wieder auf Die Manifesta unterstreicht zwar, was durch
den Plan zu treten droht. Noblesse, Schießereien die Vielschichtigkeit hier erst möglich war: den
zwischen Clans und Straßenverkäufer in Plastik- Zusammenhalt etwa der Nachbarn, die Akzeptanz
latschen sind, wenn auch unterschiedlich anzu­ des kulturell Anderen, die Farbenfreude von
schauen, gleichermaßen Ausdruck eines siziliani­ Küche, Bildwerk, Menschen, aber sie bleibt trotz
schen Kerns: des andauernden Trotzes dage­ Bemühungen, bürgernah zu sein, ein noma­
gen, in einem anderen System als dem eigenen disches Event. Es ist ein privilegiertes Publikum,
aufzugehen. das man mit dem Stadtplan zur Manifesta nebst
So wie die Reisenden die Resultate des andau­ Caffè und Cornetto sieht. Ein Besuch in Z.E.N.2
Palermo Atlas
ernden Kulturspagats reizen, bieten diese auch mit Reisegruppe erinnert stark an einen Ausflug
Begleitbuch zur Manifesta 12
Nährboden für die Belange von Migranten. Und im Safaribus. Ein Kommentator merkt im Gäste­
Hg. von OMA
die Migration wiederum bereichert das Vorge­ buch an, dass es wohl engagiert, aber doch we­
418 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 30 Euro
fundene. Zwar ist es nicht überall eine Freude, nig aussichtsreich sei, mit der Manifesta die
Humboldt Books, Mailand 2018
den Bewohnern Palermos oder Catanias über Bürger zu erreichen. Bleibt die Frage, ob das über­
ISBN 9788899385439
den Weg zu laufen, doch täuscht der erste Ein­ haupt Sinn und Zweck der Schau ist. Und ob die
druck oft. In Catania sagt man, die Palermitaner Armen wirklich ärmer sind ohne den Diskurs
Der Gattopardo
seien unfreundlich – in Palermo scheint das nicht über die post-anthropologische Realität (so er­
Giuseppe Tomasi di Lampedusa
unbedingt der Fall. Wenn aus den niedrigen Erd­ örtert im Reader „The Planetary Garden, Culti­
Roman in Neuübersetzung, 368 Seiten, 12 Euro
geschossfenstern einer der vielen verschlunge­ vating Coexistence“, den es vor Ort gibt). Wie so
Piper Verlag, München 2005
nen Gassen einem die Blicke folgen, wenn aus viele Kunstprojekte ist die Manifesta Kunst für
EAN 978-3-492-24586-9
dem obersten Stock private Einzelheiten ans an­ Kunstinteressierte. Zum Entdecken Siziliens regt
dere Ende der Straße gerufen werden, dann ist sie allemal an. Wer den globalen Schlagwor-
das keineswegs bedrohlich, versichern Einheimi­ ten lokale Perspektiven abgewinnen will, für den
sche. Hinter diesen Momenten steckt die sozia­- lohnt es, die Manifesta in Verbindung mit mehr
le Wirklichkeit Palermos, Siziliens, Süditaliens. Der als den Kunst­räumen und mehr als Palermo zu
Schmelztiegel im Mittelmeer ist real betrachtet sehen.

6 MAGAZIN Bauwelt 19.2018


Heimat für alle
Heimat. Ein Begriff, der Bilder, Gerüche und Ge­ versöhnung im Eigenheim oder als heile Altstadt­ sätzlich richtig ist, die weniger dicht besiedelten produzieren, das Handwerk. Hier sind Schutz­
räusche aus der eigenen Kindheit, Jugend oder welt, spielt als eskapistischer Teil dessen, was Räume zu fördern, entbindet nicht von der Auf­ mechanismen möglicherweise bald genauso
bei manchem den Herkunftsort der Eltern her­ vom Gestaltbaren ausgeschlossen wird, denen gabe, sich genau dem zu widmen, was die Förder­ wichtig, wenn sie auch anders gestaltet werden
vorruft. Ein Begriff der meist individuell ausge­ Wie der Begriff der Heimat zum Teil benutzt wird, ist beklemmend und in die Hände, die für das verantwortlich sind, wo­ bedürftigkeit hervorruft – die Tatsache nämlich, müssen, wie in den unter Preis- und Verwer­
legt wird und so, wie er derzeit verwendet wird, gegen die Idylle in Stellung gebracht wird: den dass die Orte „auf dem Land“ so autonom nicht tungsdruck stehenden Städten. Hierfür kann Ar­
beunruhigend. Eingeschränkt und zurecht gestutzt, wird er zu einem
keine integrative Komplexität abbildet oder ohne Alltag der Verkehrsräume und renditemaximier­ sind, wie sie gesehen werden und sich – darin chitektur ihr Potenzial einbringen. Ohne eine
Instrument des Ausschlusses – das lässt sich auch in der Architektur
Diffamierungen oder Exklusionen auskommt. ten Wohntristesse. Es ist, als wollte man behaup­ liegt das eigentliche Selbstverschulden – auch gestaltende Politik wird sie aber wirkungslos blei­
Ob das Gegenteil überhaupt möglich ist, sei da­
ablesen. Dabei könnte Heimat auch anders verstanden werden. ten, Konflikte im Arbeitsleben durch den Ver­ selbst sehen wollen. Geholfen wird ihnen nur, ben und im schlimmsten Fall für das diskreditiert
hingestellt – konstatiert werden muss, dass der Text Christian Holl weis auf das friedliche Nebeneinander in der Ur­ wenn sie als Teil eines weitreichenden Bezie­ werden, was sie leistet – die Integration derer,
Versuch dazu in der Vergangenheit nie ernsthaft laubszeit am Strand behandeln zu können. hungsgeflechts analysiert werden. Die sich an­ die nicht schon immer dazu gehört haben oder
unternommen wurde – und eben auch in der Heimat als dauerhaft belastbare Kategorie zu­ deutende Renaissance von Klein- und Mittelstäd­ deren gesellschaftliche Teilhabe gefährdet ist.
Gegenwart nicht gemacht wird. Mit neu eingerich­ mindest, als Angebot an die gesamte Gesell­ ten birgt die Gefahr, die aktuelle gesellschaftli­ Sie setzt voraus, was sie hervorzubringen helfen
teten Heimatressorts in Bundes- und Länder­ schaft, ist damit umso weniger zu haben, je hef­ che Spaltung auf anderer Ebene voranzutreiben. könnte: einen Heimatbegriff von integrativer
regierungen vor der Brust und einem auf dem tiger behauptet wird, dass solche Idyllen Heimat Steigt die Nachfrage zumindest in den attrak­ Komplexität, der ohne Diffamierungen und Exklu­
Rücken von Asylanten ausgetragenem Streit um seien – damit wird nur umso entschiedener der tiven Orten, sieht das auf den ersten Blick nach sionen auskommt: der Menschen weder wegen
Wählerstimmen im Kreuz ist die Hoffnung auf Ausschluss und die Blindheit gegenüber dem einer Rettung aus – doch aus dem ländlichen ihrer Herkunft, noch wegen ihres Geschlechts,
ein Bemühen um einen integrierenden Heimatbe­ aktiviert, was gestaltbar ist und es werden muss. Raum das neue Manufactumreich der kulturell ihrer sexuellen Neigung oder ihrer Religion aus­
griff im Nirwana verschwunden. gebildeten Schicht zu machen, die das Land schließt.
Wie unter einem Brennglas zeigt sich das Pro­ „Das“ Land gibt es nicht doch nur durch die idyllengetrübte Brille sieht,
blem anhand der Neuen Altstadt in Frankfurt. Wenn es heißt, dass Menschen auf dem Land würde nur heißen, dass die, die sich von diesem
Dass es hier nicht um Stadt geht und um den Pro­ nicht ganz unschuldig daran sind, dass sie sich Lebensstil ausgeschlossen fühlen, sich umso
zess einer stückweisen Produktion, in dem sich abgehängt fühlen, dann ist die Problembeschrei­ mehr bedrängt und abgestellt fühlen müssen.
in Korrekturen eine Entwicklung vollziehen kann, bung schon Teil des Problems – denn „das“ Land Worum es gehen müsste, wäre ein landesweiter
ist nicht so nebensächlich wie es scheint. Die gibt es nicht. Einen differenzierten Blick auf die Diskurs und Austausch über konkrete Projekte,
Neue Altstadt wirkt wie ein gebautes Rendering, verschiedenen räumlichen Kontexte von Stadt- die einerseits nach zeitgemäßen Formen des Zu­
denn sie ist nicht Stadt, sondern ein Bild davon. und Ortschaftsgrößen ist die erste Vorausset­ sammenlebens, nach Gemeinwohlorientierung
Die Geschichte freilich zeigt, dass lange vor der zung für einen anderen Umgang mit der sich hier und Integration suchen und sie konkret im Einzel­
Zerstörung im Krieg auf dem Areal der Neuen stellenden Problematik, der vor allem darin be­ nen verwirklichen. Andererseits gilt es, die spe­
Altstadt fleißig abgerissen und umgebaut wurde. stehen müsste, die gesamträumlichen Verflech­ zifischen Kulturen zu respektieren und zu stärken
Die Altstadt, wie sie sich heute zeigt, ist also nicht tungen in den Blick zu nehmen. Dass es grund­ – die Feste, die Bräuche, aber auch die Art zu Der Text erschien zuerst im eMaga­zin Marlowes.
Geschichte und nicht Ausdruck von Geschichte,
sondern Ausdruck der Idee, dass es in der Ver­
gangenheit einen idealen Zustand gegeben hät­
te, den es nur zu reproduzieren gilt. Dieser ide­ darstellt, macht dieses Ensemble ideologisch und sozialer Gemeinschaft aufzunehmen, so

Einblick
alisiert geschichtliche Zustand ist normativ, was leicht instrumentalisierbar. wenig, wie es in der Neuen Altstadt um die Frage
auch heißt, dass die Altstadt nur der mühselig gehen kann, ob Rekonstruktion nicht auch legi­
kaschierte Ausdruck der Weigerung ist, Verände­ Die zweite Seite der Medaille tim ist. Es geht hier wie dort um die Frage nach
rung zur Kenntnis zu nehmen. Und zwar nicht, Entwicklungen wie diese werden aber falsch ein­ einer Konstante, einen richtigen und angemes­
weil sie nicht lediglich aus Rekonstruktionen be­ geschätzt, wenn sie als ein Gegenmodell zu dem senen Zustand, dessen Veränderung nicht zur
steht – das ist ja nicht der Fall –, sondern gerade verstanden werden, was an den Stadträndern Diskussion gestellt werden darf. In neuen Stadt­
da sie auch eine zeitgenössische Architektur­ und in den neuen Quartieren geschieht. Dort ist teilen gerät dieser Wunsch, den suburbanen Ein neues CP-Format der Bauwelt, das in
loser Folge 4x jährlich erscheint.
Staatsoper
Tchoban Voss Architekten Berlin
hg merz

sprache inkorporiert. Denn erst dadurch wird das die Realität von der Renditeerwartung der Immo­ Lebensstil zu leben, so offensichtlich in Konflikt Unter den Linden
Berlin
Narrativ der zeitlosen Gültigkeit eines aus der bilienwirtschaft geprägt, aber auch von dem mit dem Glauben an die Richtigkeit einer ge­
Geschichte geronnenen Zustands überzeugend: Wunsch, genau den Lebensstil verwirklichen zu schichtlichen Wahrheit, dass man sich nur ver­ Auf 32 Seiten widmen wir uns dem ausführlichen
Die vermeintliche Wiederherstellung eines ur­ können, der seit Jahrzehnten intensiv gefördert wundert die Augen reiben kann, wie vehement
Kontrast Einblick in Schwerpunktthemen:
Oberfläche
sprünglichen Zustands, die Heilung einer Wunde, wird: den Konsumorientierten mit Eigenheim und dieser Konflikt nach wie vor geleugnet oder doch
die die vermeintlich immergültige Wahrheit res­ Auto. Auch hier geht es nicht darum, zu fragen, zumindest ignoriert wird. Er wird von den Nar­ Architektur, Planungsprozesse, Städtebau.
tauriert. Dass damit der Ausschluss von Teilen unter welchen Umständen dieses Lebensmodell rativen, wie sie eine Neue Altstadt vermittelt, nur Struktur Sollten Sie anregende Themen und Ideen
der Bevölkerung, die neu in unserer Gesellschaft seine Berechtigung hat, ob es Potenzial hat, zeit­ weiter zugedeckt, da hierin der Glaube an die
sind, billigend in Kauf genommen wird, und sich gemäße Wohnansprüche gerade in ihrer Wider­ überzeitliche Wahrheit zementiert wird. Eine Richter Musikowski
haben und dazu den passenden Partner suchen:
dieser Ausschluss als quasi-natürlicher Zustand sprüchlichkeit zwischen Wunsch nach Naturnähe Idylle, ob als ubiquitäre Version der Natur-Kultur­
Sprechen Sie uns an!
Die Neue Altstadt in Frank­
furt am Main
Foto: Wikimedia Commons/ einblick@bauwelt.de
Simsalabim; Fotos rechts:
Christian Holl
Futurium Bestellung unter www.bauwelt.de/einblick

8 MAGAZIN Bauwelt 19.2018 StadtBauwelt 219 MAGAZIN 9

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